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Sitzungsübersicht
Sitzung
P 146: Aufgetragene Abhängigkeiten
Zeit:
Donnerstag, 28.09.2023:
9:00 - 10:30

Ort: Raum 6

Raum 0.002

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Präsentationen

Aufgetragene Abhängigkeiten

Chair(s): Beate Ochsner (Medienwissenschaft der Universität Konstanz)

Wie sind Abhängigkeiten vermittelt? Um der Frage nachzugehen, rückt das Panel die Medialität von Abhängigkeitsverhältnissen im Oikos in den Vordergrund. Medienwissenschaftliche Autor:innen beforschen jüngst „Umgebungsverhältnisse“ (Sprenger 2019) und untersuchen, wie Organismen oder Maschinen in Abhängigkeit zu ihrer jeweiligen Umgebung vergleichsweise selbstständig leben beziehungsweise Entscheidungen treffen können (Haraway 2016; Ochsner et al. 2022; Vagt 2016). Und mit Blick auf Sorgearbeit gehen Forscher:innen etwa den Interdependenzen im Sinne von Verpflichtungen gegenüber Anderen nach, die diesen wiederum Freiheiten einräumen (Rübner Hansen/Zechner 2020).

Um die Medialität von Abhängigkeiten zu beschreiben, fokussieren wir den Oikos, den Haushalt, und nehmen zeitliche Strukturen wie Rhythmen, Routinen, Aufschübe und unbestimmte Wartedauern in den Blick. Am Beispiel vom Haushalten mit Schulden, aus dem eigenen Zuhause gestreamten Selbsttechnologien der Hautpflege, sowie altersgerechten Smart Homes, legen wir die Gemeinsamkeiten frei, die Abhängigkeitsverhältnisse im Hinblick auf ihre zeitlichen Strukturen teilen.

Literatur

Haraway, Donna Jeanne (2016): Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Durham: University Press.

Ochsner, Beate et al. (2022): Rethinking Assistive Technologies: Users, Environments, Digital Media, and App-Practices of Hearing. In: NanoEthics 16 (1), 65–79.

Rübner Hansen, Bue/Zechner, Manuela (2020): Careless Networks? Social Media, Care and Reproduction in the Web of Life. In: Spheres 6, 1–12.

Sprenger, Florian (2019): Epistemologien des Umgebens: Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher environments. Bielefeld: transcript.

Vagt, Christina (2016): Organismus und Organisation. Physiologische Anfänge der Medienökologie. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 8 (1), 19–32.

 

Beiträge des Symposiums

 

“Calendrics of Debt”: Von verpfändeter Zukunft zu verpflichtenden Routinen

Milan Stürmer
Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien der Leuphana Universität Lüneburg

Vor dem Hintergrund populärer Gegenwartsdiagnosen, die eine durch Finanzialisierung und algorithmische Gouvernementalität getriebene Entleerung der Zukunft fürchten, tut es manchmal gut, sich Robert Walsers Simon Tanner in Erinnerung zu rufen: Zukunft hat man nur, “wenn man keine Gegenwart hat”, und eine Gegenwart zu haben erscheint ihm wertvoller. Während eine Vielzahl theoretischer Betrachtungen die Verbindung der Logik der Schulden mit algorithmischer Regierungslogik genau in ihrer preemptiven Vorwegnahme der Zukunft sehen, soll in meinem Vortrag ein alternativer Strang der Schuldenforschung in den Mittelpunkt gerückt werden.

Besonders in der Anthropologie finden wir Auseinandersetzungen, die nicht von einer abstrakten Logik, sondern den Abhängigkeiten der Haushaltsführung geprägt sind. Der Rhythmus der Schulden ist “steady” (Guyer 2012, 498) und bedarf “commitment to [...] an agent of ongoing relationality” (Chu 2010, 168). Mit der konkreten Kalendarisierung der Rückzahlung ist eine jener “totemic preoccupations” der Disziplin (High 2012, 364) angesprochen, die spätestens seit Mauss versucht, die Gabe von den Schulden abzugrenzen.

Die angestrebte Fokusverschiebung bleibt für die politischen Gegenwartsdiagnosen nicht konsequenzlos, so beschreiben Lucí Cavallero und Verónica Gago in ihrem jüngst erschienenen Feminist Reading of Debt (2021) Schulden als eine Struktur der Verpflichtung, die über ​​prekäre und intermittierende Arbeits- und Einkommensverhältnisse hinweg ein “stable continuum” (2021, 9) produziert.

Literatur

Cavallero, Luci, und Verónica Gago (2021): A Feminist Reading of Debt. London: Pluto Press.

Chu, Julie Y. (2010): Cosmologies of Credit: Transnational Mobility and the Politics of Destination in China. Durham: Duke University Press.

Guyer, Jane I. (2012): „Obligation, Binding, Debt and Responsibility“. Social Anthropology 20 (4): 491–501.

