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Sitzungsübersicht
Sitzung
P 179: Epistemische Abhängigkeiten in Biologie, Kunst und digitaler Ökonomie
Zeit:
Donnerstag, 28.09.2023:
16:00 - 17:30

Ort: Raum 3

Räume 0.020 & 0.021 (gebündelt)

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Präsentationen

Epistemische Abhängigkeiten in Biologie, Kunst und digitaler Ökonomie

Chair(s): Katharin Yacavone (Philipps-Universität Marburg)

Das Panel untersucht, wie epistemische Paradigmen in Biologie, Kunst und digitaler Ökonomie von der Medialisierung ihrer grundlegenden Narrativen, Modelle, und Kategorie abhängen, damit aber auch Räume des Nicht-Wissens, des Misstrauens und der Ignoranz eröffnen. Um diese zu untersuchen fragt das Panel danach, wie sich solche epistemischen Abhängigkeiten und Ermöglichungsräume anhand von sozialen, biologischen und ökonomischen Konzepten und Metaphern zeigen und welche Auswirkungen diese auf ökonomisches Vertrauen, biologisches Wissen und künstlerische Prozesse haben.

Drei Fallstudien eröffnen dabei eine vergleichende Perspektive auf historische Formen, theoretische Konzepte und politische Implikationen epistemischer Abhängigkeit: „Digitales Vertrauen ist ein Oxymoron“ fokussiert auf ‚Trust Managementsysteme‘ digitaler Plattformen und den damit verbundenen Vertrauensdiskurs der Datenökonomie. „Management der Fliegen“ untersucht biologische Modellorganismen als Referenzsysteme für Management, Datenökonomie und Flugsimulationen. „Epistemologie und Videographie des Selbst" analysiert Abhängigkeit als Modell, Regulativ und entropischer Vektor in Videoarbeiten.

Dass wissenschafts- und medienphilosophische Konzeptionen von medialen Strategien abhängen hat die historische Epistemologie etwa durch Georges Canguilhem, Lorraine Daston und Peter Galison herausgearbeitet. Darauf aufbauend stellen wir die praxeologischen und ökonomischen Implikationen epistemischer Abhängigkeit in Wissenschaftspolitik, ökonomischem Handeln und ästhetischer Praxis in den Vordergrund. Ziel ist es Konzepte wie das der „trading zone“ oder der „Objektivität“ im Hinblick auf die damit verbundene Medialisierung situativer Konflikte und Abhängigkeiten zu schärfen.

Kathrin Yacavone ist Fotohistorikerin am Inst. für Medienwissenschaft, Philipps-Universität Marburg. Forschung: Theorie u. Geschichte der Fotografie; Intermedialitätsdiskurse und Medienbeziehungen; Mediengeschichte und -archäologie.

 

Beiträge des Symposiums

 

Mediales Vertrauen ist ein Oxymoron. Digitale „Trust Management Systems“

Florian Hoof
Goethe-Universität Frankfurt, Deutschland

Der Beitrag untersucht Mechanismen und Strukturen der digitalen Vertrauensbildung als ein konfliktbeladenes, durch Abhängigkeiten konturiertes Phänomen. Analog zu Gitelman‘s Diktum zu Rohdaten als Oxymoron (2013), versteht es Vertrauen in digitale Infrastrukturen als einen relationalen, in sich widersprüchlichen Prozess. Er ist nicht auf einen essentialistischen Begriff von Vertrauen zurückzuführen, sondern ist das Resultat verschiedener, miteinander verbundener und in Konflikt stehender Abhängigkeitsverhältnisse (Forst 2022). Die Fallstudie erprobt diese These an „Trust Management Systems,“ digitaler Plattformen, wie etwa TrustArc. Sie bilden die Schnittstelle zwischen UserInnen und der Datenökonomie digitaler Plattformen. Der Beitrag verfolgt die Genealogie der Trust Management Systeme und zeigt auf, dass dieser neue Wirtschaftszweig eine direkte Verbindung, zum frühen Datenschutz Aktivismus, etwa der Electronic Frontier Fondation aufweist. Aus diesen „zwei Wegstrecken“ (Canguilhem 1979, 34) bildet sich ein neuer epistemischer Zusammenhang. Daraus, so die These, speist sich ein Narrativ, dass digitales Vertrauen mit Hilfe des Modells der Datensouveränität erzeugt. Begriffe und Konzepte aus dem Datenschutz Aktivismus werden so Teil eines managerialen Souveränitätsdiskurses, der damit die weiterhin bestehenden, asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Individuum und digitaler Datenökonomie stabilisiert und vertrauensbildende Konflikte unterdrückt. Mit der Anwendung eines analytischen, praxeologisch gewendeten Vertrauensbegriffs, zeigt der Beitrag, wie Trust Management die Verbindung zwischen der „logistical imagination“ (Hockenberry et al., 2021) und der Verwendung menschlichen Verhaltens als „raw-material supply“ (Shoshana Zuboff) herstellen und stabil halten.

Canguilhem, G. „Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte“, in:Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. 1979, 22-37.

Forst, R. “The Justification of Trust in Conflict.”, ConTrust Working Paper, No. 2, 2022. contrust.uni-frankfurt.de/wp-2.

Gitelman, L. Raw Data Is an Oxymoron, 2013.

Hockenberry, M. et al. Assembly Codes: The Logistics of Media, 2021.

