Veranstaltungsprogramm

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Sitzungsübersicht
Sitzung
Sektion Technik- und Wissenschaftssoziologie: Krise und Kritik im Social Web
Zeit:
Montag, 03.07.2023:
13:30 - 15:00

Chair der Sitzung: Alexander Bogner, Österreichische Akademie der Wissenschaften - ÖAW
Chair der Sitzung: Jan-Felix Schrape, Universität Stuttgart
Ort: TC. 5.01 Hörsaal

https://campus.wu.ac.at/de/

 In Kooperation mit der DGS-Sektion Wissenschafts- und Technikforschung.


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Präsentationen

Social-Media-Journalismus zwischen Qualitätsanspruch und Emotionalisierungsimperativen

Gabriel Malli

FH Joanneum

Im Zusammenhang mit Krisendiagnosen erfüllen Akteur:innen des journalistischen Feldes zentrale Funktionen: Einerseits tragen sie zur Klassifikation gesellschaftlicher Dynamiken als krisenhaft bei. Andererseits stellen sie ihren Publika Erklärungs- und Interpretationsmodelle zur Verfügung, die es erlauben sollen, Bedingungen und Effekte solcher Krisen zu erkennen und kritisch zu adressieren. Im Zuge der „multiplen Krise“ der Gegenwart lässt sich aber eine Konstellation beobachten, in der sich ein vormals klar abgegrenztes journalistisches Feld selbst in der Krise befindet: Durch den Auf-stieg des Social Web partizipieren auch „para-“ und „pseudojournalistische“ Akteure an gegenwärtigen Krisendiskursen und ersetzen dabei teilweise Leistungen eines professionalisierten Journalismus.

Diese zunehmend konflikthafte Konkurrenzsituation schafft Herausforderungen für Journalist:innen, die ihre Inhalte im Social Web positionieren wollen. Die geplante Präsentation adressiert die Frage danach, wie journalistische Akteure Kommunikations- und Distributionsmöglichkeiten sozialer Medien nutzen, um Publika Wissen zu Krisenphänomenen zu vermitteln. Dafür wurden Beiträge zweier reichweitenstarker Kanäle auf Instagram bzw. TikTok, die qualitätsjournalistische Angebote insbesondere für Jugendliche schaffen wollen, analysiert sowie Interviews mit ihren Produzent:innen durchgeführt.

Durch die Analyse wird erstens deutlich, dass journalistische Akteur:innen ihre Produktionen flexibel in kulturelle Konventionen und technische Affordanzen von Medienplattformen einpassen (müssen), um für das Zielpublikum vor dem Hintergrund algorithmisch verfasster Sortiermechanismen sichtbar zu bleiben. Zweitens zeigt sich, dass Produzent:innen strategisch versuchen, an Sensibilitäten des Publikums anzuschließen, um eine dauerhafte Verbindung zu schaffen und (Krisen-)Bewusstsein zu aktivieren. Drittens grenzen sie sich von journalistischen und politischen Sprecher:innen in und abseits sozialer Medien ab, um ihre Deutungen gegenwärtiger Krisenzustände zu konturieren. Hierbei navigieren sie in einem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch, qualitätsjournalistischen Normen zu entsprechen, und medial bedingten „Emotionalisierungsimperativen“. Daraus erwachsen Risiken, Tendenzen einer affektiven Polarisierung weiter zu verstärken.



