Veranstaltungsprogramm

Sitzung
SYMP 33: «Selbstbestimmt und rücksichtsvoll»: Wie das Fach Musik divergierende gesellschaftliche Ansprüche unter einen Hut zu bringen versucht
Zeit:
Freitag, 04.07.2025:
10:00 - 12:00

Chair der Sitzung: Jürg Huber
Chair der Sitzung: Anna Schürch
Ort: Seminarraum 2.A16


Präsentationen

«Selbstbestimmt und rücksichtsvoll»: Wie das Fach Musik divergierende gesellschaftliche Ansprüche unter einen Hut zu bringen versucht

Chair(s): Jürg Huber (Hochschule Luzern – Musik, Schweiz), Anna Schürch (Zürcher Hochschule der Künste, Schweiz)

Das erste Nationalfondsprojekt im Bereich der Musikpädagogik widmete sich in den Jahren 1989 bis 1992 der Frage, wie mehr Musikstunden anstelle von Sprachen und Mathematik sich auf den schulischen Erfolg auswirken. Die postulierte Leistungssteigerung (Projekttitel: «Bessere Bildung mit Musik») auf kognitiver Ebene konnte zwar nicht bestätigt werden, doch zeichneten sich die Versuchsklassen durch erhöhte Sozialkompetenz und ein verbessertes Schulklima aus (Weber et al., 1993, S. 127). Über die nostalgische Reverenz an die Anfänge der wissenschaftlichen Musikpädagogik in der Schweiz hinaus ist bereits in diesem Projekt ein zentrales Spannungsfeld angesprochen, in dem sich Musikunterricht bewegt: der starke Fokus auf individuelle Fähigkeiten – hier im Sinne von kognitivem Transfereffekten – bei gleichzeitiger Betonung des Kollektiven. Das zeigt sich im für den neuen Rahmenlehrplan Gymnasiale Maturitätsschulen einzigartigen allgemeinen Bildungsziel des Fachs Musik, «sich ebenso selbstbestimmt wie rücksichtsvoll äussern [zu können]» (Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, 2024, S. 100). Das Fach und dessen Fachdidaktik zeichnen sich zudem durch eine mit verwandten Fächern wie der Bildenden Kunst und dem Sport geteilten Unschärfe bezüglich der Bezugsdisziplin aus, denn «[d]as Schulfach Musik korrespondiert […] nicht primär mit einer Fachwissenschaft, sondern seine Leitdisziplin ist eine Fachpraxis» (Jank, 2011, S. 30, Hervorhebung im Original), was zu spezifischen Fragestellungen (vgl. Huber et al., 2021) und einer ambivalenten Stellung der Fachdidaktik (Imthurn & Lichtsteiner, 2024) führt.

An unserem Symposium stehen der gymnasiale Musikunterricht sowie die fachdidaktische Ausbildung an Musikhochschulen und Pädagogischen Hochschulen im Zentrum, wobei sich die vier Beiträge aus zwei komplementären SNF-Projekten[1] speisen, in denen das Feld unter ethnografischem beziehungsweise wissenssoziologischem Blickwinkel auf kollektive Muster hin beforscht wird. Die Beiträge erlauben einen multiperspektivischen Blick auf das Schulfach Musik auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe und fokussieren schwerpunktmässig auf das Spannungsfeld zwischen Differenz(produktion) und Gleichheit, auf Kategorisierungen und Dichotomisierungen sowie auf Bildungs- und Teilhabechancen in einer individualisierten Welt.

Den Auftakt macht der Vortrag von Gabriel Imthurn und David Lichtsteiner, die, ausgehend von Gruppendiskussionen im gymnasialen (Um-)Feld, mithilfe der Dokumentarischen Methode das Verhältnis zwischen gesellschaftlich geforderter Individualisierung und starken Gemeinschaftserlebnissen auf der Gymnasialstufe ergründen. Auf Ebene der Fachdidaktikausbildung für das gymnasiale Lehramt stellen sich wiederum Fragen der kulturellen Teilhabe und individualisierten Lebensentwürfen der Studierenden, denen Sarah Allenspach und Dieter Ringli in ihrem Referat nachgehen, wobei sie ebenfalls auf Daten aus Gruppendiskussionen zurückgreifen. Die beiden folgenden Beiträge sind ethnografisch grundiert: Christoph Marty wagt sich an das unterbelichtete Thema der Gefühle im gymnasialen Musikunterricht und relativiert mit seinem ethnografischen Blick auf die Praxis Genderstereotypien und trägt damit zum Aufbrechen von Kategorisierungen und Dichotomisierungen bei. Im abschliessenden Beitrag stellt Olivier Blanchard Befunde aus der teilnehmenden Beobachtung von musikdidaktischen Lehrveranstaltungen für das Lehramt Sekundarstufe I zur Diskussion. Ein besonderer Fokus seines Vortrags liegt auf dem Spannungsfeld zwischen Differenz und Gleichheit und den Normierungspraktiken im Hochschulunterricht.

