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Sitzungsübersicht
Sitzung
AGS 114: Sichten und Suchten: Abhängigkeiten im Fernsehdiskurs
Zeit:
Donnerstag, 28.09.2023:
14:00 - 15:30

Ort: Raum 7

Raum 1.004

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Präsentationen

Sichten und Suchten: Abhängigkeiten im Fernsehdiskurs

Chair(s): Jana Zündel (Goethe-Universität Frankfurt, Deutschland), Christine Piepiorka (FOM Hochschule)

Macht Fernsehen seine Zuschauer_innen abhängig und agiert somit auch als deren Dealer? Inwiefern sind Fernsehen, Publikum und Medienwissenschaft abhängig, sind sie Süchtige - nach Quoten, Content und (kritischen) Diskursen? Wie werden diese Abhängigkeiten auf inhaltlicher, rezeptiver, kulturpraktischer und institutioneller Ebene wahrnehmbar? Offenbaren sie sich womöglich erst im Entzug?

Abhängigkeiten artikulieren sich oftmals in Suchtcharakter und Suchtdiskurs, was im Falle des Fernsehens gesellschaftlich, pädagogisch und medienwissenschaftlich bereits seit der Etablierung zum Massenmedium thematisiert wird. Das Panel liest hier nun die Abhängigkeiten des Fernsehens als ‘Sucht’, was vielschichtige Fragen eröffnet: Diskurse um mediale Betäubung und Heilsversprechen des Fernsehens werden ebenso aufgegriffen wie Fragen nach Bindung und Sehnsucht. Ein weiterer Blick gilt dem Drogenkonsum im Seriellen, der nicht nur Motiv ist, sondern auch als Metapher für emotionale und/oder ökonomische Abhängigkeiten betrachtet werden kann.

Die Teilnehmenden zappen sich, im Sinne gelebter Fernsehpraxis, durch kurze Inputs, Thesen und Gegenstandsbeispiele, die sich weniger als geschlossene Vorträge verstehen, sondern vor allem zur gemeinsamen Diskussion des gesamten Plenums anregen sollen.

 

Beiträge des Symposiums

 

Fernsehen als Suchtmittel und Dealer

Anne Ulrich1, Christine Piepiorka2
1Universität Tübingen, 2FOM Hochschule

1. Fernsehen als Pharmakon

Eine der ältesten abendländischen konzeptuellen Verknüpfungen von Medien und Drogen findet sich in der Lobrede auf Helena des griechischen Sophisten Gorgias. In dieser Musterrede, die sich der Herausforderung stellt, Helena entgegen gängiger Meinungen ausnahmsweise zu verteidigen, entwirft Gorgias ein Modell rhetorischer Kommunikation, das bis in heutige Mediendiskurse wirksam ist: Er setzt den logos (womit nicht nur der Inhalt der Rede gemeint ist, sondern auch ihre Form) mit dem pharmakon gleich (worunter ein medizinischer Wirkstoff verstanden wird, der in der richtigen Dosis heilsam, in der falschen Dosis giftig wirken). Diese Ambivalenz mache gerade die Faszinationskraft und Potenzialität des logos aus, so Derrida in Dissemination.

Davon ausgehend zappt der erste Teil unseres Beitrags schlaglichtartig durch verschiedene Positionen, die als ferne Echos der antiken Pharmakonmetapher verstanden werden können, so etwa die Metapher der „Plug-in-drug“ des antitelelevisuellen Diskurses der 1970er, die Hypnose- und Betäubungsmetapher der Toronto School und die „Hypodermic-Needle-Metapher“ der Persuasionsforschung.

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2. “Mach mich High”: Dealer brauchen Süchtige, Süchtige brauchen Dealer - Die Adressierung von Nutzer_innen durch süchtigmachende Dealer

Das Fernsehen kann als ein Dealer, der seine Ware präsentiert und anbietet, verstanden werden. Es bietet Inhalte sowie transmedial auf Medien verbreitete Snippets an, welche die Zuschauenden möglichst an die Inhalte binden soll. Es dealt mit seiner Ware, versucht die Zuschauer_innen süchtig zu machen nach den Inhalten zu einem Format. Diese werden adressiert, können wählen, ob sie der angebotenen Sucht folgen und “Gramms” konsumieren: Bingewatching für einen langen “Trip”, Social Media für ein kurzes “High”.

Dealer und Süchtige, Fernsehen und Zuschauer_innen brauchen sich gegenseitig, nur so entstehen überhaupt Süchte oder Deals. Anhand von transmedialen Fernsehserien soll dies sichtbar gemacht werden.

 

Suchtdiskurse in und um Fernsehserien

Kim Hebben1, Michaela Wünsch2
1TU Dortmund, 2Philipps-Universität Marburg

1. Fernseh(sehn)süchte. Back to the Roots: Sehnsucht als Motiv und Antrieb des Fernsehens

Das melodramatische Motiv der Sehnsucht galt schon in den frühen Soap Operas als Garant für die Bindung an ein wiederkehrendes Publikum. Durch die klassische Struktur aus multiplen offenen Handlungsbögen und Cliffhangern wurde eine Aufmerksamkeitsökonomie des Begehrens erschaffen, die sich bis heute durch jede Faser des televisuellen Diskurses zieht. Auch im Transmedialen und Post-Televisuellen sind diverse Sehnsüchte zu erkennen: Das Begehren nach Bewegung und Schöpfung, der Wunsch nach Partizipation und die anhaltende Sehnsucht des Fernsehens nach Transformation. Dieser im Spiel begriffene Remediatisierungsprozess rekurriert zudem auf das Heilversprechen des Fernsehens, ständig besser, schärfer und innovativer zu sein. Diese (Sehn-)Sucht ständig am Ball bleiben zu müssen, sei es die Fortsetzung der nächsten Episode oder die Adaption der neusten (externen) Fernsehtechnologien, zeigt auf verschiedenen Ebenen die Abhängigkeiten des Mediums.

