Veränderungen überfachlicher Kompetenzen bei Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf in Abhängigkeit von inklusiven Rahmenbedingungen
Lena Nusser1, Cornelia Gresch2
1Leibniz Institute for Educational Trajectories, Deutschland; 2Humboldt-Universität zu Berlin
Neben akademischen Fachkompetenzen wird bei Jugendlichen mit Blick auf Übergänge und die spätere berufliche Ausbildung immer wieder die Bedeutung überfachlicher Kompetenzen (auch „berufsrelevante Kompetenzen“ oder „Schlüsselqualifikationen“) betont (vgl. z. B. Eckert & Schmitt 2007; Hofmann-Lun 2011; Niehaus 2009; Stein & Stummbaum 2010). Hierbei handelt es sich nach Pohlmann und Heckt (2011) um „Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen, die zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und zur Aneignung von fachlichem Wissen notwendig sind.“ (Pohlmann & Heckt, 2011, S. 36). Dem Lernen und dem Lernkontext in der Schule wird dabei eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung überfachlicher Kompetenzen zugesprochen (vgl. Fend 2006, S. 116; Horstkemper & Tillmann 2018).
Dabei gibt es Hinweise, dass Schüler*innen mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen (SPU) im Mittel über geringere überfachliche Kompetenzen verfügen als Schüler*innen ohne SPU und dass dies auch mit dem Schulkontext zusammenhängen kann (Schuck et al., 2018). Gresch und Nusser (2023) untersuchten die durch Lehrkräfte eingeschätzten überfachlichen Kompetenzen „Selbstkompetenzen“, „Sozial-kommunikative Kompetenzen“ und „Lernmethodische Kompetenzen“ bei Schüler*innen mit und ohne SPU. Die Autorinnen zeigten, dass schulische Lernbedingungen, die gezielt auf inklusive Bildung ausgerichtet sind, für alle Schüler*innen mit höheren überfachlichen Kompetenzen einhergehen. Hierbei waren inklusive Rahmenbedingungen für die überfachlichen Kompetenzen von Schüler*innen ohne SPU in stärkerem Maße bedeutsam als für diejenigen mit SPU. Ob sich die überfachlichen Kompetenzen zwischen den Gruppen darüber hinaus über die Zeit differentiell verändern, also beispielsweise bei Schüler*innen mit SPU weniger stark zunehmen, und welche Rolle hierbei inklusive Rahmenbedingungen spielen, wurde bisher nicht untersucht.
Der Beitrag untersucht, wie Lehrkräfte die Veränderung der überfachlichen Kompetenzen von der sechsten zur siebten Jahrgangsstufe bei Schüler*innen mit und ohne SPU einschätzen und welche Rolle inklusive, schulische Rahmenbedingungen und die Ausgangsniveaus der jeweiligen überfachlichen Kompetenzen spielen.
Datengrundlage bilden die ersten beiden Erhebungszeitpunkt der ersten Kohorte des Projekts „Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland – INSIDE“ mit N = 1.883 teilnehmenden Schüler*innen an 192 Schulen. In der zweiten Erhebung wurden die Lehrkräfte gebeten, für die einzelnen Schüler*innen jeweils für drei Items auf einer 5-stufigen Likert-Skala einzuschätzen, wie sich die drei Dimensionen „Selbstkompetenzen“, „Sozial-kommunikative Kompetenzen“ und „Lernmethodische Kompetenzen“ der überfachlichen Kompetenzen im Laufe des Schuljahres verändert haben. In der ersten Welle wurde zudem das Ausgangsniveau der überfachlichen Kompetenzen über die Lehrkräfte erfasst (Schuck et al., 2018). Informationen über den SPU basieren auf Angaben der Schulen. Darüber hinaus wurden über die Schulleitungen inklusive schulische Rahmenbedingungen erhoben, basierend auf der Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung (QU!S, Heimlich et al. 2018). Hintergrundmerkmale der Schüler*innen (Geschlecht, sozioökonomischer Status, kognitive Grundfähigkeiten) wurden für die Analysen kontrolliert. Die Auswertung erfolgte anhand von Regressionsanalysen mit dem Package lavaan (Rosseel, 2012) in der Software R (R Core Team, 2021). Fehlende Werte wurden mittels FIML-Ansatzes berücksichtigt.