Zur Autonomie im Social Web: Authentische Selbstbestimmung im Nullsummenspiel differierender Wahrheiten

Karoline Kalke

Wirtschaftsuniversität Wien, Österreich

"Der revolutionäre Charakter der sozialen Medien" wird vermehrt vor dem Hintergrund regressiver Dynamiken in westlichen Demokratien diskutiert. Dabei kreist eine Bandbreite an Problemdiagnosen um die digitale Bedrohung für die Autonomie als Selbstbestimmung in ihrem personalen und/oder moralischen Verständnis. Diese Perspektiven implizieren oft eine deterministische Sichtweise auf die Beziehung zwischen Demokratie und digitaler Technik im Allgemeinen – sowie Autonomie und sozialen Medien im Speziellen. Dahingegen fragt der vorliegende Beitrag nach der gesellschaftlichen Konstitution von Autonomie als (kritische) Handlungsfähigkeit in digital vermittelten Gesellschaften. Soziale Medien werden dafür als Teil wechselseitiger Beeinflussung zwischen Gesellschaft und Technik in Anlehnung an den Begriff der "digitalen Konstellation" verstanden. Dem wird ein prozessuales und relationales Autonomiekonzept an die Seite gestellt, das zwar in Machtverhältnissen des Social Webs konstituiert wird, aber gleichzeitig Raum für widerständige Modifikation erfährt. Vor dem Hintergrund fortschreitender Polarisierung und Radikalisierung argumentiert der Beitrag, dass sich im Social Web eine gesellschaftliche Norm von Autonomie abzeichnet, die das neoliberale Ideal der singulären Selbstverwirklichung durch Authentizität im eigenen Profil mit den kritischen Rufen nach der Rückeroberung der Kontrolle über die eigenen Daten und online Erfahrungen plattformübergreifend vereint. Die Kritik an der Entmündigung der Nutzer:innen verkehrt sich dabei in eine soziale Norm der Selbstbestimmung, deren Urteilsbildung nicht etwa dem aufklärerischen Ideal der Vernunft zum Wohle aller folgt, sondern Kriterien der Authentizität priorisiert. In Zeiten sich zuspitzender Krisen, Verteilungskämpfen und Politisierungen gerät, auf progressiver wie regressiver Seite, die ganz persönliche Wahrheit der eigens authentisch erfahrenen und mit anderen geteilten Lebenswelt in ein Nullsummenspiel differierender Sichtweisen. Authentische Selbstbestimmung als eine soziale Norm von Autonomie in spätmodernen digital vermittelten Gesellschaften zu begreifen, lässt somit Rufe nach der demokratisierenden Rückeroberung von Selbstbestimmung aus ihrer digitalen Unterdrückung für eine progressive technologische Zukunft schwieriger werden, und ist gerade deshalb für ein kritisches Verständnis regressiver Dynamiken hilfreich.



Social Media im Spannungsfeld zwischen hegemonialen und diversitätssensiblen Genderdiskursen

Katharina Crepaz

Eurac Research

Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags sind die Ergebnisse des Forschungsprojektes D.Rad (De-Radicalisation in Europe and Beyond: Detect, Resolve, Re-Integrate) zu Radikalisierungstendenzen und hegemonialen Geschlechterdiskursen im digitalen Raum. Für die Fallstudie Italien wurden die Social Media Accounts rechtspopulistische Parteien (Lega, Fratelli d’Italia) als Radikalisierungstreiber*innen, jene von NGOs als de-radikalisierend wirkende Agent*innen und Profile von Content Creator*innen aus der LGBTQIA+ - Community als Beispiel für Citizen Communication untersucht. Analysiert wurden Posts auf unterschiedlichen Plattformen (Facebook, Twitter, Instagram, TikTok) sowie die dazugehörigen Kommentare; als Methode wurde eine kritische Diskursanalyse mit besonderer Berücksichtigung von Mediatisierungs- und Visualisierungsoptionen durchgeführt. Geschlechterdiskurse in traditionellen Medien, v.a. im Fernsehen als ebenfalls visuelles Medium, dienten als Hintergrund. Dabei zeigte sich, dass hegemoniale Geschlechterrollen (Frauen entweder als stilles Dekor oder als Idealbild der katholisch geprägten sich-aufopfernden Mutter, kaum Sichtbarkeit bzw. starke Diskriminierung von LGBTQIA+-Personen) aus den traditionellen Medien quasi unverändert ins Social Web übernommen werden und sich dort fortschreiben. Dies wird auch in den Kommentaren bzw. deren Ausrichtung deutlich: Von der Norm abweichendes Verhalten wird umgehend mit Hasskommentaren bis hin zu Gewalt- und Vergewaltigungsfantasien „geahndet“. Im Gegensatz dazu konnten LGBTQIA+ Content Creator*innen mit großen Reichweiten ihre Accounts und Kommentarbereiche weitgehend frei von Hate Speech und Radikalisierung halten, und so eine Art Safe Space für ihre (vorwiegend jungen) Communities schaffen, in dem ein offener Austausch ohne Anfeindungen möglich bleibt. Der Beitrag wirft die Frage auf, ob es sich dabei um wenige Ausnahmen handelt, oder ob die vorherrschende Auffassung von Social Media als primär radikalisierend wirkende Agent*innen angesichts dieser Entwicklungen hinterfragt werden muss, und welche Rahmenbedingungen für die Schaffung von diversitätsfreundlichen digitalen Räumen notwendig sind.



