Theoretischer Hintergrund
Als zentralem Baustein von Scientific Literacy wurde der naturwissenschaftlichen Kommunikation in den Bildungsstandards (z.B. für das Fach Chemie s. KMK, 2005) ein eigenständiger Kompetenzbereich zugewiesen (Norris & Phillips, 2003). Ein in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung wenig bearbeitetes Feld ist die Fähigkeit zum adressatenorientierten Kommunizieren. Mit Blick auf die Bedeutsamkeit adressatengerechter Kommunikation für die Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen (KMK, 2005) erscheint das überschaubare Forschungsinteresse verwunderlich. Becker-Mrotzek et al. (2014) haben Adressatenorientierung als zentralen Teilaspekt von Schreibkompetenz identifiziert. Kulgemeyer und Schecker (2009) illustrieren Adressatenorientierung in ihrem konstruktivistischen Kommunikationsmodell mithilfe von vier Dimensionen:
(1) (sprachlicher) Code, z.B. Verwendung von Fachtermini, passivischer Satzbau
(2) Aspekte des Sachinhalts, z.B. Auslassen redundanter Aspekte
(3) Kontext, z.B. Nutzung von Beispielen aus dem Alltag
(4) Darstellungsform, z.B. Ergänzung von geschriebenem Text durch Grafiken
Fragestellung
Gegenwärtig konzentrieren wir unsere Arbeit auf die Forschungsfrage:
Inwieweit gelingt es Schüler*innen in chemiebezogenen Texten Adressatenorientierung (1) auf sprachlicher und (2) auf sachinhaltlicher Ebene herzustellen?
Methode
Um die Fragestellung zu beantworten, haben wir Schüler*innen eine für den Chemieunterricht der Sekundarstufe I typische Aufgabe gestellt:
Erkläre deiner Freundin, die das Thema Salze im Chemieunterricht noch nicht behandelt hat, wie sich Salz in Wasser löst. Nutze für deine Erklärung das Beispiel: Du willst Nudeln kochen und gibst Salz in das Wasser. Berücksichtige für deine Erklärung das Modell, dass Stoffe aus kleinsten Teilchen bestehen.
Die Lernenden bearbeiten außerdem eine zweite, im Wortlaut identische Aufgabe und richten sich dabei mit der Erklärung an ihre Chemielehrkraft. Da die Aufgabenstellung Darstellungsform (schriftliche Erklärung) und Kontext (Salzen von Nudelwasser) vorgibt, erwarten wir, dass die Lernenden Adressatenorientierung vor allem sprachlich und sachinhaltlich herstellen. Die Kategorienbildung erfolgt deduktiv aus Literatur zu Adressatenorientierung (Becker-Mrotzek et al., 2014; Kulgemeyer & Schecker, 2009) und Fachsprachgebrauch (Jucks et al., 2003; Rincke, 2010). Anhand eines theoriegeleitet entwickelten Kategoriensystems lassen sich die entstehenden Schüler*innentexte qualitativ-inhaltsanalytisch (Mayring, 2022) auswerten. Die Vorkommen der Kategorien auf sprachlicher und sachinhaltlicher Ebene werden ausgezählt und deskriptivstatistisch sowie mittels geeigneter Testverfahren vergleichend analysiert.
Ergebnisse und ihre Bedeutung
260 Texte wurden mithilfe von MAXQDA kodiert. Die Interkoderübereinstimmung liegt mit κn = 0,91 im hervorragenden Bereich (Rädiker & Kuckartz, 2019, S. 303).
Bezüglich der Textlänge (Lehrkraft: 69,11 Wörter; Freundin: 69,75 Wörter) und der Satzanzahl (Lehrkraft: 9,50 Sätze; Freundin: 9,51 Sätze) unterscheiden sich die Texte an beide Adressat*innen nicht. Mit Blick auf den Gebrauch bestimmter Termini lassen sich jedoch statistisch signifikante Unterschiede zwischen beiden Adressatengruppen identifizieren: In den Texten an die Freundin werden häufiger solche Termini verwendet, die den Schüler*innen bereits vor dem Unterricht bekannt sein sollten (geladene Teilchen, Anziehung), während in den Texten an die Lehrkraft vermehrt Termini vorkommen, die im Rahmen des Unterrichts explizit neu eingeführt wurden (Ion, Hydratation). Wenn die Schüler*innen die Erklärung an die Lehrkraft richten, nutzen sie mehr Passivkonstruktionen (in 23% der Sätze vs. 17% der Sätze an die Freundin) und mehr persönliche Ausdrucksweisen (in 8% der Sätze vs. 3% der Sätze an die Lehrkraft), wenn sie ihre*n Freund*in adressieren. Hinsichtlich Auswahl und Anordnung sachinhaltlicher Aspekte des Lösevorgangs fallen die Unterschiede deutlich geringer aus. Der Aspekt „chemische Struktur von Salz und Wasser“ wird in den Texten an die Mitschüler*in öfter thematisiert, vermutlich um bestmöglich an das Vorwissen der Adressatin anzuknüpfen. Außerdem findet sich in den Texten an die Freund*in vermehrt der Aspekt „Bildung einer Hydrathülle“, welcher für das Verständnis des Lösevorgangs von zentraler Bedeutung ist.
Die vorgestellte Untersuchung dient als Bestandsaufnahme der Fähigkeit von Schüler*innen zur Herstellung von Adressatenorientierung in chemiebezogenen Texten. Wenngleich es Lernenden gelingt, hinsichtlich einiger sprachlicher Merkmale von Adressatenorientierung differenziert vorzugehen, bedarf es bei der Auswahl sachinhaltlicher Aspekte zusätzlicher Förderung. Neben der Analyse von Schüler*innentexten kann das Kategoriensystem außerdem für weitere Textprodukte (z.B. Schulbuchtexte) herangezogen werden, um Adressatenorientierung einzuschätzen.