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SYMP 22: Normalitätsvorstellungen aufbrechen. Herausforderung für Bildungsinstitutionen, Lehrende und Lernende
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Normalitätsvorstellungen aufbrechen. Herausforderung für Bildungsinstitutionen, Lehrende und Lernende In pluralisierten Gesellschaften diversifizieren sich Lernvoraussetzungen, (Berufs- )Bildungsbiographien sowie in Zusammenhang mit Mehrfachzugehörigkeiten die Zusammensetzung von Schüler*innen- und Studierendenpopulationen. Da Bildungseinrichtungen in der Regel darauf ausgerichtet sind, kulturelle und soziale Ordnungen zu tradieren, laufen sie Gefahr, durch Differenzierungspraktiken Zuschreibungen vorzunehmen, institutionelle Diskriminierungen zu reproduzieren und Teilhabechancen zu limitieren. Für die Entwicklung differenzsensibler und diskriminierungskritischer Perspektiven und damit verbunden die Berücksichtigung von ressourcenorientierten Ansätzen ist es grundlegend, her-auszukristallisieren, wie sich Differenzierungspraktiken in der (Hochschul-)Lehre bspw. aufgrund der Kategorien Migration und Geschlecht sowie anderer Ungleichheitsdimensionen manifestieren. Denn aktuelle Konzepte zu Diversität laufen Gefahr, alltagsweltliche, essentialisierende Festschreibungen von Differenzmarkierung zu reproduzieren. Mit Rekurs auf machtanalytische und insbesondere postkoloniale Theoriezugänge stellt sich für das Bildungssystem die Anforderung, kategorisierende Zuschreibungen und Normalitätsvorstellungen aufzubrechen und damit einhergehende Hierarchisierungen zu hinterfragen. Bisher sind allerdings kritisch-emanzipatorische und antidiskriminierende Positionen, welche die unterschiedlichen soziokulturellen Bedingungen von Schüler*innen und Studierenden an (Hoch-)Schulen angemessen berücksichtigen, noch wenig vertreten. Im Rahmen postkolonialer und dekonstruktivistischer Theoriekonzepte entstanden in den letzten Jahrzehnten Ansätze, die ihren Fokus weg von individuellen Bildungsentscheidungen und deren Bedingungen hin zu Produktions- bzw. Reproduktionsprozessen von Differenz, Ausgrenzungs- und/oder Diskriminierungsmechanismen im Bildungsbereich richten. Ausgehend von einem problematisierenden Blick auf differenzfestschreibende Normalitätskonstruktionen von Akteur*innen im Bildungsfeld einerseits und den Bildungsinstitutionen andererseits bieten diese Perspektiven einen analytischen Zugang, um migrationsgesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse kritisch zu untersuchen (z.B. Riegel 2016; Castro Varela 2017). Othering kristallisiert sich dabei zu einem zentralen theoretischen Konzept heraus, das es erlaubt, die Konstitution der «Anderen» als einen gesellschaftlichen Prozess von Zuschreibungen, Essentialisierungen, Stereotypisierung, Kulturalisierung etc. zu begreifen und sichtbar zu machen. Normabweichungen werden dabei sowohl im Hinblick auf Vorstellungen über «Eigen» und «Fremd» sowie unter Bezugnahme auf weitere Differenzlinien ein untergeordneter Status als «Negativfolie» zugeschrieben. Professionstheoretisch geht es darum, verinnerlichte und alltägliche, fremde und eigene, individuelle und systembedingte Deutungsmuster zu erkennen, zu hinterfragen und allenfalls zu verändern. Auf diese Weise werden dem Berufsfeld immanente Spannungsverhältnisse und Strukturbedingungen sichtbar und eine professionelle Positionierung hierin diskutierbar. Karakaşoğlu (2021, S. 25) beschreibt Professionalisierung als «eine kontinuierliche […] Reflexion über die Verbindung zwischen der persönlichen Haltung und dem Handeln als Lehrer*in in komplexen Migrationsverhältnissen, in denen die Positionen und Rollen von Lehrer*innen und Schüler*innen nicht nur durch die übliche Asymmetrie in ihren pädagogischen Beziehungen geformt werden, sondern über migrationsgesellschaftliche Diskurse in spezifischer Weise gerahmt sind». Solche Diskurse verhandeln Zugehörigkeits- und Anerkennungsordnungen und sind mit Abwertungen durch Rassifizierungs- und Otheringprozesse verknüpft. Die drei Beiträge des Symposiums fokussieren Differenzkonstruktionen und Normalitätsvorstellungen von Lehrpersonen und Studierenden in unterschiedlichen Kontexten. Während Beitrag 1 untersucht, wie Lehrpersonen der