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SYMP 30: Bildung ‘in der Grauzone’ – macht- und ungleichheitstheoretisch informierte Erkundungen jenseits von Bildungsinstitutionen
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Bildung ‘in der Grauzone’ – macht- und ungleichheitstheoretisch informierte Erkundungen jenseits von Bildungsinstitutionen Wenn Bildung in erziehungswissenschaftlichen Annäherungen als ein Prozess verstanden wird, „in dem mittels der Ansprache der Individuen in der Welt und der Auseinandersetzung der Individuen mit der Welt Subjektivität und Subjekt-Status ermöglicht und beständig verändert wird“ (Heinemann & Mecheril, 2018, S. 248), bleibt es zunächst offen, wie eine so aufgefasste Bildung gerahmt wird. Und dennoch werden unter dem Stichwort ‘Bildung’ in Fachdiskursen oft explizit oder implizit öffentliche Institutionen formaler Bildung als dominante Akteur*innen aufgerufen. Ein breites Spektrum von alternativen oder ergänzenden Bildungsangeboten – von professionalisierten Nachhilfe-Angeboten bis zu bildungspolitischen Initiativen und Kurzzeitbildungsprojekten, von Elterngruppen zu familialen Bildungsbewegungen – gelangt seltener in den Fokus der Bildungsforschung (Andrews, 2013; Geier & Frank, 2021; Pfaff et al., 2019; Zhang & Bray, 2020). Das Symposium bringt Forschungsbeiträge zusammen, die Bildungsakteur*innen jenseits von öffentlichen Bildungsinstitutionen in den Blick nehmen und deren über die Bildungsinstitutionen hinausgehenden Bildungsbemühungen nachzeichnen. Dabei wird dieses Bildungsgeschehen als durch Macht- und Ungleichheitsverhältnisse durchzogen (Riegel, 2016) analysiert. Bildungsprojekte, -initiativen und -organisationen sowie familiale Bildungsbewegungen in Auseinandersetzung mit oder im Schatten von öffentlichen Bildungsinstitutionen sollen Gegenstand des geplanten Symposiums werden. In einem interdisziplinären, projekt- und institutionenübergreifenden Austausch wird folgenden Fragen nachgegangen:
Um diesen Fragen nachzugehen, werden im Symposium zunächst Schlaglichter auf vier einschlägige Forschungsprojekte geworfen: Im ersten Beitrag geht Philipp Eigenmann am Beispiel von lokalen Vereinigungen von italienischen Eltern, privat getragenen Beratungsstellen für Eltern so genannter fremdsprachiger Kinder und Einzelinitiativen zur didaktischen Ausgestaltung des Deutschunterrichts für diese Kinder in historischer Perspektive der Frage nach, in welchem Verhältnis die frühen Praktiken migrationsbezogener Bildungsarbeit «in der Grauzone» zum öffentlichen Bildungswesen standen und letzteres zu beeinflussen vermochten. Itta Bauer und Sara Landolt beschäftigen sich mit shadow education und analysieren im Anschluss an die Akteur-Netzwerk-theoretischen Überlegungen einen kostenfreien Kurs zur Vorbereitung aufs Gymnasium als eine dynamische Entität mit multiplen Akteur*innen, Artefakten und Aktivitäten. Daran schliesst Ursina Jaeger an, die den Institutionalisierungen neuer Bildungspraxen nachgeht und am Beispiel von Familien, die ihre Kinder zu Hause beschulen, untersucht, wie Wissen um Wege der Abkehr von der öffentlichen Schule tradiert, rezipiert, und weitergegeben wird. Lalitha Chamakalayil, Luisa Genovese, Wiebke Scharathow und Oxana Ivanova-Chessex stellen in ihrem Beitrag Analysen zu elterlichen Bemühungen bei der Subjektbildung ihrer Kinder und damit einhergehenden Aushandlungen in Bezug zu fachlich-institutionellem Wissen zur Diskussion. In einer abschliessenden beitragsübergreifenden Diskussion werden die Ergebnisse der jeweiligen Studien im Hinblick auf die Frage diskutiert, welche Schlussfolgerungen auf der Grundlage dieser Analysen