PD Dr. Florian Hoof ist Vertr. Prof. für Mediengeschichte, Ruhr-Universität Bochum, Postdoc in „ConTrust – Vertrauen im Konflikt“, Exzellenz Cluster Normative Orders, Goethe-Universität Frankfurt. Forschung: Gebrauchsfilm, digitale Infrastrukturen, Medienökonomie. Im Erscheinen: „Alternative Sports and Media Distribution“, Palgrave Macmillan, 2023.

 

Management der Fliegen

Lena Trüper
University of California, Los Angeles, USA

In seinem Text “Cybernetics and Ghosts” (1967) beschreibt Italo Calvino, dass nur die Inkongruenz zwischen einem Labyrinth und seinem Modell in die Freiheit führen kann. Im Vortrag gehe ich solchen Inkongruenzen am Beispiel der Stubenfliege nach, die verschiedentlich als Modell für Flugsimulationen, für wirtschaftliche Prognosen und experimentelle Laborfilme eingesetzt wurde. Dabei stellt sich heraus, dass epistemische Durchbrüche gerade dann als wissenschaftlich produktiv erscheinen, wenn die Pfade des Modells verlassen und an die Unabhängigkeit davon geglaubt wird. Dies zeige ich anhand visueller Materialien zur hungrigen Fliege des französischen Biologen Vincent Dethier, den Fliegenstatistiken des russischen Installationskünstlers Ilya Kabakov sowie den experimentellen Fliegenfilmen der deutschen Filmemacherin Susann Maria Hempel. Meine Analysen helfen zu verstehen, dass die Anerkennung von Prognosen und Simulationen von ihrer medialen Vermittlung abhängig ist, die ihre Objektivität generieren aber zugleich auch neue Räume zu denken eröffnen, was Objektivität heißt.

Bibliographie:

Calvino, Italo [1967] (1986) “Cybernetics and Ghosts. Lecture delivered in Turin and other Italian cities, November 1967” in The Uses of Literature, San Diego, New York, London: Harcourt Brace & Company, 3-27.

Dethier, Vincent Gaston (1976) The Hungry Fly: a Physiological Study of the Behavior Associated with Feeding, Cambridge, Mass: Harvard University Press.

Kabakov, Ilya (1992) Das Leben der Fliegen, Stuttgart: Edition Cantz.

Susann Maria Hempel, Die Fliegen (The Birds II) (DE 2010)

Kurzbio:

Lena Trüper ist PhD Studentin am Department für European Languages and Transcultural Studies at University of California, Los Angeles (UCLA). Ihre Forschungsinteressen umfassen Systeme der Wissensgenerierung in Science and Technology Studies, Visuellen Kulturen, Kybernetik und Medical Humanities. Zuvor war sie Mitglied des DFG Forschungsprogramms “Das Wissen der Künste” der Universität der Künste Berlin und unterrichtet an der Goethe-Universität Frankfurt.

 

Epistemologie und Videographie des Selbst. Paul Ryans künstlerischer Aktivismus und Gregory Batesons Thesen zum Alkoholismus

Henning Engelke
Philipps-Universität Marburg

In einem 1970 in der Zeitschrift Radical Software erschienen Artikel warnt der Medienkünstler Paul Ryan vor der Anfälligkeit von Video für die Illusion/Ideologie autonomer Individualität: „It is easy to be zooming in on ‘self‘ to the exclusion of environmental or social systems“. Ryan sah allerdings auch ein gegenteiliges Potential. In Videoinstallationen wie Everyman’s Moebius Strip (1969) erkundete er, wie das Medium ein „feedback for others“ jenseits des „capitalism of identity“ ermöglichen könne. An der Schnittstelle von Kunst, Therapie und politischen Aktivismus angesiedelt, bezogen sich Ryans Arbeiten wesentlich auf Gregory Batesons Text „Cybernetics of the Self: A Theory of Alcoholism”. Bateson beschreibt darin eine Analogie zwischen dem in der westlichen Kultur vorherrschenden kartesianischen Dualismus von Geist und Materie und dem strukturellen Muster von Alkoholabhängigkeit. Um diese Struktur zu durchbrechen, bedürfe es eines Wechsels der epistemologischen Perspektive. Anstelle einer symmetrischen Opposition, Abhängiger gegen Abhängigkeit, Mensch gegen Umwelt, müsse ein komplementäres (dezentrales) Verständnis ökologischer Abhängigkeiten treten. Mein Vortrag untersucht, wie solche epistemischen Abhängigkeiten Ryans Videoarbeiten medialisiert und theoretisiert werden, und welche politischen, praxeologischen und metaphorischen Implikationen darin impliziert sind.

Bibliographie

Bateson, Gregory: Cybernetics of the Self: A Theory of Alcoholism. In: Steps to an Ecology of Mind. San Francisco: Chandler, 1972, 315–344.

Collopy, Peter Sachs, Video and the Self: Closed Circuit, Feedback, Narcissism. In: Dieter Daniels und Jan Thoben (Hg.): Video Theories: A Transdisciplinary Reader. New York: Bloomsbury, 2022, 108–118.

Grimaldi, Carmine: Televising Psyche: Therapy, Play, and the Seduction of Video. In: Representations 139 (Summer 2017), 95–117.

Kurzbio:

PD Dr. Henning Engelke forscht derzeit im Rahmen einer DFG-Heisenberg-Stelle an der Philipps-Universität Marburg zu „Transdisziplinären Netzwerken des Medienwissens“. Forschungsschwerpunkte sind ethnographischer Film, Experimentalfilm und Schnittstellen von Kunst-, Medien- und Wissenschaftsgeschichte. Neuere Publikationen: "Sol Worth, Film Theory, and the Politics of the Bio-Documentary". In: Grey Room 89 (Fall 2022), S. 42–77.