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Sitzungsübersicht
Sitzung
SESSION 09: Kompetenzentwicklung im Rahmen einer Bildung in Nachhaltiger Entwicklung
Zeit:
Mittwoch, 02.07.2025:
15:00 - 16:30

Chair der Sitzung: Anja Sieber Egger
Ort: Seminarraum 2.A26


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Präsentationen

Aspekte der Nachhaltigkeitskompetenz messen: Die Entwicklung eines Instruments zum nachhaltigkeitsbezogenen Mensch-Umwelt-Systemdenken

Cornelia Grossen1, Sebastian Stuppan1, Markus Rehm2, Markus Wilhelm1

1Pädagogische Hochschule Luzern, Schweiz; 2Pädagogische Hochschule Heidelberg, Deutschland

Lerngelegenheiten im Sinne der Nachhaltigkeitswissenschaftsdidaktik zeichnen sich dadurch aus, dass sie komplexgekoppelte Mensch-Umwelt-Systeme berücksichtigen. Diese umfassen sowohl natürliche Systeme (z. B. Fragen der Biodiversität) als auch soziale Systeme (z. B. Fragen der sozialen Diversität) und verbinden diese beiden Perspektiven miteinander (Wilhelm & Rinaldi, 2023). Das Verständnis solcher Systeme erfordert systemisches Denken (Hoffmann, 2024). Diese Fähigkeit, die zum kognitiven Bereich der Nachhaltigkeitskompetenz zählt, beschreibt im Wesentlichen, wie ein Individuum komplexe, multidimensionale Zusammenhänge sowohl in ihren Einzelheiten als auch im Gesamtkontext analysiert, daraus Massnahmen zur Nutzung des Systems entwickelt und deren potenzielle Folgen abschätzen kann (Gubler, 2024; Mehren et al., 2018). Studien zeigen, dass Lernende oft ein gering ausgeprägtes Systemverständnis haben, belegen jedoch, dass systemisches Denken durch gezielte didaktische Interventionen gefördert werden kann (Batzri et al., 2015; Ben-Zvi Assaraf et al., 2013; Ben-Zvi Assaraf & Orion, 2005; Mehren et al., 2014).

Das Forschungsprojekt «GLOBE-Lernangebote mit Transferwirkung» untersucht, wie spezifische Bereiche der Nachhaltigkeitskompetenz, insbesondere das nachhaltigkeitsbezogene Mensch-Umwelt-Systemdenken, bei Schüler:innen der Sekundarstufe 1 gefördert und analysiert werden können. Im Rahmen des Citizen-Science-basierten Lernangebots «Wie geht es unseren Fliessgewässern – und was hat das mit mir zu tun?» wurde der bisher bei der Konzeption der GLOBE-Lernangebote genutzte Forschungskreislauf um die Umsetzung von Handlungsoptionen im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung erweitert. Konkret analysieren Schüler:innen ein lokales Fliessgewässer und setzen, basierend auf den Ergebnissen, mögliche Handlungen im Bereich politischen Engagements und gesellschaftlicher Teilhabe um. Ziel des Projekts ist es, die Wirkung unterschiedlicher Handlungsoptionen auf das nachhaltigkeitsbezogene Mensch-Umwelt-Systemdenken der Lernenden zu analysieren. Diese Zielsetzung erforderte ein reliables und valides Messinstrument. Während bestehende Testinstrumente entweder auf geographische Kontexte (Mehren et al., 2018) oder auf den gesamten Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ausgerichtet sind (Roczen et al., 2021), sollte das neu zu entwickelnde Instrument für den Kontext von Gewässerökosystemen anwendbar sein und zentrale Aspekte von Komplexität testen. Die zentrale Forschungsfrage lautet: Inwiefern ist es möglich, ein reliables, valides und ökonomisches Testinstrument zur Analyse des nachhaltigkeitsbezogenen Mensch-Umwelt-Systemdenkens im Gewässerökosystem-Kontext für Schüler:innen der Sekundarstufe 1 zu entwickeln?

