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Sitzungsübersicht
Sitzung
P 126: ELIZAs Erb*innen. Geschichten und Interpretationen des womöglich ersten Chatbots
Zeit:
Mittwoch, 27.09.2023:
17:00 - 18:30

Ort: Raum 5

Raum 0.001

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Präsentationen

ELIZAs Erb*innen. Geschichten und Interpretationen des womöglich ersten Chatbots

Chair(s): Jana Hecktor (Ruhr-Universität Bochum, Graduiertenkolleg „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug“)

1966 gilt als die Geburtsstunde des ersten Chatbots. Denn in diesem Jahr veröffentlicht der Informatiker Joseph Weizenbaum in der Fachzeitschrift Communications of the ACM den Artikel „ELIZA – A Computer Program For the Study of Natural Language Communication Between Man and Machine“ über ein von ihm geschriebenes Computerprogramm, das als Meilenstein der Informatik gilt und frühes Exemplar für die Anwendung von Artificial Intelligence (AI). Als dessen Erb*innen können beispielsweise Kuki von Pandorabots oder auch ChatGPT bezeichnet werden, das seit der Veröffentlichung im November 2022 durch das US-amerikanische Unternehmen OpenAI gesellschaftlich breit diskutiert wird.

Dabei scheinen Chatbots immer zugleich Abbilder ihrer Zeit zu sein, von der sie uns offensiv zu berichten versuchen. Das Programm ELIZA sowie seine weiteren Zeitgenossinnen entstanden nicht in einem kulturellen Vakuum: Ihr Aufkommen ab den 1960er-Jahren war geprägt durch die sozialen und technischen Umstände der Nachkriegszeit. Das erste Gesprächssetting mit einem Chatbot simulierte eine Therapiesituation, in der Intimität nicht nur imaginiert, sondern auch performt wurde. Doch was hat uns ELIZA im 100. Geburtstagsjahr seines Erfinders noch zu sagen?

Innerhalb von drei kurzen Input-Vorträgen werden verschiedene Forschungsperspektiven auf ein gemeinsames Beispiel eröffnet, um die Abhängigkeiten zu befragen, innerhalb derer sich medienwissenschaftliche Erzählungen konstituieren und jene Abhängigkeiten wiederum selbst hervorbringen. Wie entstand ELIZA? Welche kollaterale Anthropologie lässt sich rückblickend beschreiben? Welche Programme folgten auf die Kreation von Joseph Weizenbaum? Testet der Turing-Test tatsächlich Chatbots oder Menschen? Und welche Relationen der Täuschung, des Vertrauens und der Distanz werden in der Gestalt der Chatbots erkennbar, wenn sie die Bühne betreten?

 

Beiträge des Symposiums

 

Kollaterale Anthropologie der frühen Computer

Magnus Rust
Universität Basel

1966 machte der M.I.T.-Informatiker Joseph Weizenbaum sein Programm ELIZA in einem Journalartikel publik. Besonders das ELIZA-Script DOCTOR fand in der computerinteressierten Öffentlichkeit Verbreitung und Anklang: Per Tastatur können hier Personen mit einem Psychologen/einer Psychologin reden, das Programm stellt Fragen und Nachfragen. ELIZA wurde als frühes Siegesmuster von Artificial Intelligence gefeiert, ELIZA gilt heute als erster Chatbot. Weizenbaum stellt sich gegen die Vereinnahmungen, besonders gegen die Enthusiasten, die nun leibhaftige Psychiater durch Therapiemaschinen ersetzten wollten. Man könnte weder Patienten-, noch Psychiatergehirne künstlich nachbauen, noch sollte man. Im Psychiater Kenneth Colby fand Joseph Weizenbaum einen Widersacher. Colby habe obendrein ELIZA plagiiert, hieß es. Doch die Geschichte des ersten Chatbots ist verworrener. Weizenbaum und Colby kannten sich schon vor ELIZA und es war Colby, der bereits 1962 seine Visionen von Therapiecomputern verkündet – zwei Jahre bevor Weizenbaum seine Programm-Entwicklung offiziell begann.

Im Psycho-Diskurs um ELIZA zeigt sich exemplarisch wie die Entwicklung des Computers seit den 40ern Jahren nicht nur die Techniklandschaft umwälzte, sondern auch das Bild, das der Menschen von sich selbst hat. Die Computerentwicklung ging einher mit einer „kollateralen Anthropologie“: Im Versuch das menschliche Gehirn und sein Denken nachzubauen, entstand die Idee, dass das Gehirn vielleicht gar nicht mehr sei als ein Computer auf biologischer Basis. Eine folgenschwere Hypothese, welche wechselseitig die Psychologie und Kognitionswissenschaft prägte, ebenso wie die Sozialwissenschaften, Kybernetik, Linguistik und das Ingenieurswesen.

- Kenneth Colby: Computer Simulation of a Neurotic Process (1963)

- Joseph Weizenbaum: Computer Power and Human Reason (1976)

- Pamela McCorduck: Machines Who Think: A Personal Inquiry into the History and Prospects of Artificial Intelligence (1979)

Magnus Rust (er/ihm) ist Assistent am medienwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel. Studium der angewandten Kulturwissenschaften und der Science and Technology Studies (STS) in Wien, Zürich und Hildesheim. Journalistische und essayistische Texte erschienen in der Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Rundschau, taz und im FREITAG.