High, Holly (2012): „Re-Reading the Potlatch in a Time of Crisis“. Social Anthropology 20 (4): 363–379.

 

Unter der Haut. Regime der Selbstpflege

Laura Hille
Centre for Digital Cultures (CDC) der Leuphana Universität Lüneburg

Eingebettet in die Aufmerksamkeitsindustrie sozialer Plattformen bot sich auch der dritte pandemische Winter an, neue Routinen der Selbstoptimierung in den Alltag einzubauen (vgl. Bakhati/Agrawal 2022). Disziplinäre Technologien des Selbst wenden sich im gegenwärtigen biopolitischen Regime nach innen (Foucault 2006). Angesichts von Unsicherheiten und apokalyptischen Endzeitszenarien war ein Rückzug ins Häusliche nicht nur erzwungener Effekt der Isolation, sondern ist schon länger der gewählte Hort der Ruhe, der Pause, der Wellness und der Selfcare (vgl. Hauß 2015). Die Haut erscheint als Subjekthülle und Grenze, als “first line of defence zur relevanten Umwelt”. Auf dem Weg zur "glass skin" bieten Influencer:innen und Hautärzt:innen auf Youtube, Instagram und TikTok Tipps hin zum “tender, love and care” der alltäglichen Pflegeroutinen – one day at a time. Dass letzteres ein Mantra von Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholiker:innen ist, zeigt die rhythmisierte Abhängigkeit solcher Selbsttechnologien. Das Versprechen zur “glass skin” wird zum algorithmisierten Feed eine:r gläsernen Bürger:in.

In diesem Vortrag werde ich anhand von Praktiken der Hautpflege (sanftes Cleansing, chemische Peelings, Barrier Cremes und Booster Seren) Technologien der Selbstpflege als Medien der Gegenwart vorstellen, die unter die Haut gehen.

Literatur

Bakhati, Deepa/Agrawal, Sudha(2022): COVID-19 Pandemic Lockdown—Is It Affecting Our Skin Hygiene and Cosmetic Practice? In: Journal of Cosmetic Dermatology 21 (5), 1830–36.

Hauß, Philipp (2015): Die Geburt der “Wellness” aus dem Geiste der Statistik. Halbert L. Dunns Suche nach dem Gleichgewichtskontinuum. In: Zeithistorische Forschungen – Studies in Contemporary History 11 (3), 478–84.

Foucault, Michel. 2006. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France, 1977-1987. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

 

Altern im Smart Home. Sensorische Regime der Routine

Mathias Denecke
Institut für Medienwissenschaft der Universität Bochum

Die Gesundheitsökonomie verspricht mit altersgerechten Smart Homes den Pflegenotstand aufzuheben. Sie sollen Menschen im Alter ein sicheres und selbstständiges Leben im eigenen Zuhause ermöglichen, das sich unabhängig von Pflegepersonal und Angehörigen entfaltet (Rieger 2019, 186). Im Vortrag frage ich nach den Interdependenzen (Thygesen/Moser 2015, 112) im umgebungstechnisch betreuten Wohnen und konzentriere mich auf Activities of Daily Living. In der Wohnung verbaute Sensoren sollen Alltagsroutinen der Bewohner:innen registrieren und Bewegungsmuster erstellen, um Pflegepersonal über Auffälligkeiten zu benachrichtigen.

Das Wissen um die permanente Erfassung von Bewegungen produziert Abhängigkeiten für Bewohner:innen: sie passen Bewegungsweisen an, vermeiden oder wiederholen gezielt bestimmte Bewegungen, oder suchen die Überwachung zu umgehen (vgl. Tuschling 2018). Zudem hängt das in Aussicht gestellte selbstständige Altern von einer zusätzlichen Sorgearbeit abhängt. Das betrifft die Arbeit von Bewohner:innen und Betreuenden, um datengenerierende Geräte in den Alltag zu integrieren und in Betrieb zu halten (Dalmer et al. 2022). Damit leuchtet der Vortrag die Kehrseiten der Autonomievorstellungen aus, die in der Entwicklung altersgerechter Smart Homes in der Regel nicht eingepreist sind.

Literatur

Dalmer, Nicole/Ellison, Kirsten/Katz, Stephen/Marshall, Barbara (2022): Ageing, embodiment and datafication. In: International Journal of Ageing and Later Life 15 (2), 77–101.

Rieger, Stefan (2019): Die Enden des Körpers. Versuch einer negativen Prothetik. Berlin: Springer.

Thygesen, Hilde/Moser, Ingunn (2015): Exploring Possibilities in Telecare for Ageing Societies. In: Lizzie Ward et al. (Hg.): Ethics of Care. Critical Advances in International Perspective. Bristol: University Press, 111–124.

Tuschling, Anna (2018): Die Kunst des Überlistens. In: Michael Andreas et al. (Hg.): Unterwachen und Schlafen. Lüneburg: meson, 33–47.