Veranstaltungsprogramm

Sitzung
SYMP 08: Bildung, Beratung und Protest um komplexe „innere“ Welten – Psychologie, Psychotherapie und Pädagogik 1920–1980
Zeit:
Freitag, 04.07.2025:
13:30 - 15:30

Chair der Sitzung: Patrick Bühler
Chair der Sitzung: Andreas Hoffmann-Ocon
Ort: Seminarraum 2.A13


Präsentationen

Bildung, Beratung und Protest um komplexe „innere“ Welten – Psychologie, Psychotherapie und Pädagogik 1920–1980

Chair(s): Patrick Bühler (Pädagogische Hochschule FHNW), Andreas Hoffmann-Ocon (Pädagogische Hochschule Zürich)

Dass das Leben und auch die Bildung im Verlauf des 20. Jahrhundert zunehmend diverser und komplexer wurden, trifft nicht nur auf die Gesellschaft zu, sondern genauso auf ihre „inneren“ Welten. Denn seit dem Fin de Siècle kann eine zunehmende Psychopathologisierung der Gesellschaft beobachtet werden. In den Armeen, in den Gerichtssälen, in den Fabriken, in der Kriminologie, der Theologie, in Kunst und Literatur oder beim Umgang mit Armut oder Eheproblemen setzte sich ein neues psychopathologisches „Erzählmuster“ (Becker 2002, S. 31) durch. Es ging mit grossen sozialpolitisch präventiven, eugenischen und therapeutischen Phantasmen einher und ist nicht vom Aufbau von Wohlfahrtsstaaten, der Entwicklung der Statistik, der Etablierung von Sozialarbeit und Sozialwissenschaft zu trennen: Um 1900 begann der der rasante „Aufstieg von Psychologie und Psychotherapie zu zentralen Wissens- und Praxisformen“ der Selbst- und Fremderforschung (Tändler & Jensen 2012, S. 17). Auch die Schule begann sich damals der „Errettung der modernen Seele“ (Illouz 2011) zu verschreiben. International sind besonders auffällige Zeichen dieser „therapeutischen“ Veränderung von Bildung und Erziehung die Entstehung von schulärztlichen und schulpsychologischen Diensten, der Heilpädagogik, Reformen in der Lehrpersonenbildung und jugendbewegter Befreiungsambitionen.

Während diesem „psychopathologischen“ Wandel für gewisse Bereiche und Fachrichtungen bereits zahl- und aufschlussreiche Studien gewidmet wurden und zur Therapeutisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert verschiedene Überblicksstudien vorliegen, wurde bislang Bildungs- und Erziehungskontexte in dieser Hinsicht kaum untersucht. Das bildungshistorische Panel beschäftigt sich daher in zwei Beiträgen mit der sich etablierenden Verbindung von Pädagogik und Psychopathologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in zwei Beiträgen mit den Entwicklungen während dem schon damals so genannten Psychoboom (Tändler 2016) in der zweiten Hälfte. Alle vier Vorträge widmen sich bislang kaum beachteten Facetten der Therapeutisierung in Bildung und Erziehung: Zwei den in der Zwischenkriegszeit entstandenen schulpsychologischen Diensten, einer der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und einer den „authentischen“, therapeutischen Unterfangen der alternativen Jugendzeitschriften (Reichhardt 2014). So analysiert der erste Beitrag einen erst kürzlich entdeckten Quellenbestand von 500 Fallakten der Erziehungsberatungsstelle des Heilpädagogischen Seminars Zürich, die von Paul Moor – dem Assistenten Heinrich Hanselmanns und späteren Leiter des Seminars – angelegt wurden. Der zweite Beitrag widmet sich den ersten öffentlichen Erziehungsberatungsstellen in Bern und Basel, die in den zwanziger Jahren eröffnet wurden, und untersucht, welche Therapien bei „erziehungsschwierigen“ Schulkindern durchgeführt wurden. Der dritte Beitrag analysiert zeitdiagnostische Kritik in der Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerbildung zwischen 1950 und 1980: Wie wurden neue „therapeutische“ Lehr-Lern-Verhältnisse und damit zusammenhängend Formen von Führungsstilen im Unterricht sowie gesellschaftliche Rollen von Lehrpersonen diskutiert? Der abschliessende vierte Beitrag widmet sich der Schweizer Jugendbewegung und untersucht, wie Bildung, Therapie und Befreiung in subkulturellen Zeitschriften wie Hotcha! miteinander verbunden wurden. Gemeinsam ist allen vier Beiträgen die Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld von Bildung und Therapeutisierung im 20. Jahrhundert.