Anna Schürch, eng vertraut mit der Geschichte und der Entwicklung des Fachs Bildende Kunst, bringt als Diskutantin die Aussenperspektive eines der oben erwähnten verwandten Fächer ein, in dem Kollektivität eine kleinere Rolle spielt, Aushandlungsprozesse in ästhetischen Fragen jedoch eine umso grössere Bedeutung haben.

[1] Musik, ein leerer Signifikant (2022–2025, https://data.snf.ch/grants/grant/206316); Gymnasialer Musikunterricht als Spiegel einer praxisbasierten Didaktik: Wissensordnungen in einem Schulfach ohne wissenschaftliche Disziplin und diskursiv konturierte Fachdidaktik (2023–2027, https://data.snf.ch/grants/grant/215658).

 

Beiträge des Symposiums

 

Der gymnasiale Musikunterricht im Spannungsfeld von Singularität und Kollektivität: Erste Resultate aus Gruppendiskussionen mit Lehrpersonen und Schüler:innen

David Lichtsteiner1, Gabriel Imthurn2
1Pädagogigsche Hochschule FHNW, Schweiz, 2Pädagogische Hochschule FHNW, Schweiz

Das Postulat der Individualisierung und Flexibilisierung von Lernprozessen prägt zunehmend die pluralistische und auf Diversität ausgerichtete Bildungslandschaft (Winkler et al., 2024). In seiner Theorie der Gesellschaft der Singularitäten weist Reckwitz’ (2017) jedoch auf die Notwendigkeit kollektiver Strukturen hin, die auch in einer individualisierten Gesellschaft essenziell sind, um soziale Kohäsion und Gemeinschaft zu gewährleisten. Für den Bereich der Musikpädagogik untersucht Hömberg (2021) das Spannungsfeld zwischen individualisierten und kollektivistischen Ansätzen und zeigt, dass in dieser Disziplin kontinuierlich zwischen den Polen Individuum und Kollektiv oszilliert wird: Während einerseits die Förderung individueller Kreativität sowie die Entwicklung eigenständiger musikalischer Fähigkeiten im Sinne eines auf Autonomie und Singularität ausgerichteten Bildungsverständnisses im Fokus stehen, wird andererseits Musik als Medium begriffen, das kollektive Erfahrungen, Gemeinschaft und soziale Verbundenheit ermöglicht. Dieses Spannungsfeld zwischen Singularität und Kollektivität akzentuiert sich besonders deutlich beim Singen (Imthurn, 2023). Während in der Bildungslandschaft individuelle Potentiale fokussiert und positiv gerahmt werden, stehen individuelle Gesangsdarbietungen im Schulbereich häufig in der Kritik und werden auf einer persönlichen Ebene als potenziell beschämend beschrieben. Gleichzeitig wird die gemeinschaftsbildende Dimension des Singens betont (Gembris, 2015) bzw. der Musikunterricht sogar über seine gemeinschaftsstiftende und damit soziale Funktion legitimiert (Kertz-Welzel, 2018).

Wir untersuchen in diesem Beitrag die Dynamiken dieses Spannungsfelds im gymnasialen Musikunterricht. Dafür wurden Gruppendiskussionen mit Fachteams von Musiklehrpersonen sowie Klassen des Grundlagen- und Schwerpunktfachs an Gymnasien und der Fachmittelschulen im Bildungsraum Nordwestschweiz durchgeführt und unter einer praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive (Bohnsack, 2021) ausgewertet. Ausgehend von Hömberg (2021) wird der Frage nachgegangen, wie Individualität und Kollektivität hergestellt und bearbeitet werden.

Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein Hauptanliegen von Musiklehrpersonen in der Förderung des Gemeinschaftlichen besteht. So streben sie danach – beispielsweise durch gemeinsames Musizieren oder chorischen Klassengesang – gemeinschaftsbildende Prozesse zu initiieren, sie sprechen dann von «zäme», gemeinsam. Dabei problematisieren sie die zunehmende Betonung der Individualisierung, welche die Bedeutung sozialer Eingebundenheit marginalisiert. Bezüglich des Singens verdeutlichen die Daten, dass die Orientierungsschemata von Lehrpersonen und einem Teil der Schüler:innen stark divergieren: Währenddem einige Schüler:innen das gemeinschaftliche Singen als bereichernd erleben, bevorzugen andere eine individualisierte Singpraxis oder lehnen Singen als Unterrichtsgegenstand gänzlich ab. Dies deutet auf die Notwendigkeit hin, der Frage nachzugehen, inwiefern Singularität im schulischen Kontext normalisiert ist und welche Formen von gemeinschaftlichen Erfahrungen von den Schüler:innen unter welchen Umständen angestrebt und wertgeschätzt werden.

Statt eine naive Idealisierung des Gemeinschaftlichen oder dessen kategorische Ablehnung im Sinne einer destruktiven Gleichschaltung vorzunehmen, argumentieren wir, dass im Musikunterricht die Frage verhandelt werden muss, wie in einer pluralistischen Gesellschaft starke, verbindende Gemeinschaftserlebnisse entstehen können, ohne die Individualität zu unterdrücken. Anders ausgedrückt: Wie kann es gelingen, trotz eines diversen und komplexen Umfelds bzw. trotz des vorherrschenden Postulats der Individualisierung Kollektivität produktiv zu initiieren? Klar ist: Das Spannungsverhältnis bleibt bestehen. Der Musikunterricht muss sowohl bezüglich seiner normativen Zielsetzungen reflektiert als auch auf eine ausgewogene Gestaltung von individueller Förderung und gemeinschaftsbildenden Erfahrungen überprüft werden. Dabei kann er sich als besonders geeignetes Feld erweisen, um die Herausforderungen und Potenziale einer pluralistischen Gesellschaft zu reflektieren, da der Anspruch auf gelebte Kollektivität in besonderer Weise an ihn herangetragen wird.

Bibliografie

Bohnsack, R. (2021). Dokumentarische Methode. In Rekonstruktive Sozialforschung: Einführung in qualitative Methoden (10., S. 35–71). Budrich.

Gembris, H. (2015). Transfer-Effekte und Wirkungen musikalischer Aktivitäten auf ausgewählte Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung: Ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung. Bertelsmann Stiftung.

Hömberg, T. (2021). Individuum versus Collectivum? Zu normativen Positionen und Polaritäten im musikpädagogischen Diskurs. Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, Sonderedition 4, 61–84. https://doi.org/10.18716/OJS/ZFKM/2021.2122

Imthurn, G. (2023). Assessment des Singens in der Sekundarstufe 1: Eine qualitative Interviewstudie. LIT Verlag. https://doi.org/10.52038/9783643803412

Kertz-Welzel, A. (2018). Globalizing Music Education: A Framework. Indiana University Press; JSTOR. https://doi.org/10.2307/j.ctt2204p3c

Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp Verlag.

Winkler, A., Kolb, A., & Conrad, S.-J. (2024). Individualisierung und Flexibilisierung in der Lehrpersonenbildung? Herausforderungen der Studiengangsentwicklung am Beispiel der Pädagogischen Hochschule Bern. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 42(2), 105-118. https://doi.org/10.36950/bzl.42.2.2024.10368

 

