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Sitzungsübersicht
Sitzung
6-05: Kompetenzentwicklung im Spannungsfeld von Klassifikation: Einblicke in Bildungsverläufe und schulische Lernerfolge von Schüler:innen mit besonderen Unterstützungsbedarfen in inklusiven Lernsettings
Zeit:
Dienstag, 19.03.2024:
15:20 - 17:00

Ort: H01

Hörsaal, 100 TN

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Präsentationen
Symposium

Kompetenzentwicklung im Spannungsfeld von Klassifikation: Einblicke in Bildungsverläufe und schulische Lernerfolge von Schüler:innen mit besonderen Unterstützungsbedarfen in inklusiven Lernsettings

Chair(s): Katrin Böhme (Universität Potsdam, Deutschland), Maja Stegenwallner-Schütz (Humboldt-Universität zu Berlin)

Diskutant*in(nen): Lena Nusser (Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi))

In Deutschland werden Schüler:innen mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen zunehmend an allgemeinen Schulen unterrichtet (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2022). Gleichzeitig wächst auch die Heterogenität der Schüler:innen aufgrund von Flucht und Migration (Henschel, Heppt & Weirich, 2023). Im Sinne eines weiten Inklusionsbegriffs lernen somit Schüler:innen mit den unterschiedlichsten persönlichen Hintergründen, Lernvoraussetzungen und Lernbedürfnissen gemeinsam, so dass Heterogenität ein grundlegendes Prinzip im schulischen Kontext darstellt (Wischer, 2019).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit eine Klassifikation von Schüler:innen, bspw. durch die Zuerkennung eines bereichsspezifischen, sonderpädagogischen Förderbedarfs, Gruppierungsoptionen bereithält, die – neben dem Risiko potentiell diskriminierender und stigmatisierender Zuschreibungen – auch positive pädagogische Effekte ermöglichen. Kann eine kategoriale Wahrnehmung im Sinne einer Klassifikation dazu beitragen, individuell notwendige Unterstützungsbedarfe so wahrzunehmen und zu beschreiben (Mußmann, 2015), dass inklusive schulische Lerngelegenheiten gewinnbringend gestaltet werden und auf diese Weise zu einem erfolgreichen schulischen Lernen beitragen können?

Die Datenbasis aller drei Beiträge stammt aus dem interdisziplinären Kooperationsprojekt INSIDE „Schulische Inklusion und Übergänge nach der Sekundarstufe I in Deutschland“, das Schüler:innen mit und ohne besondere Unterstützungsbedarfe über mehrere Messzeitpunkte hinweg von der Klassenstufe sechs bis in den Berufsübergang begleitet. Hierbei bearbeiten die Schüler:innen Fragebögen sowie Kompetenztests. Ferner werden jeweils die Schulleitungen, Lehr- und Fachkräfte sowie die Eltern der Schüler:innen befragt. Die breite Datenbasis ermöglicht sowohl längsschnittliche als auch querschnittliche Analysen im Themenfeld von Klassifikation und Kompetenzentwicklung.

Beitrag 1 betrachtet die Entwicklung der Lesekompetenz der Schüler:innen und geht hierbei der Frage nach, ob Lernende, die im Rahmen einer vorschulischen Sprachstandsdiagnostik als förderbedürftig klassifiziert wurden und auch entsprechende vorschulische Sprachförderung erhalten haben, in der 6. Jahrgangsstufe eine unauffällige Entwicklung ihrer Lesekompetenz zeigen. Für das verstehende Lesen und die Lesegeschwindigkeit finden sich für diese Schüler:innen keine Kompetenzunterschiede im Vergleich zu Schüler:innen ohne vorschulische Sprachauffälligkeiten. Ein möglicher Erklärungsansatz für diesen Befund ist, dass die vorschulische Sprachförderung eine kompensatorische Wirkung entfalten konnte.

Beitrag 2 fokussiert ebenfalls auf die Lesekompetenz der Schüler:innen und analysiert die Klassifikationsgenauigkeit diagnostischer Entscheidungen für diesen Bereich. Es wird untersucht, wie hoch der Anteil an Schüler:innen mit einer falsch-positiven Diagnose im Lesen ausfällt und welche Faktoren die Wahrscheinlichkeit für falsch-positive Diagnosen beeinflussen. Personenbezogene Merkmale der Schüler:innen tragen zu falsch-positiven Diagnosen weniger stark bei als Aspekte des schulischen Lernerfolgs in anderen Kompetenzbereichen.

