Selmas Fest: eine Analyse der antidemokratischen Demonstrationen in Brasilien
Claudia Pires de Castro1,3, Matheus Jones Zago2,3
1Universität Wien, Austria; 2Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Germany; 3Brazilian Research and Studies Center (BRaS)
Am 8.1, eine Woche nach der Amtseinführung des neuen brasilianischen Präsidenten Lula, haben Anhänger des ehemaligen Präsidenten Bolsonaro in Brasilia die Sitze der 3 Staatsgewalten gestürmt und verwüstet. Tausende dieser in grün-gelb gekleideten Demonstranten campierten vor dem Armeehauptquartier oder kamen mit Bussen in die Bundeshauptstadt und zogen an diesem Tag zur Esplanade der Ministerien, drangen in den Planalto-Palast, den Kongress und den Obersten Bundesgerichtshof und richteten im Inneren innerhalb weniger Stunden Verwüstungen an.
In den sozialen Medien (SM) und WhatsApp wurde der Begriff Selmas Fest verwendet, um zu antidemokratischen Aktionen aufzurufen. Eine Untersuchung des Technologieunternehmens Palver, das mehr als 17.000 WhatsApp-Gruppen und andere SM überwacht, ergab, dass der Begriff "Selmas Fest" ab dem 27.12. verwendet wurde und am 2.1. seinen Höhepunkt erreichte.
Die Ereignisse vom 8.1.23 sind ein Schlüsselmoment, um die Dilemmata und Schwächen der aktuellen Phase der brasilianischen Demokratie aufzuzeigen. Sie verbinden die politische und institutionelle Krise, in der sich das Land seit 2013 befindet, mit den Veränderungen in der Dynamik der digitalen Mobilisierung politischer Gruppen aller ideologischen Spektren, insbesondere der extremen Rechten in Brasilien.
Der Bolsonarismus ist ein Phänomen, das im Kontext der Globalisierung rechtsextremer politischer Tendenzen steht, aber nicht auf diese Charakterisierung beschränkt ist. Er ist das Ergebnis eines historischen Prozesses in der brasilianischen Republik, der mit radikalen politischen Bewegungen verbunden war. Brasilien wird oft als Laboratorium des globalen Rechtsextremismus bezeichnet, da das Land lokale Referenzen für die Agenda des internationalen Rechtsextremismus produziert. Die Wechselwirkung zwischen dem historischen Faktor Brasiliens und dem aktuellen Faktor der Krise der Demokratien, einem globalen Element des aktuellen Rechtsextremismus, verwandelt das Land in einen Hub für die Verbreitung extremistischer Ideologien.
Um zu verstehen, wie es zu der Situation am 8.1. kommen konnte, müssen wir untersuchen, wie sich diese verschiedenen Dimensionen im brasilianischen politischen Prozess der letzten Jahre artikuliert haben. In diesem Sinne stellt sich die Frage: Welche Rolle spielten SM bei der Ausrufung und Organisation der antidemokratischen Demonstrationen in Brasilien?
Gegenexpertise als Selbstzuschreibung – Eine Exploration von Rechtsdeutungen der Querdenken-Bewegung auf Telegram
Niklas Herrberg, Marcel Müke, Stephan Soblik
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Deutschland
Im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie im Jahr 2020 ist mit Querdenken eine soziale Bewegung entstanden, die die multiplen Krisenherde verschwörungstheoretisch deutet und erklärt. Der Messangerdienst Telegram ist dabei für die Kommunikation und Mobilisation von zentraler Bedeutung. Wir können beobachten, dass das Framing der Maßnahmen als Teil eines sinisteren Plans mächtiger Gruppen aus Staat, Medien und Wissenschaft oftmals von Personen betrieben wird, die sich selbst als alternative Experten inszenieren. Das Betreiben eigener Telegram-Kanäle unterstützt diese Selbstkonstruktion, indem versucht wird sich vor der Irritation durch andere epistemische Regime zu verschließen: Nur unter Deutungsprärogative des eigenen vermeintlichen Expertentums werden Informationen prozessiert.
Das Feld von Recht und Gerechtigkeit muss hierbei als zentral gelten, auch wenn diesem in der bisherigen Forschung noch wenig Aufmerksamkeit zugemessen wurde. In unserem Paper fokussieren wir uns daher auf die Analyse selbstzugeschriebener Rechtsexperten, die sich als „cause lawyers“ den Zielen von Querdenken verschrieben haben. In Rückgriff auf 10 zentrale Kanäle bestimmen wir zum einen mit einem explorativ ausgerichteten Topic-Modell relevante Themen der Deutung. Zum anderen rekonstruieren wir mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse die Zuschreibung von Agency in ausgewählten Beiträgen. Ziel dieses Mixed-Method Vorgehens ist die Exploration des Framings von Recht sowie der Attribution von Subjektpositionen.
Unsere Analyse zeigt, dass die Kanal-Betreiber sich als kritische Bürger und Juristen begreifen, die mit ihrem Widerstand gegen Entrechtung und Freiheitseinschränkungen den Rechtsstaat verteidigen. Diese Sichtweise wird durch ein Rechtsverständnis legitimiert, dass quasi naturrechtlich argumentiert und Recht im Sinne Hannah Arendts als vorpolitisch naturalisiert. Staat, Medien, Wissenschaft und Wirtschaft wird dabei zugeschrieben, dass sie in der Krise Recht willkürlich als Herrschaftsmittel missbrauchen, um letztlich eine vermeintliche Hygienediktatur zu errichten. Dies mündet bei manchen im Bild eines „neuen deutschen Faschismus“. Auf Basis dieser Gesellschaftsdiagnose, die durch Gleichsetzung den historischen Nationalsozialismus relativiert, wird die juristische Aufarbeitung und Verfolgung der vermeintlich Schuldigen proklamiert.
