Veranstaltungsprogramm

Sitzung
8-15: Bildungsverläufe in der beruflichen Bildung
Zeit:
Mittwoch, 20.03.2024:
11:10 - 12:50

Ort: S14

Seminarraum, 50 TN

Präsentationen
Paper Session

Berufliche Reorientierung oder räumliche Mobilität bei der Ausbildungssuche? Veränderungen im Bewerberverhalten unversorgter Jugendlicher im regionalen Kontext

Linda Hoffmann1, Alexandra Wicht1,2

1Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn; 2Universität Siegen Department für Erziehungswissenschaft, Siegen

Theoretischer Hintergrund

Nicht allen Jugendlichen gelingt ein unmittelbarer Übergang in die Berufsausbildung, was folgenreich für ihren individuellen Lebensverlauf sein kann (Schoon, 2021). Zugleich bleiben zahlreiche Ausbildungsstellen unbesetzt (BIBB, 2021), wodurch auf gesellschaftlicher und betrieblicher Ebene Ressourcen verloren gehen. Beide Phänomene haben gemein, dass sie regional variieren und teils zeitgleich auftreten, was auf Passungsprobleme hindeutet (Matthes et al., 2014). Unversorgte Jugendliche sind somit oft gezwungen ihre beruflichen Orientierungen an die gegebenen Opportunitäten anzupassen und Kompromisse einzugehen (Schels & Abraham, 2023). Neben beruflichen Reorientierungen kann auch räumliche Mobilität eine Strategie darstellen, um einen erfolgreichen Übergang in Ausbildung zu ermöglichen (Jost et al., 2019). So hat bisherige Forschung gezeigt, dass Ausbildungsanfänger:innen mit längerer Suchdauer und aus ungünstigen Regionen eher mobil für die Ausbildung sind (Hoffmann & Wicht, 2023).

Nach der Circumscription and Compromise Theory (Gottfredson, 1981) entwickeln Jugendliche im Zuge ihrer Sozialisation eine „Zone akzeptabler Berufsalternativen“, die während der Ausbildungsplatzsuche mit den tatsächlichen Opportunitäten abgeglichen und angepasst wird. Im Falle längerer erfolgloser Ausbildungsplatzsuche sollten Bewerber:innen demnach ihre beruflichen Alternativen ausweiten, um ihr Erfolgschancen zu erhöhen. Person-environment Fit Theorien (Edwards et al. 2002; Holland 1997) betonen zudem die Passung zwischen individuellen beruflichen Orientierungen und regionaler Gelegenheitsstrukturen für Berufsentscheidungen. Bei mangelnder Passung in der Heimatregion gibt es zwei theoretische Adaptionsstrategien: Anpassung der beruflichen Orientierung an die regionale Lage oder Ausweitung der Mobilitätsbereitschaft (Windzio, 2008). Inwieweit solche Anpassungsprozesse im Kontext regionaler Gelegenheitsstrukturen stattfinden, ist bislang eine offene Frage. Für Politik und Praxis ist es wichtig, diese Frage zu beantworten, um geeignete Maßnahmen zur Integration von Jugendlichen in die Berufsausbildung zu entwickeln.

Fragestellung

Wir gehen zwei Fragen nach: (1) Verändern unversorgte Jugendliche während der Ausbildungsplatzsuche ihre Zone beruflicher Alternativen und/oder ihre Mobilitätsbereitschaft? (2) Welche Rolle spielen hierbei neben individuellen Ressourcen räumliche Gelegenheitsstrukturen?