 

Beiträge des Symposiums

 

Erziehungsberatung I: „[I]n der Stube des Erziehungsberaters“ – Die Erziehungsberatungsstelle des Heilpädagogischen Seminars in Zürich, 1930–1950

Daniel Deplazes1, Ina Hasenöhrl2
1Pädagogische Hochschule Thurgau, 2Universität Zürich

Nicht nur in der Schweiz erlangten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Beratungsangebote eine erste Boomphase. Berufs-, Ehe-, Sexual- und Erziehungsberatung wurde publizistisch mit Ratgeberliteratur aber auch mit privaten wie staatlichen just eingerichteten Beratungsstellen zu einem neuen Betätigungsfeld für Berufsleute aus Medizin, Pädagogik, Psychologie oder Fürsorge. Die Erziehungsberatung ist dabei besonders interessant, da für die betroffenen „schwierigen“ Kinder und Jugendlichen weitreichende Konsequenzen wie Fremdplatzierungen in Anstalten oder Familien aus den Beratungen resultieren konnten. Während bürgerliche Familienideale zum Gradmesser privater, staatlicher wie wissenschaftlicher Beobachtung avancierten, Sanktionen sich auf ein „florierendes“ Anstaltswesen stützen konnten, verweist gerade die Erziehungsberatung auf zeitgebundene Normvorstellungen über das „korrekte“ Verhalten eines Kindes.

Ein Fallbeispiel, an dem diese neue Form der Therapeutisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts studiert werden kann, ist die Erziehungsberatungsstelle des Heilpädagogischen Seminars (HPS) in Zürich. Das 1924 gegründete HPS leiteten im Untersuchungszeitraum die Heilpädagogen Heinrich Hanselmann (1885–1960) und nachfolgend Paul Moor (1899–1977), die beide die deutschsprachige Heilpädagogik mit ihrer Publikationstätigkeit wie auch im Rahmen ihrer Professur für Heilpädagogik an der Universität Zürich massgeblich prägten. Beide standen während ihrer Dienstzeit am HPS auch persönlich der hauseigenen, 1927 gegründeten Erziehungsberatungsstelle vor und führten Beratungen durch.

Zur Arbeit der Erziehungsberatungsstelle des HPS existiert abgesehen einer unveröffentlichten Masterarbeit kaum Forschung (Schrutt 2020). Auch in den beiden Institutionengeschichten des HPS finden sich nur wenig Hinweise zu den Praktiken der Beratungsstelle (Schriber 1994; Brändli 2024). Zwar hat Hanselmann ausgewählte Beispiele aus seinen Sprechstunden der Erziehungsberatung publizistisch ausgewertet, seine Publikationen funktionieren mit „volkspädagogisierenden Ambitionen“ (De Vincenti et al., 2021, S. 150) zu einem gewissen Grad jedoch selbst als Erziehungsratgeber. Nicht nur Eltern wurden darin aufgefordert, den „Sorgenkindern“ Geduld, Liebe und Verständnis entgegenzubringen, auch Lehrer:innen, Heilpädagog:innen und Fürsorger:innen sollten sich die Ratschläge zu Herzen nehmen.

Wie funktionierte die Erziehungsberatung konkret? Was waren die Problemfälle, die Testmethoden und Empfehlungen? Welche Akteure waren an der Beratung beteiligt? Und was lässt sich am Beispiel der Erziehungsberatung in Zürich über die Konstruktion und den Umgang mit A/Normalität lernen? Um diese Fragen zu klären, wird ein neu entdeckter Quellenbestand der Erziehungsberatung am HPS ausgewertet, während sie unter Paul Moors Leitung stand. Der Bestand umfasst grob 500 Fallakten aus dem Zeitraum von 1934 bis 1947.