Schulmusikstudium: Zwischen Individualität und Teilhabe an der Gesellschaft

Sarah Allenspach, Dieter Ringli
Zürcher Hochschule der Künste, Schweiz

Der Musikunterricht auf Sekundarstufe II bietet ästhetische Erfahrungen, Performanz, körperliches Lernen, Outputs für Publikum und kreatives Arbeiten in verschiedenen Musikgenres (Jank, 2021). Dazu kommt, dass Musiklehrpersonen den Lehrplan zum Fach Musik kaum zur Kenntnis nehmen (Oelkers, 2010). Musiklehrpersonen gestalten ihren Unterricht daher frei. Diese Freiheit der Unterrichtsgestaltung und die vielfältigen Zugänge zur Musik bergen Potential, verschiedenste Lernstile und Interessen von Schüler*innen im Unterricht zu vereinen (Martens, 2015). Um diese Flexibilität gegenüber den Schüler*innen bei den angehenden Musiklehrpersonen zu etablieren, setzen die Hochschulen in der Ausbildung auf die individuelle Förderung von Stärken der künftigen Musiklehrpersonen (vgl. Winkler et al., 2024). Auch ist Musik eine kulturelle, auf Repertoire und Traditionen aufbauende Ausdrucksform unserer Gesellschaft. Durch einen fruchtbaren Musikunterricht sollen Schüler*innen befähigt werden, an der aktuellen Kultur und im weiteren Sinne an der Gesellschaft teilzuhaben (Lehmann-Wermser & Krupp, 2014; Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren, 2024, S. 99–102).

Angehende Musiklehrpersonen müssten also so ausgebildet werden, dass sie passende eigene Unterrichtsstile und -inhalte generieren und implementieren können, um die Vielfalt des Musikunterrichts, ihre individuellen Stärken und die Heterogenität der Schüler*innen beim Unterrichten unter einen Hut zu bringen. Für das Fach Musik auf Sekundarstufe II könnte das divergierende Inhalte, Kompetenzen und Methoden zur Folge haben, die auf den individuellen Stärken und Vorlieben der Musiklehrpersonen basieren. Die Individualisierung scheint also in einem Spannungsfeld mit einer gemeinsamen Musikkultur zu stehen. Die Rückkehr zu einem inhaltlich-methodischen Kanon wurde bisher weder von den Studierenden noch von der Hochschule gefordert; sie wäre wohl auch nicht umsetzbar, da kaum ein Konsens erzielbar wäre. Es stellt sich also die Frage: Wie vereinen die Musiklehrpersonen in Ausbildung und die Hochschulen diesen starken Fokus auf persönliche Stärken und individuelle Förderung mit den Ansprüchen des gymnasialen Musikunterrichts, zur Teilhabe an der aktuellen und traditionellen Kultur zu befähigen?

Wir haben im Rahmen des vom schweizerischen Nationalfonds geförderten Projektes bisher Studierende, Studiengangsleitung und Dozierende eines integrativen Studiengangs für Schulmusik II in drei zweistündigen Gesprächen befragt. In getrennten Gruppen haben wir leitfadengestützte Interviews durchgeführt, aufgezeichnet und verbatim transkribiert. Anschliessend haben wir die Daten nach reflexiver thematischer Analyse gemäss Brown & Clarke (2022) und nach Bohnsack (2021) mithilfe MAXQDA codiert und im Hinblick auf konjunktives und kommunikatives Wissen analysiert. Weitere Musikhochschulen und Pädagogische Hochschulen in der Deutschschweiz folgen.

Vorläufige Resultate aus der explorativen Phase unserer Forschungsarbeit zeigen, dass es für angehende Musiklehrpersonen heutzutage von Bedeutung ist, sich über das musikalische Handwerk hinaus Lehrkonzepte und Kompetenzen anzueignen, welche flexibel anwendbar sind und ein rasches und sachkundiges Einordnen unterschiedlichster Themen ermöglichen. Ein weiterer Ansatz, um individualisiertes Unterrichten mit einer gemeinsamen Kultur zu verbinden, ist das Aushandeln von relevanten Unterrichtsinhalten. Die angehenden Musiklehrpersonen haben einen engen Klassenzusammenhalt im Studium und tauschen sich da rege aus. So entwickeln und reflektieren sie während ihrer Studienzeit eigene Methoden, Inhalte und Ziele für ihren zukünftigen Beruf. Dies schafft ein homogenes Verständnis von Musikunterricht innerhalb einer Kohorte. Ob sich dies bei den konsekutiven Ausbildungsgängen auch so verhält, wird weiter zu untersuchen sein.