Beitrag 3 untersucht die längsschnittliche Entwicklung der mathematischen sowie der Lesekompetenz in inklusiven Lerngruppen der Jahrgangsstufen 6 und 7 und differenziert hierbei zwischen Schüler:innen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf in den Bereichen Lernen und Sprache im Vergleich zu Lernenden ohne besondere Unterstützungsbedarfe. Die Ergebnisse dokumentieren eine große Leistungsheterogenität und Unterschiede in den domänenspezifischen Entwicklungsprofilen der drei untersuchten Gruppen.

Alle drei Beiträge behandeln somit den Kompetenzerwerb von Schüler:innen mit unterschiedlichen besonderen Unterstützungsbedarfen. Die Frage der Klassifikation wird dabei in unterschiedlicher Weise adressiert. Es wird jeweils hinterfragt, an welchen Stellen und mit welchen Zielen Klassifikationen im Kontext des inklusiven schulischen Lernens sinnvoll sein und wann sie zu Fehlentscheidungen und potenziell negativen Konsequenzen führen können. Insgesamt kann Klassifikation im Kontext inklusiven Lernens sowohl informativ und in diesem Sinne nutzbringend für die gelingende, differenzierende Gestaltung schulischer Lerngelegenheiten sein als auch zu problematischen Entwicklungen beitragen, wenn diagnostische Entscheidungen durch Urteilstendenzen und Beurteilungsfehler beeinflusst werden.

In der Diskussion werden die skizzierten Vor- und Nachteile von Klassifikationsentscheidungen im Kontext inklusiver Bildung auf Kompetenzentwicklungen als Indikator für erfolgreiches schulisches Lernen bezogen, das Spannungsfeld von Diagnosegüte und Verzicht auf Klassifizierung nachgezeichnet und Handlungsoptionen für die inklusive Schule abgewogen.

 

Beiträge des Symposiums

 

Wirkt vorschulische Sprachförderung kompensatorisch? Zur Lesekompetenz von Schüler:innen der 6. Jahrgangsstufe mit vorschulisch attestiertem Sprachförderbedarf

Katrin Böhme1, Robert Reggentin1, Maja Stegenwallner-Schütz2
1Universität Potsdam, 2Humboldt-Universität zu Berlin

Für die Entwicklung sprachlicher Kompetenzen sind insbesondere die ersten Lebensjahre und frühe präventive Maßnahmen von zentraler Bedeutung (vgl. Newport et al., 2001; Paul & Roth, 2011). Daher sind auch eine frühzeitige Feststellung möglicher sprachlicher Entwicklungsprobleme und eine im Bedarfsfall bereits vorschulisch einsetzende Sprachförderung dringend angezeigt. Entsprechend empfehlen die Bundesländer verschiedene Maßnahmen, um die sprachliche Entwicklung der Kinder bereits im Vorschulalter zu beobachten und im Bedarfsfall durch frühe Sprachförderung unterstützen zu können (Neugebauer & Becker-Mrotzek, 2013). Diese Maßnahmen sind jedoch heterogen und die Feststellung eines Förderbedarfs führt nicht zwingend zu qualitativ und quantitativ ausreichender vorschulischer Sprachförderung. Es ist somit fraglich, ob die vorschulische Sprachförderung die festgestellten sprachlichen Entwicklungseinschränkungen reduzieren oder sogar aufheben und somit einen kompensatorischen Effekt entfalten kann (Roßbach & Hasselhorn, 2012).

Daher möchten wir der Frage nachgehen, inwieweit eine vorschulische Sprachstandsfeststellung und die als Konsequenz aus einem festgestellten Bedarf tatsächlich erfolgte Sprachförderung zu einer unauffälligen schriftsprachlichen Entwicklung, operationalisiert über das Leseverstehen und die Lesegeschwindigkeit zu Beginn der Sekundarstufe I, beitragen und in diesem Sinne kompensatorisch wirksam werden kann.

