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Sitzungsübersicht
Sitzung
P 180: Klassifikationsregime der Mobilität und Migration
Zeit:
Freitag, 29.09.2023:
14:00 - 15:30

Ort: Raum 3

Räume 0.020 & 0.021 (gebündelt)

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Präsentationen

Klassifikationsregime der Mobilität und Migration

Chair(s): Gabriele Schabacher (Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland)

Klassifikationen sind und machen abhängig: Als stets situierte Konstruktionen hängen sie von Techniken der Unterscheidung und Hierarchisierung ab (u.a. Bowker/Star 1999, Bergermann/Seier 2018, Gregory 2021, Schabacher 2021). Gleichzeitig vermitteln Klassifikationen als wirkmächtige Adressierungs- und Sortierungsmodelle soziale, epistemologische, räumliche usw. Ordnungen und Zugehörigkeiten. Klassifikationsregime, die sich auf Lebewesen, Dinge, Informationen usw. richten, sind ubiquitär. Das Panel möchte den Fokus auf mediale Prozesse der Klassifizierung in den Bereichen Mobilität und Migration legen und danach fragen, wie an Transitorten, in Verkehrssystemen und im Tourismus Personen(gruppen) in Kategorien eingeteilt und prozessiert werden: Immigrationseinrichtungen und Grenzschutzagenturen sortieren Menschen nach einwanderungsrechtlichen und d.h. auf Nationalität und Vulnerabilität bezogenen Kriterien. Im Regime des digitalen ‚Sicherheitsbahnhofs‘ dagegen wird die Unterscheidung von ‚normalem‘ und deviantem Verhalten relevant, um Reisende unter Gesichtspunkten von safety und security zu überwachen. Im Personentransport werden Passagiere zudem in sogenannte ‚Komfortklassen‘ eingeteilt – eine auch aus der Hotellerie bekannte Praxis, die ihre eigene Machtförmigkeit verschleiert. Indem das Panel der Abhängigkeit von gouvernementalen Klassifizierungsregimen mit Blick auf die Operationalisierung von Nationalität/Vulnerabilität, Devianz und Komfort nachgeht, möchte es medienkulturwissenschaftliche Perspektiven u.a. mit Ansätzen der Mobility Studies, Border Studies und Surveillance Studies verbinden.

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Gabriele Schabacher (Dr. phil.) ist Professorin für Medienkulturwissenschaft an der JGU Mainz und stellvertr. Sprecherin des SFB 1482 „Humandifferenzierung”. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Medientheorie und Mediengeschichte, die Medialität von Infrastrukturen, historische Verkehrsforschung, Kulturtechniken des Reparierens und urbane Überwachungsregime.

 

Beiträge des Symposiums

 

Feststellungsverfahren im Transit: Medien der Im/Mobilität

Sarah Sander
Ruhr-Universität Bochum, Deutschland

Mobilität ist nicht für alle Menschen gleichermaßen offen (Sheller 2018). Wer wie und wohin reist, ist abhängig von sozialen, körperlichen, kulturellen, ökonomischen, sozioökologischen und infrastrukturellen Komponenten. Mobilität ist damit nicht nur eine Frage der Medien und Infrastrukturen des Transports, sondern auch der unterschiedlichen Zugänglichkeiten für verschiedene Personengruppen. Im Fall migrantischer Mobilität wird dies besonders deutlich. Da z.B. die Klassifizierung nach Herkunftsregion und Schutzbedürftigkeit ausschlaggebend für den Aufenthaltsstatus im Ankunftsland ist, entscheidet sie schon über die Wahl der Transportmittel und Reiserouten mit.

Der Vortrag nimmt daher die medialen Klassifizierungsregime von Migration in den Blick, die mit infrastrukturellen Anordnungen, Datenverarbeitungssystemen und Grenzüberwachungstechnologien zusammenhängen. Prozesse der (Daten-)Aufnahme, Klassifizierung und Kanalisierung stellen im Transit Subjekte fest, die nicht nach Kriterien der Identität und Individualität behandelt werden (Agamben 2010), sondern nach Kategorien von Nationalität und Vulnerabilität/Kriminalität identifiziert und sortiert (Kuster/Tsianos 2016; Rogers 2015). Gerade aufgrund der offensichtlichen Abhängigkeit von Klassifizierungssystemen und Zuordnungen im Migrationsregime entwickeln sich hier immer auch Praktiken der Unkenntlichmachung und des Entzugs, die der Vortrag als Akte der Autonomiebestrebung und widerständige Praktiken (Därmann/Wildt 2021) in den Blick nehmen will.

Vom Schiff zum Boot. Zu einer medialen Archäologie der Globalisierung, in: Archiv für Mediengeschichte 20: Das Schiff, 2023 (i.E.); Transitstationen, Hotspots, Pushbacks, in: F. Reichenbecher, G. Schabacher (Hg.): Medien des Gatekeeping, Transcript 2023 (i.E.); Hg. gem. mit J. Bee, U. Bergermann, L. Keck, H. Schwaab, M. Stauff, F. Wagner: Fahrradutopien. Medien, Ästhetiken und Aktivismen, Meson Press 2022; Hg. gem. mit K. Harrasser: Laute Post. Weitererzählungen aus Kolumbien, Sonderzahl 2020; Prekäre Passagen – Medien und Praktiken der Migration, Bauhaus-Universität Weimar 2019 (Kadmos 2023).

Sarah Sander (Dr.) ist wiss. Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum und hat zu den Medien und Praktiken der Migration promoviert. Sie lehrt und forscht u.a. zu Medien der Mobilität, Techniken des Transits und Praktiken des Protests.