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2. Drogen und Dealen als Allegorien für Abhängigkeiten im Serienbusiness.

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Popularität des Motivs der Herstellung und Vertriebs von Drogen in Serien, die sowohl im Programm- und Kabelfernsehen, als auch über Plattformen geschaut werden können (“Breaking Bad”, “Ozark”, “Weed”, “Narcos”, “How to sell drugs online”). Auffällig ist, dass in diesen Serien Sucht und Süchtige kaum thematisiert werden, sondern die Herstellung und Verbreitung des süchtig machenden Stoffes. Dieser soll als Allegorie für die Serie als solche gelesen werden, während die Abhängigkeiten von Herstellern und kleinen Dealern zu “Drogenbossen”, die die Infrastruktur bieten, aber auch am meisten profitieren, als Metaphern für die Akteur:innen der Serienproduktionen (Creators, Schauspieler:innen, kleinere nationale Fernsehmärkte, …) von globalen Unternehmen wie Netflix, Hulu, Amazon Prime interpretiert werden. Der Beitrag thematisiert Drogen als Metapher für süchtigmachende Serien, als auch die Abhängigkeiten in der Fernseh- und Plattformökonomie.

 

„Aber der Fernseher ist doch kaputt!“ (Un)Sichtbarkeiten von Abhängigkeit und Entzug

Monika Weiß
Philipps-Universität Marburg

Dieser Beitrag reflektiert vor allem die Abhängigkeit der Zuschauenden vom Medium Fernsehen, wobei hier nicht mehr unbedingt das traditionelle Programmfernsehen gemeint ist, sondern ebenso oder vielmehr die Nutzung von Content. Im alltäglichen Gebrauch wird diese Abhängigkeit so nicht wahrgenommen. Erst im Moment der Störung wird sie sichtbar. Im übertragenen Sinne: Bedeutet Störung also (kalter) Entzug? Durch die Störung wird der andauernde Fluss von Angebot und Abnahme unterbrochen, eine die (Sehn-)Sucht befriedigende Beziehung kann nicht in Gang gehalten werden. In Anlehnung an Theorien der medialen Störung, die vom Basiszustand der Medien als dienliche Werkzeuge ausgehen und das Medium demnach erst im Moment des Störungsmodus Präsenz erlangt, soll untersucht werden, ob über die Störung das Medium Fernsehen quasi als Dealer wahrnehmbar wird, als Werkzeug zur Suchtbefriedigung. Wie offenbart sich also die Abhängigkeit? Die Rede ist hier von Störungsfällen, die nicht in der eigenen Verantwortung liegen und derer man sich nicht selbstermächtigend entledigen kann, etwa Programm- und Empfangsstörungen, fehlende Internetverbindung, defekte Geräte oder Entscheidungen von Streamingplattformen, den persönlich geliebten Content aus dem Angebot zu nehmen.

 

Suchtdiskurse am Rande der Fernsehtheorie

Herbert Schwaab
Universität Regensburg

Schon in den 1970er Jahren hat Stanley Cavell in seinem Text zum Fernsehen einen naiven Suchtdiskurs problematisiert und sich unter anderem auf den damals populären Text von Jeffrey Mander, Four Reason for the Elimination of Television, bezogen. Die Annahmen Manders etwa zu einem hypnotischen Einwirken auf die Zuschauenden erinnern überraschenderweise auch an aktuelle Theorien wie Bernard Stieglers philosophisch (klingende) Fernsehkritik. Nicht nur für Cavell, sondern auch für Cultural Studies-geschulte Fernsehwissenschaftler:innen spielen solche Ansätze, die die Spielräume der Rezeption negieren, keine Rolle mehr. Allerdings fasziniert die zum Teil bestechende Naivität von televisiven Suchtdiskursen, die einfachen Schlüsse etwa, die zwischen Suchtmotiven und dem Schauen von Reality TV gezogen werden, die von psychologischer Beratungsliteratur, Auseinandersetzungen mit Bingewatching und Essensmetaphern und randständigen Werken der Medienpsychologie reicht. Dieser Teil unseres Beitrags befasst sich damit, inwieweit Suchtdiskurse auch das verdrängte ‘Andere’ (ein von allen Ambiguitäten befreiter Gegenstand des Fernsehens) der Disziplin Fernsehwissenschaft darstellen, die nicht nur als Provokation verstanden werden müssen, sondern auch neue Perspektiven auf unseren Gegenstand eröffnen.

Literatur:

Camart, Nathalie/ Lefait, Sebastien/Paquet-Deyris, Anne-Marie/Romo, Lucia (Hg.): Combining Aesthetic and Psychological Approaches to TV Series Addiction. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2018.

Cavell, Stanley: Themes out of School. Effects and Causes. Chicago: The University of Chicago Press 1984.

Mander, Jeffrey: Four Arguments for the Elimination of Television. New York: Harper and Collins 2002 [1978].

Singer, Barbara: Medien – von der Faszination zur Sucht. Wien: LexisNexis 2002.

Stiegler, Bernard: Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Frankfurt: Suhrkamp 2008.