Das entwickelte Messinstrument basiert auf dem theoretisch abgeleiteten und empirisch validierten Modell von Mehren et al. (2018) zur geografischen Systemkompetenz. Dieses Modell unterscheidet zwischen den Dimensionen Systemorganisation und -verhalten (Wissenserwerb) sowie der systemadäquaten Handlungsintention (Wissensanwendung), die jeweils in drei Stufen unterteilt sind. Die Testentwicklung erfolgte iterativ in Anlehnung an Roczen et al. (2024) und umfasste drei Phasen: Konzeption, qualitative Pilotierung und quantitative Validierung. Zunächst wurden Themen für die Testaufgaben abgeleitet. Dazu dienten offene Concept Maps, die im Rahmen einer Pilotstudie von Schüler:innen (N = 40) erstellt wurden. Als nächstes wurden die Testaufgaben von Expert:innen auf ihre Passung zum Kompetenzmodell hin geprüft und anschliessend im Rahmen von Cognitive Laboratories (Alavi, 2005) verschiedenen Schüler:innen der Zielstufe vorgelegt. Dabei bearbeiteten die Schüler:innen die Aufgaben und wurden angehalten, laut zu denken. Diese Vorgehensweise ermöglichte Einblicke in die Lösungsstrategien und potenzielle Schwierigkeiten der Proband:innen. Nach diversen Überarbeitungen und Optimierungen wurden die verschiedenen Testaufgaben schliesslich in 17 Schulklassen (N = 264) validiert.

Ziel der Studie war es, ein Instrument zu entwickeln, das nicht nur reliabel und valide, sondern auch einfach zu handhaben ist. Das finale Testinstrument umfasst 13 geschlossene Aufgaben, die den Dimensionen und Stufen des Modells der geographischen Systemkompetenz (Mehren et al., 2018) zugeordnet wurden. Da Fachwissen und Systemdenken eng miteinander verknüpft sind (Sweeney, 2004) und es schwierig ist, systemische Zusammenhänge ohne entsprechendes Fachwissen zu modellieren (Roczen et al., 2021; Mehren et al., 2018), wurde zusätzlich ein Erklärvideo entwickelt, in dem grundlegende Begriffe vermittelt werden. Dadurch kann das Vorwissen der Schüler:innen möglichst konstant gehalten werden. Die Teststatistik belegt die Validität des Instruments: Das Lernangebot und die damit verbundenen Handlungsoptionen hatten einen statistisch signifikanten Einfluss auf das nachhaltigkeitsbezogene Mensch-Umwelt-Systemdenken der Proband:innen.



Nachhaltige Verschwendung. WasserKinderWelten als alltägliche Praxis zwischen Natur und Kultur im Kindergarten des Anthropozän

Anja Sieber Egger, Gisela Unterweger, Georg Rissler, Felizitas Juen

Zurich University of Teacher Education, Schweiz

Die globale Umwelt- und Klimaproblematik, das diskursiv prominente Schlagwort “Anthropozän” (Crutzen, 2006) und die Debatten um neumaterialistische Denkbewegungen (Hoppe, 2022) befördern Auseinandersetzungen um (Neu-)Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Menschheit und Natur. Sie finden ihren Niederschlag auch in der Kindheitsforschung und (potentiell) in einer Weiterentwicklung der Bildung für nachhaltige Entwicklung, die auch im Lehrplan 21 eine zentrale Rahmenerzählung bildet.

Unser Beitrag steigt ein mit der Bezugnahme zu diesen Debatten und zwei daraus abgeleiteten Thesen: Dass erstens die Anthropozändebatten durch einen Adultozentrismus gekennzeichnet sind (Taylor, 2020), welcher «Anthropozän-Kindheiten» (Ashton, 2022) sowie Schulwelten ausblendet; dass zweitens posthumanistisch/neumaterialistische Ansätze im deutschsprachigen Raum und im Zusammenhang mit BNE mit wenigen Ausnahmen als marginalisiert gelten (Bayne, 2018).