für die öffentlichen Institutionen formaler Bildung gezogen werden können. Beiträge des Symposiums Elternkomitees, Beratungsstellen, Deutschkurse: Migrationspädagogische Pionierpraktiken der 1970er-Jahre Im Zuge der Anwerbung ausländischer Arbeiter:innen kam seit den 1960er-Jahren zunehmend die Frage auf, wie deren Kinder in der Schweiz angemessen zu beschulen seien (Eigenmann, 2017). Seit den frühen 1970er-Jahren veröffentlichte die schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren «Empfehlungen zur Schulung der fremdsprachigen Kinder» (EDK, 1995), wonach diese Kinder grundsätzlich in die öffentlichen Schulen zu integrieren seien und jede Diskriminierung zu vermeiden sei. Dazu gehörte, dass den Kantonen schon früh empfohlen wurde, ein genügendes Angebot zusätzlicher Sprachkurse in der Schulsprache (deutsch oder französisch) bereitzustellen sowie das Recht des Kindes zu respektieren, die Sprache und Kultur des Herkunftslandes zu pflegen. Die Umsetzung dieser Vorgaben indes fand oftmals nicht mitten in, sondern am Rande der Bildungsinstitutionen statt. Der geplante Beitrag rekonstruiert fallbezogen, wie weitere Akteure neben den etablierten Beteiligten der öffentlichen Schulen massgeblich daran beteiligt waren, in den 1970er- und 1980er-Jahren für fremdsprachige Kinder eine den Empfehlungen der EDK entsprechende Schulbildung zu realisieren. Dargestellt werden erstens lokale Vereinigungen von italienischen Eltern, so genannte «comitati dei genitori», die sich trotz fehlender politischer Mitspracherechte ab 1970 in der lokalen Bildungspolitik engagierten. Daraus entstanden gemeinsam getragene Betreuungs- oder Unterstützungsangebote wie Hausaufgabenhilfen für fremdsprachige Kinder. Der zweite Fall betrifft den Aufbau von privat getragenen Beratungsstellen für Eltern fremdsprachiger Kinder. Diese informierten über das schweizerische Bildungssystem oder unterstützten Eltern fremdsprachiger Kinder – beispielsweise bei ungerechtfertigter Zuteilung in eine Sonderklasse. Drittens wird das Engagement von Einzelinitiativen zur didaktischen Ausgestaltung des Deutschunterrichts für fremdsprachige Kinder in Kindergarten und Primarschule beleuchtet, bei denen damals schon auf die Relevanz des Hochdeutscherwerbs und des Erlernens der Alltagsprache hingewiesen wurde. Diese drei im Beitrag beispielhaft rekonstruierten Aktivtäten sind retrospektiv als pionierhaft zu charakterisieren, denn sie prägten in der Folge die in den 1980er-Jahren sich etablierende interkulturelle Bildung (Poglia, Perret-Clermont, Gretler & Dasen, 1995; Allemann-Ghionda, 1997; Eigenmann, 2018) als Vorläuferin der heutigen Diskussion um Schule in der Migrationsgesellschaft (Hummrich & Karakaşoğlu, 2021). Der Beitrag intendiert in historischer Perspektive systematisierend auszuloten, in welchem Verhältnis diese frühen Praktiken migrationsbezogener Bildungsarbeit «in der Grauzone» zum öffentlichen Bildungswesen standen und letzteres zu beeinflussen vermochten. Als Quellenkorpus dienen Dokumente zu italienischen Organisationen aus dem Schweizerischen Sozialarchiv Zürich, Bestände aus lokalen Schulgemeindearchiven zu den Elternkomitees, Unterlagen aus Privatnachlässen sowie Transkriptpassagen von Oral History-Interviews. Der Beitrag knüpft an neuere Ansätze der Verknüpfung von Migrations- und Wissensgeschichte an (Lässig & Steinberg, 2017; Espahangizi, 2022) und überträgt deren Analyseperspektive auf bildungshistorische Fragestellungen. Insbesondere unter dem Aspekt der Wissenszirkulation soll herausgearbeitet werden, welche Wissensbestandteile die damalige Pionierarbeit prägten und diese vom öffentlichen Bildungssystem abzugrenzen vermochten. Zudem soll dargestellt werden, wie Teile dieses Wissens im Zuge der Institutionalisierung der interkulturellen Bildung in den 1980er-Jahren zu einem konstitutiven Bestandteil des öffentlichen Bildungswesens werden konnte. Schliesslich zeigt die historische Fallanalyse, wie sich ein unabdingbares Stützsystem des öffentlichen Bildungswesens in einer «Grauzone» des Bildungswesens herausbilden konnte. Bibliografie