Die Faktorstruktur der drei theoretisch angenommenen Dimensionen der überfachlichen Kompetenzen und ihren Veränderungen bildet sich in den Daten ab (CFI = .982; TLI = .971; RMSEA = .073; SRMS = .026). Regressionsanalyen zeigen einen Zusammenhang zwischen der eingeschätzten Veränderung der überfachlichen Kompetenzen mit individuellen Merkmalen der einzelnen Schüler*innen. Schüler*innen mit SPU wird eine geringere Entwicklung überfachlicher Kompetenzen durch die Lehrkräfte zugeschrieben als ihren Peers ohne SPU. Als besonders prädiktiv stellt sich die frühere Einschätzung der Lehrkräfte der überfachlichen Kompetenzen dar. Der positive Zusammenhang deutet darauf hin, dass für Schüler*innen mit ohnehin hohen Ausgangsniveaus auch ein stärkerer Zuwachs an überfachlichen Kompetenzen beobachtet wird. Die inklusiven Rahmenbedingungen an der Schule zeigen keine signifikanten Zusammenhänge mit der Veränderung überfachlicher Kompetenzen der Schüler*innen.
Die Befunde deuten auf einen Bedarf der Förderung überfachlicher Kompetenzen von Schüler*innen mit SPU über bisherige inklusive Angebote in den Schulen hinaus hin, um sowohl die Aneignung fachlicher Kompetenzen als auch nachschulische Übergänge in eine Ausbildung und den Arbeitsmarkt zu unterstützen.
Inklusionsorientierter Umgang mit Diversität in der Berufsbildung: Konzeption und Validierung von Kompetenzanforderungen an Lehrpersonen in Berufsfachschulen
Silvia Pool Maag1, Nicole Kimmelmann2, Susanne Miesera3
1Pädagogisch Hochschule Zürich, Schweiz; 2Friedrich-Alexander-University, Erlangen-Nürnberg, Germany; 3Technische Universität München, Germany
Berufliche Bildung in Europa ist mit Fachkräftemangel und Passungsproblemen konfrontiert. Junge Menschen bringen immer heterogenere persönliche Ausgangslagen mit und die Beteiligten des Berufsbildungssystems sind gefordert Anpassungen, Individualisierung und Personalisierung der Ausbildung zu ermöglichen. Obwohl diese Phänomene nicht neu sind, fordert die Kumulation von Anforderungen auf gesellschaftlicher und arbeitsmarktbezogener Ebene das berufliche Ausbildungssystem auf eine Art und Weise heraus, die u.a. eine Neuordnung professioneller Kompetenzen des Bildungspersonals nahelegt, da sich in den DACH-Ländern trotz etablierter Übergangssysteme und angepassten Ausbildungsformaten persistierende Benachteiligungen und Homogenisierungsbestrebungen zeigen. Offenbar greift die an einem weiten Verständnis orientierte Idee von Inklusion noch zu wenig (Kimmelmann & Pool Maag 2024), wenngleich auf die institutionelle Verankerung einer an Inklusion und Diversität orientierten Lehrkräftebildung hingewiesen wird (z.B. Bach, Schmidt & Schaub 2016). Berufsbildungsforschung kann dazu beitragen, umfassende interdisziplinäre Ansätze zu entwickeln und den Umgang mit Diversität als Querschnittthema der Professionalisierung des Bildungspersonals zu untersuchen.
Eine länderübergreifende Analyse von beruflichen Strukturen, Formaten und Massnahmen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz zum Umgang mit migrations- und inklusionsbedingter Diversität zeigt auf, dass die Berufsbildungssysteme auf der Makroebene mit differenzierten Übergangs- und Ausbildungsangeboten auf die Anforderungen reagiert haben (Miesera et al., 2022). Dennoch zeigt sich auf der Mesoebene in Form von trennenden zielgruppenspezifischen Institutionen und Angeboten Entwicklungsbedarf. Zugleich fehlt es an Analysen zu Kompetenzanforderungen für Lehrkräfte an beruflichen Schulen, die mit Diversität in einem weiten Verständnis verbunden sind und spezifische Kompetenzen für den Umgang mit individuellen Diversitätsmerkmalen berücksichtigen. Hierfür zeigt sich ein inklusionsorientierter Umgang mit Diversität als vielversprechend (vgl. Kimmelmann & Pool Maag, 2024).
Die vorliegende Studie untersucht folgende Forschungsfragen: Welche Merkmale weist ein Rahmenkonzept zu Kompetenzanforderungen zum inklusionsorientierten Umgang mit Diversität in der Berufsbildung auf, und welche Handlungskompetenzen sind für Lehrpersonen an beruflichen Schulen bedeutsam?