Öffentliche Online-Konflikte als soziologische Fundgrube
Andreas Wenninger, Kevin Altmann
bidt - Bayerisches Forschungsinstitut für Digitale Transformation, Deutschland
Digitale Medien schaffen soziotechnische Sozialräume mit ubiquitären Partizipationsmöglichkeiten. Diese erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Konflikte entstehen und öffentlich ausgetragen werden. Der Versuch, Konflikte sachlich aufzulösen, befeuert – gegen die Intentionen vieler Beteiligter – Konflikte häufig, anstatt sie einzudämmen. Fakt-Checking-Portale und deren Aufklärungsversuche werden etwa strategisch in bestehende Konfliktverläufe eingewoben und dort ‚vorgeführt‘. Bei allen Schattenseiten und Gefahren, die Hate Speech und Desinformationsstrategien für einzelne Nutzer:innen und die gesellschaftliche Öffentlichkeit mit sich bringen, plädieren wir dafür, Konflikte als ‚attraktive‘ und gewinnbringende soziale Phänomene zu behandeln. Sie sind Brutstätten des Sozialen in und mit denen soziale Ordnungsaufbauten und -umbauten produziert werden. Identitäten und Erwartungen, sowie Rollenkonfigurationen werden bestätigt oder neu austariert, Kommunikationsroutinen aufgebrochen oder verfestigt, (vermeintlich) unzusammenhängende Inhalte miteinander verknüpft und (scheinbar) Untrennbares gespalten. In dieser Hinsicht sind Konflikte weder (per se) problematisch oder konstruktiv, immer aber sind sie verschaltet mit sozialen Ordnungsprozessen.
In unserem Beitrag verknüpfen wir sinnrekonstruktive empirische Fallanalysen mit sozialtheoretischen Überlegungen in Bezug auf politisierte Online-Konflikte mit wissenschaftlicher Beteiligung. Die Ordnungsleistungen von Online-Konflikten verorten wir dahingehend auch in den Praktiken des Einsatzes ‚medialer Repertoires‘ digitaler Plattformen, z.B. wie die hypervernetzten Strukturen des Internets die Zerdehnung und Verlagerung von Konfliktschauplätzen über Social-Media-Kanäle hinweg evozieren. Wir fragen somit nach der Rolle der Medialität digital ausgetragener Konflikte für deren
Verlauf und Ausdifferenzierung. Wir unterscheiden anhand empirischer Fälle verschiedene Konflikttypen (strukturierter, konditionierter Konflikt; bi-polarer Dauerkonflikt; antagonistische Co-Existenz) und illustrieren hieran die Ambivalenzen, Unbestimmtheiten und Polarisierungen öffentlicher Online-Konflikte. Wir werden fallvergleichend und im Rahmen einer differenzierungstheoretischen Perspektive eruieren, wie sich wissenschaftsbezogene Online-Konflikte in spezifische funktionale Sinnzusammenhänge einbetten.
Die Politik in der Technik. Digitale Plattformen und ihr ambivalenter Umgang mit Hass und Extremismus.
Marcel Jaspert
IDZ Jena, Deutschland
Im Umgang mit Online-Hass und -Extremismus haben sich Plattformunternehmen wie Facebook und Twitter zu zentralen politischen Akteuren entwickelt. Diese können auf ihren gleichnamigen digitalen Plattformen sowohl durch Einschreibungen in die technischen Grundlagen (Gillespie 2014) als auch durch das Plattformmanagement (Dolata/Schrape 2022) die Grenzen des Austauschs und die Sichtbarkeit von Positionen und Personen festlegen. Die Forschung macht auf den Plattformen eine technisch angelegte Tendenz zur Polarisierung aus (Bail 2021), die Hass und extremistischer Agitation einen Nährboden bietet. Außerdem wird deutlich gemacht, dass die privatwirtschaftliche Organisierung von digitalen sozialen Handlungsräumen stets im Lichte der Profitlogik zu betrachten ist (Dolata 2019).
Ungeklärt bleibt dabei bislang, wodurch das Handeln der Plattformunternehmen getrieben wird, das im Sinne ihrer Profitlogik entsteht und gleichzeitig eine politische Tragweite berücksichtigen muss. Digitale Plattformen sind zweifellos zu zentralen Kommunikationsmedien avanciert, auf denen demokratische Aushandlungsprozesse stattfinden. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Freischaltung von Donald Trump auf zentralen digitalen Plattformen, die den ehemaligen US-Präsidenten 2021 noch rigoros gesperrt hatten (Jaspert 2023). Es stellt sich die Frage, wie die Plattformunternehmen ihre politischen Entscheidungen in Wechselwirkung mit der Gesellschaft legitimieren.
Um sich dieser Frage anzunähern, wird in diesem Beitrag nach den Rechtfertigungsmustern in der Unternehmenskommunikation von Twitter und Facebook gefahndet, die von den Plattformunternehmen verwendet werden, um ihr politisches Handeln zu begründen. Es werden die Beiträge der offiziellen Unternehmens-Blogs mit Inhalten zum Umgang mit Hass und Extremismus, aus der Perspektive der Pragmatischen Soziologie der Rechtfertigungen (Boltanski/Thévenot 2007) und mit Hilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring analysiert. Diese primären Quellen und eine Vollerhebung der zuvor skizzierten Beiträge ermöglichen einen guten Blick auf die Rechtfertigungsmuster und Determinanten der Plattformpolitik.
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