Methode

Wir verwenden repräsentative Längsschnittdaten des Nationalen Bildungspanels (NEPS, Startkohorte 4) (Blossfeld & Roßbach, 2019), um das Ausbildungssuchverhalten unversorgter Jugendlicher bis zu drei Jahre zu analysieren. Die Mobilitätsbereitschaft und die Zone beruflicher Alternativen werden anhand jährlicher Informationen zum Bewerberverhalten (Entfernung; Anzahl unterschiedlicher Berufe) erfasst. Um Veränderungen im Bewerberverhalten über die Zeit zu analysieren, verwenden wir Wachstumskurvenmodelle. Neben individuellen Faktoren haben wir in vorläufigen Analysen Unterschiede zwischen Ausbildungssuchenden aus Ost- und Westdeutschland untersucht. Um jedoch die regionalen Gelegenheitsstrukturen genauer zu erfassen, werden wir in weiteren Analysen Indikatoren (u.a. zur Verfügbarkeit des Wunschberufes; Hoffmann & Wicht, 2023) auf der Ebene von Landkreisen und kreisfreien Städte heranziehen, die an die Individualdaten des NEPS herangespielt werden können. Des weiteren werden wir mittels Cross-lagged Panel-Modellen mögliche Wechselwirkungen der Veränderungen der Mobilitätsbereitschaft und der Zone beruflicher Alternativen über die Zeit analysieren.

Ergebnisse

Erste Ergebnisse zeigen, dass über alle Zeitpunkte hinweg eine durchschnittlich höherer Mobilitätsbereitschaft mit einer höheren Anzahl beruflicher Alternativen einhergeht und umgekehrt. Zudem steigt die Bereitschaft zur Mobilität mit der Dauer der erfolglosen Ausbildungsplatzsuche, unabhängig von der Anzahl beruflicher Alternativen. Bezüglich der Zone beruflicher Alternativen zeigt sich jedoch entgegen den Erwartungen eine Verringerung der Anzahl unterschiedlicher Berufe über die Zeit, unabhängig von der Mobilitätsbereitschaft. Es konnten keine Unterschiede in der Anzahl unterschiedlicher Berufe zwischen Bewerber:innen aus Ost- und Westdeutschland festgestellt werden. Bezüglich der Mobilitätsbereitschaft hingegen zeigt sich, dass Jugendliche aus Ostdeutschland zu Beginn der Ausbildungsplatzsuche eine höhere Mobilitätsbereitschaft aufweisen als Jugendliche aus Westdeutschland. Über die Zeit hinweg erhöhen Jugendliche aus Westdeutschland jedoch ihre Mobilitätsbereitschaft, während Jugendliche aus Ostdeutschland eine Verringerung der Mobilitätsbereitschaft nach längerer Suchdauer aufweisen.

Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass bei längerer erfolgloser Ausbildungsplatzsuche Anpassungsprozesse im Bewerberverhalten über die Zeit stattfinden und ungünstige räumliche Gelegenheitsstrukturen entscheidend für die Mobilitätsbereitschaft ausbildungssuchender Jugendlicher sind. Die gegenläufigen Veränderungen in Ost- und Westdeutschland legen eine genauere Betrachtung der Wirkmechanismen regionaler Kontexteffekte nahe, insbesondere vor dem Hintergrund persistierender regionaler Passungsprobleme zwischen Ausbildungsangebot und -nachfrage.



Paper Session

Abbruchintention zu Beginn der beruflichen Ausbildung – eine längsschnittliche Untersuchung von persönlichen, betrieblichen und berufsschulischen Einflussfaktoren

Elisabeth Maué, Stephan Schumann

Universität Konstanz, Deutschland

Nicht nur der Rückgang der beruflichen Ausbildung von Fachkräften und die hohe Zahl an unbesetzten Ausbildungsstellen (BIBB, 2023) führt zu einem „Fachkräftenachwuchsmangel“ (f-bb, 2018), sondern auch der mit 27% hohe Anteil an vorzeitigen Lehrvertragsauflösungen (BIBB, 2023). Diese Dropouts erfolgen vorrangig im ersten Ausbildungsjahr, was mit hohen individuellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten einhergeht (Stalder & Schmid, 2006). Zudem besteht für ca. 1/3 derjenigen, die ihre Ausbildung ohne Abschluss vorzeitig beenden, das Risiko, dauerhaft außerhalb des Bildungs- und Erwerbssystems zu bleiben (Michaelis & Richter, 2022). Für Lehrvertragsauflösungen und Ausbildungsabbrüche gibt es vielfältige Gründe und Motive, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind (Böhn & Deutscher, 2022). Dennoch liegt der Fokus oft auf den Auszubildenden (z.B. mangelnde Passung; Jüttler et al., 2020). Berufsspezifische und organisationale Bedingungen, wie die soziale Integration (Findeisen et al., 2022) oder die Ausbildungsqualität (Negrini et al., 2016), werden dagegen seltener betrachtet (Böhn & Deutscher).