Als Forschungsmethode wurde eine mehrstufige qualitative Literaturanalyse gewählt. Diese bezog sich erstens auf die Untersuchung der etablierten Kompetenzverständnisse und -modelle in der Lehrkräftebildung der drei beteiligten Länder. Hierüber wurde eine geeignete Struktur des Rahmenkonzeptes ermittelt. Zweitens erfolgte eine Analyse bestehender Kompetenzmodelle in der Lehrkräftebildung, die sich mit Inklusion bzw. den Umgang mit Diversität als Anforderungskontext auseinandersetzen, um die relevanten Kompetenzanforderungen zu ermitteln. Dabei wurden Konzepte der Lehrkräftebildung für allgemeine und berufliche Bildung einbezogen. Zugleich wurden sowohl grundlegende, d. h. den Umgang mit Diversität insgesamt betreffende Kompetenzen, aber auch Spezialkompetenzen im Umgang mit einzelnen Diversitätsmerkmalen, z.B. der ethnisch-kulturellen Diversität, erfasst. Es wurden sowohl Quellen auf Basis eines weiten Inklusionsverständnisses als auch für einen engen Inklusionskontext (Behinderung) einbezogen. Das erarbeitete Rahmenkonzept, das Kompetenzanforderungen zum Umgang mit Diversität und Inklusion entlang der Dimensionen "Einstellungen", "Wissen" und "Fähigkeiten" systematisiert (Pool Maag et al. 2024) diente anschliessend der Entwicklung eines Rasters für Unterrichtsbeobachtungen und von Leitfragen für Expert:innengespräche mit Lehrpersonen an Berufsfachschulen in der Deutschschweiz und in Deutschland. Die Daten wurden in Teams erhoben, zusammenfassend inhaltsanalytisch ausgewertet und entlang des Rahmenkonzeptes strukturiert.
Das Ergebnis der Analyse ist ein mehrdimensionales Rahmenkonzept, welches Kompetenzanforderungen für den inklusionsorientierten Umgang mit Diversität entlang der Kategorien „Einstellungen“, „Kenntnisse“ und „Fähigkeiten“ ausweist. Das entwickelte theoretische Rahmenkonzept ist dabei als erste Orientierung für einen Kompetenzentwicklungsprozess in allen Phasen der Lehrerausbildung zu verstehen. Des Weiteren werden die Ergebnisse des Validierungsprojekts präsentiert, das explorativ angelegt ist in ausgewählten Berufsfachschulen durchgeführt wurde. Ziel ist einerseits, das Kompetenzmodell zu präzisieren und zu überprüfen, andererseits die aus Sicht von Lehrkräften relevanten Kompetenzen zu ermitteln, die für das Unterrichtshandeln in heterogenen Lehr- und Lernkontexten der Berufsbildung relevant sind.
Diese Ausarbeitungen können weiterer Unterrichtsforschung dienen, wie auch curricular in die Lehrkräftebildung einfliessen. Zudem werden Herausforderungen der Kompetenzmodellierung im internationalen Vergleich aufgezeigt sowie Limitationen und weitere Entwicklungsschritte diskutiert.
Der Einfluss professioneller mathematikbezogener Kompetenzen von Regellehrpersonen und Schulischen Heilpädagog:innen auf den Leistungszuwachs der Schüler:innen
Maria Wehren-Müller1, Susanne Schnepel2, Simon Luger1, Meret Stöckli3, Elisabeth Moser Opitz1
1Universität Zürich; 2Universität Münster; 3Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich
Theoretischer Hintergrund
Die fachliche Förderung der Lernenden ist ein wichtiges Ziel von inklusivem Unterricht. Untersuchungen aus dem Regelbereich zeigen, dass das professionelle mathematikbezogene Wissen und die Kompetenzen der Lehrpersonen bedeutsam sind für den Leistungszuwachs der Schüler:innen (z.B. Baumert et al., 2010; Hill et al., 2005; Kersting et al., 2012). Bislang liegt nur eine Untersuchung zum professionellen Wissen von Schulischen Heilpädagog:innen (SHP) vor und Studienergebnisse im Hinblick auf die Leistungen der Lernenden sind uneinheitlich. Nach Jandl und Moser Opitz (2017) verfügen ausgebildete SHP über ein höheres professionelles Wissen zur mathematischen Förderung von Schüler:innen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung als Lehrpersonen ohne entsprechende Ausbildung. Allerdings wirkt sich das Wissen der SHP in einer weiteren Studie nicht auf den Leistungszuwachs der Lernenden aus (Moser Opitz et al., 2020). Andere Untersuchungen weisen darauf hin, dass Lernende mit besonderem Bildungsbedarf höhere Leistungen bzw. einen grösseren Leistungszuwachs in Mathematik erzielen, wenn sie von ausgebildeten SHP unterrichtet werden (Feng & Sass, 2013; Luder, 2021). Für Schüler:innen mit Lernbehinderungen kann dieser Effekt jedoch nicht bestätigt werden (Gilmour, 2020). Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Studie, ob sich Regellehrpersonen und SHP, die im inklusiven Unterricht die Förderung von Schüler:innen mit mathematischen Lernschwierigkeiten gemeinsam verantworten, bezüglich ihrer professionellen mathematikbezogenen Kompetenzen unterscheiden. Zudem interessiert der Einfluss dieser Kompetenzen auf den Leistungszuwachs der Lernenden.
