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Sitzungsübersicht
Sitzung
7-10: Erstakademiker:innen an der Hochschule – Zusammenhänge zwischen Herkunft und Studienerfolg
Zeit:
Mittwoch, 20.03.2024:
9:00 - 10:40

Ort: S26

Seminarraum, 70 TN

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Präsentationen
Symposium

Erstakademiker:innen an der Hochschule – Zusammenhänge zwischen Herkunft und Studienerfolg

Chair(s): Johannes Vollmer (Albert–Ludwigs–Universität Freiburg, Deutschland), Annabell Daniel (Ludwig-Maximilians-Universität), Matthias Nückles (Albert–Ludwigs–Universität Freiburg, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Rainer Watermann (Freie Universität Berlin)

Sowohl beim Hochschulzugang als auch beim Studienerfolg und Studienabbruch lassen sich ausgeprägte soziale Disparitäten zum Nachteil von Studierenden nicht-akademischer Herkunft, deren Eltern selbst nicht studiert haben, beobachten (Bachsleitner et al., 2022; Klein & Müller, 2020). Während die Ursachen für den sozial selektiven Zugang vielfach untersucht wurden (Quast et al., 2023), sind die Mechanismen sozialer Disparitäten beim Studienerfolg sowie dem Studienabbruch weitgehend ungeklärt. Es gibt zwar Untersuchungen, die auf Unterschiede in den Studienleistungen zwischen Studierenden unterschiedlicher sozialer Herkunft hinweisen (Schlücker & Schindler, 2019), jedoch können diese allein die bestehenden Ungleichheiten im Studienerfolg und Studienabbruch nicht vollständig erklären (Klein & Müller, 2020). Neben den Studienleistungen als einem Indikator für die akademische Integration dürfte nach Tinto (1975) zudem die soziale Integration positiv den Studienverlauf und somit den Studienerfolg bzw. negativ den Studienabbruch beeinflussen. Internationale Untersuchungen haben gezeigt, dass Studierende nicht-akademischer Herkunft oftmals eine geringere soziale Eingebundenheit berichten (Ostrove & Long, 2007, Rubin, 2012) und eine geringere kulturelle Passung zum Hochschulmilieu wahrnehmen (Stephens et al., 2019). Das Gefühl, nicht dazu zugehören, wirkt sich wiederum negativ auf die motivationale und leistungsbezogene Entwicklung aus (Walton & Cohen, 2007, Stephens et al., 2012). In Deutschland mangelt es bislang an systematischen Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen der Bildungsherkunft und der sozialen Integration sowie zu den daraus resultierenden Unterschieden in der Studienmotivation und den Studienleistungen.

Das Ziel des Symposiums ist es daher, aus einer interdisziplinären Perspektive aufzuzeigen, inwiefern die akademische und soziale Integration von der Bildungsherkunft der Studierenden abhängt und welchen Einfluss diese auf verschiedene motivationale Dimensionen des Studienerfolgs sowie den Studienverlauf ausübt. Die einzelnen Beiträge greifen dazu auf unterschiedliche Datengrundlagen und Methoden zurück.

Aus einer soziologischen Perspektive analysiert Daniel Klein im ersten Beitrag, wie die akademische und soziale Integration abhängig von der Herkunft der Studierenden das Studienabbruchrisiko beeinflusst. Auf Basis des Nationalen Bildungspanels und des Deutschen Studierendensurveys zeigt er, dass sich die Leistungsorientierung kaum zwischen Studierenden akademischer und nicht-akademischer Herkunft unterscheidet. Allerdings fällt es Erstakademiker:innen im Vergleich schwerer, ein Freundschaftsnetzwerk aufzubauen und sich sozial zu integrieren, wodurch sich wiederum das Risiko eines Studienabbruchs für diese Gruppe erhöht.

Im zweiten Beitrag prüfen Stefan Janke und seine Kolleginnen aus einer psychologischen Perspektive herkunftsspezifische Unterschiede im Zugehörigkeitserleben sowie längsschnittliche Zusammenhänge mit der Studienzufriedenheit und dem Studienabbruch. Im Ergebnis zeigt sich ein vermindertes Zugehörigkeitserleben bei Erstakademiker:innen, das – anders als bei Studierenden mit Migrationshintergrund – zwar nicht mit einem sozialen Ausschluss einhergeht, aber dennoch negative Folgen für die Studienzufriedenheit hat und den Abbruch wahrscheinlicher werden lässt.