Diesem Desiderat begegnen wir mit einer längsschnittlichen Untersuchung des Einflusses persönlicher, betrieblicher und berufsschulischer Faktoren auf die Abbruchintention von Auszubildenden nach Abschluss der Probezeit. Die Daten entstammen einem interdisziplinären Projekt, in dem deutschlandweit Auszubildende verschiedener Branchen längsschnittlich über den Ausbildungsverlauf app-basiert befragt werden: vor Ausbildungsbeginn im Sommer 2021, wöchentlich in den ersten 12 Wochen nach Ausbildungsbeginn, im Anschluss an die 12 Wochen alle drei Monate. Ergänzend wurden Ausbilder:innen und Mitarbeitende der Personalabteilung befragt. Die Analysen des vorliegenden Beitrags berücksichtigen Daten der Erhebung vor Ausbildungsbeginn (t0) und nach drei Monaten (t13). Die Stichprobe umfasst 266 Auszubildende (Alter: M=21.2 Jahre, SD=4.73; Geschlecht: 53% Männer; Migrationshintergrund: 46% 1. oder 2. Generation) aus 90 Betrieben des kaufmännischen Bereichs (43%), des Handwerks (37%) und des Bereichs Pflege/Medizin/Erziehung (20%). Als abhängige Variable wird die Abbruchintention nach 12 Wochen (t13; Einzelitem) verwendet. Als unabhängige Variablen (je 5-stufige Likertskala) fungieren die erwartete Passung Person-Ausbildung (t0; 3 Items, α=.60), das Vorwissen bezüglich der Ausbildung (t0; 1 Item), der Wunschberuf (t0; 1 Item), die Beziehung zu:m Ausbilder:in (t13; 6 Items, α=.88), die soziale Integration (t13; 4 Items, α=.89), die Diskriminierung (t13; 4 Items, α=.83), die organisationale Identifikation (t13; 4 Items, α=.76), die task mastery im Betrieb (t13; 3 Items, α=.64), die Zielerreichung im Betrieb (t13; 1 Item), die Leistungen in der Berufsschule (t13; 3 Items, α=.83), die physische Gesundheit (t0; 1 Item), die psychische Gesundheit (t0; 1 Item) sowie die Zufriedenheit mit der Ausbildung (t0; 1 Item).

Drei Monate nach Beginn der Ausbildung haben 42% bereits ernsthaft überlegt, die Ausbildung abzubrechen (n=264; M=1.62, SD=0.65). Regressionsanalytisch (R2=.41) zeigt sich hinsichtlich der Vorhersage der Abbruchintention unter Kontrolle von Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund der Einfluss der Arbeitszufriedenheit (β=-.49; p<.001), der wahrgenommenen Diskriminierung (β=.15; p<.01) und der Identifikation mit dem Betrieb (β=-.13; p<.01). Das Vorwissen bezüglich der Ausbildung (β=-.10; p<.10) sowie mit kontraintuitivem Vorzeichen die erwartete Passung zwischen Person und Ausbildung (β=.13; p<.10) lassen sich nur gegen das 10%-Niveau absichern. Weitere persönliche Faktoren (Ausbildung im Wunschberuf, physische und psychische Gesundheit) betriebliche Faktoren (soziale Integration, Beziehung zu Ausbilder:in, task mastery, Zielerreichung) sowie die Leistungen in der Berufsschule weisen keine signifikanten Einflüsse auf. Weitergehende Befunde unter Einbezug einer zweiten Kohorte von Auszubildenden werden auf der Tagung vorgestellt.