Sekundarstufe II Jugendliche mit sichtbaren Merkmalen als «Andere» hervorbringen, analysiert Beitrag 2 in einem Vergleich kolumbianischer und schweizerischer transnationaler pädagogischer Expeditionen, welche kategorisierenden Zuschreibungen und Hierarchisierungen je identifiziert werden. Der 3. Beitrag schliesslich befasst sich mit den Normalitätsvorstellungen und Differenzkonstruktionen von Studierenden der Lehrer*innenbildung. Im Anschluss an die Beiträge lässt sich diskutieren, was Professionalisierung und Professionalität von Lehrenden in pluralisierten Gesellschaften bedeuten könnte. Beiträge des Symposiums Berufliche und gymnasiale Bildung in einer durch Vielfalt geprägten (Migrations-)Gesellschaft: (Re-)Produktion von Differenzverhältnissen und Otheringprozessen mit Blick auf Migration und Geschlecht? Der Erwerb von Bildungsabschlüssen im Schweizer Bildungssystem verläuft in hohem Masse sozial selektiv. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass Bildungserfolg in der Schweiz stark mit sozialer Herkunft korreliert (z.B. Becker/Schoch 2018). Entsprechend haben sich die Bildungschancen für Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen Schichten nicht angeglichen und Chancengleichheit erweist sich – in Anlehnung an Bourdieu – nach wie vor als Illusion. So besuchen Kinder von Akademiker*innen doppelt so oft ein Gymnasium als Kinder von Eltern mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau. Der Bildungserfolg wird dabei von weiteren Ungleichheits- und Differenzkategorien, wie bspw. «Migrationshintergrund» und Geschlecht, beeinflusst. Migrantisierte Jugendliche sind demnach in Berufsausbildungen mit geringerem schulischem Anspruchsniveau überrepräsentiert. Statistischen Angaben zufolge beträgt ihr Anteil in den drei- und vierjährigen Berufsausbildungen (Eidg. Fähigkeitszeugnis EFZ) lediglich 22%, während sie in den zweijährigen Grundausbildungen (Eidg. Berufsattest EBA) mit 53% deutlich übervertreten sind (Bundesamt für Statistik 2024). Der Beitrag präsentiert Zwischenergebnisse aus dem vom Schweiz. Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt «Migrationsgesellschaftliche Verhältnisse im Kontext beruflicher und gymnasialer Bildung – Professionelle Deutungsmuster und institutionelle Bedingungen» (2023-2025). Mit Bezug auf postkoloniale Theorieansätze steht die Frage im Fokus, wie Jugendliche in den untersuchten Ausbildungsgängen der Sekundarstufe II, welche ersichtliche, geschlechtstypische Merkmale aufweisen, über Othering und Grenzziehungsprozesse als «Andere» hervorgebracht werden. Somit interessiert insbesondere, welche An- und Aberkennungsmuster sowie Normierungen aufgrund von Migration und Geschlecht sich in den Ordnungs- und Deutungsmustern der interviewten Lehrpersonen herauskristallisieren lassen und inwiefern bestehende asymmetrische Verhältnisse reproduziert oder auch verschoben werden können. Bibliografie
Becker, Rolf; Schoch, Jürg (2018): Soziale Selektivität: Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR. Expertenbericht (Politische Analyse 2018/3). Bern: Schweizerischer Wissenschaftsrat (SWR). URL: https://edudoc.ch/record/133983 (Zugriff: 04.12.2024). Bundesamt für Statistik (BFS) (2024): Statistik der Lernenden (SDL). URL: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/personen-ausbildung/sekundarstufe-II/berufliche-grundbildung.html (Zugriff: 04.12.2024). Transnationale Räume der Wissensproduktion in der Lehrpersonenbildung. Formative Forschung zwischen den Migrationsgesellschaften Kolumbiens und der Schweiz Dieser Beitrag diskutiert, wie und mit welchen Erkenntnissen im Rahmen der Kooperation zwischen zwei geopolitisch ungleich positionierten Hochschulen, die Lehrpersonen aus- und weiterbilden – die PHBern in der Schweiz und die Universidad de Antioquia in Medellín, Kolumbien – gemeinsam Wissen darüber produziert wird, wie sich unterschiedliche "geopolitische" und "körperpolitische" epistemische Standorte miteinander verschränken und welche Macht- und Wissensordnungen dabei entstehen. Am Beispiel der im Rahmen der Kooperation durchgeführten Transnationalen Pädagogischen Expeditionen in der Schweiz und in Kolumbien – ein an der kolumbianischen Nationalen Pädagogischen Bewegung orientiertes Modell