Veranstaltungsprogramm

Eine Übersicht aller Sessions/Sitzungen dieser Veranstaltung.
Bitte wählen Sie einen Ort oder ein Datum aus, um nur die betreffenden Sitzungen anzuzeigen. Wählen Sie eine Sitzung aus, um zur Detailanzeige zu gelangen.

 
 
Sitzungsübersicht
Sitzung
P 120: Planen, errichten, vermitteln. Infrastrukturelle Abhängigkeiten im Aufbau
Zeit:
Freitag, 29.09.2023:
9:00 - 10:30

Ort: Raum 7

Raum 1.004

Zeige Hilfe zu 'Vergrößern oder verkleinern Sie den Text der Zusammenfassung' an
Präsentationen

Planen, errichten, vermitteln. Infrastrukturelle Abhängigkeiten im Aufbau

Chair(s): Gabriele Schabacher (Johannes Gutenberg Universität Mainz, Deutschland)

Das medienhistorisch orientierte Panel widmet sich drei spezifischen Infrastrukturen im Aufbau: der Etablierung eines neuen Mobilitätsregimes im frühen Eisenbahnverkehr, der Verbreitung kolonialer Narrative im Zuge eines propagandistisches Vortragswesens um 1900 und der Errichtung einer durch kybernetische Konzepte inspirierten Planstadt in der Nachkriegszeit. Infrastrukturen im Aufbau sind aufschlussreich, weil in den noch offenen, konflikt- und störungsanfälligen Austauschbeziehungen der beteiligten Akteur*innen deren wechselseitige Abhängigkeiten besonders sichtbar werden. In der andauernden Aushandlung zwischen planenden, nutzenden, verwaltenden und kritisch-beobachtender Akteur*innen stehen Visionen und Entwürfe ständig auf dem Spiel. Wir fragen nach den Medien, Techniken und Praktiken, die solche infrastrukturierten Abhängigkeitsverhältnisse in ihren jeweiligen Kontexten herstellen und stabilisieren sowie danach, inwiefern die so vermittelten Abhängigkeiten zur Voraussetzung für Verkehr, (Stadt-)Gesellschaft, Meinungs- und Identitätsbildung werden können.

Dafür spannen die drei Beiträge einen zeitlichen Bogen von der Mitte des 19. Jahrhunderts über die Zeit um 1900 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit geographischen Perspektiven auf Paris und Umgebung, Berlin und das Deutsche Kaiserreich sowie Milton Keynes in Großbritannien. Das Panel bringt drei medienhistorische Archivforschungen zusammen und verfolgt einen materialorientierten Ansatz. Wir diskutieren mediale Objekte, deren Formate, die Spuren ihres Gebrauchs und ihrer Zirkulationen. Papiermedien wie Berichte, Pläne und Formulare bringen diese Abhängigkeitsverhältnisse mit hervor. Ratgeber, Reiseführer und Verzeichnisse sind Mittler im täglichen Gebrauch und der Aufrechterhaltung entstehender Infrastrukturen.

 

Beiträge des Symposiums

 

„Die Unabhängigkeit des Reisenden“. Fremd- und Selbstführung im frühen französischen Eisenbahnverkehr

Tom Ullrich
Johannes Gutenberg Universität Mainz, Deutschland

Um 1850 sind Eisenbahnreisen keine Selbstverständlichkeit, sondern eine eher abenteuerliche Unternehmung. Die Ängste und Gefahren eines noch ungewohnten Massenverkehrs erzeugen das Bedürfnis nach Sicherheit und Führung. Der Beitrag untersucht anhand früher französischer Reiseführerliteratur, wie diese ideale Nutzungspraktiken der ersten Bahnhöfe und Eisenbahnen vermitteln. Inwiefern prägen die „guides“ im handlichen Taschenformat neue Mobilitätsformen mit, wenn sie Vorschriften erklären, Körpertechniken darstellen, Sehenswertes anzeigen oder Sonntagsausflüge imaginieren?

Im Regime der Eisenbahn herrschen Takt und Disziplin. Gesetzliche Vorgaben und strenge Benutzungsordnungen regeln den Verkehr zwischen Mensch und Maschine. Bahnpersonal, Polizei und Staatsbeamte sorgen für Ordnung. Ingenieure diskutieren die bauliche Gestaltung von Bahnhöfen, in der „Reisende sozusagen notwendigerweise“ vom Eingangsportal an die Schalter und dann über Warteräume zum Gleis „geführt werden sollen“ (Polonceau/Bois 1840).

Unter solchen Bedingungen infrastrukturierter Fremdführung wird die Vorstellung herumirrender Menschenmengen, die sich und den Betriebsablauf gefährden könnten, zum Alptraum von Politik und Verkehrsunternehmen. Für den entstehenden Bahnhofsbuchhandel dagegen sind sie ein Markt, um die Nachfrage nach Selbstführung zu bedienen.

Mit dem Ziel, „die Unabhängigkeit des Reisenden so viel als möglich sicher zu stellen“ (Baedecker 1855), werden neue Abhängigkeitsverhältnisse generiert, indem Reiseführer ein kulturelles Verkehrswissen produzieren und Mobilität unter die Bedingungen ihres Repräsentationsregimes stellt. Sicheres und gelingendes Bahnreisen wird zum Effekt von papiernen Medien der Orientierung, die Fremd- mit Selbstführung verbinden und die Subjektivierung moderner „voyageurs“ allererst mit hervorbringen.

Polonceau, C.; Bois, V. (1840): De la disposition et du service des gares et des station de chemins de fer, in: Revue générale de l'architecture.

Baedeker, Karl (1855): Paris und Umgebungen. Handbuch für Reisende.

