Veranstaltungsprogramm

Eine Übersicht aller Sessions/Sitzungen dieser Veranstaltung.
Bitte wählen Sie einen Ort oder ein Datum aus, um nur die betreffenden Sitzungen anzuzeigen. Wählen Sie eine Sitzung aus, um zur Detailanzeige zu gelangen.

 
 
Sitzungsübersicht
Sitzung
AGS 121: Autonome Abhängigkeiten? Archive, Care und das Imaginäre im Kontext digitaler Medien
Zeit:
Freitag, 29.09.2023:
9:00 - 10:30

Ort: Raum 5

Raum 0.001

Zeige Hilfe zu 'Vergrößern oder verkleinern Sie den Text der Zusammenfassung' an
Präsentationen

Autonome Abhängigkeiten? Archive, Care und das Imaginäre im Kontext digitaler Medien

Chair(s): Bernd Bösel (ZeM - Brandenburgisches Zentrum für Medienwissenschaften)

Abhängigkeit wird oft als das Gegenteil von Autonomie gelesen, sodass in Debatten um Autonomie Abhängigkeit unsichtbar und aus (radikal) relationaler Perspektive wiederum Autonomie grundsätzlich in Frage gestellt wird. Unser Panel möchte dieses Spannungs- und Wechselverhältnis von Autonomie und Abhängigkeit produktiv nutzen und in Bezug zu den interrelationalen Abhängigkeiten von Technologien und Praktiken setzen, als die digitale Medien auch beschrieben werden können. Hierbei soll jenseits einer Dichotomie von sozialen Strukturen und technologischen Bedingungen insbesondere gefragt werden, welche sozialtheoretischen und philosophischen Konzepte besonders gut geeignet sind, um die (Un-)Abhängigkeiten innerhalb und von digitalen Medien auf unterschiedlichen Ebenen (im konkreten Vollzug und strukturell) sowie in verschiedenen Kontexten in den Blick nehmen zu können. Ausgehend von dieser Grundfrage nach sinnvollen theoretischen Zugängen sollen einerseits anhand der Konzepte von Archivierungspraktiken, Care und des Imaginären verschiedene Positionen miteinander ins Gespräch gebracht werden, die Abhängigkeit und Autonomie nicht als Gegensätze, sondern als sich gegenseitig bedingend begreifen. Andererseits wollen die Beiträge ausgehend von dieser Prämisse die Vorzüge solch einer Perspektive auf vermeintliche (Un-)Abhängigkeiten innerhalb und von digitalen Praktiken an konkreten Fallbeispielen erkunden. Dies geschieht rund um Gegenstände aus dem Dunstkreis von Daten und Algorithmen.

Digitale Medien bilden hier sowohl die unsichtbare Relation und werden erst in (Intra-)Relation zu solch einzelnen Medien, sodass auch die Aushandlung dessen, was diese Medien letztlich als (vermeintlich) autonom konstituiert. Dieses Panel sucht daher nach autonomsierenden Relationen im Kontext verschiedener digitaler Medien und beschreibt die Abhängigkeiten, die sie ermöglichen.

 

Beiträge des Symposiums

 

Archive – Daten – Diskurse. Zur (Un)Abhängigkeit des Denkens im Informationszeitalter

Nora Probst
Universität Köln

Folgt man dem Foucault’schen Verständnis des Archivbegriffs ausgehend vom Macht/Wissen-Theorem, so liegt hier der Fokus weniger auf den gesammelten Artefakten des kulturellen Erbes als vielmehr auf den durch sie ermöglichten wissenschaftlichen Diskursen und Debatten (Foucault 1969). Erforschbar ist nur das, wovon Wissenschaftler:innen überhaupt grundlegende Kenntnisse besitzen – alles andere bleibt nicht nur unerforscht, sondern unerforschbar.

Ausgehend von diesen Abhängigkeitsverhältnissen sollen Mechanismen der (Un)Sichtbarmachung von Information beleuchtet werden, die im Kontext digitaler Archivierungspraktiken und Repositorien neue Relevanz erhalten. So stellt das formalisierende Beschreiben von Welt als Verdatung unserer Archive zunehmend die epistemologische Basis für Erkenntnisgewinne (nicht nur) in der medienwissenschaftlichen Forschung dar. Wie also lässt sich das Wechselverhältnis von Autonomie und Abhängigkeit zwischen digitalen Klassifizierungen und Wissenschaftsdiskursen der Gegenwart beschreiben?

Daten sind ungeachtet der Etymologie des Wortes nichts Gegebenes, sondern etwas Gemachtes (Drucker 2021) und basieren auf Imaginations- und Modellierungsprozessen. Im Umgang mit Forschungsdaten bleiben eurozentristische, heteronormative oder rassistische Klassifizierungen angesichts neoliberaler Leitlinien wie der FAIR-Prinzipien (Findeable, Accessible, Interoperable, Reusable) häufig unreflektiert, während die machtkritisch orientierten CARE-Prinzipien (Collective Benefit, Authority of Control, Responsibility, Ethics) seltener Anwendung finden. Wenn wir davon ausgehen (müssen), dass bereits die Überlieferung des kulturellen Erbes in analogen Archiven empfindliche Lücken und systemische Marginalisierungen aufweist (Thylstrup et. al. 2022), dann bedarf es heute eines aktualisierten Problembewusstseins für die neuartigen interrelationalen Abhängigkeiten von Archiven, Daten und Diskursen, um den Positivismustendenzen des digitalen Zeitalters kritisch zu begegnen.