Durch allgemeingültige und anpassbare Lehrkonzepte und der Aushandlung untereinander werden angehende Musiklehrpersonen befähigt, Schüler*innen im Unterricht abzuholen und mit ihnen kulturell Aktuelles und Gesellschaftsrelevantes zu thematisieren, was historisch Themen nicht ausschliesst. Der Aushandlungsprozess von Unterrichtsinhalten scheint sowohl für die Studierenden als auch für die Studiengangsleitungen und die Fachdidaktik-Dozierenden von grosser Bedeutung zu sein. So werde implizit kulturelle Offenheit und Respekt vor verschiedenen Kulturen im Unterricht gefördert und es könne gelingen, das Spannungsfeld zwischen der Individualisierung von Musiklehrpersonen und deren Unterricht und einer gemeinsamen Musikkultur aufzulösen. Ob das eine blosse Wunschvorstellung ist, oder ob sich dieses Konzept in der Praxis bewährt, wird sich allerdings erst in Zukunft zeigen.

Bibliografie

Bohnsack, R. (2021). Rekonstruktive Sozialforschung: Einführung in qualitative Methoden (10. Auflage). Budrich.

Braun, V. & Clarke, V. (2022). Thematic analysis: A practical guide. SAGE.

Jank, W. (2021). Musik-Didaktik: Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II (9. Auflage). Cornelsen.

Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (2024). Rahmenlehrplan Gymnasiale Maturitätsschulen. https://www.edk.ch/de/dokumentation/rechtstexte-beschluesse/rechtssammlung?highlight=75d1dee2e1214ae196089d3d5095c2f5&expand_listingblock=99863d00c36b49dd84af819a31319510

Lehmann-Wermser, A. & Krupp, V. (2014). Musikalisches Involviertsein als Modell kultureller Teilhabe und Teilnahme. In B. Clausen (Hrsg.), Teilhabe und Gerechtigkeit (S. 21–39). Waxmann.

Martens, M. (2015).  Differenz und Passung: Differenzkonstruktionen im individualisierenden Unterricht der Sekundarstufe. Zeitschrift für Qualitative Forschung, 16(2), 211229. https://doi.org/10.3224/zqf.v16i2.24326

Oelkers, J. (2010). Lehrmittel: Rückgrat des Unterrichts. Folio (Berufsbildung Schweiz), 135(1), 18–21.

Winkler, A., Conrad, S.-J. & Kolb, A. (2024). Individualisierung und Flexibilisierung in der Lehrpersonenbildung? Herausforderungen der Studiengangsentwicklung am Beispiel der Pädagogischen Hochschule Bern. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 42(2), 105–118.  https://doi.org/10.36950/bzl.42.2.2024.10368

 

Erfahrung und Ausdruck von Gefühlen im Musikunterricht: Eine praxistheoretische Sicht auf eine Dichotomie

Christoph Marty
Hochschule Luzern – Musik, Schweiz

Ein in den Neurowissenschaften gängiges Emotionsverständnis unterscheidet zwischen der Erfahrung und dem Ausdruck von Gefühlen (Caruana & Gallese, 2012, S. 146). Diese Dichotomie geht auf die als «klassisch» (ebd.) bezeichnete Idee zurück, Gefühlserfahrung wie einen Sinneseindruck zu betrachten. Der Gefühlsausdruck geht den umgekehrten Weg: Sein Auslöser findet sich im Inneren und er richtet sich nach aussen. Parallel zur Verbreitung dieses Emotionsverständnisses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts polarisieren sich Geschlechterzuschreibungen (Hausen, 1976), auch bezüglich der klassischen Emotionsaspekte: Die Erfahrung ist weiblich, der Ausdruck männlich konnotiert (ebd., S. 22-30).

In einem praxistheoretischen Emotionsverständnis sind Gefühle hingegen etwas, das man nicht hat, sondern tut (Scheer, 2012). Folgt man dieser Auffassung, ist die Unterscheidung zwischen emotionaler Erfahrung und Ausdruck und mit ihr die Zuordnung zu einer weiblichen und männlichen Sphäre kein Faktum, sondern ein besonderes Tun, das in einen spezifischen kulturellen Kontext eingebettet ist (ebd., S. 198).

