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Sitzungsübersicht
Sitzung
P 196: Fremdbestimmt Handeln – Zur Un/abhängigkeit medialer Praktiken in digitalen Kulturen
Zeit:
Donnerstag, 28.09.2023:
9:00 - 10:30

Ort: Raum 9

Raum 1.002

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Präsentationen

Fremdbestimmt Handeln – Zur Un/abhängigkeit medialer Praktiken in digitalen Kulturen

Chair(s): Katerina Krtilova (Zürcher Hochschule der Künste, Deutschland)

Das Panel geht aus der langjährigen Zusammenarbeit der Vortragenden im Rahmen der AG Medienphilosophie und dem DFG Projekt „Internationales Netzwerk Medienphilosophie“ hervor. Ausgehend von einer medienphilosophische Zugangsweise sollen Schnittpunkte der Medienwissenschaft mit der Technikphilosophie, Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft und Anthropologie ausgelotet werden. Mit Blick auf gegenwärtige Debatten über agency oder verteilte Handlungsmacht in Netzwerken menschlicher und nicht-menschlicher Akteure werden Möglichkeiten eines „fremdbestimmten“ Handelns untersucht. Dabei werden die medialen Praktiken gegenüber einem essenzialistischen Medienbegriff betont und die Aufmerksamkeit für die Eigendynamik von Techniken und Werkzeugen oder die Widerständigkeit des Materials in künstlerischen Praktiken wie in der Nutzung moderner Technologien Gegenstand der Paneldiskussion sein.

Die Beiträge konzentrieren sich auf die Reibungsflächen bzw. die irritierenden Momente, welche sich aus der Überlagerung der Sphären sozialer Interaktion, ästhetischer Praktiken, technischer Operationen, aber auch religiöser Rituale ergeben: Automatismen z.B. lassen sich ebenso in technischen wie sozialen und ästhetischen Praktiken finden, gleichzeitig löst sich medienreflexive Schreibpraxis nicht in textgenerierenden Programmen auf; Rituale können als Techniken der Kontingenzbewältigung verstanden werden – sofern man bereit ist, den vorherrschenden Technikbegriff zu hinterfragen.

So werden auf dem Panel die Differenzen und Verschiebungen zwischen unterschiedlichen Modellen „fremdbestimmten Handelns“ diskutiert und als Ausgangspunkt neuer Beschreibungen digitaler medialer Praktiken genutzt.

 

Beiträge des Symposiums

 

Praktiken, Techniken, Körper. Zur operativen Wende der Medienwissenschaft

Johanna Seifert
Fernuniversität Hagen

Im Gegensatz zu klassischen Handlungstheorien, die Handeln – im Anschluss an die bewusstseinsphilosophische Tradition – an die Merkmale von Intentionalität und Subjektivität knüpfen (Schütz, Davidson u. a.), beschreibt Bruno Latour Handeln als Resultat einer Verbindung heterogener Elemente. Agency erscheint nicht mehr als ein souveräner und singulärer Akt, der auf ein einzelnes Individuum zurückgeht, sondern bedeutet einen hybriden und kollektiven Prozess, an dem sowohl Menschen wie auch »Nicht-Menschen« beteiligt sind. Der Beitrag formuliert eine Kritik dieser Kritik. Die Reduzierung von Praktiken und Handlungen auf den Bereich des Operativen läuft Gefahr, den Anthropozentrismus der bisherigen Soziologie durch die operationalistische Logik einer technozentrischen Position zu ersetzen. Ein wesentliches Moment von Praxis, nämlich ihre körperliche Situiertheit und materielle Besonderheit, lässt sich nicht allein durch die Einbeziehung von Körpertechniken in der Kulturtechnikforschung einholen. Nimmt man zusätzlich den Blick der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans ein, so erscheint der Körper in ein dynamisches Netz von Eigenem und Fremden, Verfügbarem und Unverfügbarem sowie Symbolischem und Realem eingebunden. Während sich Körpertechniken auf der Seite des Symbolischen, Verfügbaren und Eigenen situieren lassen, ist mit dem Körper nach Lacan immer auch ein »Anderes« aufgerufen, das sich als solches in den Bereich der Praxis einträgt und dabei einen entscheidenden Unterschied zwischen Praktiken und Operationen markiert.

