Illusion, Imagination, Repräsentation: Games und Praktiken des Versammelns
Chair(s): Jana Hecktor (IZEW Uni Tübingen, Deutschland)
Die Praktik des Spielens ist eng mit der Praktik des (Ver)sammelns verknüpft: Ob das Sammeln von Punkten für Highscores, das Versammeln von Spieler*innen am Brettspieltisch oder das Sammeln von Spielartefakten als kulturelle und ökonomische Praxis. Im Panel “Games und Praktiken des Versammelns” soll diese Verknüpfung in drei Dimensionen untersucht werden: Illusion, Imagination und Repräsentation.
Unter dem Begriff der Illusion beschäftigt sich Benjamin Schäfer mit der Versammlung technischer Artefakte, die in ihrer Gesamtheit die Ausreizung der menschlichen Sinne ermöglichen. Als Betrachtungsgegenstand wählt er die komplexen Verknüpfungen von Virtual-Reality-Systemen, die er basierend auf seinem Forschungsprojekt und Interviews mit Entwickler*innen untersucht.
Marcel Thiel-Woznica, Christian Günther und Nadine Cremer denken die Praktik des Versammelns unter dem Desiderat der Imagination als eine Gesellschaftliche und loten die Zusammenhänge zwischen Spielrahmungen und ethischen Grundzügen im kollektiven Rollenspiel aus. Die dabei zu untersuchende Rollenspielgilde EEAT, die als Gruppe von Kannibalen performt, bewegt sich nicht nur am Rand der Spiel- sondern auch der moralischen Grenzen und bildet damit ein komplexes Analyseobjekt.
Im Spannungsfeld der Repräsentation betrachtet Laijana Braun das (Ver)sammeln diskursanalytisch als eine weiblich konnotierte Praktik, die sich nicht nur in den Games selbst, sondern vor allem in der übergreifenden Organisation des Spielens widerspiegelt.
Während alle drei Dimensionen für sich einen relevanten Aspekt der Game Studies repräsentieren, ist vor allem ihre Zusammenführung interessant, die sich innerhalb der Vorträge sowie durch die Zusammenführung als Panel ergibt: Wie bedingen sich die verschiedenen Formen des (Ver)sammelns im Komplex des Spiels? Was unterscheidet sie logisch, technisch, gesellschaftlich und kulturell? Und wer übt welche Formen der Versammlung aus?
Beiträge des Symposiums
Versammeln und (Aus-)Nutzen menschlicher Wahrnehmung in Virtual Reality-Systemen
Benjamin Schäfer Universität Konstanz, GameLab / Fachgruppe Medienwissenschaft
Aufsetzen. Abtauchen. Staunen. Auftauchen. Absetzen. Spätestens seit dem Verkauf der neuesten Virtual Reality-Brille von Apple, der Vision Pro, dreht das magische Versprechen von virtuellen Realitäten wieder seine Runden. Doch wie kommt diese vermeintliche Magie zustande? Grob zusammengefasst stellen Virtual Reality-Systeme komplexe Verbünde aus Hardware (Sensoren, SoCs etc.) und Software (Audio Propagation, Locomotion etc.) dar, die maßgeschneidert auf die menschliche Wahrnehmung Unmögliches ermöglichen (sollen). Dabei nutzen Entwickler:innen gezielt Lücken und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung (aus). In diesen Lücken, in denen sich Sinneswahrnehmung (perception) und Kognition (cognition) trennen, docken Entwickler:innen mit ihrer Soft- und Hardware an in dem sie den Output sammeln, den der menschliche Körper bereitstellt.
Basierend auf Interviews, (Selbst-)Beobachtungen sowie wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Präsentationen setzt Benjamin Schäfer genau dort mit seinen Konzepten der Weltenstimmigkeit und des “unconscious interface” an. Beide entstehen im kleinteiligen Zusammenspiel und der speziellen Verortung der menschlichen (Sinnes-)Wahrnehmung in Virtual Reality-Systemen. In seiner Analyse verwendet er den iterativen Dreischritt von “Parsing Reality”, “Perceptual Imagineering” und “Thresholding Reality”, um das Vorgehen von Entwickler:innen bei der Entstehung von Hard- und Software zu begreifen. Dabei steht in jedem Schritt das (Ver-)Sammeln spezieller Daten im Vordergrund, um diese für ein Virtual Reality-System in Form eines “unconscious interface” nutzbar zu machen. Im Vortrag geht Benjamin Schäfer auf das Sammeln dieser Daten ein und setzt dieses in den Kontext seiner Analyse der “magischen” Funktionsweisen von virtuellen Realitäten.