Johannes Vollmer und Matthias Nückles gehen aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive im dritten Beitrag der Frage nach, inwiefern ein höheres Fremdheitserleben die motivationale Regulation, die Lern- und Leistungsmotivation sowie die Wahl der Lernstrategien von Erstakademiker:innen im Lehramtsstudium beeinflusst. Die Ergebnisse ihrer Fragebogenstudie zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen dem Fremdheitserleben und einer Vermeidungsleistungszielorientierung und identifizieren Unterschiede bezüglich der introjizierten Regulation in Relation zur Bildungsherkunft. Ergänzend dazu führten sie halbstandardisierte Interviews und konnten zeigen, dass Erstakademiker:innen seltener Elaborationsstrategien anwenden als ihre Mitstudierenden akademischer Herkunft.

Im vierten Beitrag untersuchen Christina Bauer und ihre Kolleginnen aus psychologischer Perspektive das Talent-Selbstkonzept von Studierenden in Abhängigkeit ihrer Bildungsherkunft. In verschiedenen korrelativen und (quasi-)experimentellen Studien können sie zeigen, dass sich Erstakademiker:innen auch unter Kontrolle der Leistungen als weniger talentiert einschätzen und damit einhergehend ein geringes akademisches Engagement beweisen. Der Beitrag hebt darüber hinaus die Bedeutung des Kontextes hervor, indem die Autorinnen zeigen können, dass die Benachteiligungen für Erstakademiker:innen umso geringer ausfallen, je stärker das Umfeld Anstrengung statt Talent betont.

Insgesamt stellen die Beiträge wichtige Erkenntnisse darüber bereit, wie sich soziale Disparitäten im Studienerfolg und im Studienverlauf erklären lassen. Sie liefern zudem empirische Hinweise darauf, wo mögliche Maßnahmen zum Abbau von Bildungsbarrieren ansetzen können.

 

Beiträge des Symposiums

 

Soziale Herkunft und Studienabbruch: Eine Frage der sozialen Integration?

Daniel Klein
Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung

Das Studienabbruchrisiko hängt von der sozialen Herkunft ab; das ist seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt (z. B. Heublein et al., 2003; Kath et al., 1966; Klein & Müller, 2020). Studien zu den Ursachen dieses Zusammenhangs sind aber auch heute noch erstaunlich rar (Bachsleiter et al., 2022). Insbesondere das Erklärungspotenzial des international etablierten „Student Integration Model“ (Tinto, 1975, 1987) wurde diesbezüglich bisher kaum überprüft (Dahm et al., 2016). Vor diesem Hintergrund gehe ich in meinem Beitrag der Frage nach, inwiefern sich soziale Ungleichheit beim Studienabbruch durch die soziale und akademische Integration der Studierenden erklären lässt. Aus theoretischer Perspektive zeichne ich zunächst die zentralen Dimensionen der sozialen und akademischen Integration nach und zeige deren Abhängigkeit von der sozialen Herkunft auf. Dabei gehe ich knapp auf unterschiedliche Modellvarianten (Tinto, 1975, 1987) ein und diskutiere auch Wechselwirkungen zwischen der sozialen und akademischen Integration. Als Datengrundlage der empirischen Überprüfung des Modells verwende ich das Nationale Bildungspanel (NEPS) und den Deutschen („Konstanzer“) Studierendensurvey. Die Analysen basieren auf Regressionsmodellen und der nicht-linearen Dekompositionsmethode von Karlson et al. (2012). Die Ergebnisse bestätigen, dass Studierende aus Nichtakademiker-Familien Schwierigkeiten haben, Kontakte zu Kommiliton:innen zuknüpfen. Weiterhin deutet sich an, dass eine misslungene soziale Integration in Form fehlender Kontakte zu Kommiliton:innen den positiven Einfluss bestimmter Formen der akademischen Integration reduziert und so das Studienabbruchrisiko weiter erhöht. Es zeigt sich aber auch, dass Kontakte zu Dozierenden und die akademische Integration in Form von Leistungserwartungen und Leistungsorientierung kaum von der sozialen Herkunft abhängen. Insgesamt lässt sich deshalb nur ein geringer Anteil der sozialen Ungleichheit beim Studienabbruch auf mangelnde Integration zurückführen.

 

Vermindertes Zugehörigkeitsgefühl an der Universität für Erstakademiker:innen und Studierende ethnischer Minoritäten: Gleiches Erleben, unterschiedliche Gründe?