Anhand der Daten der retrospektiven INSIDE-Elternbefragung, die als computergestütztes Telefoninterview (CATI) gestaltet wurde, analysieren wir die lesebezogenen Kompetenzausprägungen von Schüler:innen mit vorschulisch festgestelltem Sprachförderbedarf und daraufhin erfolgter Sprachförderung im Vergleich zur Lesekompetenz der Gesamtstichprobe. Hierfür liegen die Angaben der Eltern von 1.707 Schüler:innen der sechsten Jahrgangsstufe vor, von denen N = 229 (13 %) zum Erhebungszeitpunkt sonderpädagogische Unterstützung erhielten. Für den hier dokumentierten 1. Messzeitpunkt liegen zum Themenkomplex der vorschulischen Sprachförderung Elternangaben für N = 1.626 Schüler:innen ((Alter: M= 12,6; SD= 0,56, Geschlechterverteilung: binär; 45,6% weiblich) vor. Die Lesekompetenzen der Schüler:innen wurden mittels eines standardisierten Kompetenztests zum verstehenden Lesen auf Basis adaptierter NEPS-Aufgaben (Stegenwallner-Schütz, et. al, 2022) sowie einem Test zur Lesegeschwindigkeit (Zimmermann, et. al, 2012) erfasst. Die Kompetenzen wurden mittels IRT-Modellen skaliert und für die Lesegeschwindigkeit wurde ein Summenscore gebildet.

Laut Elternangaben wurde für 40% der 1.626 Schüler:innen vor Schulbeginn in der Kita oder unabhängig von der Kita einmalig eine Sprachstandsfeststellung durchgeführt; 20% gaben an, dass dies mehrmalig erfolgt ist. Für 277 (17%) dieser Kinder wurde als Ergebnis der Sprachstandsfeststellung ein Sprachförderbedarf attestiert. 253 dieser Kinder, also weit über 90%, erhielten nach dieser Feststellung ein Sprachförderangebot und nahmen dieses wahr. Lediglich 24 Kinder in der Stichprobe erhielten nach der Feststellung der Förderbedürftigkeit keine Sprachförderung. Die sechs Jahre später gemessene Lesekompetenz dieser Schüler:innen liegt sowohl für das verstehende Lesen als auch für die Lesegeschwindigkeit exakt auf dem Niveau der INSIDE-Gesamtstichprobe zum selben Messzeitpunkt. Die wenigen Schüler:innen, die vorschulisch zwar einen Sprachförderbedarf hatten, jedoch keine Sprachförderung erhielten, zeigen im Vergleich zu den geförderten Schüler:innen eine etwas geringere Kompetenz im verstehenden Lesen (WLE: -0.5), allerdings keine geringere Kompetenz hinsichtlich der Lesegeschwindigkeit. Der Effekt im verstehenden Lesen ist aufgrund der sehr geringen Stichprobengröße statistisch nicht bedeutsam und kann nicht interpretiert werden.

Der Befund, dass diejenigen Schüler:innen, die vorschulisch einen Sprachförderbedarf hatten und daraufhin Sprachförderung erhielten, sechs Jahre später unauffällige Lesekompetenzen zeigen, kann aufgrund des Studiendesigns nicht eindeutig auf die vorschulische Sprachförderung zurückgeführt werden. Dennoch ist festzuhalten, dass diese Kinder, obwohl sie vorschulisch mit ungünstigeren Voraussetzungen gestartet sind, sechs Jahre später Kompetenzprofile ähnlich der Gesamtstichprobe aufweisen. Eine mögliche Erklärung für diesen Befund ist, dass die vorschulische Sprachförderung im Sinne einer kompensatorischen Förderung wirksam werden konnte. Aufgrund der elternseitig retrospektiven Erhebung des vorschulischen Sprachförderbedarfs können Erinnerungsfehler jedoch nicht ausgeschlossen werden; auch zeigt sich in den Daten eine gewisse Selektivität hinsichtlich der Teilnahmebereitschaft an der Elternbefragung. Ferner ist der Anteil an Schüler:innen mit besonderen Unterstützungsbedarfen in der INSIDE-Studie insgesamt besonders hoch, was bei der Einordnung der mittleren Lesekompetenz der Gesamtstichprobe ebenfalls kritisch berücksichtigt werden muss. Diese und weitere Aspekte sollen in der Diskussion des Beitrags thematisiert werden.