Tom Ullrich studierte Medien- und Kulturwissenschaft in Weimar, Lyon und Paris. Er ist wiss. Mitarbeiter (Postdoc) im Teilprojekt C04 „Urbane Kontrollregime. Bahnhöfe als Infrastrukturen der Humandifferenzierung” des SFB 1482 „Humandifferenzierung“ an der Universität Mainz und forscht zu Barrikaden und Protestkulturen, Überwachungs- und Sicherheitsdiskursen sowie der Medialität urbaner Infrastrukturen.

 

„Die Ausbreitung des kolonialen Gedankens“. Bilderverleih und Vortragsvermittlung der Deutschen Kolonialgesellschaft

Mona Wischhoff
Johannes Gutenberg Universität Mainz, Deutschland

Um 1900 war der Lichtbildervortrag ein weitverbreitetes Bildungs- und Unterhaltungsmedium, das auch als Instrument der kolonialen Agitation Einsatz fand. In ihrer Berliner Verwaltungszentrale etablierte die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) zwischen 1890 und 1914 den Verleih fotografischer Lichtbilderreihen samt Vortragsmanuskripten und trat als Instanz der Vermittlung solcher Lichtbildervorträge auf. Diese sogenannte Vermittlung der Zentrale richtete sich zuerst an die über 400 lokalen Abteilungen der DKG und schließlich auch an Militärs, Schulen sowie Bildungs- und Arbeitervereine, um die „Ausbreitung des kolonialen Gedankens in den breiten Schichten des Volkes” (DKG 1906, S. 10) zu bewirken.

Der Beitrag behandelt die Distribution dieser kolonialpropagandistischen Lichtbildervorträge. Im Zentrum steht der Aufbau infrastruktureller Abhängigkeiten zwischen einer Verwaltungszentrale in Berlin und dezentralen Abteilungen, die ein sich ausweitendes und geografisch sich verzweigendes Vortragswesen zum Gelingen brachten. Den Gegenstand der Untersuchung bilden die zirkulierenden Medien: die Redner- und Bildverzeichnisse, die Formularpostkarten sowie die in Versandkisten und -kästen zu stabilisierenden Apparate und Glasdias.

Welche Ressourcen und Akteure mussten also mobilisiert werden, um Bilder aus den deutschen Kolonien für ein lokales Publikum in Stadthallen, Dorfschänken und Vereinsheime vorführbar zu machen? Durch welche Medien und Infrastrukturen wurde das Vortragsprogramms etabliert? Wie bedingten diese medialen Zurichtungen die (koloniale) Wissensproduktion? Mit diesen Fragen stehen die medientechnischen Bedingungen und Mobilisierungspraktiken der Lichtbildervorträge der DKG infrage. Damit richtet sich der Blick auf die Räume, zwischen denen es zu vermitteln galt, die Transiträume, die überwunden werden mussten, und damit auf die infrastrukturellen Abhängigkeiten einer umfangreichen Kolonialpropaganda.

DKG (1906): Jahresbericht 1905, Berlin.

Mona Wischhoff studierte Kulturwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg und der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medienkulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Mitglied des GNK-Kollegs Zeugenschaft. Episteme einer medialen und kulturellen Praxis. In ihrer Dissertation untersucht sie die Lichtbildervorträge der Deutschen Kolonialgesellschaft um 1900.

 

„Mud, sweat and tears“. Aufbau einer Stadtgesellschaft in der britischen New Town Milton Keynes

Fabian Ebeling
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Am 23. Januar 1967 weist die britische Regierung 9.000 Hektar Land für die New Town Milton Keynes aus. Ein Jahr später graben sich hier, zwei Stunden nordwestlich von London, die ersten Baumaschinen in den schlammigen Tonboden von Buckinghamshire. Die Milton Keynes Development Corporation (MKDC) ist mit der Planung und der Umsetzung dieses Vorhabens betraut und mit ihr auch eine Social Development Unit (SDU).

Die Planer*innen legen großen Wert auf eine Gleichberechtigung zwischen physischer und sozialer Planung, denn der New Town Blues erschwert so manchen Neuankömmlingen die Integration in die neue Umgebung. Damit daraus resultierende Probleme eingehegt werden können, wird die SDU gleichsam zum Kummerkasten und Thermostat. Sie fühlt in die neue Stadt hinein, nimmt Sorgen und Beschwerden auf, produziert Reports und Resümees, die auch andere Departments der Corporation involvieren.

In den neuen Häusern kommt das Wasser durch die Decke, Wände und Teppiche verschimmeln, Küchen sind unpraktisch angelegt, Straßen enden im Nirgendwo und Karten der neuen Umgebung sind schon nach kurzer Zeit obsolet – arrivals und community workers greifen diese Probleme auf und bitten in ihren Berichten andere Departments um die Veränderung der Zustände. Diese Berichte verleihen Feedbackschleifen Ausdruck, die das Leben der Bewohner*innen ein wenig verbessern sollen. Die SDU beobachtet und plädiert, sie wird zu einer notierenden Instanz, die stapelweise papierne Medien produziert und sich damit in das Werden der neuen Stadt einschreibt.

Dieser Beitrag fragt nach der Einrichtung einer institutionellen ‚Smartness‘, wie sie sich in der zyklischen Arbeit der arrivals und community workers zu zeigen scheint und nach der möglichen Wirksamkeit einer analogen Kybernetik, die als Technik des Sozialen an der Entstehung des Stadtlebens beteiligt ist.

Fabian Ebeling studierte Europäische Kultur- und Ideengeschichte sowie Angewandte Kulturwissenschaft am KIT und Kulturwissenschaftliche Medienforschung an der Bauhaus-Universität Weimar. Er promoviert zu einer Mediengeschichte smarter Städte am DFG-Graduiertenkolleg „Practicing Place“ der KU Eichstätt-Ingolstadt.