Allemann-Ghionda, C. (1997). Interkulturelle Bildung und Forschung: der mehrsprachigen und plurikulturellen Schweiz in die Wiege gelegt? In C. Allemann-Ghionda (Hrsg.), Multikultur und Bildung in Europa (S. 311–320). Bern: Peter Lang. EDK. (1995). Empfehlungen und Beschlüsse. Bern: Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Eigenmann, P. (2017). Migration macht Schule. Bildung und Berufsqualifikation von und für Italienerinnen und Italiener in Zürich, 1960-1980. Zürich: Chronos. Eigenmann, P. (2018). Vom Aktivismus zur Professionalität – Voraussetzungen und Folgen der Institutionalisierung interkultureller Pädagogik in den 1980er-Jahren. Jahrbuch für Historische Bildungsforschung (Bd. 23, S. 98–118). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Espahangizi, K. (2022). Der Migration-Integration-Komplex: Wissenschaft und Politik in einem (Nicht-)Einwanderungsland, 1960-2010. [Göttingen] Konstanz: Konstanz University Press. Hummrich, M. & Karakaşoğlu, Y. (2021). Schule in der Migrationsgesellschaft. In T. Hascher, T.-S. Idel, & W. Helsper (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (S. 1–20). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-24734-8_37-1 Lässig, S. & Steinberg, S. (2017). Knowledge on the Move. New Approaches toward a History of Migrant Knowledge. Geschichte und Gesellschaft, 43(3), 313–346. Poglia, E., Perret-Clermont, A.-N., Gretler, A. & Dasen, P. (1995). Interkulturelle Bildung in der Schweiz. Fremde Heimat. Bern: Peter Lang. Raus aus der Komfortzone! Ein privates, kostenloses Bildungsprogramm gegen soziale Ungleichheiten am Übertritt ans Gymnasium In unserem Beitrag wird das private, kostenfreie Lernprogramm «Go for it!» analysiert, dass für Kinder aus sozial benachteiligten Familien (tiefes Einkommen, Deutsch als Zweitsprache) Kurse zur Vorbereitung auf die hochselektive zentrale Aufnahmeprüfung ans Gymnasium (ZAP) in Zürich anbietet. Solche und ähnliche ergänzenden Bildungsangebote werden auch als «shadow education» (e.g. Bray, 2017) bezeichnet, weil sie in einer Grauzone agieren, die sich jenseits von institutionalisierten Bildungsstrukturen entwickelt hat. Gleichzeitig stehen diese Angebote in einem anspruchsvollen Spannungsverhältnis zur formalen Bildung, insbesondere wenn sie Lücken in der formalen Schulbildung zu füllen versuchen oder emanzipatorische Ziele verfolgen (vgl. Bauer & Landolt, 2022). Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der Initiative «Go for it!» und unseren teilnehmenden Beobachtungen im ZAP-Vorbereitungskurs mit 13 Jugendlichen (11-12 Jahre) (2016-2017) wendeten wir verschiedene qualitative Erhebungsmethoden an, z.B. halb-strukturierte Interviews mit Initiator:innen, Teilnehmenden und Kursmentor:innen, teilnehmende Beobachtungen im Kurs, Sammlung von Artefakten. Analysiert haben wir die Daten durch offenes Kodieren, wobei wir sowohl induktiv wie auch deduktiv kodiert haben (Kelle, 2005). Als zentrale Forschungsfrage kristallisierte sich dabei folgende Frage heraus: Wie kommt es, dass sich die Initiative und der ZAP-Vorbereitungskurs als eine dynamische Entität mit multiplen Akteur:innen, Artefakten und Aktivitäten zeigt und wie gehen wir damit um, dass «Go for it!» dabei