 

Rituale, Techniken, Programme

Katerina Krtilova
Zürcher Hochschule der Künste

Der Ausgangspunkt des Beitrags sind die Nähe technischer und ritueller Praktiken. Rituale lassen sich ebenso wie Techniken als wiederholbare Verfahren beschreiben, die „automatisch“ oder „mechanisch“ vollzogen werden – und zuweilen auch auf ein bestimmtes Ergebnis ausgerichtet sind (magische Rituale /Idel, Schüttpelz/). Gleichzeitig zeichnen sich rituelle Praktiken durch ihre Performativität aus – dem Vollzug der Handlung, nicht das Ergebnis – was sie wiederum in die Nähe künstlerischer Praxis rückt (Bell, Schechter), aber nicht notwendig von technischen Praktiken trennt. Ordnen sich die rituell Handelnden einer höheren Macht oder Autorität unter, die ihr Tun begründet, geht moderne Technik vom selbstbestimmten Handeln und rationaler Begründung aus. Gleichzeitig rückt mit der Entwicklung digitaler Technologien die Eigenmacht der Algorithmen, Programme und Protokolle in den Vordergrund und die Abhängigkeit des Denkens und der Wahrnehmung von Medien. Gleichzeitig lenkt die Religionswissenschaft und Ethnologie dann das besondere Wissen und Reflexivität ritueller Praktiken in den Vordergrund. Diese Reibungsflächen in der Überlagerung von rituellen und technischen Praktiken bezieht der Beitrag exemplarisch auf die Frage digitaler "Rituale", die die Schwellen zwischen offline und online Zeiten und Räumen „prozessieren“, in der Parallele zur Trennung von profanen und heiligen Zeiten und Orten.

 

Tweet und Stream. Zur Ästhetik der digitalen Kleinen Form

Fabian Goppelsröder
Universität Freiburg (CH)

Zum Finalspiel der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien bat der Schriftsteller und Fotograf Teju Cole seine damals gut 236000 Follower auf Twitter Szenen der Begegnung vom Fernseher-, Computer- oder Tabletbildschirm abzufotografieren und zu posten. Versehen mit dem Ort, aus dem das Foto stammte, der Spielminute und dem Hashtag „thetimeofthegame“. Über die Dauer der Partie zwischen Argentinien und Deutschland verbanden sich die Tweets aus aller Welt in Coles Account zu einem Strom von über tausend Stimmungsbildern, in denen undeutliche Spielsituationen mit vor den Geräten jubelnden oder enttäuschten Zuschauern zu sehen waren. Gute zwei Stunden, in denen sich zwischen den lokalen Zeiten eine heterogene virtuelle Eigenzeitlichkeit entfaltete. Schon in den Jahren vorher hatte Cole mit Twitter experimentiert. Von Februar 2011 bis Februar 2012 zeigte sein Stream auf einen Tweet gebrachte Geschichten, Small Fates, die er in Zeitungen seiner afrikanischen Heimat Nigeria gefunden hatte. Im Januar 2014 bat Cole Bekannte, einzelne 140-Zeichen-Päckchen aus der noch unveröffentlichten Kurzgeschichte Hafiz in ihren Streams zu posten, nur um sie hinterher als Retweets wieder zu verbinden. Und in A piece of the wall, einem Essay in 250 Twitterkurznachrichten vom März 2014, nutzt er den Rhythmus und die Möglichkeiten des Figurenspiels im Stream, um seinen Beobachtungen an der Grenze zwischen den USA und Mexico ihre Form zu geben. Coles Experimente lassen sich als Spiel mit den medialen Vorgaben auf Twitter verstehen. Als der Versuch, die poetischen Möglichkeiten der digitalen kleinen Form als abhängiges Schreiben auszuloten. Dieser Aspekt soll auf dem Panel vorgestellt und diskutiert werden.