Die Akten erlauben Einsicht darüber, wie die Erziehungsberatungsstelle an der Schnittstelle zwischen Pädagogik, Psychologie, Medizin und Fürsorge als „Drehscheibe“ (Hanselmann 1937, S. 9) zwischen Schule, Anstalt und Elternhaus funktionierte. Konkret wird anhand eines Samples von Fallakten untersucht, wie Anormalität zur Aufrechterhaltung der schulischen und sozialen Ordnung konstruiert und legitimiert wurde (Teil I) und welche auch unsichtbaren Akteure in diese Wissensproduktion eingebunden waren (Teil II). Die Analyse leistet damit im Sinne einer History of Knowlege einen Beitrag zur Geschichte der Therapeutisierung von Kindheit.

Bibliografie

Brändli, Sebastian (2024): Bildung für alle. 100 Jahre Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik. Zürich: Chronos.

De Vincenti, Andrea/Grube, Norbert/Hoffmann-Ocon, Andreas (2021): Gemeinschaft und Inklusion in Schriften Heinrich Hanselmanns 1900-1950. Wissensgeschichtliche Blicke auf Volkspädagogisierung in der Deutschschweiz. In: Vogt, Michaela/Boger, Mai-Anh/Bühler, Patrick (Hrsg.): Inklusion als Chiffre? Bildungshistorische Analysen und Reflexionen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 149–159.

Schriber, Susanne (1994): Das Heilpädagogische Seminar Zürich. Eine Institutionsgeschichte. Zürich: Universität Zürich.

Schrutt, Nadine (2020): „[...]deshalb muss dringend dazu geraten werden, die Umerziehung des Mädchens in eine fähigere Hand zu legen“. Diagnosepraxis der 1930er- und 1940er-Jahre am Beispiel der Erziehungsberatungsstelle des HPS. Unveröffentlichte Masterarbeit, Zürich: Universität Zürich.

 

Erziehungsberatung II: Psychotherapie mit „sittlichem Urfaktor“ – Die Arbeit der ersten Schulpsychologen in Basel und Bern, 1920–1940

Patrick Bühler
Pädagogische Hochschule FHNW

Seit 1900 und dann vor allem in der Zwischenkriegszeit kam es zu einem bemerkenswerten Ausbau von Sonderklassen und -schulen, schulärztlichen Diensten und von psychiatrischen, psychologischen und pädagogischen Beratungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Neben spezialisierten Heimen, Beobachtungsstationen für Kinder und Jugendliche, wie z. B. die dem Zürcher „Burghölzli“ angegliederte Stephansburg (seit 1922) oder das zur Berner „Waldau“ gehörende Neuhaus (seit 1937), wurden schulpsychologische Dienste und öffentliche Erziehungsberatungsstellen geschaffen. Zwischen 1913 (Genf) und 1939 (St. Gallen) kam es insgesamt zu 20 Gründungen von Erziehungsberatungsstellen (Wenger 2017), und auch „private“ Berater, wie der protestantische Pfarrer Oskar Pfister in Zürich, der Arzt Heinrich Meng in Basel oder der Berner Primarlehrer Hans Zulliger, die alle drei zu den „Pionieren“ der psychoanalytischen Pädagogik zählten, boten ihre Dienste an (Bühler 2024).

Die erfolgreiche Verbreitung von Psychodiagnostik und -therapie für Schulkinder, die sich auch an Publikationen und der Gründung von Institutionen und Gesellschaften etc. ablesen lässt, war keineswegs auf die Schweiz beschränkt, sondern es handelt sich um eine internationale Entwicklung, wie z. B. die internationale Beschäftigung mit „mental hygiene“ oder die amerikanischen und englischen „child guidance clinics“ zeigen (Doroshow 2019; Stewart 2013). Aber natürlich waren seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur Kinder und Jugendliche psychologisch beraten und therapiert, sondern genauso Erwachsene. So wurden international etwa auch Berufs-, Ehe-, Mütter- und Sexualberatungsstellen und z. B. der Schweizerische Verband für Berufsberatung 1916 gegründet.