 

Devianz im ‚Sicherheitsbahnhof‘: Medien der Verhaltensregulierung (entfällt)

Sophie Spallinger
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland

Seit ihren Anfängen sind Bahnhöfe öffentliche Orte zwischen Durchgangspassage und Aufenthaltsstätte, an denen sich Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten, Geschlechter, Professionen und Herkünfte vermischen. An Bahnhöfen entwickeln sich daher Prozeduren des Sortierens und Regulierens von Menschenmengen, die einen reibungslosen Bahnhofsbetrieb sicherstellen, weshalb sie als Infrastrukturen der Überwachung und Kategorisierung von Menschen zu begreifen sind (Schabacher 2021). Hierbei operieren Personal, Architekturen und zeichenhafte Elemente als regulierendes Geflecht, das vorschreibt, welche Verhaltensweisen erlaubt und welche zu unterbinden sind. Im Zuge der Digitalisierung und des präventiv ausgerichteten Sicherheitsdenkens wird der Bahnhof als zu ‚schützender‘ Ort mit (intelligenter) Videoüberwachung angereichert, wodurch die Normierung sozialen Verhaltens verstärkt in den Fokus rückt.

Der Vortrag analysiert aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive, wie der Verbund aus Sicherheitspersonal, Mobiliar, Hausordnung und Mustererkennung Verhalten reguliert und den zeitlichen Aufenthalt am Bahnhof bestimmt. Im Fokus steht dabei die Konstruktion von Devianz (Schmincke 2009): Wie wird das ‚Abhängen‘ am Bahnhof als deviantes Verhalten definiert, sichtbar und unterbunden? Am Beispiel von Tests intelligenter Videoüberwachungssysteme soll v.a. die Bewegungsmustererkennung auf ihre klassifizierende und temporäre Logik untersucht und gezeigt werden, wie im automatisierten Erkennen von Aktivitäten ‚erwünschtes‘ und ‚unerwünschtes‘ Aufhalten von Personen kategorisiert, markiert und detektiert wird, um zwischen Reisenden, Kund:innen, ‚Gefährdern‘ oder Hilfsbedürftigen zu unterscheiden (u.a. Lyon 2003; Low/Maguire 2019).

Zus. mit G. Schabacher: Algorithmische Kontrolle. Gatekeeping im öffentlichen Raum, in: F. Reichenbecher, G. Schabacher (Hg.): Medien des Gatekeeping. Akteure, Architekturen, Prozesse, Transcript 2023 (i.E.); Zus. mit G. Schabacher: Tests als Medien der Gewöhnung: Pilotversuche am Bahnhof, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 29: Test, 2023 (i.E.).

Sophie Spallinger ist wiss. Mitarbeiterin an der Professur Medienkulturwissenschaft der JGU Mainz und seit 2021 im Teilprojekt C04 „Urbane Kontrollregime“ des SFB 1482 „Humandifferenzierung“ tätig. Sie promoviert zu Überwachungsregimen unter Testbedingungen und zur Medialität von Bahnhofsinfrastruktur.

 

‚Komfortklassen‘ in Verkehr und Tourismus: Medien der Unterscheidung

Franziska Reichenbecher
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland

Dinge und Umgebungen gelten als komfortabel, wenn sie dem Menschen in seiner physisch-sinnlichen Behaglichkeit dienen (u.a. Keyserling 1905, Giedion 1948). Da es gerade modernen Komfort aber nur als „technologically-propelled comfort“ (Boni 2016, vgl. Maldonado 1991) gibt, braucht es Infrastrukturen, die Annehmlichkeiten herstellen und verfügbar machen. Daraus hat sich seit der Industrialisierung ein regelrechtes Komfort-Regime herausgebildet, das Bequemlichkeit als alltägliches Mittel und Effekt von Macht operationalisiert. Die grundsätzliche Medienabhängigkeit des Komforts geht also mit einer (mehr oder weniger existentiellen) Abhängigkeit von (Massen)Medien des Komforts einher.

Der Vortrag greift eine für die Massenmobilitätsgesellschaft bedeutende Achse menschlicher Angewiesenheit auf Komfortmedien heraus, indem er sich mit den ‚Komfortklassen‘ in Verkehr und Tourismus auseinandersetzt: Wenn materielle Ausstattungen und Serviceleistungen und damit gleichsam auch Personengruppen (Passagiere, Kunden, Gäste) in Kategorien wie Economy Class, Business Class, First Class usw. eingeteilt werden, stellt Reisekomfort das zentrale Kriterium eines komplexen sozio-technischen Regimes der Unterscheidung und Bewertung dar. Um das Bedingungsgefüge aus Medien, Komfort und Klasse zu beleuchten, nimmt der Vortrag dessen materielle, operative, diskursive, historische und ökonomische Dimensionen am Beispiel der Luftfahrt in den Blick.

Hg. zus. mit G. Schabacher: Medien des Gatekeeping. Akteure, Architekturen, Prozesse, Transcript 2023 (i.E.); Medien der Gastlichkeit. Reinigungsarbeiten, Architekturen und Tischkulturen, Bauhaus-Universität Weimar 2022; Sharen, in: H. Christians, M. Bickenbach, N. Wegmann (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 3, Böhlau 2022; Koexistenz zu Tisch. Das anthropomediale Arrangement des Dinner for One, in: J. Bennke, J. Seifert, M. Siegler, C. Terberl (Hg.): Das Mitsein der Medien. Prekäre Koexistenzen von Menschen, Maschinen und Algorithmen, Fink 2018.

Franziska Reichenbecher (Dr.) ist wiss. Mitarbeiterin an der Medienkulturwissenschaft der JGU Mainz und hat zu den Medien der Gastlichkeit promoviert. Sie forscht am Schnittpunkt von Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie u.a. zu den Medien des Wohnens, des Transits und der Sorge.