formativer Forschung in der Lehrpersonenbildung – wird aufgezeigt, wie ein aus Forschenden, Lehrpersonen und Studierenden beider kooperierender Hochschulen zusammengesetztes transnationales Team in den Migrationsgesellschaften der Schweiz und Kolumbiens ethnografisch schulische Bildungslandschaften untersuchten. Analysiert wird, welche kategorisierenden Zuschreibungen, Normalitätsvorstellungen und damit einhergehenden Hierarchisierungen in beiden Kontexten identifiziert wurden und welche 'irritierenden' Fragen und Antworten dadurch von einem Kontext an den anderen provoziert werden. Abschliessend wird gefragt, wie die Konstruktion solcher transnationaler Räume der Wissensproduktion zu einer differenzbewussten, machtkritischen und anti-diskriminatorischen Ausrichtung der Lehrpersonenbildung in der Migrationsgesellschaft beiträgt. Bibliografie
Echeverri, Alberto (2002). »El aporte de las Expediciones Pedagógicas al Movimiento Pedagógico«. In Suárez, H. (Hrsg.). 20 años de movimiento pedagógico 1982-2002. Entre mitos y realidades (S. 129–164). Bogotá: Editorial Delfin LDTA. Grosfoguel, Ramón (2007). »The Epistemic Decolonial Turn: Beyond political-economy paradigms«. Cultural Studies 21(2–3), 211–223. Mecheril, Paul (2012). »Migrationsgesellschaft«. In Kriwak, A. & Pallaver, G. (Hrsg.). Medien und Minderheiten. (S. 15–35). innsbruck university press. Mignolo, Walter (2002). »The geopolitics of knowledge and the colonial difference«. The south atlantic quarterly 101(1), 57–96. Normalitätsvorstellungen und Differenzkonstruktionen von Studierenden sicht- und diskutierbar machen. Professionalisierungsprozesse in einem ausserschulischen Projekt Im Rahmen des Wahlmoduls «Reporter*innen unterwegs» begleiten Studierende der Institute Primarstufe (IPS) und Heilpädagogik (IHP) der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern) Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit. Es handelt sich um ein sozialraumorientiertes, partizipatives Projekt der PHBern, welches für die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen Erkundungen in ihrer Freizeit ermöglicht. Während eines Jahres werden letztere von Studierenden begleitet, welche die Umsetzung der aus diesen Erkundungsprozessen entstandenen Projektideen von Kindern und Jugendlichen unterstützen. In dieser begleitenden Rolle erhalten die Studierenden Einblick in unterschiedliche Bedingungen des Aufwachsens in der Migrationsgesellschaft. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen halten sie schriftlich in Form von Situationsbeschreibungen in ethnographischen Tagebüchern fest. Diese werden in den Modul-Sitzungen des Projektes wie auch in individuellen Coaching- und Auswertungsgesprächen diskutiert und eingeordnet. Die Studierenden verfassen auf dieser Grundlage einen Leistungsnachweis. In der Konfrontation mit Erfahrungen und lebensweltlichen Bedingungen von Heranwachsenden erkennen die Studierenden ihre eigenen Normalitätsvorstellungen und gesellschaftlichen Positionierungen. Im Rahmen des Moduls diskutieren wir, ausgehend von ihren Irritationen Ausschnitte aus ihren Tagebucheinträgen, und hinterfragen unter anderem schulspezifische Diskriminierungspraktiken. Anhand von Analysen der Situationsbeschreibungen und Leistungsnachweise, die im Rahmen des Moduls entstehen, soll im Beitrag dargelegt werden, welche Erkenntnisse die Studierenden in einem ausserschulischen Kontext gewinnen, wie sie die Lebensverhältnisse und Aktivitäten der Kinder wahrnehmen und zu erkennen, welche Differenzkonstruktionen im schulischen Kontext häufig intersektional wirksam sind. Ziel dieser Auseinandersetzungen ist das Einüben einer Distanzierung und das Einnehmen einer diskriminierungskritischen Perspektive, beides zentrale Aspekte pädagogischer Professionalisierung. Bibliografie
Helsper, W. (2021). Grundlegende Begriffsbestimmungen. In ders., Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns: Eine Einführung (S. 49-59). Barbara Budrich. Ivanova-Chessex, Oxana, Fankhauser, Marco & Wenger, Marco (2017). Zum pädagogischen Können der Lehrerinnen und Lehrer in der Migrationsgesellschaft – Versuch der Konturierung einer kritisch-reflexiven Professionalität. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 35(1), 182–194. |