Der Beitrag beschäftigt sich mit den ersten beiden öffentlichen Erziehungsberatungsstellen der deutschen Schweiz, zu denen es bislang fast keine Forschung gibt: Der Schulpsychologe Hans Hegg (1893–1967) nahm seine Arbeit 1920 in Bern auf, 1928 trat Ernst Probst (1894–1980) seine Stelle in Basel an. Beide hatten in Bern bei Paul Häberlin (1878–1960) promoviert, der von 1914 bis 1922 Ordinarius für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie und Pädagogik war, bevor er nach Basel wechselte. Der Beitrag untersucht, welche „Sorte“ von Psychotherapie sie propagieren, und wie sie versuchten, Schulkindern, die als krank oder schwierig galten, zu helfen. Die Analyse der Publikationen, von Fällen und der Korrespondenz im Nachlass von Häberlin zeigen, dass beide Schulpsychologen von der Psychoanalyse beeinflusst waren, aber wie Häberlin auf eine Psychotherapie mit „sittlichem Urfaktor“ setzten. Die Analyse der Arbeit der ersten öffentlichen Schulpsychologen in der deutschen Schweiz gibt daher zum einen Aufschluss darüber, welche Vorstellungen von Therapie, Normalität etc. zirkulierten und liefert auch einen Beitrag zur Geschichte der Psychoanalyse-Rezeption in der Schweiz.

Bibliografie

Bühler, Patrick (2024): Seelenkrämpfe. Heinrich Mengs Lektorat für Psychohygiene an der Universität Basel 1930–1960. In: Glaser, Edith/Groppe, Carola/Overhoff, Jürgen (Hrsg.): Universitäten und Hochschulen zwischen Beharrung und Reform. Bildungshistorische Perspektiven. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 223–239.

Doroshow, Deborah Blythe (2019): Emotionally Disturbed. A History of Caring for America’s Troubled Children. Chicago, London: University of Chicago Press.

Stewart, John (2013): Child Guidance in Britain, 1918–1955. The Dangerous Age of Childhood. London: Pickering & Chatto.

Wenger, Nadja (2017): „Die Entlastung der Klassen von allzu hemmenden Elementen bedeutet eine große Erleichterung.“ Die Fürsorgestelle für Anormale im Kanton St. Gallen (1939–1943). In: Bildungsgeschichte. International Journal for the Historiography of Education 7(2), S. 205–215.

 

Offenheit gegenüber Pluralisierungsanforderungen erzwingen? Deutschschweizer Lehrpersonen zwischen Rollen- und Selbstkritik hinsichtlich therapeutischer Verfahren 1950–1980

Andrea De Vincenti, Norbert Grube, Andreas Hoffmann-Ocon
Pädagogische Hochschule Zürich

