Veranstaltungsprogramm

Eine Übersicht aller Sessions/Sitzungen dieser Veranstaltung.
Bitte wählen Sie einen Ort oder ein Datum aus, um nur die betreffenden Sitzungen anzuzeigen. Wählen Sie eine Sitzung aus, um zur Detailanzeige zu gelangen.

 
 
Sitzungsübersicht
Sitzung
7-13: Psychosoziale Entwicklung in inklusiven Klassenzimmern (NELSEN-Symposium)
Zeit:
Mittwoch, 20.03.2024:
9:00 - 10:40

Ort: S28

Seminarraum, 60 TN

Zeige Hilfe zu 'Vergrößern oder verkleinern Sie den Text der Zusammenfassung' an
Präsentationen
Symposium

Psychosoziale Entwicklung in inklusiven Klassenzimmern (NELSEN-Symposium)

Chair(s): Christine Sälzer (Universität Stuttgart, Deutschland), Cornelia Gresch (Humboldt-Universität Berlin), Aleksander Kocaj (IQB Berlin)

Diskutant*in(nen): Julia Gorges (Philipps-Universität Marburg)

Die inklusive Beschulung von Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen (SPF) ist eine der tiefgreifenden Reformen im deutschen Bildungssystem der letzten 30 Jahre. Im Zuge inklusiver Bemühungen werden Schüler*innen mit SPF vermehrt in allgemeinen Schulen unterrichtet und verstärkt in Schulleistungsstudien einbezogen. Mittlerweile liegen aus solchen Studien Daten vor, die auch längsschnittliche und kontextberücksichtigende Analysen von Effekten inklusiver Beschulung erlauben und dies nicht nur in Bezug auf die Kompetenzentwicklung, sondern auch auf die psychosoziale Entwicklung von Schüler*innen mit und ohne SPF in inklusiven Schulklassen (z. B. Labsch, Nusser, Schmitt & Schüpbach, 2021). Die Fokussierung auf Entwicklungen über den reinen Kompetenzerwerb hinaus liegt gerade bei der Untersuchung inklusiver Bildung nahe. So werden in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, 2008) verschiedene Ziele inklusiver Bildung formuliert, etwa das Ziel der Teilhabe an schulischen Bildungsprozessen. Entsprechend können Studien, die sich mit psychosozialen Entwicklungen beschäftigen, zeigen, wie die inklusive Ausgestaltung in dieser Hinsicht gelingt (z. B. Spörer, Henke & Bosse, 2021). Ferner können differenzielle Entwicklungen im psychosozialen Bereich zwischen Kindern mit und ohne SPF anschlussfähige Hinweise auf Bedarfe und Möglichkeiten der Intervention für den Unterricht geben. Das seit 2012 bestehende und von 2017 bis 2021 von der DFG geförderte Netzwerk NELSEN (NEtwork of Large-scale-studies including students with Special Educational Needs) hat das Ziel, zu einer belastbaren Datengrundlage bzgl. der Situation von Schüler*innen mit SPF in Large-Scale-Assessments beizutragen. Basierend auf zwei Large-Scale Assessments, dem IQB-Bildungstrend 2016 und der Längsschnittstudie INSIDE, werden in diesem Symposium vier Beiträge aus dem NELSEN-Netzwerk vorgestellt. Im ersten Beitrag wird anhand des IQB-Bildungstrends 2016 untersucht, ob verschiedene Merkmale der Klassenzusammensetzung und der Unterrichtsgestaltung mit der sozialen Integration der Schüler*innen zusammenhängen und inwiefern sich diese für Schüler*innen ohne und mit SPF in den Bereichen Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung unterscheiden. Die Befunde weisen darauf hin, dass die soziale Integration der Viertklässler*innen positiv mit der Klassenführung und konstruktiver Unterstützung durch die Lehrperson zusammenhängt. Die Studie liefert Hinweise darauf, inwieweit Lehrkräfte durch die Gestaltung ihres Unterrichts neben Lernprozessen auch das soziale Miteinander unterstützen. In den weiteren Beiträgen werden Daten aus der Längsschnittstudie INSIDE (Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland) verwendet. Beitrag 2 wertet Daten der Klassenstufe 6 aus und fokussiert das Ausgrenzungsrisiko von Schüler*innen mit einem SPF in inklusiven Klassen. Zur Beantwortung der Frage, ob individualisierter Unterricht die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF verbessern kann, wurde die soziale Partizipation in den Fächern Deutsch und Mathematik über Leistungsmaße und das Ausmaß der Individualisierung vorhergesagt. Es zeigen sich in beiden Fächern positive Effekte der Individualisierung auf die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF. Aus den Ergebnissen können Hinweise dafür abgeleitet werden, dass die Gestaltung des Unterrichts das Potenzial hat, das Ausgrenzungsrisiko von Schüler*innen mit SPF zu reduzieren. In Beitrag 3, der eine längsschnittliche Untersuchung der Klassenstufen 6, 7 und 9 vorstellt, steht die Entwicklung des subjektiven Wohlbefindens von Sekundarschüler*innen in inklusiven Klassen von der 6. bis zur 9. Klasse in Abhängigkeit von individuellen und kontextuellen Faktoren im Zentrum. Besonderes Augenmerk liegt auf den drei Dimensionen emotionales Wohlbefinden in der Schule, soziale Integration in der Klasse sowie akademisches Selbstkonzept. Abschließend nimmt Beitrag 4 ebenfalls eine längsschnittliche Perspektive ein (Klassenstufen 6, 7 und 9) und untersucht die Entwicklung der sozialen Partizipation von Schüler*innen mit und ohne SPF. Zentral sind dabei Ausgrenzungs- und Schereneffekte sowie drei theoretisch postulierte Einflüsse auf der Entwicklung der sozialen Partizipation (Einflusseffekte). Insgesamt tragen die vier Präsentationen vielfältige Aspekte der psychosozialen Entwicklung in inklusiven Klassenzimmern zusammen, die alle gemeinsam darauf hinweisen, welche zentrale Rolle die Gestaltung des Unterrichts und die Unterstützung durch Lehrpersonen auf diese Entwicklung haben. Die Diskussion wird die gewonnenen Erkenntnisse bündeln und sie gemessen am Stand des Diskurses auf methodischer und inhaltlicher Ebene herausfordern.