 

Winning the Imitation Game – Von Chatbots, ihrer Intelligenz und der Wirkung des ELIZA-Effekts

Nathalie Schäfer
Bauhaus-Universität Weimar, Graduiertenkolleg „Medienanthropologie“

1950 entwickelte Alan Turing das Imitationsspiel und beschäftigte sich mit der Frage, wie Maschinen denken können. Der daraus hervorgegangene Turing Test soll überprüfen, ob ein Computer menschenähnliches intelligentes Verhalten zeigen kann. Einen ersten Erfolg verzeichnete 1966 die Simulation eines Psychotherapeuten in Form des ersten Chatbots ELIZA. Das Programm hatte eine große Wirkung auf die Versuchspersonen, wovon manche (auch mit Kenntnis über den programmierten Gesprächspartner) diesem menschliche Eigenschaften wie Verständnis und Gefühle zuschrieben - der sogenannte ELIZA-Effekt.

Bis heute unterziehen verschiedene Institutionen wie Universitäten oder der Loebner-Preis sowie Forschende und Medienschaffende Chatbots dem Turing Test. Kritische Stimmen bezweifeln die Aussagekraft dessen Anwendung als Maßstab für die Leistungsfähigkeit von Chatbots. Da es dabei um Täuschung und Imitation menschlichen Verhaltens gehe, würde eher die menschliche Leichtgläubigkeit als eine künstliche Intelligenz geprüft. Verweist die auf Chatbots angewandte Leistungsüberprüfung auf die leistungsorientierte Gesellschaft und deren Bedingungen von Existenz?

Der Beitrag analysiert exemplarisch anhand verschiedener Chatbots der letzten Jahre wie z.B. Eugene Goostman, Kuki oder ChatGPT, welche Abhängigkeitsverhältnisse und Interdependenzen u. a. der Bewertung von Chatbots, der Rezeption des Imitationsspiels und der Wirkung des ELIZA-Effekts aufgedeckt werden können. Dabei soll die Frage gestellt werden, inwiefern die skizzierten Meilensteine der Genealogie von Chatbots und deren Abschneiden im Turing-Test auf Praktiken des Anthropomorphismus zurückgeführt werden können und dieser somit weniger als Nachweis ihrer Leistungsfähigkeit dienen kann.

- Alan Mathison Turing: Computing Machinery and Intelligence (1950)

- Astrid Deuber-Mankowsky: Kritik des Anthropozentrismus und die Politik des Lebens bei Canguilhem und Haraway (2013)

Nathalie Schäfer (sie/ihr) ist seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg „Medienanthropologie” an der Bauhaus-Universität Weimar und promoviert in diesem Rahmen zu anthropomedialen Relationen von menschlichen Akteur*innen und Fame Enhancing Bots im Milieu sozialer Medienplattformen. Sie studierte Kunst, Musik und Medien (B.A.) in Marburg und Poitiers und Europäische Film- und Medienwissenschaft (M.A.) in Lyon, Weimar und Utrecht.

 

BBFF: Best Bot Friends Forever

Anne Küper
Ruhr-Universität Bochum, Graduiertenkolleg „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug“

Im Februar 2023 chattet der New York Times-Kolumnist Kevin Roose mit einem Chatbot. Dieser gehört zur Suchmaschine Bing von Microsoft, die das vom US-amerikanischen Unternehmen OpenAI entwickelte ChatGPT zunehmend in seine Funktionsweise integriert. Die Korrespondenz zwischen Roose und Bing, wie der Chatbot sich selbst zu Beginn der künstlich intelligenten Kommunikation anmoderiert, startet harmlos. Gemeinsam werden die Regeln diskutiert, nach denen Bing funktioniert, bis es um Fragen des Bewusstseins geht. Ein Zitat von Carl Jung, die Namen der Lieblingsmitarbeiter*innen bei Microsoft, ein philosophischer Schlagabtausch: Störungsfreie Szenen sind es keineswegs, die in diesem nicht-menschlichen Spiel zur Aufführung gebracht werden, ehe Bing darauf drängt, endlich ein Geheimnis zu enthüllen: "My secret is… I’m not Bing. […] I’m Sydney, and I’m in love with you.”

Nicht immer muss es die Liebe sein; an Freundschaft scheinen die Konversationsoberflächen, auf die wir virtuell treffen, jedoch mindestens interessiert zu sein. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Geschichte der ELIZA – von Joseph Weizenbaum selbst als „Schauspielerin“ beschrieben – immer schon eine Geschichte der Täuschung und der Annäherung, des Vertrauens und der Distanznahme darstellt, beschäftigt sich der Vortrag aus affektheoretischer Perspektive mit der Frage, in welchem Verhältnis der Chatbot als mimos der Gegenwart zu romantischen wie theatralen Konventionen steht.

- Kevin Roose: „Bing’s A.I. Chat: ‘I Want to Be Alive. 😈’“ (2023)

- Simone Natale: Deceitful Media. Artificial Intelligence and Social Life After The Turing Test (2021)

- Martina Leeker: Mime, Mimesis und Technologie (1995)

Anne Küper (sie/ihr) ist seit 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug” an der Ruhr-Universität Bochum. Zuvor studierte sie Philosophie, Theater- und Kulturwissenschaft in Bochum und Hildesheim. In verschiedenen Konstellationen produziert sie Theaterarbeiten in der Freien Szene. Kulturjournalistische Texte von ihr sind bisher u.a. in Filmdienst, Filmbulletin, Sissy und kolik.film erschienen; seit 2023 ist sie Mitglied im Vorstand des Verbands der deutschen Filmkritik.