 

Lässt sich aus Statusdiagnosen und Förderentscheidungen auf das Lesekompetenzniveau schließen? Eine Untersuchung zur Klassifikation von falsch-positiven Entscheidungen

Michael Obry1, Maja Stegenwallner-Schütz2
1Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, 2Humboldt-Universität zu Berlin

Theoretischer Hintergrund

Der sonderpädagogische Unterstützungsbedarf dient der Identifikation von Schüler:innen, die ohne gezielte sonderpädagogische Unterstützung die Lernziele ihres Jahrgangs voraussichtlich nicht erreichen würden. Auch ist die Diagnose einer Teilleistungsschwäche im schriftsprachlichen Bereich in der Regel eine Voraussetzung für einen gewährten Nachteilsausgleich. Gleichsam verliert die Statusdiagnostik generell an Bedeutung und wird zunehmend durch prozessorientierte Diagnostik ersetzt, so dass ein besonderer Unterstützungsbedarf als identifiziert gelten kann, sobald Schüler:innen sonderpädagogische oder Leseförderung erhalten (Neumann & Lütje-Klose, 2020). Es ist aufgrund unterschiedlicher Diagnostikverfahren naheliegend, dass es über Schulen und Länder hinweg zu Überschneidungen in den Lesekompetenzverteilung zwischen Schüler:innen mit und ohne ermittelte Unterstützungsbedarfe kommen muss. Diagnostische Entscheidungen unterliegen in der Regel Urteilstendenzen (Hesse & Latzko, 2017) und individuelle Merkmale können zu Halo-Effekten (vgl. Thorndike, 1920) beitragen, so dass die Lesekompetenz möglicherweise unterschätzt wird. Ebenso können Referenzgruppeneffekte auftreten, wenn Lehrkräfte Schüler:innen mit vergleichbaren Lesekompetenzen aufgrund unterschiedlicher Klassenzusammensetzungen verschieden kompetent erleben (Kölm et al., 2020). Kaum untersucht ist bisher, weshalb bei Schüler:innen fälschlicherweise ein Unterstützungsbedarf ermittelt wurde, obwohl diese Schüler:innen eigentlich ausreichende Lesekompetenzen aufweisen. Der Beitrag dient der kritischen Reflexion der gegenwärtigen Diagnostikpraxis und der Interpretierbarkeit der berichteten Kompetenzverteilungen.

Forschungsfragen

In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, wie hoch der Anteil an Schüler:innen mit einer falsch-positiven Diagnose im Bereich Lesen ausfällt. Es soll untersucht werden, welche Faktoren die Wahrscheinlichkeit für falsch-positive Diagnosen beeinflussen.

Geschlecht, sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund, sowie Lesegeschwindigkeit und mathematische Fähigkeiten sollen als individuelle Merkmalsfaktoren berücksichtigt werden. Wir erwarten, dass negativ interpretierte Leistungsmerkmale, wie geringere kognitive Fähigkeiten oder eine geringere Lesegeschwindigkeit, die Wahrscheinlichkeit für eine falsch-positive Diagnose erhöht.

Auf Klassenebene erwarten wir, dass sich Lehrkräfte bei der Beurteilung der Lesefähigkeiten individueller Schüler:innen an der durchschnittlichen Klassenleistung orientieren, d. h. ein Referenzgruppeneffekt besteht (vgl. Farkas, Sheehan & Grobe, 1990). Demnach müsste die Wahrscheinlichkeit eine falsch-positive Diagnose zu erhalten für durchschnittliche Leser:innen in Klassen mit einem starken durchschnittlichen Lesekompetenzniveau erhöht sein.

Methode

Wir verwenden INSIDE-Daten aus der 6. Jahrgangsstufe (N = 4.654, 48,75 % Schülerinnen, Durchschnittsalter 13,68 Jahre). 19,4 % der Schüler:innen haben einen identifizierten Unterstützungsbedarf (SPF in den Bereichen Lernen oder Sprache, attestierte Teilleistungsschwäche im Bereich Schriftsprache oder erhielten sonderpädagogische oder Leseförderung).