immer wieder etwas anderes zu sein scheint? Um dieser Frage nachzugehen, stützen wir uns theoretisch-konzeptionell auf das Konzept «object multiple» (Mol, 2002; Law & Singleton, 2005), das im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie entwickelt wurde. Wenn wir «Go for it!» als «object multiple» denken, wird es nicht nur als jeweils etwas anderes inszeniert, sondern handelt selbst und produziert dabei verschiedene Realitäten, die gleichzeitig auftreten können (Burnett, 2017: 15; Mol, 2002: 6). Dementsprechend verstehen wir «Go for it!» in seiner Variabilität und Gleichzeitigkeit als «object multiple» und bauen unsere Argumentation auf vier analytischen Metaphern auf: region, network, fluid und fire (Law & Singleton, 2005). Während wir in einem 2022 publizierten Artikel detailliert auf diese vier Metaphern eingegangen sind, möchten wir in diesem Beitrag die zwei Metaphern «network» und «fire» fokussieren und unser empirisches Material z.T. neu interpretieren. Die Metapher «network» fordert uns dazu auf, das Lernprogramm «Go for it!» in seinem Netzwerk zu analysieren, da es in diesen Beziehungen sichtbar wird und erkannt werden kann. Analytisch-empirisch konzentrieren wir uns auf die Beziehung zwischen den Kursleiter:innen und den Teilnehmenden, um zu verstehen, wie «Go for it!» eine Gruppe von Schüler:innen als begabte junge Menschen anspricht und dadurch den Kurs formt. Die dabei zu Tage tretenden Adressierungen führen uns zur (selbs-)kritischen Frage, wie verhindert werden kann, dass die Teilnehmenden nicht durch die Linse der ZAP-Anforderungen aus einer Defizit-orienterieten Perspektive adressiert werden. Grundannahme der Metapher «fire» ist, dass «fire objects depend upon otherness, and that otherness is generative” (Law & Singleton, 2005: 344). Die Denkfigur «fire» ermöglicht uns, einen rassistischen Vorfall («Othering») in einem Aufnahmegespräch mit einer Schüler:in für «Go for it!» nicht nur klar als solchen zu bezeichnen. «Fire» regte uns dazu an, die Initiative und uns selbst mit unangenehmen Fragen zu konfrontieren, die jenseits der Komfortzone liegen, weil sie allen Beteiligten eine kritische Selbstreflexion abverlangen. Dieser Prozess ist essenziell, um den Jugendlichen einen Lernraum zu bieten, in dem sich alle willkommen, wohl und unterstützt fühlen. Der Beitrag schliesst mit einem sehr offenen Einblick, warum und wie wir trotz dieser Herausforderungen auch weiterhin die Initiative von «Go for it!» unterstützen. Die Verstrickung von empirischer Feldforschung mit dem theoretischen Konzept des «object multiple» nehmen wir als Herausforderung an, die uns auch selbst aus der «Komfortzone» herausführt, weil sie aufwühlend, anregend und produktiv zugleich ist. Bibliografie
Bauer, I. & Landolt, S. (2022): Studying region, network, fluid, and fire in an educational programme working against social inequalities. Geoforum 136: 11-20. Bray, M. (2917): Schooling and its supplements: changing global patterns and implications for comparative education. Comparative Educational Review 61(3): 469-491. Burnett, C. (2017): The fluid materiality of tables: examining `the IPad multiple` in a primary classroom. In: Burnett, C. et al. (eds.): The Case of the IPad: Mobile Literacies in Education. Singapore: Springer, 15-29. Kelle, U. (2005): «“Emergence” vs. “forcing” of empirical data? A crucial problem of “Grounded Theory” reconsidered». Forum Qualitative Sozialforschung Forum 6(2), https://doi.org/10.17169/fqs-6.2.467. Law, J. & Singleton, V. (2005): Object lessons. Organization 12(3): 331-355. Mol, A. (2002): The Body Multiple: Ontology in Medical Practice. Durham: Duke University