Bereits kurz nach Beginn der Ausbildung sind somit betriebliche und tendenziell persönliche Faktoren für die Ausbildungsabbruchintention bedeutsam. Als besonders einflussreich erweist sich die Zufriedenheit mit der Ausbildung (auch Etzel & Nygy, 2021). Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Frage der Passung zwischen Person und Ausbildung/Ausbildungsbetrieb (z.B. Findeisen et al., 2022; Nägele & Neuenschwander, 2014, 2015) besteht Handlungsbedarf, etwa durch eine adäquate Berufsorientierung im Vorfeld der Ausbildung, um über relevantes Vorwissen zur Ausbildung zu verfügen (Stalder & Schmid, 2006) und die „richtige“ Wahl treffen zu können, sowie hinsichtlich betrieblicher Unterstützung (z.B. onboarding) und Schutz vor Diskriminierung.



Paper Session

Berufliche Kompetenzen: Wie entwickeln sie sich in der Ausbildung und welchen Effekt haben der Schulabschluss, kognitive Voraussetzungen und der soziale Hintergrund?

Jennifer Schauer1, Stephan Abele1, Julian M. Etzel2

1Technische Universität Dresden, Deutschland; 2Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN), Kiel

Der Erwerb beruflicher Kompetenzen steht im Zentrum der Berufsausbildung: Auszubildende sollen dort sowohl berufsspezifische(s) Fachwissen als auch Problemlösekompetenz erwerben, um ihre spätere berufliche Tätigkeit kompetent ausüben zu können. Um die Leistungsfähigkeit der Berufsausbildung feststellen, Handlungsbedarfe eruieren sowie die Berufsbildungspraxis entsprechend gestalten zu können, braucht es differenzierte Befunde zur Entwicklung dieser Dimensionen beruflicher Kompetenzen im Ausbildungsverlauf. Inwiefern sie sich in der Berufsausbildung entwickeln, welche Unterschiede zwischen Auszubildenden zu beobachten und Prädiktoren bedeutsam sind, ist mangels längsschnittlicher Analysen und angesichts diskrepanter Befunde bisher allerdings weitgehend unklar (z.B. Abele, 2014; Atik & Nickolaus, 2016; Nickolaus et al., 2010).

In unserem Beitrag untersuchen wir dies am Beispiel angehender Kfz-Mechatroniker:innen. Unsere Analysen basieren auf Daten der ManKobE-Studie (Retelsdorf et al., 2013). Das Fachwissen (n=473) und die Problemlösekompetenz der Auszubildenden – operationalisiert als Diagnosefähigkeit (n=198) – wurden am Ende des 2. und 3. Ausbildungsjahres (AJ) erhoben. In Latent Change Score Analysen untersuchten wir die mittlere intraindividuelle Entwicklung (μ) sowie interindividuelle Entwicklungsunterschiede (σ²). Als potenzielle Prädiktoren berücksichtigten wir (a) den Schulabschluss der Auszubildenden, (b) ihre kognitiven Voraussetzungen gemessen an fluider Intelligenz und Physikkompetenzen sowie (c) den sozialen Hintergrund, genauer den sozioökonomischen Berufsstatus der Eltern und Migrationshintergrund der Auszubildenden. Alle Prädiktoren wurden am Ausbildungsbeginn und mittels etablierter Instrumente erfasst.

Unsere Analysen zeigten einen mittleren Zuwachs im Fachwissen (μ= .41, p≤ .001). Gleichzeitig fanden wir, dass sich Auszubildende signifikant in der Fachwissensentwicklung unterschieden (σ² = .89, p≤ .001). Der Wissenszuwachs erwies sich dabei umso ausgeprägter, je höher das Vorwissensniveau am Ende des 2. AJ war (β2.AJ= .33, p≤ .001). Im Fachwissen leistungsstärkere Auszubildende zeigten also höhere Wissenszuwächse – die Leistungsunterschiede in der Kohorte nahmen zu, d.h. die Leistungsschere ging auf. Für die Diagnosefähigkeit stellten wir dagegen im Mittel keine Entwicklung fest (μ= .13, p>.05). Aber auch hier fanden wir Unterschiede zwischen Auszubildenden (σ² = .77, p≤ .001). Das Ausgangsniveau am Ende des 2. AJ war ebenfalls prädiktiv, allerdings in entgegengesetzter Richtung: In der Diagnosefähigkeit leistungsstärkere Auszubildende zeigten eine geringere Entwicklung im 3. AJ (β2.AJ = -.48, p≤ .001), Leistungsunterschiede in der Kohorte verringerten sich.