Stefan Janke1, Laura Messerer1, Belinda Merkle1, Selma Rudert2
1Universität Mannheim, 2Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau

Studierende deren Eltern nicht selbst studiert haben (sog. Erstakademiker:innen), sowie Studierende die nicht der Majoritätsethnie angehören, schildern in der Studieneingangsphase verstärkt Unsicherheit in Bezug auf die eigene Zugehörigkeit an der Universität (u.a. Janke et al., 2017; Johnson et al., 2007). Bisherige Erklärungsmodelle sehen diese Zugehörigkeitsunsicherheit insbesondere als Folge fehlerhafter Attributionen sozialer Hinweisreize und resultierenden selbsterfüllende Prophezeiungen (siehe Walton & Cohen, 2011). Dieser vorwiegend in internalen Prozessen verankerte Mechanismus wird dabei sowohl für Erstakademiker:innen als auch für Studierende aus ethnischen Minoritäten angenommen, obwohl sich beide Gruppen mutmaßlich in der Visibilität des Merkmals unterscheiden, welches sie von der Majorität an ihrer Universität abhebt. Während der familiäre Bildungshintergrund wenig visibel ist, kann die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minorität durchaus für andere Studierende visibel sein. In Einklang mit dem Prinzip der Homophilie ist dabei zu erwarten, dass Studierende sich eher Kommiliton:innen annähern, welche ihnen auch (sichtbar) ähnlich sind (Jaffé et al., 2019). Während also für Erstakademiker:innen eher davon ausgegangen werden kann, dass Zugehörigkeitsunsicherheit eine Folge internaler Prozesse ist, könnte für Studierende aus Minoritäten mit assoziierten visiblen Merkmalen tatsächlicher sozialer Ausschluss einen wesentlichen Wirkfaktor darstellen. Diese differentiellen Annahmen wurden von uns in einer Stichprobe von 973 Universitätsstudierenden aus zwei konsekutiven Jahrgängen untersucht (ausschließlich reguläre Studierende, keine Gaststudierende), welche zu Beginn ihres ersten und ihres zweiten Semesters im Rahmen einer Längsschnittstudie befragt wurden. Zur Datenakquise wurde jeweils der vollständige Jahrgang über zentrale Verteiler einer mittelgroßen deutschen Universität angeschrieben und um Teilnahme gebeten. Hypothesen wurden mittels latenter Strukturgleichungsmodellierung geprüft. Im Ergebnis können wir aufzeigen, dass sowohl Erstakademiker:innen als auch Studierende mit Migrationshintergrund mit Bezug zum Nahen Osten, Afrika, Südostasien oder Lateinamerika ein vermindertes Zugehörigkeitserleben schildern. Allerdings ist dieser Zusammenhang nur für die letztere Gruppe, die sich durch potenziell sichtbare Ethnizität oder kulturellen Hintergrund auszeichnen, vermittelt durch ein erhöhtes Erleben sozialen Ausschlusses. Weitergehend interessant ist, dass Studierende mit Migrationshintergrund mit Bezug zu dem ehemaligen Ostblock und Europa im Vergleich zur Majorität wiederum weder ein beeinträchtigtes Zugehörigkeitserleben noch vermehrte Ausschlusserfahrungen schilderten. Unabhängig davon, ob ein vermindertes Zugehörigkeitserleben direkt oder vermittelt mit dem Minoritätsstatus zusammenhing, zeigten sich langfristige negative Zusammenhänge mit Studienzufriedenheit, Abbruchintention und faktischem Studienabbruch zu Beginn des zweiten Studiensemesters. Die Befunde legen nahe, dass sich Minoritätsgruppen an der Universität nicht nur in ihrem Zugehörigkeitsgefühl unterscheiden, sondern auch darin, ob dieses Zugehörigkeitsgefühl in Zusammenhang mit dem Erleben sozialen Ausschlusses steht. Auch wenn weitere Forschung zur Ergründung der Ursachen des erlebten sozialen Ausschlusses notwendig ist, zeigt die Studie schon jetzt die Notwendigkeit einer kritischen Diskussion von Erklärungsansätzen auf, welche die Ursache von Zugehörigkeitsunsicherheit primär bei dem betroffenen Individuum verorten. Während für Erstakademiker:innen individuumszentrierte psychologische Interventionen möglicherweise das Mittel der Wahl zur Verminderung von Zugehörigkeitsunsicherheit sind, sollten insbesondere in Bezug auf Studierende aus gesellschaftlich stark stereotypisierten Minoritäten verstärkt systemische Ursachen wie beispielhaft sozialer Ausschluss auf Grund von Gruppenzugehörigkeit adressiert werden.