Der Zusammenhang zwischen Musik, Gefühl und Erziehung wird schon mindestens so lange diskutiert, wie musikpädagogisches Denken schriftlich überliefert wird (Vogt, 2016, S. 3-6). In der Musikpädagogik dominiert derzeit das klassische Emotionsverständnis (Piotraschke, 2021, S. 64-85). Weil im Musikunterricht die Erfahrung musikbezogener Gefühle nicht gesteuert und folglich auch nicht didaktisiert werden kann (Oberhaus, 2016, S. 41f.), weichen Publikationen zur Musikdidaktik bisweilen auf den Ausdrucksaspekt aus, zum Beispiel in Form von Sprechen über Musik (z.B. Rolle, 2016). Dadurch wird, angesichts der nach wie vor wirksamen Geschlechtscharaktere (Sarasin, 2018), ein männlich konnotierter Gefühlsaspekt ins Zentrum des Musikunterrichts gerückt, ein weiblich konnotierter aber an seinen Rand.

In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, wie Gefühle im Musikunterricht verhandelt werden. Dafür folge ich einer ethnografischen Forschungsstrategie (vgl. Breidenstein et al., 2020). Im Kalenderjahr 2024 nahm ich während jeweils mehrerer Wochen am Musikunterricht dreier Klassen an verschiedenen Deutschschweizer Gymnasien teil, in einem Fall auch an den Proben und an einem öffentlichen Konzert, an dem die besuchte Klasse auftrat. Mit den Lehrpersonen führte ich je ein Interview, mit Lernenden Gruppendiskussionen. Im ersten Halbjahr 2025 ist ein Besuch in einer weiteren Klasse geplant.

Eine praxistheoretische Sicht auf meine Feldprotokolle und Gesprächstranskriptionen ermöglicht es, Gefühlspraktiken im Unterrichtshandeln jenseits von Erfahrung und Ausdruck in den Blick zu nehmen. So spielten zum Beispiel sowohl im beobachteten Unterricht wie in den Gesprächen Gefühle eine wichtige Rolle zur Konstitution eines (Klassen-)Kollektivs, wenn Lernende einer Klasse beispielsweise im gemeinsamen Musizieren Zufriedenheit suchen, oder zur Distinktion einzelner Gruppen, wenn gute Chorsänger:innen Vergnügen als ein Merkmal besetzen, das sie von anderen Gruppen abhebt. Mitunter können Gefühlspraktiken auch den Charakter eines didaktischen Hilfsmittels annehmen: Als mehrere Lernende angesichts eines peinlich dämlichen Liedtexts stöhnten und Witze rissen, changierte die Lehrperson virtuos zwischen einem belustigten Mitschwingen mit der Klasse und konzentriertem Proben, was letzteres vielleicht erst ermöglichte.

Der Fokus auf Gefühlspraktiken zeigt auf, dass die Binarität einer weiblichen Erfahrung und eines männlichen Ausdrucks Handeln im Feld häufig nur unzulänglich erklären kann. Denn dort scheint Ausdruck nicht besonders männlich konnotiert zu sein: Die Trennlinien zwischen ausdrucksstarken und -schwachen Lernenden verlaufen nicht entlang ihres Geschlechts, eher gleichen sich befreundete Lernende in ihrer Ausdrucksintensität einander an. Zudem spielt Ausdruck häufig gar keine bedeutende Rolle, auch wenn er explizit thematisiert wird: Mehrmals, als in musikalischen Proben jemand ein ausdrucksstarkes Musizieren forderte, konnte ich im anschliessenden Singen oder Spielen der Beteiligten keine markante klangliche Veränderung wahrnehmen, obwohl jedes Mal alle zufrieden mit dem Resultat waren.

Bibliografie

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H. & Nieswand, B. (2020). Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung (3. Auflage). UVK.

Caruana, F. & Gallese, V. (2012). Overcoming the emotion experience/expression dichotomy. Behavioral and Brain Sciences, 35(3), 145-146. https://doi.org/10.1017/S0140525X11001476

Hausen, K. (1976). Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere: Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In W. Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (S. 363-393). Klett-Cotta.