Von den untersuchten Prädiktoren erwiesen sich die kognitiven Voraussetzungen als bedeutsam: Fluide Intelligenz (βfluid1= .19, p<.01) und Physikkompetenzen (βphy1 = .36, p≤.001) beeinflussten das Fachwissensniveau am Ende des 2. AJ positiv. Zusätzlich zeigte sich die fluide Intelligenz prädiktiv für die Entwicklung im 3. AJ (βphy = .27, p<.01). Bei der Diagnosefähigkeit wirkten die Physikkompetenzen zwar ebenfalls prädiktiv auf das Niveau am Ende des 2. AJ (βphy1= .27, p<.05), darüber hinaus aber nicht auf die weitere Entwicklung. Der Schulabschluss und soziale Hintergrund erwiesen sich unter Berücksichtigung der kognitiven Voraussetzungen weder für die Entwicklung des Fachwissens noch der Diagnosefähigkeit als bedeutsam.

Unsere Ergebnisse weisen auf differenzielle Entwicklungen der Kompetenzdimensionen und Leistungsunterschiede in der Berufsausbildung hin: Progression und Scherenentwicklungen im Fachwissen, Stagnation und Homogenisierung in der Diagnosefähigkeit. Die Studie legt in Übereinstimmung mit bisherigen Befunden nahe, dass die kognitiven Voraussetzungen der Jugendlichen auch im späteren Ausbildungsverlauf noch (indirekt) bedeutsam sind (z.B. Abele, 2014). Implikationen u.a. zur Gestaltung der Berufsbildungspraxis und Limitationen der Studie werden diskutiert.



Paper Session

Regionalentwicklung durch die strukturelle Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung – ein Einblick in das Modellprojekt AbiturPLUS

Christina Sotiriadou, Bernd Zinn

Universität Stuttgart, Deutschland

Vom Fachkräftemangel sind insbesondere der ländliche Raum sowie natur- und technikwissenschaftliche Berufsgruppen betroffen (Kräußlich/Schwanz 2017). Bildungspolitik, Wirtschaft und Wissenschaft stehen in der Verantwortung, regionale Ressourcen und Potenziale aktiv zu nutzen und regionale Förderangebote für eine kontinuierliche Berufs- und Studienorientierung zu gestalten. Außerschulische kooperative Bildungsangebote, welche berufliche und arbeitsweltbezogene Praxiserfahrungen ermöglichen, haben sich dabei als besonders effektiv erwiesen (z. B. Driesel-Lange et al. 2011). Das Modellprojekt AbiturPLUS stellt in diesem Kontext ein regionales berufsbildendes Förderprogramm an einem allgemeinen Gymnasium dar, das neben dem Abitur den parallelen Erwerb eines vollwertigen beruflichen Abschlusses zum/zur Zerspanungsmechaniker*in ermöglicht.

Die vorliegende Untersuchung fokussiert das Forschungsdesiderat eines Beschreibungswissens, inwiefern derartige regionale Bildungsangebote wirksame Fördermaßnahmen zur beruflichen Orientierung gymnasialer Schüler*innen darstellen. Konkret interessieren die nachfolgenden Forschungsfragen:

FF1 Welches akademische Selbstkonzept und welche bereichsspezifischen sowie beruflichen Interessen charakterisieren die teilnehmenden Schüler*innen des regionalen Förderkonzepts?

FF2 Welche Unterschiede lassen sich im Vergleich zu nicht teilnehmenden Schüler*innen in Bezug auf die o. a. Merkmale identifizieren?

Den theoretischen Hintergrund bilden zentrale Determinanten der Berufsorientierung und der Berufswahl (Brüggemann et al. 2017), einschließlich des modernen Interessenskonstrukts (Krapp 1992), den beruflichen Interessensorientierungen gemäß des RIASEC-Modells (Holland 1997) und des akademischen Selbstkonzepts unter Bezugnahme auf das Erwartung x Wert-Modell (Eccles 2005).