Kannibalen versammeln sich? Rollenspielpraktiken in Fallout 76
Marcel Thiel-Woznica1, Christian Günther2 1JGU Mainz SFB 1482 “Humandifferenzierung”, 2Bergische Universität Wuppertal
Dass Spiele einerseits nicht gänzlich unmoralisch sind, moralische Vorstellungen im Rahmen digitaler Spielpraktiken andererseits in ihrer Relevanz heruntergefahren werden können (undoing morality), ist keine neue Erkenntnis. Spieler:innen der Rollenspielgilde EATT (Fallout 76) können morden, töten und, so der Ausgangspunkt des Vortrages, auch gegessen werden, ohne dass solche Praktiken als Tabubrüche sanktioniert werden, indem sie Rahmenwechsel vollziehen und entsprechende Praktiken als Spiel- oder Rollenspielpraktiken und nicht etwa als Alltagspraktiken rahmen und verstehen. Das damit einhergehende undoing morality impliziert also immer auch ein multiples Rahmungsgeschehen (Goffman XXXX), das am Fall der Rollenspielgilde „EATT“ – im Rahmen des Online MMO Fallout 76 – noch um einen Rollenspielrahmen erweitert wird: Die Teilnehmer:innen der Rollenspielsituation wechseln zwischen Rollenspiel-, Spiel- und Alltagsrahmen hin und her, und machen so die entsprechenden Rahmen für die jeweiligen Spielpraktiken und Versammlungskonstellationen relevant. Doch wie zeigen sich die Teilnehmer:innen der Situation diese Rahmenwechsel an? Auf welche historischen oder imaginativen Praktiken greifen sie zurück, um den Rollenspielrahmen aufrechtzuerhalten? Die Vortragenden zeigen, dass sich die kannibalistische Rollenspielpraxis aus 1) ritualisierten und 2) erinnerungskulturellen Praktiken zusammensetzt, die dabei helfen, den Rollenspielrahmen als primären Rahmen relevant zu machen. Der Vortrag versteht sich also als ein Beitrag zur Untersuchung der Frage, wie alltägliche Orientierungsmuster, z.B. Moral- oder Geschichtsvorstellungen, Einzug ins Spiel finden können (doing) oder für die Aufrechterhaltung der Spielsituation irrelevant gemacht werden (undoing).
Eine Analyse des (Ver)Sammelns als weiblich konnotierte Spielpraxis
Laijana Braun HBK Braunschweig, Institut für Medienwissenschaft
Weiblichen Spielerinnen wird im Spielvollzug häufig die Rolle des Supports zugeschrieben. Dies hat verschiedene Ursachen, die in einem komplexen Verhältnis stehen: Geringes Gaming-Capital aufgrund von Erziehungsstereotypen (vgl. Jenson & DeCastell 2011, S. 168), die Verknüpfung zur Care-Arbeit (vgl. Austin 2020, S. 9) oder aber die männliche Aneignung des Siegs (vgl. Ratan 2015, S. 446; 456).
Diese Rollenfiguration lässt sich nicht nur im Spielvollzug, sondern auch in dessen Organisation wiederfinden. Durch die Annahme der Supportrolle unterstützt die Spielerin nicht nur die Charaktere, sondern eben auch die Spieler*innen beim Sieg und etabliert so ein angenehmeres Spielereignis (vgl. Routsalainen 2018, S. 10). Was auffällt, ist, dass die Figuration der Mitspielerin in verschiedenen Strängen des Diskurses sowohl intra- als auch extradiegetisch eng mit der Praxis des (Ver)sammelns verknüpft ist – ob im Versammeln von Communitys in der Organisation von Spielerunden (vgl. Peaker 2019, S. 64) durch die „Ehefrau“ oder dem Sammeln und Weitergeben von Wissen durch die „ältere Schwester“, wie es der Figur diversen gegenwärtigen Nintendo-Werbungen zugeschrieben wird. Basierend auf der Figuration der weiblichen Spielerin als Mitspielerin (im Gegensatz zum männlichen Spieler) soll analytisch herausgestellt werden, inwieweit die Praxis des Versammelns die weibliche Spielpraxis prägt. Der Fokus liegt dabei vorrangig auf den organisatorischen Praktiken vor, während und nach dem Spiel, die den eigentlichen Spielvollzug erst ermöglichen bzw. formen. In Vergleich dazu soll der Spielvollzug selbst beleuchtet werden: Inwiefern wird die Praxis des (Ver)Sammelns in weiblich konnotierten Spielen zum Grundspielprinzip erhoben und damit als weibliche reproduziert?
|