Oberhaus, L. (2016). Gefühlsduselei: Zur Un-Unterrichtbarkeit musikbezogener Gefühle im Musikunterricht. Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, 16(Sonderedition 3), 41-53. https://doi.org/10.18716/ojs/zfkm/2016.2117

Piotraschke, M. (2021). Gefühle im Musikunterricht: Eine hermeneutische Studie zur Relevanz leiblicher Affektivität für musikpädagogisches Denken und Handeln. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00003950

Rolle, C. (2016). Gefühle als Argumente? Zur produktiven Rolle von Emotionen beim Sprechen über Musik. Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, 16(Sonderedition 3), 15-30. https://doi.org/10.18716/ojs/zfkm/2016.2115

Sarasin, P. (2018). Gender Studies und die «Polarisierung der Geschlechtscharaktere»: Ein alter Text verdient es, neu gelesen zu werden. Geschichte der Gegenwart. https://doi.org/10.5167/uzh-165023

Scheer, M. (2012). Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history?) A Bourdieuian approach to understanding emotion. History and Theory, 51, 193-220.

Vogt, J. (2016). Musikpädagogik und Gefühl: Zu Geschichte und Gegenwart eines problematischen Verhältnisses. Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, 16(Sonderedition 3), 1-14. https://doi.org/10.18716/ojs/zfkm/2016.2114

 

Sich in ein Musikstück einschreiben (können): Differenzproduktion in musikdidaktischen Lehrveranstaltungen aus der Perspektive einer Soziologie der Praxis

Olivier Blanchard
Pädagogische Hochschule Luzern, Schweiz

Musik ist «‚körperlich‘. Sie entzückt, reißt hin, bewegt und stachelt auf: Dies ist weniger jenseits als diesseits der Worte, in den Gesten und Bewegungen, den Rhythmen, den Beschleunigungen und Verlangsamungen, Spannungen und Entspannungen des Körpers.» (Bourdieu, 1993, S. 149) In meinem Beitrag lege ich einen Fokus auf diese Körperlichkeit der Musik und untersuche, wie sie sich bei der Hervorbringung von Musikstücken in musikdidaktischen Lehrveranstaltungen zeigt.

Die Untersuchung gründet auf ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprojekt und erfolgt aus der Perspektive einer Soziologie der Praxis nach Hillebrandt (2023). Diese fragt danach, aus welchen materiellen Elementen die Praktiken der Sozialität bestehen. Anders als bei einem kommunikationstheoretischen Zugang, wo diese materiellen Elemente als Bestandteile von Mechanismen der Kommunikation gesehen werden, geht die Soziologie der Praxis davon aus, dass es Partikel sind, die erst durch ein situatives Zusammenwirken in Ereignissen Praktiken erzeugen (ebd., S. 11). «Dinge, Artefakte, sozialisierte Körper, […] Kunstwerke, Musikkompositionen, […] müssen sich ereignen, um wirksam zu sein.» (ebd., S. 13) Körper ereignen sich dadurch, dass sie mittels Performativität in den Verlauf der Praxis eingeschrieben werden (ebd., S. 48). Umgekehrt schreibt sich durch Praktiken auch vergangene Sozialität in die Körper ein. Dies macht es den Einzelnen überhaupt möglich, sich an gegenwärtiger Praxis zu beteiligen (ebd., S. 53–54).

Ausgehend von den Feststellungen, dass die Fachdidaktik Musik in der Schweiz öffentlich kaum konturiert ist (vgl. Huber & Marty, 2021) und dass der Fachgegenstand «Musik» in der musikpädagogischen Diskussion weitgehend unbeachtet bleibt (Geuen, 2018), wird in diesem Projekt untersucht, welche Praktiken innerhalb der Ausbildung zur (Musik-)Lehrperson für die Sekundarschule 1 welchen spezifischen Fachgegenstand «Musik» formen. Mittels ethnografischen Verfahren wird an musikdidaktischen Lehrveranstaltungen an Deutschschweizer Pädagogischen Hochschulen beobachtend teilgenommen, wobei auf eine starke Teilnahme geachtet wird, um die leibliche Dimension der Praxis maximal einholen zu können (Hitzler, 2016, S. 19). Die gemachten Erfahrungen werden zu Feldprotokollen und analytical notes verarbeitet, die interpretativ ausgewertet werden (Breidenstein et al., 2020).