Fragestellungen
- Unterscheiden sich Regellehrpersonen und SHP, die gemeinsam in inklusiven Klassen unterrichten, in ihren professionellen Kompetenzen zur Förderung von Schüler:innen mit mathematischen Lernschwierigkeiten?
- Gibt es einen Zusammenhang zwischen den professionellen Kompetenzen und der sonderpädagogischen Ausbildung der Lehrpersonen?
- Wirken sich die professionellen Kompetenzen der Lehrpersonen auf den mathematischen Leistungszuwachs der Schüler:innen aus?
Design und Methode
Es wurde eine Längsschnittstudie mit N = 156 Lehrpersonen (n = 81 Regellehrpersonen, n = 61 SHP mit sonderpädagogischer Ausbildung und 14 ohne sonderpädagogische Ausbildung) sowie N = 1390 Schüler:innen (n = 716 Jungen, n = 674 Mädchen) aus 81 inklusiven Klassen im 2. bis 4. Schuljahr durchgeführt. Bei den Lehrpersonen kamen strukturierte Einzelinterviews sowie ein Online-Fragebogen mit Videovignetten zum Einsatz, die anschliessend hinsichtlich der professionellen Kompetenzen zur Förderung bei mathematischen Lernschwierigkeiten eingeschätzt wurden (Interview-Rating: 3 Items, McDonalds Omega = .67, G-Koeffizient = .71 bis .81; Online-Fragebogen: 22 Items, WLE-Reliabilität = .71, Cohens Kappa = .74 bis .94 von 8 offenen Items). Die Schüler:innen bearbeiteten zu Beginn und am Ende des Schuljahres einen standardisierten Mathematiktest zu grundlegenden arithmetischen Fähigkeiten (28 bis 58 Items, Cronbachs Alpha .90 bis .92). Als Kontrollvariablen dienten das Geschlecht sowie die allgemeine Denkfähigkeit (CFT 1-R, Weiß & Osterland, 2013; CFT 20-R, Weiß, 2006). Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden Mittelwertvergleiche und (Mehrebenen-)Strukturgleichungsmodelle berechnet.
Resultate und ihre Bedeutung
Die Analysen zeigen einen signifikanten Unterschied zwischen Regellehrpersonen (n = 81) und SHP (n = 75) hinsichtlich ihrer professionellen Kompetenzen zur Förderung bei mathematischen Lernschwierigkeiten, wobei SHP höhere Werte erreichen (Interview-Rating: d = 0.88, p < .01; Fragebogen: d = 0.34, p < .05). Dieses Ergebnis steht in Zusammenhang mit der Ausbildung. SHP mit einer sonderpädagogischen Ausbildung (n = 61) verfügen (tendenziell) über höhere professionelle Kompetenzen (Interview-Rating β = .41, p < .001, Fragebogen β = .16, p = .06) als SHP ohne entsprechende Ausbildung und Regellehrpersonen (n = 95). Des Weiteren zeigt sich, dass die professionellen Kompetenzen gemessen mit dem Online-Fragebogen von Regellehrpersonen (β = .14, p < .05) und insbesondere von SHP (β = .25, p < .05) einen positiven Einfluss auf den Leistungszuwachs der Schüler:innen in Mathematik haben.
Die Ergebnisse weisen auf die Bedeutsamkeit der sonderpädagogischen Ausbildung hin und zeigen den Zusammenhang zwischen professionellen Kompetenzen von Lehrpersonen und dem Leistungsfortschritt der Lernenden auf. Zudem verdeutlichen sie, dass die Unterstützung durch eine sonderpädagogisch ausgebildete Lehrperson für alle Schüler:innen wichtig ist.
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