Fragen zu Diversität, Multiperspektivität und dem Aufbrechen von etablierten gesellschaftlichen Kategorisierungen gerieten in der Bildungsreformzeit zwischen den 1960er und 1980er Jahren in den Fokus. Zeitgenössische pädagogische Debatten in der Deutschschweiz zielten auf Versuche, Haltungen und Praktiken von Heranwachsenden vor dem Hintergrund zunehmend global ausgerichteter hochentwickelter Industriegesellschaften zu verstehen, neu einzuordnen und ihre schulische Bildung zu gestalten. Innerhalb komplexer gesellschaftlicher Kontroversen geriet z.B. die Gruppe der „neuen Verweigerer“ in den Blick. Ihr wurde durchaus Diversität zugestanden, wenn auch teilweise abwertend als „kunterbunte Mitläuferschaft von politisch Unbedarften“ (Bütler 1981, 11). Angesichts sich abzeichnender gesellschaftlicher Pluralität und Diversität wurden verschiedene Formationen der vorherrschenden Lehrpersonenbildung und schulischen Kulturen infrage gestellt und diskutiert, ob und wie sie die als neu wahrgenommenen Herausforderungen durch Förderung schöpferischer Kreativität, Individualisierung und demokratisch-partizipativer Teamarbeit konzeptionell bearbeiten können. Diese Zweifel an der bestehenden Institution Lehrpersonenbildung wurden durch zeitdiagnostische Kritik dynamisiert, wonach die öffentliche Schule und die Lehrpersonen gleichmacherisch auf Schüler:innen blickten, ohne deren je eigenen Interessen und Bedürfnisse zu berücksichtigen. Daher wurde der beklagte Minimalismus von Schüler:innen wie von angehenden Lehrpersonen in den Seminaren u.a. damit erklärt, dass die Bildungsinstitutionen zum reproduktiven, anstatt zum schöpferisch-kritischen Denken erziehe. Kontrovers wurde in dem Zusammenhang auch der Leistungsbegriff gesehen.

Wie das Aufbrechen solcher als dichotom wahrgenommenen Lehr-Lern-Verhältnisse, damit zusammenhängender autoritärer Führungsstile im Unterricht sowie gesellschaftlicher Rollen und Funktionen von Lehrpersonen diskutiert wurden, steht im Erkenntnisinteresse dieses Beitrags. Unter den seinerzeit präferierten Verbesserungsansätzen werden verschiedene, u.a. auf Psychowissen grundierte Unterrichtssettings sowie das Verhalten der beteiligten Akteur:innen fokussiert.

Der hier vorgestellte Beitrag schliesst somit an die jüngst dynamische historische (Bildungs-)Forschung an (Illouz 2011; Elberfeld 2020; Arend & Elberfeld 2022), gesellschaftliche Therapeutisierungstendenzen zu untersuchen. Ebenso berücksichtigt werden dabei die damals von etlichen Lehrpersonen geteilten Überzeugungen, wonach sie sich als Agent:innen sozialen Wandels Subjektivierungsprozeduren zu unterziehen haben (Tändler 2015). Neben dem eher affirmativen Gebrauch von zirkulierenden Psychowissen durch Seminarlehrpersonen und angehenden Unterrichtenden befasst sich dieser Beitrag auch mit den eher unbekannten Problematisierungen von therapeutisch orientierten Konzepten zum Umgang mit gesellschaftlicher Pluralisierung in schulischen Kontexten. Untersucht werden Unterrichtssettings sowie Verhaltensweisen von Lehrpersonen als Ansätze zur Sensibiliserung bezüglich Konformismus, selektiver Wahrnehmung, Narzissmus, Autoritätsfixierung, Rationalisierung von Ängsten und Fassadenhaftigkeit. In dieser Perspektive interessiert sich der Beitrag für argumentative und wissensgestützte Positionierungen gegenüber den auch durch alternative Milieus forcierten Plänen einer Öffnung der Lehrpersonenbildung für eine psychotherapeutisch verstandene Gesellschaftsreform. Indem sich die Analyse auf die angeleitete (Selbst)Infragestellung von Lehrpersonen in institutionellen Anordnungen richtet, wird die Vorstellung, wonach sich der „therapeutische emotionale Stil“ (Illouz 2011, 33) geradezu einförmig etabliert habe, ebenfalls befragt. So gerät in den Fokus, welche Kritik und Opposition gegenüber therapeutischen Ansätzen geäussert wurden und mit welchen Wissen die Befürworter:innen therapieorientierter Verfahren sich in den Debatten positionierten und legitimierten. Am Schluss soll die Diskussion stehen, in welchen Grenzen der therapieorientierten Verfahren Vielfalt von Argumentationen und Meinungen erlebt wurden.

