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Sitzungsübersicht
Sitzung
AGS 175: Addiktionen und Affekte
Zeit:
Samstag, 30.09.2023:
10:00 - 11:30

Ort: Raum 6

Raum 0.002

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Präsentationen

Addiktionen und Affekte

Chair(s): Svetlana Chernyshova (Universität Düsseldorf, Deutschland)

Das AG-Symposium “Addiktionen und Affekte” der AG Affective Media Technologies wird in Impulsvorträgen einem Spektrum emotional-affektiver und psychischer Abhängigkeiten in ihrem Verhältnis zu bestimmten medialen Eigenlogiken, Operationsweisen und Praktiken nachgehen. Affektive Pathologien, Sucht und Medien bilden eine Trias mit einer speziellen Dynamik, die wir im Rahmen dieses Panels ausloten werden. Einerseits beschäftigt uns der altbekannte Topos, dass Medien spezifische Suchtformen produzieren, wie etwa Fernsehsucht oder Video- und Onlinespielsucht. Andererseits werden Apps zunehmend zur Behandlung bestimmter affektiver und behavioraler Störungen genutzt. Der pharmakologische Charakter digitaler Medien zeigt sich hier besonders deutlich.

 

Beiträge des Symposiums

 

Mental Health and Addiction Recovery Apps: Das Subjekt der Sucht

Moritz Meister
Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten

Die Zeit, die Menschen täglich “in” Apps verbringen, liegt im globalen Durchschnitt bei über vier Stunden. Zugleich hat sich hier ein riesiger Markt im Bereich Mental Health und Wellbeing eröffnet – mehr als 10.000 Apps existieren hier. Prominente Features umfassen Symptom- und Mood-Tracking, die Präsentation psychologischer Erklärungen, Verhaltensinterventionen (Meditation, Body Scan usw.) und Kommunikationskanäle (Buddy-Systeme, User Fora usw.). Eine Subgruppe bilden „Addiction Recovery Apps“, die Formen der Abhängigkeit von Alkohol- über Porno- bis zur Smartphone-Sucht thematisieren.

Der Beitrag interessiert sich dabei insbesondere für Subjektivierung im Foucault’schen Sinne, das heißt Anrufungen, Selbstdeutungen und Selbsttechniken, die Apps ihren User:innen zur Verfügung stellen. Während Mental Health Apps ihre User:innen generell in freundlich-empowernden Tonfall ansprechen, ist es auf der anderen Seite etwas Drohendes, Disziplinierendes, Strafendes, das gerade der Sucht-Therapie in verschiedenen psychologischen Traditionen innewohnt. Wie verhalten sich diese Subjektbilder zueinander, und im Verhältnis zu digital-medialen Logiken wie Gamification und Überwachung? Wie wird mit der potenziell paradoxen Konstellation umgegangen, dass Apps, um digital-kapitalistischen Erfolgskriterien gerecht zu werden, oft selbst ‚süchtig machen‘ sollen?

Bio:

Moritz Meister, MSc, ist Doktorand an der Universität Wien und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Kulturpsychologie, Kritische Psychologie, Dispositiv-Analysen und qualitativer Forschungsmethoden, insbesondere mit Blick auf Apps/digitale Interfaces.

 

Sentimentale Abhängigkeiten zwischen FernsehproduzentIn und Fan: Zum Verhältnis von Queerbaiting, Affekt und Fandom

Elsa-Margareta Venzmer
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Queerbaiting ist eine Marketing-Technik, die in der deutschsprachigen Forschungslandschaft kaum bekannt ist, aber auch in der internationalen Forschung bisher nur wenig Beachtung findet. Mithilfe von Queerbaiting versuchen MedienproduzentInnen durch homoerotische oder romantische Handlungsstränge, die zwei gleichgeschlechtliche Charaktere betreffen, ein LGBTQ+-affines Publikum anzuziehen. In dem Vortrag wird die Theorie aufgestellt, dass Sentimentalität eine entscheidende Rolle bei Queerbaiting und der Affizierung der ZuschauerInnen spielt und über sentimentale Ästhetiken und Erzählstrategien nicht nur Fans von Fernsehserien süchtig gemacht werden – es entsteht auch eine sentimentale Abhängigkeit zwischen FernsehproduzentInnen und Fans. Exemplifiziert wird dies anhand der Fernsehserie Good Omens (Showrunner: Neil Gaiman) und deren Fandom.

Das Ziel des Vortrags ist es zu veranschaulichen, wie sich zum einen die Fernsehsucht der Fans äußert (Fan Fiction, Fan Art). Zum anderen soll gezeigt werden, inwiefern FernsehproduzentInnen abhängig von Fans und ihren Fanprodukten sind – nicht nur auf einer kommerziellen, sondern auch auf einer sentimentalen Ebene.