Press. Die Diversität pädagogischer Alternativität con-/post-covid Im Zuge der COVID-19-Pandemie und der staatlich verordneten Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus – u.a. auch Schul[haus]schliessungen – sind bis dato ungesehene soziale Beziehungen und Differenzierungen entstanden. Die Stärkung bestimmter in der Pandemie konzentrierter Wissensformen (z.B. zu Impfstoffen) brachte mitunter staats- und schulkritisches Gegenwissen hervor, um das sich, auch durch die Austausch- und Kommunikationsmöglichkeiten der sozialen Medien, neue Mikroöffentlichkeiten bildeten. Die ad-hoc entstandene pädagogische und «gesellschaftliche Not-Ordnung» (Löw und Knoblauch 2020, 89) ist für das schulische Feld erkenntnisreich nachgezeichnet worden (Budde u. a. 2022; Kanz, Hummrich, und Asbrand 2023; Miller und Halbheer 2024). Weniger ist bislang trotz grosser medialer Beachtung (Stichworte: Staatsverweigerer, Massnahmengegnerinnen, …) bekannt zu jenen Familien, die sich con-/post-covid aus einer Gemengelage und Schul- und Staatskritik dazu entschlossen, ihre Kinder nicht oder nicht mehr an öffentliche Schulen zu schicken. Basierend auf den Daten einer laufenden explorativen und multi-lokalen ethnografischen Studie zu Institutionalisierungen neuer Bildungspraxis jenseits der öffentlichen Schule (Jaeger 2024) spürt der Beitrag der Frage nach, wie Wissen um Wege der Abkehr von der öffentlichen Schule tradiert, rezipiert, und weitergegeben wird. Empirisch stehen damit Familien im Zentrum, die ihre Kinder mittlerweile zuhause beschulen, ausgewandert sind, oder in diesen fünf Jahren con-/post-covid gemeinsam mit ähnlich-Gesinnten kleine neue Lernorte etabliert haben. Die teilnehmende Beobachtung zu und in deutschsprachigen Familien in der Schweiz, in Spanien, in Paraguay sowie online bringt damit auch das gesellschaftsanalytische Interesse an der sozialen Diversifizierung jener «repugnant cultural others» (Harding 1991) ein, die sich vom Staat und dessen Bildungsangeboten abwenden. Anleihen machend an sozialtheoretischen Figuren der «Hyperkonnektivität und ihren Begleiterscheinungen» (Brubaker 2023) sowie der reflexiven Diversitätsforschung (Bührmann 2020; Nieswand 2017) wird im Beitrag argumentiert, dass kritische Analysen dessen, wie sich diese neue Diversität pädagogischer Alternativität con-/post-covid konfiguriert, einer stärkeren Berücksichtigung sowohl lokaler emischer Perspektiven wie auch digitaler Wirkungs-, Inspirations- und Resonanzräume bedürfen. Entlang der empirischen Daten dreier Familien wird nachgezeichnet, wie pädagogische Alternativität im online-offline Nexus dynamisiert wird (Blommaert und Jie 2020), und wie diese neuen Entwicklungen mit der älteren erziehungswissenschaftlichen Literatur über alternative Bildungsformen in einen Dialog zu bringen sind. Bibliografie
Blommaert, Jan, und Dong Jie. 2020. «Postscript: When Your Field Goes Online». In Ethnographic Fieldwork, 86–98. Multilingual Matters. https://doi.org/10.21832/9781788927147-008. Brubaker, Rogers. 2023. Hyperconnectivity and Its Discontents. Cambridge, UK Hoboken, NJ: Polity Press. Budde, Jürgen, Drorit Lengyel, Caroline Böning, Carolina Claus, Nora Weuster, Katharina Doden, und Tobias Schroedler, Hrsg. 2022. Schule in Distanz – Kindheit in Krise: Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf Wohlbefinden und Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen. Erziehungswissenschaftliche Edition: Persönlichkeitsbildung in Schule. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36942-2. Bührmann, Andrea D. 2020. Reflexive Diversitätsforschung: eine Einführung anhand eines Fallbeispiels. utb Soziologie 5469. Opladen Toronto: Verlag Barbara Budrich. https://doi.org/10.36198/9783838554693. Harding, Susan. 