Die Stichprobe umfasst insgesamt N = 79 (w = 37, m = 42) Schüler*innen eines allgemeinbildenden Gymnasiums in Baden-Württemberg, wovon n = 37 Projektteilnehmer*innen (AbiturPLUS) darstellten und n = 42 Schüler*innen die Vergleichsgruppe ohne Teilnahme bildeten. Das Untersuchungsdesign beinhaltet zwei Studien. Für die Fragebogenstudie wurden teilnehmende sowie nicht teilnehmende Schüler*innen zu ihren bereichsspezifischen und beruflichen Interessen, ihrem akademischen Selbstkonzept sowie den beruflichen Plänen befragt. Die zweite Studie ist eine leitfadengestützte halbstrukturierte Interviewstudie mit teilnehmenden Schüler*innen sowie Absolvent*innen, in welcher die subjektive Bewertung des Modellprojekts sowie wahrgenommene projektbedingte Veränderungen, insbesondere im Kontext schulischer Interessen, der Freizeit und beruflicher Aspirationen thematisiert wurden. Um Gruppenunterschiede zu identifizieren, wurde der Welch-Test oder der Mann-Whitney-U-Test herangezogen. Die Analyse der Interviews erfolgte mithilfe der strukturierten qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) mit der Software MAXQDA 12 (N = 277 Codes).

Die Befunde der Untersuchungen liefern erste Hinweise, dass sich das vorgestellte regionale Bildungsprojekt als berufsorientierende Maßnahme mit regionaler Bindungswirkung eignet. Im Vergleich zu nicht-teilnehmenden Schüler*innen erwerben die Projektteilnehmer*innen berufliche Kompetenzen. Aber auch das akademische Selbstkonzept, das Interesse für MINT-Fächer sowie für praktisch-handwerkliche Tätigkeitsfelder werden gestärkt und eine Berufswahlentscheidung im MINT-Bereich positiv beeinflusst. Die qualitativen Interviewdaten untermauern die Schlussfolgerung, dass die Arbeit im regionalen Ausbildungsunternehmen und die damit verbundenen praktischen Erfahrungen die Interessens- und Selbstkonzeptentwicklung der Projektteilnehmer*innen maßgeblich prägt. Besonders die kontinuierliche Auseinandersetzung mit berufsschulischen Themen, die Verknüpfung zwischen Gymnasium, Berufsschule und Betrieb sowie der praktische Anwendungsbezug scheinen eine vielversprechende Grundlage zu schaffen, um das fachspezifische Interesse zu fördern und die wahrgenommenen Fähigkeiten in den Fächern Mathematik und Physik zu steigern. Die Daten legen außerdem die Notwendigkeit einer demografiesensiblen Bildungspolitik nahe und untermauern deren Erfolgsaussichten. Geschlechtsspezifische Analysen zeigen, dass alle aufgeführten Gruppenunterschiede bei Schülern bestehen, während nahezu alle gruppenspezifischen Unterschiede bei alleiniger Betrachtung von Schülerinnen keine statistische Signifikanz aufweisen: Teilnehmende Schüler berichten ein höheres Fähigkeitsselbstkonzept in Mathematik und Physik, stärkere Interessen für MINT-Schulfächer sowie für praktisch-technische und intellektuell-forschende Tätigkeitsbereiche. Außerdem streben sie häufiger ein Studium oder einen Beruf im MINT-Bereich an. Teilnehmende Schülerinnen berichten lediglich von geringeren sprachlich-literarisch-künstlerischen Interessen und einer höheren praktisch-technischen Interessensorientierung im Vergleich zu nicht-teilnehmenden Schülerinnen.

Im Vortrag erfolgt die Einordnung der Ergebnisse ausgehend vom theoretischen Hintergrund und vom Forschungsstand sowie die Ableitung von Implikationen für die Anlage ähnlicher Förderprogramme in Bezug auf deren Administration und schulische Umsetzung.