Um die Effekte sowohl auf individueller als auch auf Klassenebene zu schätzen, verwenden wir eine Mehrebenenregression. Die Cut-Offs zwischen Schüler:innen mit und ohne Unterstützungsbedarf werden bestimmt, indem wir die Verteilung der Lesekompetenzwerte für das Leseverständnis heranziehen. Üblicherweise werden Werte innerhalb einer Standardabweichung vom Mittelwert einer Referenzgruppe als unauffällig klassifiziert. Wir nutzen dieses Kriterium, um Schüler:innen mit einem identifizierten Unterstützungsbedarf, die in der Lesekompetenz stärker als 1,04 Logits abschneiden, in die Gruppe der Falsch-Positiven einzuordnen. Die Richtig-Negativen stellen die Schüler:innen ohne identifizierten Unterstützungsbedarf dar.

Ergebnisse

Die Spezifität liegt für den nach unserer Definition identifizierten besonderen Unterstützungsbedarf bei 82,37 Prozent. Weder der Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund noch die mittlere Lesekompetenz bei gleichzeitiger Kontrolle des individuellen Leseverständnisses erwiesen sich als Prädiktoren für falsch-positive Klassifikationen. Jedoch stehen individuelle Faktoren wie die mathematischen Fähigkeiten oder die Schnelllesefähigkeit negativ mit der Wahrscheinlichkeit von falsch-positiven Beurteilungen im Zusammenhang. Außerdem scheinen bei Schüler:innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen eher mathematischen Fähigkeiten im Zusammenhang mit falsch-positiv Klassifikationen zu stehen, während bei Schüler:innen mit einer Teilleistungsschwäche dies insbesondere für die Schnelllesefähigkeit gilt.

Diskussion

Bei Rückschlüssen auf Basis von Status- oder Förderdiagnosen auf Lesekompetenzen von Schüler:innen sollte berücksichtigt werden, dass falsch-positive Entscheidungen vorliegen können. Die Ergebnisse der Regressionsanalyse können als Halo-Effekt für die Variablen Lesegeschwindigkeit und mathematische Fähigkeiten interpretiert werden. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis ist das Leseverständnis möglicherweise schwer zu beurteilen, so dass falsch-positive Beurteilungen die Folge sind. Solche systematischen Urteilstendenzen lassen sich kaum vermeiden. Ihnen kann jedoch durch den komplementären Einsatz von objektiven Verfahren begegnet werden.

 

Langsam, aber sicher? Die Kompetenzentwicklung von Schüler:innen mit besonderen Unterstützungsbedarfen in den Bereichen Sprache oder Lernen in der Sekundarstufe

Maja Stegenwallner-Schütz1, Michael Obry2, Karin Gehrer2, Katrin Böhme3
1Humboldt-Universität zu Berlin, 2Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, 3Universität Potsdam

Theoretischer Hintergrund

Die Implementierung inklusiver Bildung in der Schule stellt das gemeinsame Lernen von Schüler:innen mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf in den Mittelpunkt. In der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland nicht nur zu einem inklusiven Bildungssystem verpflichtet, sondern auch zum Erheben statistischer Daten. Allerdings ist bislang wenig darüber bekannt, wie sich die schulischen Kompetenzen von Schüler:innen mit (sonderpädagogischem) Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Lernen oder Sprache im gemeinsamen Unterricht entwickeln.

Longitudinale Erkenntnisse zur Kompetenzentwicklung von Schüler:innen mit besonderem Unterstützungsbedarf sind selten. Die Längsschnittanalyse von Jordon et al. (2002) zeigt, dass je nach Unterstützungsbedarf (ausschließlich Lesen vs. Mathematik und Lesen) Schüler:innen der Primarstufe unterschiedliche Kompetenzniveaus und -zuwächse erzielten. Anders als in der Domäne Lesen verzeichneten Schüler:innen mit dem umfassenden Unterstützungsbedarf in der Domäne Mathematik zwar niedrigere Niveaus, aber dennoch höhere Zuwächse. Schüler:innen im Förderschwerpunkt Lernen weisen gewöhnlich bedeutsame Lernrückstände in den Unterrichtsfächern Deutsch und Mathematik sowie unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten auf (Grünke & Grosche, 2014) und unterscheiden sich dieser Hinsicht von Schüler:innen im Förderschwerpunkt Sprache. Demnach sind spezifische Kompetenzentwicklungen in den Bereichen Lesen und Mathematik je nach Förderschwerpunkt möglich, die teilweise vom kognitiven Fähigkeitsprofil der Schüler:innen abhängen (Stranghöner et al., 2017). Studien, die die Kompetenzentwicklung von Schüler:innen mit besonderen Unterstützungsbedarfen in der Sekundarstufe untersuchen, liegen bislang nicht vor.