1991. «Representing Fundamentalism: The Problem of the Repugnant Cultural Other». Social Research 58 (2): 373–93. Jaeger, Ursina. 2024. «„Schau hier, alles Reichsbürger, so sehen heutzutage Nazis aus!“ Ethnografische Forschung mit deutschen Auswanderfamilien in Paraguay im Angesicht komplexer Positioniertheiten». Zeitschrift für Qualitative Forschung 1 (Soziale Arbeit und Forschung im Kontext (extrem) rechter Verhältnisse. Von der Notwendigkeit relationaler Perspektivierungen): 34–50. Kanz, Katharina, Merle Hummrich, und Barbara Asbrand. 2023. «Das schweigende Klassenzimmer. Jugendliche Orientierungen auf Individuation in der entgrenzten Schule». ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Nr. 2 (Mai), 154–70. https://doi.org/10.3262/ZSE2302154. Löw, Martina, und Hubert Knoblauch. 2020. «Dichotopie. Die Refiguration von Räumen in Zeiten der Pandemie». In Die Corona-Gesellschaft: Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, 89–99. X-Texte zu Kultur und Gesellschaft. Bielefeld: Transcript. Miller, Damian, und Ulrich Halbheer. 2024. «Schule findet statt - trotz Corona». Zytglogge. 2024. https://www.zytglogge.ch/schule-findet-statt-trotz-corona-978-3-7296-5169-2. Nieswand, Boris. 2017. «Towards a Theorisation of Diversity. Configurations of Person-Related Differences in the Context of Youth Welfare Practices». Journal of Ethnic and Migration Studies 43 (10): 1714–30. https://doi.org/10.1080/1369183X.2017.1293593. «@da könnt ihr mir erzählen was ihr wollt (.) aber wir kennen unser Kind@» - Elterliche Positionierungen angesichts fachlich-institutioneller Wissensautoritäten Eltern stehen vermehrt im Fokus pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Dies gilt insbesondere für Eltern, die von einer in Bildungsinstitutionen wirksamen «mythischen Norm» (Lorde, 1993, S. 202) einer bürgerlichen, ‘weißen’, heterosexuell lebenden, gesunden und leistungsfähigen ‘Normalfamilie’ (vgl. Fitz-Klausner et al., 2021) abweichend positioniert werden. Diese Markierungen stellen oft immer noch einen (latenten) Ausgangspunkt für die grundlegenden institutionellen Logiken von Bildungsinstitutionen dar. Die darin enthaltenen Normen fungieren als ein «Gitter der Lesbarkeit» (Butler, 2009, S. 73), mit welchem elterliche Praktiken oder Subjektpositionen als legitim oder illegitim gedeutet und sozial eingeordnet werden können. Gleichzeitig müssen sich Eltern zu diesen institutionalisierten Normalitäten ins Verhältnis setzen und manchmal um Gültigkeit dieser Normen und des darin eingelagerten Wissens ringen (Jergus, 2017; Krinninger & Kesselhut, 2020). Auf der Grundlage des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojektes «Elternengagement im Kontext von Bildungskindheiten: Formierungen und Aushandlungen in Migrationsverhältnissen» (Nr. 215484) wird im Beitrag der Frage nachgegangen, wie sich Eltern, zum fachlich-institutionellen Wissen positionieren und wie ihre Positionierungen mit gesellschaftlichen Macht- und Differenzverhältnissen und hegemonialen Diskursen verwoben sind. Diesen Fragen wird anhand der subjektivierungstheoretisch informierten Rekonstruktion (Ricken et al., 2023; Rose, 2019; Spies, 2019) eines biographischen Interviews (Schütze, 1983) mit einer Mutter nachgegangen. Die Biographie wird dabei als eine Schnittstelle zwischen dem erzählenden Subjekt und der sozialen Wirklichkeit, als ein Zugang zu «Subjekt-Kontext-Relationen» (Dausien et al., 2016, S. 30) verstanden. Im Fokus des Beitrags stehen elterliche Auseinandersetzungen mit der Autorität des fachlich-institutionellen Wissens im Prozess der geschlechtlichen Selbstpositionierung des Kindes. In der Analyse wird auf den in der Narration geschilderten Kipp-Moment in die ausserinstitutionelle «Grauzone» eingegangen, der aus dem «Moment[e] der Konkurrenz» um die Gültigkeit des Wissens (Jergus, 2017, S. 220) zwischen Eltern und der Bildungsinstitution resultiert. In dieser Auseinandersetzung wird den Eltern deutlich, dass sie sich bei der Begleitung ihres Kinds in seiner Subjektwerdung auch im Widerspruch zu hegemonialem, institutionell abgesichertem, Wissen stellen müssen, aktiv werden müssen, um die (Subjekt-)Bildung ihres Kinds zum Mädchen begleiten zu können – und dazu sich in die Aneignung alternativen Wissens, in Zurückgreifen auf weitere Expert*innen und Wissenskontexte begeben müssen. Auf der Grundlage dieser empirischen Rekonstruktionen soll ein Beitrag zur machttheoretischen Perspektivierung auf elterliches (Subjekt-)Bildungsengagement angesichts von institutionellen Normen und Wissensautoritäten herausgearbeitet werden. Bibliografie
Butler, J. (2009). Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Suhrkamp. Dausien, B. (1994). Biographieforschung als Königinnenweg? In A. Diezinger (ed.), Erfahrung mit Methode: Wege sozialwissenschaftlicher Frauenforschung (pp. 129-153). Freiburg i.Br.: Kore. Dausien, B., Rothe, D., & Schwendowius, D. (2016). Teilhabe und Ausgrenzung als biographische Erfahrung—Einführung in eine biographiewissenschaftliche Analyseperspektive. In B. Dausien, D. Rothe, & D. Schwendowius (Hrsg.), Bildungswege: Biographien zwischen Teilhabe und Ausgrenzung (S. 25–69). Campus Verlag. Fitz-Klausner, S., Schondelmayer, A., Riegel, C. (2021). Familie und Normalität. Einführende Überlegungen. In: Schondelmayer, A., Riegel, C., Fitz-Klausner, S. (Hrsg.): Familie und Normalität: Diskurse, Praxen und Aushandlungsprozesse. Opladen: Barbara Budrich, S. 7–23. Jergus, K. (2017). Die Pädagogik der Eltern und die Pädagogik der Erzieherinnen. Zur Positionierung von Eltern im Rahmen frühpädagogischer Settings. In K. Jergus & C. Thompson (Hrsg.), Autorisierungen des pädagogischen Selbst: Studien zu Adressierungen der Bildungskindheit (S. 201–230). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-13811-0_6 Krinninger, D., & Kesselhut, K. (2020). Passung und Anpassung. Zur Dynamik von Bildungsorientierungen in den Verhältnissen zwischen Familie und Schule. In M. Hermes & M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen: Theoretische Reflexionen und empirische Erkundungen (S. 91–111). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_6 Lorde, A. (1993). Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreissen. In A. Lorde & A. Rich (Hrsg.), Macht und Sinnlichkeit (S. 199–212). Orlanda. Ricken, N., Rose, N., Kuhlmann, N., & Otzen, A. (2023). Die Sprachlichkeit der Anerkennung: Subjektivierungstheoretische Perspektiven auf eine Form des Pädagogischen. Beltz Juventa. Rose, N. (2019). Erziehungswissenschaftliche Subjektivierungsforschung als Adressierungsanalyse. In A. Geimer, S. Amling, & S. Bosančić (Hrsg.), Subjekt und Subjektivierung: Empirische und theoretische Perspektiven auf Subjektivierungsprozesse (S. 65–85). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22313-7_4 Schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 13 (3), 283-293. Spies, T. (2019). Subjekt und Subjektivierung: Perspektiven (in) der Biographieforschung. In A. Geimer, S. Amling, & S. Bosančić (Hrsg.), Subjekt und Subjektivierung: Empirische und theoretische Perspektiven auf Subjektivierungsprozesse (S. 87–110). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22313-7_5 |