Dr. Nora Probst leitet die Abteilung für Digital Humanities an der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln. Nach ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Promotion war sie 2021/22 als Vertretungsprofessorin für Kulturen der Digitalität / Digital Humanities an der Universität Paderborn tätig. Ihre Forschungsinteressen umfassen machtkritische Ansätze in den DH, Wissen(schaft)sgeschichte und Erkenntnistheorie in Sammlungen und Archiven sowie kulturwissenschaftliche Datenmodellierung.

 

Von Souveränität zu Sorge im Kontext von Daten, Eigentum und Autonomie

Birte de Gruisbourne
Universität Paderborn

Ein wichtiger Begriff in emanzipativen Diskursen über (Big) Data ist Datensouveränität, die auf die Autonomie derjenigen verweist, die als User*innen, aber auch als Betroffene von bspw. ethnologischer Forschung von extraktiver Datenakkumulation betroffen sind. Jedoch ist Souveränität als Konzept zugleich mit Debatten über Eigentum und Sachherrschaft verschränkt (Redecker 2020a; 2020b; Loik 2016; 2012), indem Souveränität durch (imaginierte) Herrschaft über in diesem Fall personenbezogene Daten hergestellt wird. Auch Autonomie lässt sich in diese Reihe der Konzepte von Selbsteigentum und Unabhängigkeit einreihen. Datensouveränität suggeriert so die individuelle Möglichkeit, Herr*in über die „eigenen“ Daten zu sein. Doch sowohl Critical Data Studies (boyd and Crawford 2012; Iliadis and Russo 2016), als auch Ansätze der Sorgeethik (Tronto 2013; Cavarero 2016; Butler 2021) haben gezeigt, dass weder Daten / Datenpraktiken, noch Menschen individuell autonom sind.

Mein Vortrag arbeitet den Zusammenhang zwischen Daten / Big Data, Autonomie und Eigentum genauer heraus. Autonomie soll hier jedoch ausgehend von einer Analyse von Sorgepraktiken nicht durch Unabhängigkeit und Sachherrschaft, sondern gerade aus jener Sorgepraktiken inhärenten autonomisierenden Relationalität heraus verständlich werden. Auf diese Weise entspringt Autonomie gerade nicht aus Eigentum und Sachherrschaft, sondern aus Praktiken der Erhaltung, Reproduktion und Sorge.

Bezogen auf Vorstellungen von Datensouveränität bedeutet das, die grundsätzliche Relationalität und Kontextgebundenheit von Daten und Datenpraktiken als Ausgangspunkt einer anderen, weder eigentumsförmigen noch individualisierten Datensouveränität zu denken. Diese in Sorgebegriffen zu reformulierende Bezugnahme auf Daten, wirkt sich dann nicht zuletzt auch darauf aus, wie Data Literacy als kollektive und politische Praxis gedacht werden kann.

Birte de Gruisbourne ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Kulturen der Digitalität des Instituts für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit dem Verhältnis von Care und Autonomie aus einer Perspektive der Affekttheorie. Sie arbeitet zudem im Projekt DaLiS@OWL an machtkritischen Perspektiven auf Data Literacy Education.

 

Algorithmisch imaginäre Abhängigkeiten

Schulz Christian
Universität Paderborn

Das „algorithmic imaginary“ (Bucher 2017) als theoretisches Konzept hat in den letzten Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen, da es auf die Aneignung algorithmischer Prozesse durch die Nutzer:innen abzielt, die im Verborgenen ablaufen. Allerdings geht das Konzept ursprünglich nur von den Nutzer:innen aus, während die Prozesse auf der Seite der Plattformen weitgehend ausgeklammert werden. Demgegenüber möchte der Vortrag argumentieren, dass das, was für die Nutzer:innen gilt, auch die algorithmischen Prozesse und die dahinter stehenden Entwickler:innen betrifft, weshalb es sich um permanent aufeinander bezogene Abhängigkeiten handelt, die im Interface zusammenlaufen und so überhaupt erst die Voraussetzung für eine Produktion von Daten schaffen. Der Algorithmus „imaginiert“ gewissermaßen das zukünftige Verhalten der Nutzer:innen durch

Verfahren des maschinellen Lernens, wie gleichermaßen die Entwickler:innen bei der Einführung von Funktionen verschiedene Aktionen der Nutzer:innen antizipieren müssen, was in den für die Entwicklung von KI-Technologien führenden Disziplinen der Kognitionswissenschaft, Informatik und Human-Computer Interaction mit dem Begriff der „mental models“ konzeptualisiert wird. Um diese permanenten und wechselseitigen, an das Imaginäre gekoppelten, Abhängigkeiten in den Blick zu bekommen, möchte der Vortrag einerseits für ein umfassenderes und theoretisch präziseres algorithmisch Imaginäres plädieren, andererseits aber auch die Frage stellen, was ein so gedachtes Konzept idealerweise für die Entwicklung von KI-Technologien bedeuten kann. Denn die vermeintlich autonomen Nutzer:innen und deren Vorstellungen von Algorithmen, wie sie bei Taina Bucher aufscheinen, werden von vermeintlich autonomen Entwickler:innen konterkariert, bei denen die Diversität von

verschiedenen Nutzer:innen eine, wenn überhaupt, sehr untergeordnete Rolle spielt, wie verschiedene Einblicke in einflussreiche Konzepte von „mental models“ zeigen werden.

Christian Schulz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich TRR 318 "Constructing Explainability" und Mitglied des Arbeitsbereichs "Kulturen der Digitalität" am Institut für Medienwissenschaften an der Universität Paderborn. Seine Dissertation, die in medienhistorischer Perspektive das Software-Plugin des Like-Buttons als Ausgangspunkt für eine allgemeine Theorie sozialer Medienplattformen nimmt, ist im Erscheinen.