 

Beiträge des Symposiums

 

Merkmale der Klassenzusammensetzung und der Unterrichtsgestaltung und die soziale Integration von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht

Pauline Kohrt1, Cornelia Gresch2, Sofie Henschel1
1IQB Berlin, 2Humboldt-Universität Berlin

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bildet die rechtliche Grundlage des inklusiven und damit gemeinsamen Unterrichts von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) an allgemeinen Schulen. Durch das in der UN-BRK benannte Ziel, eine gleichberechtigte Teilhabe aller Schüler*innen im allgemeinen Schulsystem zu realisieren (Artikel 24, Vereinte Nationen 2008), wird die soziale Integration von Schüler*innen mit SPF verstärkt in Untersuchungen im schulischen Kontext einbezogen. Grundsätzlich nehmen besser sozial integrierte Schüler*innen motivierter und konzentrierter am Unterricht teil, ihr Stresserleben ist geringer und sie haben mehr Freude am Unterricht (Zurbriggen und Venetz 2016). Allerdings sind Schüler*innen mit SPF in den Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und emotionale-soziale Entwicklung (LSE), an allgemeinen Schulen deutlich weniger sozial integriert und haben auch weniger soziale Kontakte als ihre Mitschüler*innen ohne SPF (z. B. Frostad und Pijl 2007; Huber et al. 2021; Zurbriggen et al. 2021; Schwab et al. 2013). Zur Erklärung dieser Unterschiede können unterschiedlich verlaufende soziale Vergleichsprozesse (Theorie sozialer Vergleichsprozesse: Festinger 1954) und weniger Kontakte zu ihren Mitschüler*innen (Kontakthypothese: Allport 1954; Pettigrew 1998) eine Rolle spielen. Dabei können Lehrkräfte implizit auf soziale Integrationsprozesse einwirken: Zum einen wird entlang der sozialen Referenzierungstheorie davon ausgegangen, dass Schüler*innen zur Bewertung ihrer Mitschüler*innen Lehrkräfte als soziale Referenz nutzen (Feinman 1992; Webster und Foschi 1992). Da unterrichtliches Lernen in Schulen in der Regel im sozialen Kontext der Klasse stattfindet, kommt zum anderen der Zusammensetzung der Klasse, aber auch der Unterrichtsgestaltung selbst, welche sich zudem zwischen Schulklassen unterscheiden, eine zentrale Rolle zu (Külker et al. im Erscheinen). Es gibt nur wenige Studien, die sich mit der Rolle der Klassenzusammensetzung und der Unterrichtsgestaltung für die soziale Integration von Schüler*innen mit und ohne SPF auseinandersetzen, welche zumeist nur einzelne Merkmale betrachten und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen (Ruijs et al. 2010; Skårbrevik 2005).