Theoretisch-konzeptionell orientiert sich dieser wissensgeschichtliche Beitrag an der Annahme, wonach institutionalisierte, explizite und implizite Wissen gesellschaftliche Strukturen prägen, die jedoch durch zugleich vielfältig zirkulierende, wenig etablierte Wissen in Frage gestellt und delegitimiert werden können. Dies kann zu Verflechtungen und auch zu Konflikten in Gesellschaften führen, etwa über die Rolle und Funktion von Lehrpersonen. Um Wissensverflechtungen und -konflikten bildungshistorisch nachzugehen, werden serielle Quellen wie Jahresberichte, Lehrer:innenzeitschriften, aber auch pädagogische Konzeptpapiere und Publikationen bzw. Unterrichtsreflexionen aus dem Untersuchungszeitraum herangezogen.

Bibliografie

Arend, Jan/Elberfeld, Jens (2022): Psychologien der Menschenführung. Gouvernementalität und Therapeutisierung in Ost und West (1960er – 1980er Jahre). In: Geschichte und Gesellschaft 48(2), S. 177–196.

Bütler, Hugo (1981): Propheten der Verhöhnung. Die neuen Verweigerer. In: Häberlin, Thomas (Hrsg.): Die neuen Verweigerer. Unruhe in Zürich und anderen Städten. Zürich: Verlag NZZ, S. 9–22.

Elberfeld, Jens (2020): Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Illouz, Eva (2011): Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Tändler, Maik (2015): Erziehung der Erzieher. Lehrer als problematische Subjekte zwischen Bildungsreform und antiautoritärer Pädagogik. In: Eitler, Pascal/Tändler, Maik (Hrsg.): Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung. Bielefeld: transcript, S. 85–112.

 

Diversität von Freiheitsvorstellungen in Jugendbewegungen der 1960er – 1980er Jahre in der Deutschschweiz. Eine Analyse von subkulturellen Zeitschriften und Poperzeugnissen

Tomas Bascio
Pädagogische Hochschule Zürich

Die historische Rekonstruktion von Ereignissen und Gruppierungen von Jugendbewegungen ist stark von einer gesellschaftlichen Aussenperspektive geprägt, zusätzlich aber auch von Selbstzuschreibungen der jugendbewegten Position innerhalb ebendieser Gesellschaft. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, inwiefern Nabelschau-Diskurse von Akteursgruppen der 1968er bis zu den 1980er Jugendbewegungen in subkulturellen Zeitschriften und weiteren popkulturellen Erzeugnissen (Comics, Musikzeitschriften, Filme) vorgenommen werden, inwiefern sich diese von gängigen Deutungen unterscheiden und inwiefern sich über die untersuchten Jahre hinweg politische und kulturelle Forderungen und Selbstinterpretationen diversifizieren. Dabei werden hier Jugendbewegungen als spezifische Form sozialer Bewegungen nicht makroperspektivisch in den Forschungsblick genommen, deren Ausdrucksformen werden eher aus einer praxeologischen (Hoffmann-Ocon, De Vincenti u. Grube 2020) und diskursanalytischen Sicht beschrieben und interpretiert. Im Fokus stehenden also Undergroundzeitschriften, im Selbstverlag und in Kleinauflagen gedruckt, wie etwa die Zeitschrift Hotcha!, die zur Zeit der Zürcher Jugendunruhen 1968 entstand, aber auch weitere Zeitschriften, die vor, Stilett, während, Guete Morge und Eisbrecher oder im Nachgang, Strapazin, der Jugendbewegungen um 1980 herum publiziert wurden. Roland Reichenbach sieht für den modernen Menschen und dessen Selbstverständnis im Ideal der Authentizität einen wichtigen Orientierungspunkt, ähnlich wie die Idee der Autonomie (Reichenbach 2018, 69). Dabei bezieht er sich ideengeschichtlich auf Charles Taylors Diagnose des „Unbehagens an der Moderne“, historisch-soziologisch auf die Stärkung der Humanistischen Psychologie und der Psychoanalyse in den 1960er und 1970er Jahren. Äusserungen zur gesellschaftlichen Neuorientierung in Bezug auf die persönliche Selbstentfaltung, zur Suche nach neuen Ausdrucksformen im Alltag, in der Kunst und Kommunikation, finden sich innerhalb der Jugendbewegungen von den 1960er bis in die 1980er Jahre auffällig oft. In der ersten subkulturellen Zeitschrift der Deutschschweiz Hotcha! ist z. B. von der „Befreiung des Menschen“ und der „Selbstbefreiung“ die Rede, die Selbstbefreiungsforderungen sind in den 1980er Jahr ebenfalls omnipräsent.