Die Schüler:innen mit dem Förderschwerpunkt Sprache oder Lernen umfassen ein breites Spektrum an kognitiven Fähigkeitsprofilen, gleichwohl sind unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten ausschließlich ein Einschlussmerkmal für den Förderschwerpunkt Lernen. Daher sind Klassifikationen, nach denen Schüler:innen mit besonderen Unterstützungsbedarfen gruppiert werden, stets relevant für die Interpretation der Ergebnisse.

Fragestellung

In diesem Beitrag untersuchen wir, erstens, inwiefern querschnittliche Gruppenunterschiede in den Kompetenzwerten in der Jahrgangsstufe 6, also den Ausgangsniveaus der Gruppen mit Unterstützungsbedarfen im Bereich Lernen, im Bereich Sprache sowie ohne Unterstützungsbedarfe bestehen. Zweitens untersuchen wir, inwiefern sich die Kompetenzentwicklungen von der Jahrgangsstufe 6 zur Jahrgangsstufe 7 in den Domänen Lesen und Mathematik zwischen den drei Gruppen unterscheiden.

Methode

Wir präsentieren das Design für die längsschnittliche Kompetenzmessung in den Domänen Lesen und Mathematik in inklusiven und leistungsheterogenen Schulkontexten für die Jahrgangsstufen 6 und 7, das wir für die INSIDE-Studie (Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland) entwickelt haben (vgl. Stegenwallner-Schütz et al., 2022). 1462 Schüler:innen haben in der Jahrgangsstufe 6 und 7 an den Kompetenztests und einem kognitiven Fähigkeitstest teilgenommen sowie einen Fragebogen bearbeitet. Auf Basis von Lehrkräfteangaben zu sonderpädagogischen oder klinischen Diagnosen sowie zu sonderpädagogischer Förderung wurden 97 Schüler:innen der Gruppe „Lernen“, 223 Schüler:innen der Gruppe „Sprache“ und 1142 Schüler:innen der Gruppe ohne Unterstützungsbedarf zugeordnet. Um die Kompetenzentwicklung, bzw. die Kompetenzen in der Jahrgangsstufe 7 zwischen den Gruppen zu vergleichen, wurde ein lineares Regressionsmodell separat für die Domänen Lesen und Mathematik eingesetzt mit der Gruppenzugehörigkeit, Kompetenzwerten zum ersten Messzeitpunkt, sowie Testwerten zu intellektuellen Fähigkeiten und Zuwanderungshintergrund als Prädiktorvariablen.

Ergebnisse

Kompetenzzuwächse zeichnen sich in allen Gruppen zwischen der Jahrgangsstufe 6 und 7 und in den beiden Domänen Lesen und Mathematik ab. Zwischen den Gruppen bestehen Unterschiede in der Stärke der Kompetenzentwicklung. Sowohl die Lese- als auch die mathematische Kompetenzentwicklung fällt bei Schüler:innen mit einem Unterstützungsbedarf im Bereich Lernen geringer aus als die der Schüler:innen mit einem Unterstützungsbedarf im Bereich Sprache (p < 0.01). Somit stützen diese Ergebnisse für die Sekundarstufe die Befunde von Jordon et al. (2002) aus der Primarstufe für die Lesekompetenzentwicklung.

Ein Erklärungsansatz für den Gruppenunterschied liegt in den unterschiedlichen kognitiven Profilen begründet, die charakteristisch für die Zuweisung der diagnostischen Kategorien sind. Alternativ sind auch Einflüsse der unterschiedlicher Lernsettings, z.B. durch zieldifferenten Unterricht für die Schüler:innen mit Förderschwerpunkt Lernen, zu berücksichtigen. Die INSIDE-Studie bietet somit erstmals längsschnittliche Daten zur Kompetenzentwicklung von Schüler:innen in inklusiven Lerngruppen in der Sekundarstufe in Deutschland und spiegelt dabei deren gegenwärtige Leistungsheterogenität wider.



 
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