In dem Beitrag wird untersucht ob verschiedene Merkmale der Klassenzusammensetzung (Klassenzusammensetzung, Anteil von Kindern mit SPF-LSE in der Klasse) und der Unterrichtsgestaltung (Einsatz kooperativer Methoden, Klassenführung, konstruktive Unterstützung sowie kognitive Aktivierung durch die Lehrkraft) mit der sozialen Integration der Schüler*innen zusammenhängen und inwiefern sich diese für Schüler*innen mit und ohne SPF-LSE unterscheidet. Wir gehen davon aus, dass sich Schüler*innen in größeren Klassen weniger sozial integriert fühlen als in kleineren Klassen und dass je mehr Schüler*innen mit SPF in einer Klasse unterrichtet werden, die wahrgenommene soziale Integration der Schüler*innen insgesamt höher ist. Bezüglich des Einsatzes kooperativer Methoden und von der gesamten Klasse beurteilten Klassenführung sowie konstruktiven Unterstützung vermuten wir positive Zusammenhänge mit der wahrgenommenen sozialen Integration der Schüler*innen. Für die genannten unabhängigen Variablen erwarten wir zudem für Schüler*innen mit und ohne SPF differenzielle Effekte. Für die kognitive Aktivierung erwarten wir keinen Zusammenhang mit der sozialen Integration.

Die Datengrundlage bildet der bundesweit in vierten Klassen durchgeführte IQB-Bildungstrend 2016 (Stanat et al. 2019), wobei alle allgemeinen Schulen, an denen Schüler*innen mit SPF unterrichtet wurden, in die Analysen eingingen (N=9417 Schüler*innen, davon N=899 Schüler*innen mit SPF-LSE in 523 Klassen). Zur Prüfung der Hypothesen wurden verschiedene sogenannte doubly-latent Mehrebenenstrukturgleichungsmodelle geschätzt (Marsh et al. 2012; Marsh et al. 2009). Die latent auf Individualebene modellierte soziale Integration wurde dabei durch latent auf Klassenebene modellierte Merkmale vorhergesagt. Als Kontrollvariablen wurden manifeste Variablen für den sozioökonomische Status, das Alter und das Geschlecht der Schüler*innen, sowie die individuelle Lesekompetenz als auch die Klassenmittelwerte für die Lesekompetenz in die Modelle aufgenommen.

Die Ergebnisse zeigen auf, dass sowohl die Klassenführung als auch die konstruktive Unterstützung positiv mit der sozialen Integration von Viertklässler*innen zusammenhängen und sich diese für die konstruktive Unterstützung zwischen Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterscheidet.

Die Studie liefert Hinweise darauf, inwieweit Lehrkräfte durch die Gestaltung ihres Unterrichts neben Lernprozessen auch das soziale Miteinander unterstützen.

 

Kann individualisierter Unterricht die soziale Partizipation von Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf verbessern?

Miriam Balt1, Michael Grosche1, Cornelia Gresch2, Monja Schmitt3, Katrin Böhme3
1Bergische Universität Wuppertal, 2Humboldt-Universität Berlin, 3HU Berlin

Theoretischer Hintergrund

In nationalen und internationalen Studien der schulischen Inklusionsforschung wird immer wieder deutlich, dass Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) ein erhöhtes Ausgrenzungsrisiko im Vergleich zu Schüler*innen ohne SPF haben (Avramidis et al., 2017; Schürer, 2020). Dieser viel replizierte Befund wirft die Frage auf, wie die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF in inklusiven Schulklassen gefördert werden kann. Nach Huber (2019) wird soziale Partizipation durch Prozesse innerhalb des Unterrichts und/oder durch die betroffenen Schüler*innen selbst, z.B. ihre Sozialkompetenz, beeinflusst. Dabei bildet der Unterricht den Kontext, in dem soziale Kontakte entstehen und soziale Partizipation stattfinden kann. Insgesamt liegen bisher nur wenige Befunde vor, welche Kontextfaktoren (d.h. Faktoren, die außerhalb der Schüler*innen liegen) die soziale Partizipation beeinflussen (Schürer, 2020). Es gibt jedoch erste Hinweise, dass Differenzierung und Individualisierung im Unterricht einen positiven Einfluss auf die soziale Partizipation in inklusiven Schulklassen haben können (Lindner & Schwab, 2020). In der vorliegenden Studie soll daher der Frage nachgegangen werden, ob die Individualisierung des Unterrichts die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF verbessern kann.

Methode

Datengrundlage bildet der erste Erhebungszeitpunkt der vom BMBF geförderten Studie „Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland – INSIDE“ (Schmitt et al., 2020). Die Stichprobe besteht aus 4.166 Schüler*innen der sechsten Jahrgangsstufe. Die soziale Partizipation wurde mittels einer Subskala der deutschen Version des Fragebogens Perceptions of Inclusion (Venetz et al., 2015) erfasst, ergänzt um Fragen zu weiteren Dimensionen sozialer Partizipation (Külker et al., 2021). Ebenso wurde das Ausmaß der Individualisierung im Mathematik- und im Deutschunterricht erfragt (in Anlehnung an Gebhardt et al., 2014). Gemessen wurden außerdem die Leistungen im Lesen und in Mathematik (Stegenwallner-Schütz et al., 2022). Der sonderpädagogische Förderbedarf wurde über Angaben der Lehrkräfte und Eltern ermittelt. Die Datenauswertung erfolgte mittels gemischter linearer Modelle mit den Paketen lme4 und mitml in der Statistiksoftware R. Die Vorhersage der sozialen Partizipation erfolgte getrennt für die Fächer Mathematik und Deutsch.

Ergebnisse

Die Individualisierung im Mathematik- bzw. Deutschunterricht konnte die Varianz der sozialen Partizipation der Schüler*innen mit R² = 8.1% (Mathematik) bzw. 9.1% (Deutsch) aufklären (beide p < .001). Bei gleichzeitiger Berücksichtigung aller eingegangener Variablen wird die Partizipation weder durch die Mathematik- noch durch die Leseleistung beeinflusst. Hingegen kann die geringere Partizipation von Schüler*innen mit SPF auch an dieser Stelle repliziert werden (beide p < .001). Ebenfalls findet sich sowohl in Mathematik (b = 0.22, p < .001) als auch in Deutsch (b = 0.27, p < .001) ein signifikanter Effekt der Individualisierung. Der für unsere Fragestellung wichtige Interaktionseffekt zwischen der Kategorie SPF und dem Ausmaß der Individualisierung ist ebenfalls signifikant, sowohl in Mathematik (b = 0.14, p = .002) als auch in Deutsch (b = 0.11, p < .05).

Diskussion

Zusammenfassend lassen sich positive Effekte der Individualisierung sowohl im Deutsch- als auch im Mathematikunterricht auf die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF berichten. Die Studie liefert damit weitere Hinweise dafür, dass auch die Gestaltung des Unterrichts selbst das Ausgrenzungsrisiko von Schüler*innen mit SPF minimieren kann.

 

Entwicklung des schulischen Wohlbefindens von Schüler*innen in inklusiven Klassen

Lena Nusser1, Carmen Zurbriggen2, Amelie Labsch1
1LifBi, 2Universität Fribourg

Inklusive Bildung ist eine der bedeutendsten Bildungsreformen unserer Zeit. Sie soll nicht nur Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen gewährleisten, sondern auch förderlich für die Entwicklung ihrer Schulleistungen und für ihr subjektives Wohlbefinden (SWB) sein. In der Sekundarstufe kann das SWB von Schüler*innen jedoch durch verschiedene Entwicklungsveränderungen in der frühen Adoleszenz beeinträchtigt werden. Bisherige Forschung deutet auf einen Rückgang des SWB in dieser Lebensphase hin (Casas & Gonzalez-Carrasco, 2019; Lin & Yi, 2019). Vor allem Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) berichten im Vergleich zu ihren Peers ohne SPF über ein geringeres SWB (Goldan et al., 2022).

Das SWB wird als ein multidimensionales Phänomen verstanden, das von individuellen und kontextuellen Faktoren abhängt (Hascher, 2010). Eine wichtige Ressource für das SWB sind positive soziale Beziehungen (Goswami, 2012) sowie ein positives soziales Klassenklima (Steinmayr et al., 2018; Zurbriggen et al., 2021). Inklusive Klassen zeichnen sich meist durch eine heterogene Komposition (z. B. sozioökonomischer Hintergrund oder kognitive Fähigkeiten) aus, welche das soziale Klassengefüge beeinflussen kann. Obwohl Beziehungen zu Erwachsenen in der Adoleszenz an Bedeutung verlieren (McPherson et al., 2001), können Lehrkräfte eine positive Entwicklung von Schüler*innen in dieser Phase unterstützen. So trägt beispielsweise adaptives Unterrichten dazu bei, dass Schüler*innen erfolgreicher lernen, was wiederum förderlich für das schulbezogene SWB ist (Pozas et al., 2021). Ebenfalls kann die Einstellung der Lehrkräfte zu Inklusion Unterschiede im SWB zwischen Schüler*innen mit und ohne SPF reduzieren (Heyder et al., 2020).

Dieser Beitrag untersucht die Entwicklung des SWB von Sekundarschüler*innen in inklusiven Klassen von der 6. bis zur 9. Klasse in Abhängigkeit von individuellen und kontextuellen Faktoren. In Anbetracht der Multidimensionalität des schulbezogenen SWB konzentrieren wir uns auf drei zentrale Komponenten: das emotionale Wohlbefinden in der Schule, die soziale Integration in der Klasse und das akademische Selbstkonzept. Folgende Fragestellungen werden betrachtet:

1) Wie entwickelt sich das schulbezogene SWB von Schüler*innen in inklusiven Klassen von der 6. bis 9. Klassenstufe?

2) Welchen Effekt hat das soziale Klassenklima auf die Veränderungen im schulbezogenen SWB der Schüler*innen?

3) Welchen Effekt haben die Schüler*innen-Lehrkraft-Beziehung, die Einstellung der Lehrkräfte zu Inklusion und ihr Verantwortungsbewusstsein auf die Veränderung im schulbezogenen SWB der Schüler*innen?