Vor diesem Hintergrund entfalten wir in einem zweiten Teil des Beitrags mit dem neumaterialistisch-kindheitstheoretischen Ansatz der Common Worlds (CW) (Taylor, 2013) ein im deutschsprachigen Kontext wenig aufgegriffenes Konzept, betten dieses in die Anthropozändiskussion ein und stellen es einer anthropozentrisch, rationalistisch konzipierten BNE entgegen. Der CW-Ansatz stellt mit einem Fokus auf Entanglements nicht bloss gängige Dichotomien von Natur vs. Kultur, Subjekt vs. Objekt in Frage, sondern irritiert auch die im Lehrplan 21 im Zusammenhang mit BNE dominierenden Denkfiguren. Dort wird die BNE als rationalistisch gedacht, der Natur wird in erster Linie ein instrumenteller Wert zugeschrieben. Das rational handelnde menschliche Subjekt und seine Handlungsfähigkeit werden als gegeben verstanden, Natur hingegen als passives oder durch menschliche Handlungsfähigkeit konstruiertes Objekt. Mit einer Infragestellung dieser Sichtweisen eröffnet das CW-Konzept andere theoretische Perspektivierungen: nämlich auf Schule als ein Entanglement menschlicher Wesen und materieller Schulmitwelten, in welchem Kinder mit Umwelten werden und Umwelten mit Kindern (‘becoming with’ und ‘collective thinking in the presence of others’ nach Taylor & Pacini-Ketchabaw (2019, S. 16); wie auch auf BNE als ein gemeinsam mit der und durch die materielle Schulmitwelt sich vollziehender Prozess und weniger als Kompetenzerwerb im Sinne eines individuellen Lernens eines rational-autonomen Subjekts über oder von Natur. Mit einer solchen theoretischen Linse stellen wir dann im dritten Teil anhand von empirischem Material aus dem ethnographischen Forschungsprojekt «NaturenKindheiten in Verhandlung» die alltägliche Praxis von Kindern mit ihrer belebten und unbelebten Mitwelt in den Mittelpunkt.

Im vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekt mit einer Laufzeit von drei Jahren erhebt ein Forschungsteam in drei sozialräumlich kontrastierenden Kindergartenklassen und mit einer Ethnografie, die multimodale, multisensuelle (Pink, 2011), multispezies (Hamilton & Taylor, 2017) und teamethnografische (Clerke & Hopwood, 2014) Aspekte kombiniert, eine Vielfalt an Daten. In einem der theoretischen Ausrichtung angepassten losen Bezug zum Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie (Clarke, 2005; Glaser & Strauss, 2010) werden diese qualitativ-rekonstruktiv mit dem Ziel der Generierung von Theorie(n) aus den empirischen Daten analysiert. Allgemein erkundet das Projekt explorativ das Entanglement der Kinder mit ihren Mitwelten und verfolgt die übergeordnete Forschungsfrage: Welche Relationen und welche Mensch-Mehr-als-Mensch-Welten bilden sich in Entanglements von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen und Aktanten? Diese präzisieren wir im vorliegenden Beitrag als Frage nach den Relationen zwischen einer spezifischen Materialität (Wasser) und Kindern. Mit empirischem Material, das die Prozessierung von KinderWasserWelten und damit eine Form des Common Worlding rekonstruiert, stellen wir exemplarisch Beziehungen von Kindern mit ihrer Wassermitwelt in den Blick, befragen diese auf das gemeinsame Welterzeugen und diskutieren sie mit Bezugnahme auf zentrale Punkte, die in der BNE aufgenommen werden – wie z.B. das Sorgetragen zu natürlichen Ressourcen. Anhand der geschilderten WasserKinderWelten stellt der Beitrag die BNE im Kindergarten als spannungsreich-widersprüchliches Geschehen dar. Die schulische Alltagspraxis im Anthropozän pendelt zwischen (Praktiken der) Verschwendung und (der Forderung nach) Nachhaltigkeit. Aufbauend auf unseren empirischen Einblicken machen wir die These stark, dass Anschlüsse an die relationalen Ontologien/Methodologien der neumaterialistischen Ansätze neue Perspektiven für eine (bislang) anthropozentrisch (Gough, 2018) individualistisch-rationalistisch und asymmetrisch ausgerichtete (Engelmann, 2019) BNE eröffnen.