Bibliografie

Brennan, Joseph (Hrsg.) (2019): Queerbaiting and Fandom. Teasing Fans through Homoerotic Possibilities. Iowa City: University of Iowa Press.

Kappelhoff, Hermann (2009): Tränenseligkeit: Das sentimentale Genießen und das melodramatische Kino. In: Brütsch, Matthias (Hrsg.): Kinogefühle. Emotionalität und Film. Marburg: Schüren. S. 33-50.

Kumar, Shanti (2020): The Affective Audience: Beyond the Active vs. Passive Audience Theory Debate in Television Studies. In: Shimpach, Shawn (Hrsg.): The Routledge Companion to Global Television. New York, London: Routledge. S. 99-110.

Bio:

Elsa-Margareta Venzmer absolvierte ihr Masterstudium der Medienwissenschaft an der Universität Regensburg. Während ihres Studiums arbeitete sie als Lektorin und Filmeditorin. Aktuell ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg „Das Sentimentale in Literatur, Kultur und Politik“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig. Ihre Forschungsinteressen umfassen Quality Television, Comics & Graphic Novels, Fan Studies, Feministische Theorie und Affect Studies.

 

Appify your Addiction. Apparative Suchttherapie seit 1960

Daniela Wentz
Ruhr-Universität Bochum

Zur Prävention und Behandlung von Suchterkrankungen werden zunehmend auch Anwendungen aus dem Bereich digitaler Gesundheitstechnologien entwickelt. Der Vortrag nimmt einige dieser Anwendungen zum Ausgangspunkt, um die Logik und Funktionsweise digital-medialen Suchtmanagements herauszuarbeiten und wird sie in ein historisches Verhältnis zur Verhaltenstherapie stellen. Im Kontext letzterer wurden seit Mitte der 1960er Jahre eine ganze Reihe von Aversions-Apparaturen und behavioristischen Interventionen entwickelt, um Süchtige zu behandeln. Ein medienarchäologischer Blick auf diese Apparate stellt Suchtapps in eine bislang wenig beachtete Genealogie.

Bibliographie:

Lupton, Deborah (2014): Apps as Artefacts: Towards a Critical Perspective on Mobile Health and Medical Apps, in: Societies 2014, 4, S. 606–622

Vogler, R. E., Lunde, S. E., Johnson, G. R., & Martin, P. L. (1970). Electrical aversion conditioning with chronic alcoholics. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 34(3), S. 302–307.

Franks, Cyril M., Robert Fried, and Beatrice Ashem. An improved apparatus for the aversive conditioning of cigarette smokers. Behaviour Research and Therapy 4.1-2 (1966): 301-308.

Bio:

Dr. Daniela Wentz forscht im Verbundprojekt "Interact! Neue Formen der sozialen Interaktion mit intelligenten Systemen" an der Ruhr-Universität Bochum. Sie bearbeitet dort das medienwissenschaftliche Teilprojekt zu Affective Computing. Ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind Medien(geschichte) und Neurodiversität/Neurodivergenz, Medien der Psychiatrie und (digitale) Bildkulturen. Sie promovierte an der Bauhaus-Universität Weimar mit einer medienphilosophischen Arbeit über Diagrammatik und Serialität.

 

“Gaming Disorder” als Symptom: Ein Blick ins ICD-11

Bernd Bösel
Universität Potsdam

Die 2022 in Kraft getretene, von der WHO herausgegebene 11. Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme – auch als ICD-11 bekannt – wartete mit einer für die Medienwissenschaft bedeutsamen Neuerung auf: die „Gaming Disorder“ oder „Video- und Onlinespielsucht“. Damit ist nun auf globaler institutioneller Ebene anerkannt, was bisher primär auf anekdotische Evidenz einerseits sowie massenwirksam publizierte Medienpaniken andererseits beschränkt war – nämlich dass es eine intrinsische Verbindung von digitalen Medien und Suchtverhalten gibt, ja dass die Digitalisierung neue Formen von Sucht produziert. Eine vergleichbare Institutionalisierung ist der alltagssprachlichen „Internetabhängigkeit“ bislang nicht gelungen, obwohl sich hier mit Pornosucht, Bingewatching, Doomscrolling und Social Media Disorder u.v.a. weitere Anwärter finden würden und sich gewiss auch hier Fragen nach der Übernahme etwaiger Behandlungkosten durch die Krankenkassen ergeben. Der Vortrag will der Genese dieser Institutionalisierung nachgehen und zudem die Frage stellen, inwiefern diese über das Gesundheitssystem hinausweist. Ist 2022 als das Jahr zu betrachten, in dem erstmals offiziell anerkannt wurde, dass die Digitalisierung dabei ist, die conditio humana grundlegend zu verändern?

Bibliografie

World Health Organization (Hg.): International Classification of Diseases, Eleventh Revision (ICD-11), https://icd.who.int/browse11/l-m/en

Bio

Bernd Bösel ist Privatdozent für Medienwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam.