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Sitzungsübersicht
Sitzung
7-11: Geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene – welche Faktoren beeinflussen die Entscheidung für eine Berufsausbildung sowie die Aufnahme dieses Bildungsweges?
Zeit:
Mittwoch, 20.03.2024:
9:00 - 10:40

Ort: S27

Seminarraum, 70 TN

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Präsentationen
Symposium

Geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene – welche Faktoren beeinflussen die Entscheidung für eine Berufsausbildung sowie die Aufnahme dieses Bildungsweges?

Chair(s): Regina Becker (Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, Bamberg), Gisela Will (Leibniz-Institut für Bildungsverläufe)

Diskutant*in(nen): Georg Lorenz (Universität Potsdam)

Im Zuge der Fluchtbewegungen Mitte der 2010er Jahre haben ca. 1,8 Millionen Geflüchtete in Deutschland Schutz gesucht. Die Schutzsuchenden sind dabei im Durchschnitt deutlich jünger als die Bevölkerung in Deutschland; viele der Geflüchteten sind minderjährig oder gehören der Gruppe der 18-30-Jährigen an (Statistisches Bundesamt, 2019). Für Jugendliche und junge Erwachsene ist die Aufnahme einer Berufsausbildung von großer Bedeutung für die weiteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dies gilt insbesondere für Deutschland, da hier formale (Berufs-)Bildungsabschlüsse für die Positionierung auf dem Arbeitsmarkt eine zentrale Rolle spielen (z.B. Shavit/Blossfeld, 1993; Shavit/Müller, 1998). Die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung für selbst zugewanderte Jugendliche und junge Erwachsene ist jedoch mit besonderen Herausforderungen verknüpft. Viele der Neuzugewanderten haben die gesamte oder zumindest einen Großteil ihrer Schulzeit im Herkunftsland verbracht, das Wissen über das deutsche (Berufs-)Bildungssystem ist eher gering und die meisten der Geflüchteten lernen erst seit Ankunft im Aufnahmeland die deutsche Sprache. Die empirisch beobachtbaren geringeren Zugangschancen von jungen Erwachsenen mit Fluchthintergrund in eine berufliche Ausbildung – auch unter Kontrolle zentraler Einflussfaktoren (z.B. Eberhard/Schuß, 2021) – legen zudem nahe, dass es auch auf Seiten der Betriebe Zugangsbarrieren wie etwa Diskriminierung oder Planungsunsicherheit aufgrund unsicherer Bleibeperspektive von Geflüchteten gibt.

In dem Symposium wird der Frage nachgegangen, inwieweit es geflüchteten Neuzugewanderten, die als Jugendliche oder junge Erwachsene nach Deutschland kommen, gelingt, im Bildungssystem Fuß zu fassen und eine Berufsausbildung zu beginnen. Den Beiträgen liegt ein gemeinsames grundlegendes Theorieverständnis zu Grunde, bei dem individuelle Ressourcen, das soziale Umfeld sowie Faktoren auf Makroebene (z.B. regionale Ausbildungsmärkte) in ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse und Bildungsentscheidungen berücksichtigt werden. Die Beiträge ziehen dabei im Detail jedoch unterschiedliche Theorieansätze heran und fokussieren verschiedene Ebenen der genannten Einflussfaktoren. Durch die detaillierte Betrachtung der Determinanten von Bildungsentscheidungen einerseits sowie der Analyse von Einmündungschancen in berufliche Bildung andererseits wird der Themenkomplex aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Auch genderspezifische Aspekte werden in zwei Beiträgen als besonderer Schwerpunkt berücksichtigt.

Das Symposium umfasst insgesamt vier Vorträge und einen Diskussionsbeitrag, der die Ergebnisse der Einzelvorträge reflektiert und zueinander in Beziehung setzt. Die ersten beiden Beiträge arbeiten mit den Daten der Studie „ReGES – Refugees in the German Educational System“ (vgl. Will et al., 2021) und beschäftigen sich mit geflüchteten Jugendlichen, die als Seiteneinsteiger:innen in das deutsche Schulsystem gekommen sind und sich zum Zeitpunkt der ersten Befragung im allgemeinbildenden Schulsystem der Sekundarstufe I befanden. Der erste Beitrag zeigt, welche Bildungswege die Jugendlichen von der Sekundarstufe I an im weiteren Verlauf der Bildungsbiographie einschlagen und prüft, inwieweit berufliche Ausbildungswege für die Jugendlichen eine quantitativ bedeutsame Alternative darstellen. Der zweite Beitrag des Symposiums untersucht welche Faktoren die Entscheidung für eine berufliche Ausbildung beeinflussen. Betrachtet werden hierbei wahrgenommene Nutzen und Kosten einer möglichen Berufsausbildung sowie die subjektiv eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, eine Ausbildung erfolgreich abschließen zu können.

Beitrag drei und vier widmen sich der Frage, welche Chancen geflüchtete Jugendliche und jungen Erwachsene beim Übergang in eine Berufsausbildung haben. Im Fokus stehen hier besonders junge Frauen. Im dritten Beitrag wird mit Daten der IAB-BAMF-SOEP Geflüchtetenbefragung (Kühne et al., 2019) untersucht, welche Faktoren mit der Aufnahme einer Berufsausbildung von jungen geflüchteten Frauen zusammenhängen. Berücksichtigt wird hier neben individuellen Ressourcen und regionale Faktoren des Ausbildungsmarktes insbesondere das soziale Umfeld der geflüchteten Frauen. Der vierte Beitrag geht der Frage nach, inwieweit unterschiedliche Chancen beim Zugang zu beruflicher Ausbildung zwischen ausbildungsinteressierten jungen Menschen mit oder Fluchthintergrund in bzw. kurz nach der Coronapandemie bestehen und analysiert zentrale Einflussfaktoren. Insbesondere wird betrachtet, ob weibliche junge Geflüchtete weniger von ungünstigen Einmündungschancen in und kurz nach der Coronapandemie betroffen sind als männliche Geflüchtete. Der Beitrag nutzt die Daten der BA/BIBB-Bewerberbefragung (Christ et al., 2022).

 

Beiträge des Symposiums

 

Bildungsverläufe geflüchteter Jugendlicher in Deutschland: Eine deskriptive Bestandsaufnahme

Regina Becker
Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, Bamberg

Mitte der 2010er Jahre sind ca. 1,8 Millionen Geflüchtete nach Deutschland gekommen, ungefähr ein Viertel davon sind in einem schulpflichtigen Alter (Statistisches Bundesamt, 2019). Für diese Kinder und Jugendliche kommt der Teilhabe am Bildungssystem eine zentrale Bedeutung zu, auch da Bildungsqualifikationen und -zertifikate einen maßgeblichen Einfluss auf den späteren Arbeitsmarkterfolg haben (Bol/van der Werfhorst, 2011).

Bisherige Forschung beschäftigt sich insbesondere mit Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb geflüchteter Schüler:innen sowie mit ausgewählten Bildungsübergängen (El-Mafaalani/Kemper, 2017; Winkler, 2021). Hinsichtlich der Bildungsverläufe wurde gezeigt, dass die Bildungsbiographien der damals in Deutschland angekommenen Kinder und Jugendlichen oftmals von Unterbrechungen gekennzeichnet sind, die einerseits auf die Situation im Herkunftsland und eine längere Fluchtdauer (Homuth et al., 2020), andererseits auch, bedingt durch unterschiedliche regionale institutionelle Rahmenbedingungen, auf Verzögerungen bei der Einschulung in Deutschland zurückzuführen sind (Will/Homuth, 2020; Will et al., 2022). Darüber hinaus ist wenig über die Bildungsbiographien geflüchteter Jugendlicher in Deutschland bekannt. Eine Analyse der Bildungsverläufe ist jedoch essentiell um mögliche Ungleichheiten im Zugang zu Bildung besser zu verstehen und Unterstützungsmöglichkeiten identifizieren zu können.

Der vorliegende Beitrag widmet sich der Untersuchung von Bildungsbiographien geflüchteter Jugendlicher. Wer verbleibt länger im allgemeinbildenden Schulsystem und besucht die Sekundarstufe II? Wem gelingt der Übergang in eine berufliche Ausbildung und welche Rolle kommt dem Übergangssystem zu? Ziel des Beitrags ist es, zum einen Bildungsverläufe geflüchteter Jugendlicher in Deutschland deskriptiv zu beschreiben und zum anderen eine Erklärung für den Verbleib im allgemeinbildenden Schulsystem im Vergleich zum Übergang in das Übergangssystem bzw. in eine berufliche Ausbildung herauszuarbeiten.

Theoretisch basiert dieser Beitrag auf Ansätzen, die sowohl allgemeine, meist auf soziale Herkunft bezogene Faktoren (Boudon, 1974; Erikson/Jonsson, 1996), als auch migrations- und fluchtspezifische Faktoren zur Erklärung von Bildungsungleichheiten und Bildungsübergängen heranziehen (Hunkler, 2014). Dabei wird erwartet, dass Faktoren der sozialen Herkunft auch für geflüchtete Jugendliche Gültigkeit haben (Will/Homuth, 2020). Im vorliegenden Beitrag wird darauf aufbauend bspw. angenommen, dass sowohl Jugendliche, deren Eltern einen höheren sozioökonomischen Status haben, als auch Jugendliche mit besseren Deutschsprachkenntnissen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben die Sekundarstufe II zu besuchen. Darüber hinaus wird erwartet, dass der Besuch einer Neuzuwandererklasse negativ mit dem Besuch der Sekundarstufe II zusammenhängt, insbesondere für ältere Jugendliche.

Die empirischen Darstellungen beruhen auf der Panel-Studie „ReGES – Refugees in the German Educational System“ (Will et al., 2021), die seit 2018 Befragungen mit geflüchteten Jugendlichen durchführt. Die Jugendlichen sind zwischen 2014 und 2018 in Deutschland angekommen und besuchten zum Zeitpunkt der ersten Befragung die Sekundarstufe I des allgemeinbildenden Schulsystems. Die multivariaten Analysen basieren auf linearen Wahrscheinlichkeitsmodellen.

Zunächst werden die Bildungsverläufe der Jugendlichen ab dem Schuljahr 2017/2018 bis zum Schuljahr 2021/2022 dargestellt. 2022 besucht ungefähr ein Drittel der Jugendlichen weiterhin eine allgemeinbildende Schule, jeweils ca. 15% machen eine berufsvorbereitende Maßnahme oder eine beruflichen Ausbildung, fast 10% haben ein Studium begonnen, während über ein Viertel das Bildungssystem verlassen hat. Der andauernde Schulbesuch hängt teilweise damit zusammen, dass viele der Jugendlichen bei Eintritt ins deutsche Schulsystem in einer niedrigeren Klassenstufe eingestuft wurden, als dies ihrem Alter entsprochen hätte (siehe auch Will et al., 2022). Andererseits verweist dieser Befund darauf, dass viele geflüchtete Jugendliche, trotz ihrer herausforderungsvollen Situation als Seiteneinsteiger:innen ins Bildungssystem, weiterhin auf direktem Weg höhere Bildungsabschlüsse erwerben könnten. Im Verlauf zeigt sich insbesondere die Bedeutung des Übergangssystems, das viele Jugendliche nach dem Verlassen des allgemeinbildenden Schulsystems besuchen. Erste multivariate Analysen zum Verbleib in der Sekundarstufe II zeigen, dass ältere Jugendliche – tendenziell insbesondere wenn sie in einer Neuzuwandererklasse beschult wurden – eine geringere Wahrscheinlichkeit aufweisen, die Sekundarstufe II zu besuchen. Variablen der sozialen Herkunft sowie migrationsspezifische Faktoren weisen keine signifikanten Effekte auf. Dies könnte möglicherweise auf die Heterogenität dieser Gruppen zurückgeführt werden, die sich bspw. stark innerhalb der jeweiligen Bildungssituation (bspw. besuchte Schulform, Art der Berufsvorbereitung) unterscheiden.

 

„Soll ich eine Ausbildung machen?“ Entscheidungskalküle für berufliche Bildung bei geflüchteten Schüler:innen

Robin Busse1, Oliver Winkler2
1Technische Universität Darmstadt, 2Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

In Deutschland hat die berufliche Ausbildung große Bedeutung für die Verteilung von Lebenschancen (Konietzka/Hensel, 2017) und ist zugleich zentral für eine gelingende Integration geflüchteter Menschen (Jeon, 2019). Geflüchtete stehen beim Übergang allerdings vielschichtigen Herausforderungen gegenüber (Seeber et al., 2019). Während die Bedeutung von rechtlichen Hürden (z. B. Beschäftigungsverbote oder unklare Bleibeperspektiven/Aufenthaltsstatus) für die Chancen von Geflüchteten für den beruflichen Bildungsübergang empirisch nicht eindeutig ist (Meyer/Winkler, 2023), ist bestätigt, dass junge Geflüchtete neben Angeboten zum Erwerb von deutschen Sprachkenntnissen und schulischen Qualifikationen auch berufliche Orientierung benötigen (Eberhard/Schuß, 2021; Gerhards, 2019). Bislang gibt es allerdings nur wenig Forschung zu den beruflichen Abwägungen von Geflüchteten (Damelang/Kosyakova, 2021). Die Kenntnis beruflicher Abwägungen von Geflüchteten und deren Determinanten ist auch insofern wichtig, weil Hinweise auf erschwerte Ausbildungszugänge bei Geflüchteten vorliegen (Eberhard et al., 2017). Ziel der Studie ist es daher, die Einflussfaktoren bei den Kosten-Nutzen-Abwägungen für eine berufliche Ausbildung bei jungen Geflüchteten, die zwischen 2014 und 2017 nach Deutschland migriert sind, zu untersuchen.

Investitionen von Zugewanderten in länderspezifisches Humankapital können als Kosten-Nutzen-Überlegungen modelliert werden (Duleep/Regets, 1999). Auf diese Abwägungen sind Einflüsse von Merkmalen des Zeithorizonts (Hillmert/Jacob, 2003), Diskriminierungserwartungen (Heath et al., 2008) und elterlichen Bildungserwartungen (Kao/Tienda, 1995) zu erwarten. Wir nehmen an: Je wichtiger kurzfristige finanzielle Einkünfte, desto höher sind Nutzenerwartungen einer Ausbildung (H1a) und desto niedriger sind die erwarteten Kosten einer Ausbildung (H1b) z.B. im Vergleich zu (akademischen) Bildungswegen, bei denen längerfristigere Renditen wichtiger sein dürften. Je höher die Diskriminierungserwartung auf dem Ausbildungsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt für Ausbildungsberufe ist, desto niedriger sind der erwartete Nutzen (H2a) und der erwartete Erfolg einer Ausbildung (H2b) und desto höher sind die erwarteten Ausbildungskosten (H2c). Je höher die elterlichen Berufserwartungen sind, desto niedriger ist der erwartete Nutzen (H3a), da durch eine Ausbildung nicht die akademischen Bildungsziele erreicht werden können, die sich die Eltern für ihre Kinder wünschen. Dieses Abweichen von den elterlichen Erwartungen ist auch mit höheren erwarteten Kosten einer Ausbildung (H3b) verbunden.

Für die Analysen wird die Refugee Cohort 2 (RC2) der Studie „ReGES – Refugees in the German Educational System“ (Will et al., 2021) herangezogen. Die Zielpersonen der zweiten ReGES-Startkohorte sind geflüchtete Jugendliche, die zu Studienbeginn (Oktober 2017) zwischen 14 und 16 Jahre alt waren und noch die Sekundarstufe I des allgemeinbildenden Schulsystems besucht haben. Unser Analysesample beträgt n = 1.943. Die drei abhängigen Variablen sind die eingeschätzten Berufschancen B, die subjektive Erfolgserwartung p und die subjektiv wahrgenommenen Kosten C. Wir berechnen OLS-Modelle mit multipel imputierten Daten.

Wir finden systematische Unterschiede in den Kosten-Nutzen-Abwägungen der jungen Geflüchteten, die auch unter Kontrolle zentraler Drittvariablen (z.B. Geschlecht, Herkunftsland, Bleibeperspektive) bestehen. Die Befunde verweisen auf die Relevanz schneller Verdienstwünsche, die positiv mit den Nutzenerwartungen von jungen Geflüchteten bezüglich einer Ausbildung in Verbindung stehen. Antizipierte Diskriminierungen auf dem Ausbildungsmarkt stehen dagegen negativ mit den Nutzen- und Erfolgserwartungen der befragten Geflüchteten gegenüber einer Ausbildung in Verbindung. Zudem unterstreichen die Ergebnisse die Relevanz elterlicher Erwartungen, da mit der Höhe der elterlichen Berufserwartung die Nutzenbewertung einer Berufsausbildung geringer und die Kostenerwartung höher ausfällt. Die Befunde bieten wichtige Anhaltspunkte für die berufliche Orientierung von jungen Geflüchteten. Mit Blick auf die empirische Relevanz von Diskriminierungserwartungen für die Nutzen- und Erfolgserwartung einer beruflichen Ausbildung müssten zum einen berufsorientierende Angebote Diskriminierungserwartungen von jungen Geflüchteten gezielt adressieren; zum anderen können auch sensibilisierende Maßnahmen gegen Diskriminierung in Betrieben die Attraktivität von Berufsausbildungen fördern. Des Weiteren sollten berufsorientierende Angebote die Bedeutung elterlicher Berufserwartung für die Nutzenbewertung einer Berufsausbildung von jungen Geflüchteten berücksichtigen, da die Eltern womöglich noch nicht vertraut genug mit Berufsbildungssystem in Deutschland sind und eher akademische Bildungsoptionen für ihre Kinder erwägen.

 

Übergänge geflüchteter Frauen in die berufliche Ausbildung: Eine empirische Analyse der Herausforderungen und Gelingensbedingungen

Franziska Meyer
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Im Zeitraum von 2015–2016 haben über 600.000 geflüchtete Frauen einen Asylantrag in Deutschland gestellt (Eurostat, 2023). Ihr Alter liegt dabei deutlich unter dem der Mehrheitsbevölkerung; 39% von ihnen sind unter 30 und nochmal 35% zwischen 30 und 39 Jahre alt (Cardozo, 2023). Da die Arbeitsmarktpositionierung in Deutschland eng mit dem Erwerb formaler Qualifikationen verknüpft ist (Hausner et al., 2015), kann der Übergang in die Berufsausbildung als die wahrscheinlich aussichtsreichste Perspektive für ihre langfristige sozioökonomische Integration erachtet werden. Die Chancen von geflüchteten Frauen in eine Berufsausbildung überzugehen, sind insgesamt deutlich geringer als die von geflüchteten Männern (Meyer/Winkler, 2023). Doch weder zu ihren genauen Übergangszahlen noch zu den Bedingungen, die für ihre Ausbildungsaufnahme förderlich oder hemmend wirken, liegen bislang belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Ziel des Beitrags ist es, dieses Forschungsdesiderat zu adressieren und der Frage zu nachzugehen: Welche Hindernisse und Gelingensbedingungen sind mit dem Übergang junger geflüchteter Frauen in die Berufsausbildung assoziiert?

Grundsätzlich ergibt sich ein erfolgreicher Übergang in die Berufsausbildung aus dem Zusammenspiel der Präferenzen der potenziellen Auszubildenden und Ausbilder:innen auf der Mikroebene sowie der regionalen Opportunitätsstrukturen auf der Makroebene (Müller/Gangl, 2003). Es wird davon ausgegangen, dass die Ausbildungspräferenz der Frauen der 2015/16-Geflüchtetenkohorte in einem engem Zusammenhang mit normativen Vorstellungen zu Geschlechterrollen steht, sowohl ihrer eigenen als auch denen ihres sozialen Umfelds, das Druck auf sie ausüben kann, die geschlechtsspezifische Aufteilung von Haus- und Lohnarbeit aufrechtzuerhalten (Read/Oselin, 2008; Fernández/Fogli, 2009; Kulik/Rayyan, 2003). So wird angenommen, dass eine hohe Zustimmung der Frauen zu traditionellen Geschlechterrollen (H1a), das Vorhandensein eines Partners (H1b), ein häufiger Kontakt zu Personen derselben Herkunftsgruppe (H1c) sowie das Vorhandensein von Kindern unter sechs Jahren im Haushalt (H1d) negativ mit den Übergangschancen geflüchteter Frauen in das Berufsbildungssystem assoziiert sind. Umgekehrt ergibt sich die Präferenz der Ausbilder:innen für einen bestimmten Bewerber bzw. eine bestimmte Bewerberin mit Hinblick auf deren jeweilige Humankapitalausstattung. Einerseits sollten der Bildungsstand (H2a) sowie die im Herkunftsland erworbene Berufserfahrung (H2b) (klassisches Humankapital), andererseits Kenntnisse in der Aufnahmelandsprache (H2c) sowie der Kontakt zu Personen der Mehrheitsbevölkerung (H2d) (aufnahmelandspezifisches Humankapital) positiv mit der Chance auf eine Ausbildungsaufnahme assoziiert sein. Zuletzt kann auch die regionale Struktur des Ausbildungsmarkts eine wesentliche Opportunitätsstruktur für den Übergang geflüchteter Frauen in die Berufsausbildung darstellen. Da sich Frauen in Deutschland grundsätzlich vorwiegend auf Ausbildungsplätze im sekundären, schulischen Berufsbildungssektor bewerben (BIBB, 2022), sollte dessen stärkere regionale Präsenz positiv mit diesem Übergang assoziiert sein (H3).

Die Untersuchung dieser einzelnen Annahmen erfolgt auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten (Brücker et al., 2018) mithilfe eines Mehrebenen-Piecewise-Constant-Exponentialmodells. Die Stichprobe umfasst geflüchtete Frauen, die sich mit 18 bis 30 Jahren im ausbildungsfähigen Alter befinden (n = 932). Ihre Zeit bis zum Übergang in die Berufsausbildung, die sogenannte duration time, wird für den Zeitraum von 2016–2020 analysiert.

Deskriptiv zeigt sich, dass nur 9% der Frauen innerhalb des Untersuchungszeitraums in die Berufsausbildung übergegangen sind. Aus den multivariaten Analysen wird ersichtlich, dass nur wenige Faktoren mit diesem Übergang assoziiert sind: die Häufigkeit des Kontakts zu Personen desselben Herkunftslands, vor allem aber das Vorhandensein eines Partners stehen in einem signifikant negativen Zusammenhang mit dem Übergang geflüchteter Frauen in die Berufsausbildung. Demgegenüber stehen ein häufigerer Kontakt zu Personen der Mehrheitsbevölkerung sowie bessere Deutschsprachkenntnisse in einem signifikant positiven Zusammenhang mit der Chance geflüchteter Frauen, eine Ausbildung aufzunehmen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass dem sozialen Umfeld geflüchteter Frauen eine zentrale Rolle bei ihrer Integration in den deutschen Ausbildungsmarkt zukommt. Politische Maßnahmen, die auf eine Erhöhung des Frauenanteils unter geflüchteten Auszubildenden abzielen, sollten daher besonders eine stärkere Vernetzung der Frauen mit Personen der Mehrheitsbevölkerung anstreben, beispielsweise über Mentorinnenprogramme oder spezifische Beratungsstellen für Migrantinnen.

 

Trotz ungünstigerer Einmündungschancen für Alle in der Corona-Zeit: Überflügeln Bewerberinnen mit Fluchthintergrund junge Männer mit Fluchthintergrund beim Zugang in eine berufliche Ausbildung?

Mona Granato1, Alexander Christ2
1https://orcid.org/0000-0003-3847-9160, 2https://orcid.org/0009-0002-1428-3657

Die Beteiligung von Jugendlichen mit Migrations- und Fluchthintergrund an beruflicher Ausbildung liegt seit Jahren deutlich unter derjenigen von Jugendlichen ohne Migrations- und Fluchthintergrund. Selbst unter Berücksichtigung zentraler Einflussfaktoren lassen sich ihre geringeren Einmündungschancen nicht abschließend erklären (Beicht/Walden, 2017; Eberhard/Schuß, 2021). Dies gilt auch für junge Frauen mit Migrationshintergrund. Ihre geringeren Zugangschancen – gegenüber jungen Frauen ohne Migrationshintergrund sowie gegenüber der männlichen Vergleichsgruppe – sind nicht abschließend erklärt (Beicht/Walden, 2017).

Von dem nach der Pandemie wieder steigenden Angebot an dualen Ausbildungsplätzen bei sinkender Nachfrage nach Ausbildungsplätzen, d.h. einer besseren Ausbildungsmarktlage für Jugendliche auf der Suche nach einer Lehrstelle, haben Jugendliche mit (Flucht-)Migrationshintergrund nicht profitiert. Ihre Einmündungsquote in berufliche Ausbildung liegt weiterhin deutlich unter derjenigen der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund (Christ et al., 2023). Gleichzeitig weisen amtliche Statistiken darauf hin, dass junge Frauen mit einem Fluchtmigrationshintergrund seit der Pandemie häufiger als die männliche Vergleichsgruppe in eine duale Ausbildung einmünden (2018: w 33%, m 37%; 2022: w 39%, m 32% (Bundesagentur für Arbeit, 2022)).

Wie lässt sich erklären, dass es jungen Frauen mit Fluchthintergrund gerade in der Pandemie gelungen ist ihre Beteiligung an beruflicher Ausbildung zu erhöhen und dabei junge Männer mit Fluchthintergrund zu überflügeln?

Der vorliegende Beitrag greift diese Frage auf und nimmt dabei förderliche und hemmende Faktoren eines erfolgreichen Übergangs in berufliche Ausbildung in der (Nach-)Corona-Zeit in den Blick.

(1) Welche institutionellen, sozialen und individuellen Faktoren beeinflussen in und nach der Corona-Pandemie die geringeren Chancen von Jugendlichen mit Fluchterfahrung – gegenüber denjenigen ohne Migrationshintergrund – bei der Einmündung in eine berufliche Ausbildung?

(2) Welche Faktoren beeinflussen die (höhere) Einmündung junger Frauen mit einem Fluchthintergrund gegenüber der männlichen Vergleichsgruppe? Lassen sich Hinweise für eine ‚nachholende Integration‘ (Bade, 2007) finden – d.h. Hinweise für eine nachträgliche Chancenverbesserung bzw. Hinweise zur Erklärung der Verringerung bzw. Persistenz von Bildungsungleichheiten an dieser Statuspassage?

Aus einer Transitionsperspektive geht der Beitrag der Frage nach individuellen, sozialen und institutionellen Faktoren für einen gelingenden Übergang in berufliche Erstausbildung nach. Die Social Cognitive Career Theorie (SCCT) sieht den Zugang in Ausbildung von Jugendlichen als Prozess, der von individuellen und sozial vermittelten Unterschieden in den Ressourcen von Jugendlichen sowie von institutionell bedingten Gelegenheitsstrukturen geprägt wird (Lent et al., 2002). Hierzu gehören u.a. Unterstützungen und Hindernisse im Übergangsprozess und heterogene Ausbildungsmärkte. Individuelle, sozial vermittelte Faktoren wie Gelegenheitsstrukturen und ihre individuelle Wahrnehmung können bei Jugendlichen zu einer (weiteren) Einschränkung von Optionen und Chancen, zu einer (selbst- und fremdselektiven) Engführung im Übergangsprozess z.B. in geschlechtsspezifischer Hinsicht, beitragen.

Die BA/BIBB-Bewerberbefragung ist eine repräsentative schriftlich-postalische Untersuchung von Jugendlichen, die bei der Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit als Ausbildungsstellenbewerber:innen registriert sind (Christ et al., 2023).

Auf Basis der BA/BIBB-Bewerberbefragungen 2018 und 2021 werden deskriptive und multivariate Analysen (vorrangig Logit Modelle) durchgeführt, differenziert nach Migrations- und/oder Fluchthintergrund sowie Geschlecht. Der Verbleib der Bewerber:innen zum Befragungszeitpunkt in betrieblicher Ausbildung vs. nicht in betrieblicher Ausbildung ist jeweils die abhängige Variable.

Die Fallzahlen ermöglichen mithilfe deskriptiver und multivariater Analysen erste vorsichtige Aussagen differenziert nach Geschlecht und (Flucht-)Migrationshintergrund. Als zentrale erklärende Faktoren werden institutionelle Merkmale (u.a. regionale und berufsspezifische Ausbildungsmärkte, Unterstützungsangebote beim Übergang in berufliche Ausbildung), sozial vermittelte Faktoren (u.a. Unterstützung durch soziales Umfeld) sowie individuelle Merkmale (u.a. Alter, schulische Vorbildung) in die Regressionen einbezogen.

Erste Analysen weisen darauf hin, dass Bewerber:innen mit einem Fluchthintergrund sowie Bewerber:innen mit einem Migrationshintergrund ohne Fluchterfahrung, auch in der Pandemie selbst unter Kontrolle ausgewählter Faktoren geringere Chancen auf eine Ausbildungsstelle haben als Bewerber:innen ohne Fluchthintergrund. Weibliche Geflüchtete haben 2021 im Vergleich zu 2018 im Integrationsprozess aufgeholt und sind häufiger in Ausbildung eingemündet als männliche Geflüchtete. Die Ausarbeitung der Gelingensfaktoren, zu denen qualifikatorische Merkmale der Bewerber:innen, wahrgenommene Unterstützungsangebote aber auch Aktivitäten im Bewerbungsprozess zählen, sind Gegenstand des Beitrags.



 
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