Zur Beantwortung der Forschungsfragen greifen wir auf Daten der Längsschnittstudie INSIDE (Inklusion in der Sekundarstufe in Deutschland; Schmitt et al., 2020) zurück. Schüler*innen aus inklusiven Klassen sowie ihrer Klassenlehrkräfte wurden in den Klassenstufen 6 (n = 3899), 7 (n = 1661) und 9 (n = 812) befragt. Die Befragung beinhaltet zu jedem Messzeitpunkt die Schüler*innenversion des Perception of Inclusion Questionnaire (PIQ; Venetz et al., 2015), der die drei oben genannten Dimensionen des SWB abdeckt. Konfirmatorische Faktorenanalysen zeigen gute Fit-Werte (TLI > .95; CFI > .95; SRMR < .05) für alle drei Messzeitpunkte; die interne Konsistenz für die drei Dimensionen reichte von ω = .83 (95% CI = [.82, .84]) bis ω = .91 (95% CI = [.90, .92]).

Die Veränderung des SWB wurde unter Berücksichtigung der genesteten Datenstruktur anhand eines latent neighbor change score models untersucht. Individuelle und kontextuelle Variablen wurden auf die Veränderung zwischen jeweils zwei Messzeitpunkten regressiert. Zudem wurde für die Heterogenität der Klassenkomposition und den individuellen Status der Schüler*innen bezüglich Geschlecht, SPF, Migrationshintergrund, soziale Herkunft und kognitive Grundfähigkeiten kontrolliert.

Erste Ergebnisse zeigen eine insgesamt recht stabile, aber leicht rückläufige Entwicklung des schulbezogenen SWB von Klasse 6 bis 9. Die drei Dimensionen weisen allerdings unterschiedliche Verläufe auf. So nimmt das emotionale Wohlbefinden tendenziell stärker ab als die soziale Integration und das akademische Selbstkonzept. Darüber hinaus deuten die Ergebnisse auf kompensierende Effekte hin: Je positiver die Schüler*innen-Lehrkraft- Beziehung wahrgenommen werden und je höher das Verantwortungsbewusstsein der Lehrkräfte ist, desto weniger nimmt das emotionale Wohlbefinden und die soziale Integration der Schüler*innen ab.

 

Wie entwickelt sich die soziale Partizipation von Schüler*innen mit vs. ohne sonderpädagogische Förderbedarfe in inklusiven Schulen der Sekundarstufe I?

Michael Grosche1, Monja Schmitt2, Cornelia Gresch3, Amelie Labsch2, Lena Külker3
1Bergische Universität Wuppertal, 2LifBi, 3Humboldt-Universität Berlin

Theoretischer Hintergrund

In inklusiven Schulklassen werden Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen (SPF) häufiger ausgegrenzt und partizipieren weniger als ihre Klassenkamerad*innen ohne SPF (Böttinger, 2021; Schürer, 2020). Diesen für die Grundschule inzwischen vielfach replizierten Befund nennen wir an dieser Stelle „Ausgrenzungseffekt“. Ob dieser Ausgrenzungseffekt auch in der Sekundarstufe zu finden ist, ist hingegen deutlich weniger erforscht (Bossaert et al., 2013; Külker et al., 2021). Das Fehlen solcher Studien überrascht, ist doch die Zeit der Sekundarstufe eine für das Jugendalter sehr wichtige Entwicklungsphase, in der soziale Partizipation in der Schulklasse eine besondere Bedeutung erfährt. Zudem wurde der Ausgrenzungseffekt bislang hauptsächlich querschnittlich untersucht. Die wenigen vorliegenden Längsschnittstudien (ausnahmslos in der Grundschule) finden entweder ein Stagnieren oder ein leichtes Absinken der sozialen Partizipation über die Zeit (Blumenthal & Blumenthal, 2021; Schwinger et al., 2020). Eine wichtige und erst in Ansätzen beantwortete Frage lautet daher, wie sich dieser Ausgrenzungseffekt über den Verlauf von mehreren Schuljahren entwickelt. Geht „die Schere“ zwischen Schüler*innen mit vs. ohne SPF weiter auseinander oder verringert sich der Abstand („Schereneffekt“)? Eine wichtige Anschlussfrage lautet, welche von den Lehrkräften beeinflussbare Faktoren die soziale Partizipation der Schüler*innen verbessern können. Einen positiven Einfluss scheinen insbesondere die sozialen Fähigkeiten der Schüler*innen, die sozialen Referenzierungen durch die Lehrkräfte und die sozialen Kontakte zwischen den Mitschüler*innen auszuüben (Huber, 2019). Daher stellt sich die Frage, ob diese „Einflusseffekte“ für alle Schüler*innen positiv sind oder sogar den Ausgrenzungseffekt verringern können.

