Veranstaltungsprogramm

Sitzung
SESSION 51: Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe auf der Sekundarstufe I
Zeit:
Donnerstag, 03.07.2025:
16:15 - 17:45

Chair der Sitzung: Anouk Niggli
Ort: Seminarraum 2.A26


Präsentationen

Spurensuche – Wie weit können Kulturprojekte zur Unterrichts- und Schulentwicklung beitragen?

Enikö Zala-Mezö, Aparna Thiyagarajah-Jegan, Jelica Popović

Pädagogische Hochschule Zürich, Schweiz

Im Lehrplan 21 wird Kulturelle Bildung als wesentliches Element einer umfassenden Schulbildung betrachtet, das die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler unterstützt, ihnen hilft, kulturelle Vielfalt zu schätzen und eigene Ausdrucksformen zu entwickeln. Unter den für Kulturelle Bildung Verantwortlichen kursieren wichtige Schriftstücke, die Vorstellungen über Kulturelle Bildung prägen und wegweisend für die Arbeit im Bereich Kultureller Bildung sind (Manifeste Arts & Education. Pour un saut quantitatif et qualitatif de l’éducation culturelle et artistique dans le système éducatif suisse., 2010; Mörsch, 2014). Die Erwartungen in Zusammenhang mit Kultureller Bildung sind darin hochgesteckt: Die Schüler:innen sollen nicht nur künstlerische Techniken erlernen, sich kreativ ausdrücken und Kunst gekonnt rezipieren, es sollen auch Transfereffekte losgetreten sowie die Schule selbst verändert werden (Abs et al., 2017).

In der vorgestellten Studie wird eine Spurensuche aus der Perspektive der Schulentwicklung vorgenommen, bei der nach veränderten schulischen Praktiken (Moldenhauer & Kuhlmann, 2021) im Zusammenhang mit durchgeführten Kulturprojekten gesucht wird. In diesem Rahmen wird ein Förderprogramm genauer unter die Lupe genommen. Es werden vier Fragestellungen in einem (mehrheitlich retrospektiven) Mixed-Methods Design untersucht:

  • Welche impliziten und expliziten Vorstellungen von Kultureller Bildung sind wegleitend für die Förderung seitens der finanzierenden Stellen?
  • Wie nehmen die geförderten Kulturvermittler:innen diese Vorstellungen in ihren Projektbeschreibungen auf?
  • Welche Erfahrungen machen die schulexternen und -internen Akteur:innen mit dem jeweiligen Projekt?
  • Welche Veränderungen werden in der Schule im Zusammenhang mit dem Kulturprojekt angestossen?

Eine Dokumentenanalyse diente dazu, einen Überblick über die geförderten und durchgeführten Projekte zu gewinnen. Interviews mit exemplarisch ausgewählten zentralen Akteur:innen des Projekts liefern Hinweise darauf, welche Spannungsfelder und Gelingensbedingungen aus verschiedenen Perspektiven im jeweiligen Projekt festzustellen sind. Vier Fallstudien sollen spezifische Merkmale der Kulturprojekte und der Schulen erfassen. Jede Fallstudie besteht aus einer Dokumentenanalyse, sowie Interviews mit der Schulleitung, Lehrpersonen und Kulturschaffenden. Ergänzt werden diese durch Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen, wobei der Fokus auf Inhalten liegt, die im Zusammenhang mit dem jeweiligen Kulturprojekt stehen.

Die bisherigen Ergebnisse der Dokumentenanalyse zeigen, dass die schulexternen Kulturvermittler:innen in ihren Projektbeschreibungen die Notwendigkeit ihrer Kulturprojekte mit den Differenzen zwischen bestehenden schulischen und unterrichtlichen Praktiken sowie künstlerischen und kreativen Ansätzen begründen. Zudem wurde festgestellt, dass viele Projekte nur einen Teil der Schule erreichen, was eine Dissemination auf die gesamte Schule erschwert.

Die Interviews weisen auf ein zentrales Dilemma hin, beispielsweise die erwartete Prozessoffenheit gegenüber der notwendigen Planung im Schulkontext. Gleichzeitig zeigen sie, dass die erwartete Transferwirkung – wie der Einsatz künstlerischer Methoden oder veränderte Einstellungen der Lehrpersonen durch die Zusammenarbeit – von den Lehrpersonen wahrgenommen wird. Die Kooperation zwischen Kulturvermittler:innen und Lehrpersonen wird als gewinnbringend beschrieben, und Lehrpersonen berichten von vielen positiven Effekten bei den Schülerinnen und Schülern.

Mithilfe von Fallstudien wird den Kulturprojekten in ihren schulischen Kontexten nachgegangen. Dabei wird der Perspektive der Schüler:innen ein besonderer Stellenwert beigemessen. Zudem wird die Passung zwischen schulisch- /unterrichtlichen Praktiken und künstlerischen Ansätzen erforscht. Aus den laufenden Fallstudien erhoffen sich die Autor:innen, differenzierte Erkenntnisse für die Schulentwicklungsforschung zu gewinnen.