Evidenz und Populismus. Wie überzeugt man mit Kritik in kritischen Zeiten?

Marc Mölders

Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland

Andere von etwas als Problem oder Lösung zu überzeugen, ist eine der ältesten soziokulturellen Praxen. Wissenschaftliche Erklärungen in öffentlichen Experimenten zu demonstrieren, hat wesentlich zur Ausdifferenzierung und Autonomisierung einer wissenschaftlichen Sondersphäre beigetragen. Insofern ließe sich behaupten, Evidenzbasierung sei bereits Teil der wissenschaftlichen Schöpfungsgeschichte.

In den „Kritischen Zeiten“ der Gegenwart ist zwar allenthalben von Evidenz die Rede, allerdings reicht bloßes Demonstrieren vermeintlich epistemischer Überlegenheit nicht (mehr), um andere zu überzeugen. Evidenz wird daher in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen flankiert. Ein besonders eindrückliches wie zeitgenössisches Beispiel gibt Sofya Glazunova (2022) mit ihrer Studie zu „Digital Activism in Russia“. Hierin untersucht sie die Strategie von Alexey Navalny und dessen Team. Charakteristisch hierfür sei es nicht nur – mit modernsten Methoden („drone journalism“) – Evidenz zu sammeln. Vielmehr wurden Nachweise von Verfehlungen der russischen Elite (Korruption etc.) von populistischen Formaten flankiert. Glazunova unterscheidet vier Typen von Populismus, von denen zwei konstitutiv mit Evidenz verknüpft sind: Investigative Populism und Advocacy Populism. Beide gründen Kritik auf den Nachweis von Fehlverhalten, im zweiten Fall kommt über das einfache Adressieren noch ein „Call to Action“ hinzu.

Nun lässt sich gerade am Beispiel Navalnys einerseits vom Erfolg von Kritik in kritischen Zeiten sprechen. Andererseits führt es aber auch Gegenmaßnahmen besonders deutlich vor Augen. Dabei ist nicht nur an vergleichsweise plumpe Mittel wie Vergiftung zu denken. Die von Glazunova hervorgehobene Strategie Navalnys, seine Kritik insbesondere für YouTube maßzuschneidern, lässt sich durch technisch immer bessere „Deepfakes“ konterkarieren.

Heben sich Kritik und Gegenmaßnahmen also gegenseitig auf? Der vorgeschlagene Vortrag geht der These nach, dass – über den Fall der russischen Opposition hinaus – es auf die Flankierung von Evidenz ankommt: Beharrlichkeit, Wiedererkennbarkeit sichernde Variabilität und ein Praktischwerden der Kritik als Anschluss an „Calls to Action“. Evidenz und Populismus wären dann kein Widerspruch, sondern eine Kritikstrategie – insbesondere in kritischen Zeiten.