Eine erste Erkenntnis ist, dass die Praktiken in den Lehrveranstaltungen weitgehend dazu beitragen, ein Konzept von Musik zu konstruieren, das vergleichbar mit dem jenem des «Werks» in der deutschsprachigen Musikwissenschaft ist (vgl. Dahlhaus, 1986, S. 19–27), das wiederum im Sinne eines «Musikstücks» in der musikpädagogischen Diskussion eine stilistische Ausweitung erfährt: Musik muss sich in Werken oder Musikstücken manifestieren, die in unterschiedlichen Situationen reproduzierbar sind. Diese Erkenntnis steht im Gegensatz zur wissenschaftlichen Musikpädagogik, die sich dafür ausspricht, dass der «Gegenstand des Fachs Musik […] nicht in bestimmten Musikstücken, sondern in der Art, mit Musikstücken umzugehen», liege (Wallbaum, 2006, S. 151), was auch in musikdidaktischen Konzeptionen rezipiert wird (Jank et al., 2017, S. 90). Aus der oben beschriebenen Perspektive handelt es sich jedoch bei der Gegenüberstellung von «Stück» und «Umgang» um eine falsche Dichotomie. Musikstücke sind hier keine transzendentalen Objekte, sondern ereignen sich in den Praktiken der Lehrveranstaltungen.

Als weitere Erkenntnis lässt sich festhalten, dass bei jeder Hervorbringung von Musikstücken in den Lehrveranstaltungen die einzelnen Beteiligten durch spezifische performative Praktiken Zugehörigkeit oder Distanz zum jeweiligen Stück markieren. Hier kann nun eine diskriminierungskritische Perspektive wirksam werden. Denn einerseits ist das individuelle Vermögen, sich an diesen Praktiken kompetent zu beteiligen, abhängig von den Einschreibungen, die sich im Verlaufe des Lebens ereignet haben (Hillebrandt, 2023, S. 54). Andererseits müssen sich auch Herabsetzungen, Bestätigungen, Ermächtigungen, Solidaritätsbekundungen usw. praktisch ereignen (siehe auch Butler, 2006, S. 38–66). Mit einem Fokus auf diese Anschlusspraktiken lässt sich also zeigen, welche Stücke, welche Aufführungen und damit welche Subjekte in den Lehrveranstaltungen normativ aufgewertet werden. So können die Erkenntnisse einer kultursensiblen Musikpädagogik dienen, indem sie die Bedingungen des Musikdidaktikunterrichts zur gelingenden Teilnahme an der Hervorbringung von Musikstücken in den Fokus nehmen.

Bibliografie

Bourdieu, P. (1993). Soziologische Fragen (7. Auflage). Suhrkamp.

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H., & Nieswand, B. (2020). Ethnographie: Die Praxis der Feldforschung. UVK Verlag.

Butler, J. (2006). Haß spricht: Zur Politik des Performativen. Suhrkamp.

Dahlhaus, C. (1986). Musikästhetik (4. Auflage). Laaber.

Geuen, H. (2018). Musikbegriffe. In M. Dartsch, J. Knigge, A. Niessen, F. Platz, & C. Stöger (Hrsg.), Handbuch Musikpädagogik: GrundlagenForschungDiskurse (S. 18–24). Waxmann.

Hillebrandt, F. (2023). Ereignistheorie für eine Soziologie der Praxis: Das Love and Peace Festival auf Fehmarn und die Formation der Pop-Musik. Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39022-8

Hitzler, R. (2016). Macht denn das noch Sinn? Ein Votum für bedingte Methodentoleranz. In R. Hitzler, S. Kreher, A. Poferl, & N. Schröer (Hrsg.), Old SchoolNew School? Zur Frage der Optimierung ethnographischer Datengenerierung (S. 15–26). Oldib.

Huber, J., & Marty, C. (2021). Die diskursive Behauptung einer eigenen Musikpädagogik in der Deutschschweiz im Spiegel von Rezensionen. In J. Hasselhorn, O. Kautny & F. Platz (Hrsg.), Musikpädagogik im Spannungsfeld von Reflexion und Intervention. Music education between (self-)reflections and interventions (S. 277–296). Waxmann.

Jank, W., Bähr, J., & Breitweg, J. (2017). Musik-Didaktik: Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II (6. Auflage). Cornelsen.

Wallbaum, C. (2006). Was soll der Gegenstand von Musik in der Schule sein? In H. J. Kaiser, D. Barth, F. Heß, H. Jünger, C. Rolle, J. Vogt, & C. Wallbaum (Hrsg.), Bildungsoffensive Musikunterricht? Das Grundsatzpapier der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Diskussion (S. 141–153). ConBrio.