"Die Gesellschaft selektioniert, die Sekundarstufe selektioniert, warum nicht die Primarstufe?" – Perspektiven von Schulleitungen auf schulische Selektion

Anouk Niggli, Pierre Tulowitzki

Pädagogische Hochschule FHNW, Schweiz

In der Laufbahn und Entwicklung von Kindern stellen schulische Selektionsmomente besondere Ereignisse dar, die sowohl von Schüler:innen (Neuenschwander et al., 2013) als auch von Lehrpersonen (Kottmann & Miller, 2016) als kritisch erlebt werden können. Während in theoretischen oder empirischen Betrachtungen zu schulischer Selektion oftmals Lehrpersonen und/oder Schüler:innen im Zentrum stehen, wurden Schulleitungen in diesem Zusammenhang bis dato kaum beleuchtet. Dabei stehen sie auf (mindestens) zweierlei Ebenen mit Selektion(-spraktiken) in Verbindung: Einerseits werden sie in vielen Kantonen in Fällen von Unsicherheiten, Unstimmigkeiten oder Konflikten rund um Selektion hinzugezogen, andererseits können sie sowohl strukturell als auch kulturell Praktiken und Haltungen von Lehrperson im Kontext von Inklusion und Selektion beeinflussen (Scheer, 2020). Aufgrund ihrer Distanz zum Unterrichtsgeschehen lässt sich allerdings – insbesondere im Falle grösserer Schulen – argumentieren, dass ihr Wissen um aktuellen Selektionsprozesse der Schule limitiert ist. Zugleich haben sie auf einer kollektiven Ebene (z.B. thematische Veranstaltungen) sowie auf einer individuellen Ebene (z.B. Gespräche mit Lehrpersonen) die Möglichkeit Einfluss auf Selektionsprozesse zu nehmen und können durch ihre Haltung die der Lehrpersonen prägen (Terhart, 1999). Lehrpersonen wiederum befinden sich tagtäglich im «praktischen» Spannungsfeld zwischen pädagogischen und selektionsbezogenen Verpflichtungen. Diesen widersprüchlichen Aufgaben begegnen sie auf unterschiedlichen Arten; diese lassen sich in verschiedene Typen kategorisieren, von «Auslese der Besten», «Selektion als Platzanweisung», «Disziplinierung», bis hin zu einem «Ringen um das Arbeitsbündnis» und «Fördern jenseits der Selektion» (Streckeisen et al., 2007).

Der vorliegende Beitrag widmet sich deshalb der Perspektive von Schulleitungen mit der Frage, welche Sichtweisen befragte Schulleitungen auf schulische Selektion äussern. Datengrundlage bilden offene Rückmeldungen zum Thema schulische Selektion, die im Rahmen einer grösseren Befragung auf Ebene von Schulleitungen der Volksschule erhoben wurden. Insgesamt äusserten sich 318 Schulleitungen. Die Aussagen wurden zunächst einem Screening unterzogen; Aussagen ohne expliziten Bezug und Aussagen, die lediglich wenige Sätze oder kürzer waren, wurden dabei herausgefiltert. Die übrigen 95 wurden zur Auswertung herangezogen und mit Hilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse analysiert. Als deduktive Basis für das Kategoriensystem diente die von Streckeisen et al. (2007) erarbeitete Typologie von Deutungsmustern zur Selektion, die während der Analyse induktiv erweitert und angepasst wurde.

Die Aussagen konnten in der Analyse den folgenden Kategorien zugeordnet werden:

  • Selektion als Platzanweisung: Hier zeigt sich die Selektion als positiver und traditioneller Mechanismus, durch den die Schüler:innen die passende Förderung erhalten können. Die Subkategorie «Selektion als durchlässige Platzanweisung» strebt eine passgenaue Zuteilung durch ganzheitliche Beurteilung und Durchlässigkeit zwischen den Stufen an.
  • Selektion als Niveaudifferenzierung: Schulleitungen in diesem Deutungsmuster befürworten eine Selektion unter den Bedingungen, einzelne Fächer selektieren zu können und die Durchlässigkeit zu gewährleisten.
  • Ringen um das Arbeitsbündnis: Die Aussagen der Schulleitungen in dieser Kategorie sehen den Auftrag der Schule zu Selektionieren im Widerspruch zum Förderauftrag der Schule.
  • Fördern jenseits der Selektion: Eine selektionsfreie Schule wird von den Schulleitungen in diesem Deutungsmuster erwünscht, in welcher individuelles und interessensbasiertes Lernen unabhängig von Jahrgangsklassen möglich ist.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Schulleitungen ähnliche Sichtweisen auf Selektion äussern wie Lehrpersonen, jedoch auf einer organisationalen Ebene. Dies wird u.a. daran deutlich, dass Änderungswünsche und Umgangsideen sich nicht auf den praktischen und täglichen Unterricht beziehen, sondern meist die ganze Schule betreffen. Deutungsmuster, die den Unterricht betreffen, sind hingegen nicht vorzufinden. Ein weiteres Thema in allen vier Deutungsmuster ist die Beurteilung von Schüler:innen durch Noten, welche teilweise kritisch hinterfragt wird. So wird beispielsweise im Deutungsmuster “Fördern jenseits der Selektion” eine ganzheitliche Beurteilung ohne Noten befürwortet.

Schulleitungen im Deutungsmuster “Selektion als Platzanweisung” erachten Selektion und eine leistungshomogene Klasse als Entlastung für die Lehrpersonen und den Unterricht. Schulleitungen in den Mustern “Ringen um das Arbeitsbündnis” und “Fördern jenseits der Selektion” rücken wiederum weniger die (potenzielle) Entlastung von Lehrpersonen, sondern die Situation der Schüler:innen in den Vordergrund.