Fragestellung

Wir untersuchen die Entwicklung der sozialen Partizipation von Schüler*innen mit vs. ohne SPF (Fragestellung 1: Ausgrenzungs- und Schereneffekte) sowie drei theoretisch postulierte Einflüsse auf deren Entwicklung der sozialen Partizipation (Fragestellung 2: Einflusseffekte). Dabei kontrollieren wir für individuelle Hintergrundmerkmale der Schüler*innen (Geschlecht, sozialer Hintergrund, elterliche Bildung und Migrationshintergrund) und prüfen auf differentielle Effekte zwischen Schüler*innen mit vs. ohne SPF.

Methode

Im Rahmen des INSIDE Projektes („Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland“) wurden über einen Zeitraum von drei Schuljahren N = 2.002 Schüler*innen (davon n = 232 mit SPF) aus 159 Schulen aus 14 Bundesländern dreimal (Klassenstufe 6, 7 und 9) mit einem Fragebogen zu ihrer sozialen Partizipation (α = .79), ihrem Sozialverhalten (α = .81) und ihrer Beziehung zu den Lehrkräften (α = .84) befragt. Die Möglichkeit miteinander in Kontakt zu kommen operationalisierten wir durch den prozentualen Anteil an Schüler*innen mit SPF in der Klasse. Zur Analyse der individuellen Entwicklungen der sozialen Partizipation berechneten wir lineare Wachstumskurven mit random intercept und random slope.

Ergebnisse

Im Mittel berichten Schüler*innen mit SPF von signifikant weniger sozialer Partizipation (Ausgrenzungseffekt B = -0.11, p = .002). Die soziale Partizipation verringert sich im Verlauf der drei Schuljahre signifikant (B = -0.09, p < .001). Diese negative Entwicklung unterscheidet sich jedoch nicht zwischen Schüler*innen mit vs. ohne SPF (Schereneffekt B = 0.03, p = .259). Für die Einflusseffekte finden wir folgendes: Entgegen unserer Annahme hat die selbstberichtete Impulsivität der Schüler*innen keinen Einfluss. Jedoch berichten prosozialere Schüler*innen über mehr Partizipation (B = 0.28, p < .001). Verbessert sich das prosoziale Verhalten über die Zeit, verbessert sich auch die Partizipation (B = .20, p < .001). Gleiche Befunde finden wir bezüglich der Beziehung zur Lehrkraft: Verbessert sich die Beziehung, steigt auch die Partizipation (B = 0.09, p < .001). Die Effekte sind besonders deutlich für Schüler*innen mit einem SPF in der emotional-sozialen Entwicklung. Die Klassenkomposition hat hingegen keinen Einfluss auf die soziale Partizipation.

Diskussion

Schüler*innen mit SPF berichten im Mittel von weniger sozialer Partizipation in der Sekundarstufe I (Ausgrenzungseffekt). Die soziale Partizipation verschlechtert sich während der Sekundarstufenzeit, dies gilt jedoch gleichermaßen für Schüler*innen mit vs. ohne SPF (keine Schereneffekte). Prosoziale Fähigkeiten der Schüler*innen und eine positive Lehrkraft-Schüler*innen-Beziehung verbessern die soziale Partizipation (Einflusseffekte). Lehrkräfte sollten daher prosoziale Fähigkeiten fördern und besonderen Wert auf eine positive Beziehung zu ihren Schüler*innen legen.



 
Impressum · Kontaktadresse:
Datenschutzerklärung · Veranstaltung: GEBF 2024
Conference Software: ConfTool Pro 2.8.101
© 2001–2024 by Dr. H. Weinreich, Hamburg, Germany