Das Forschungsnarrativ, wonach zwar die meisten politischen Forderungen der Jugendbewegten der 1968er und 1980er Jahren nicht erfüllt wurden, „die mentalitätsmässigen und kulturellen Folgen“ aber beträchtlich waren, insbesondere bezüglich der Öffnung der Lebensstile, der Geschlechterrollen und der Sexualität, hält sich bis heute hartnäckig. Die 1968er Bewegung wird beispielsweise als „Symptom und Katalysator eines Krisenprozesses“ (Tanner 2015, 382) beschrieben. Auch in Bezug auf die Frauenbewegung wird die Metapher des Katalysators bemüht, die 68er hätten in der Schweizer Politik und Kultur neuartige Akzente gesetzt, wenngleich verschiedene Entwicklungen wie beispielsweise die empfängnisverhütende Pille oder allgemeine politische Anpassungen nach dem Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich den Weg für Emanzipationsforderungen ebneten (Skenderovic u. Späti 2012, 181). Auch wenn dieses Narrativ verbreitet ist, finden sich in der jüngeren Forschung auch gegenläufige Annahmen, wonach Politik, Gesellschaft und Wissenschaft die „Jugend“ in dieser Zeit erst in den eigenen (wissenschaftlichen, kulturellen) Beschreibungen schafft bzw. sich dadurch als Gesellschaft selbst spiegelt. Womit die Frage im Raum steht, wer mit „Jugend“ bei den „Jugendbewegungen“ und „Jugendunruhen“ gemeint ist. Der Aspekt des unscharfen Jugendbegriffs bzw. des Generationenkonflikts steht in Christina von Hodenburgs Arbeit im Zentrum (2018). Auch die Chiffre der „sexuellen Revolution“ im Kontext der 1968er Bewegung kann bei kritischer Analyse der Zeitschrift Hotcha! dekonstruiert werden.

Im holzschnittartigen Direktvergleich zwischen der historischen Markierungen 1968 und 1980 bezüglich der Jugendbewegungen und -unruhen können in gewissen Bereichen Unterschiede vermutet werden. Während die 1968er als eher theorienah, wissenschaftsaffin gelten, neigten die 1980er angeblich eher zu Theorieferne, waren als Gruppe sehr heterogen, strebten insbesondere nach persönlichen Freiräumen und nicht nach gesellschaftlichen Veränderungen und dachten entsprechend eher lokal. Vermeintliche Gemeinsamkeiten werden in ähnlichen Feindbildern (gegen etablierte Politik und Institutionen), im Gebrauch von Parolen mit Kernbotschaften, im diskursiven Generationenkonflikt, in der Identitätsbildung durch eigene Zeitschriften gesehen. Diese Prima-facie-Annahmen sollen hier in der Analyse von Diskursen innerhalb von Selbsterzeugnissen und in der Analyse von Praktiken der Jugendbewegten zur Disposition gestellt werden.

Bibliografie

Hoffmann-Ocon, Andreas, Andrea De Vincenti und Norbert Grube (Hrsg.) (2020): Praxeologie in der Historischen Bildungsforschung. Möglichkeiten und Grenzen eines Forschungsansatzes. Bielefeld: Transcript Verlag.

Reichenbach, Roland (2018): Ethik der Bildung und Erziehung. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Skenderovic, Damir und Christina Späti (2012): Die 1968er-Jahre in der Schweiz. Aufbruch in Politik und Kultur. Baden: Hier + Jetzt.

Tanner, Jakob (2015): Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck.

Von Hodenburg, Christina (2018): Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. München: C.H. Beck.