 

Erstakademiker:innen – Fremdheitserleben, akademische Leistung und Studienerfolg

Johannes Vollmer, Matthias Nückles
Albert–Ludwigs–Universität Freiburg

Studienerfolg hängt nach dem Student Interaction Model (Tinto, 1975) in erheblichem Maße von einer gelungenen sozialen und akademischen Integration der Studierenden ab. Wenn Studierende in die kommunikativen Strukturen der Hochschule integriert sind (soziale Integration) und sich mit den vorherrschenden Normen und Werten an der Hochschule identifizieren (akademische Integration), entsteht ein stärkeres Verpflichtungsgefühl, was die Wahrscheinlichkeit für einen gelingenden Studienverlauf sowie erfolgreichen Studienabschluss erhöht.

Bei sozialer sowie akademischer Integration zeigen sich allerdings soziale Disparitäten zuungunsten von Erstakademiker:innen (EA) (Hicks & Wood, 2016). Es kann angenommen werden, dass für EA die soziale und akademische Integration im Vergleich zu Akademikerkindern (AK) deutlich schwieriger ist. So können sich EA an Hochschulen fremd fühlen, da sie bestimmte kulturelle Codes nicht beherrschen und es kann ihnen aufgrund einer hochschulferneren Sozialisation schwerfallen, sich mit den vorherrschenden Werten und Normen zu identifizieren (Bourdieu & Passeron, 1971). Diese Schwierigkeiten könnten wiederum Gründe für die schlechteren akademischen Leistungen (Jaksztat, 2014) und die höhere Studienabbruchquote von EA sein (Heublein et al., 2017).

Fragestellung

In dem vorliegenden Beitrag untersuchen wir, welche Faktoren Fremdheitserleben und soziale Integration beeinflussen und wie dieses Erleben mit der motivationalen Regulation der Studierenden zusammenhängt? Uns interessieren zudem mögliche Unterschiede in der Lern- und Leistungsmotivation zwischen EA und AK. Ferner möchten wir herausfinden, ob EA und AK unterschiedliche Lernstrategien nutzen und was die Wahl spezifischer Lernstrategien bedingt.

Methode

In zwei Studien haben wir Erstsemesterstudierende im Lehramtsstudium untersucht. Studie I war als Fragebogenstudie angelegt. Mit einem Subsample derselben Population wurden halbstandardisierte Interviews durchgeführt (Studie II). Die Fragebogenerhebung konzentriert sich auf Bereiche wie Kulturkapital, soziale Integration, Fremdheitserleben, wahrgenommene Unterstützung, motivationale Regulation, Lern- und Leistungsmotivation sowie Lernstrategien.

Die halbstandardisierten Interviews beinhalteten einen Metawissenstest, der das Strategiewissen erfasste. Zusätzlich wurde, um eine handlungsnahe Erfassung der angewendeten Lernstrategien zu erreichen, anhand vierer Prüfungsszenarien ermittelt, wie sich die Studierenden auf diese vorbereiten würden.

N = 304 (MAlter = 20.03, SD = 1.73, n = 192weiblich) nahmen an Studie-I teil. Davon waren n = 110 (36,2 %) EA. Die Stichprobe der Studie-II umfasst N = 51 (MAlter = 20.59, SD = 1.96, n = 35weiblich), n = 18 (35,3 %) waren EA.

Ergebnisse

In Studie I stellten wir fest, dass im Besonderen der Bildungsstand des Vaters einen signifikanten Einfluss auf das Fremdheitserleben der Studierenden hat. Ferner wurde deutlich, dass EA im Gegensatz zu AK ein signifikant höheres Fremdheitserleben aufweisen und weniger sozial integriert sind. Das Fremdheitserleben und die soziale Integration hängt mit der motivationalen Regulation der Studierenden zusammen, wobei Unterschiede zwischen EA und AK hauptsächlich in der introjizierten Regulation bestehen. Auch zeigten sich positive Zusammenhänge zwischen Fremdheitserleben und Vermeidungsleistungsziel-Orientierung sowie zwischen sozialer Integration und Lernziel-Orientierung. Hinsichtlich der Lernstrategien waren nur bei der Anwendung von Wiederholungsstrategien und Ressourcenstrategien tendenzielle Unterschiede zwischen AK und EA erkennbar.

In Studie II waren bezüglich des Strategiewissens keine Unterschiede zwischen EA und AK festzustellen. Bei den generativen Antworten zeigte sich jedoch, dass AK signifikant häufiger Elaborationsstrategien anwenden als EA.

Zusammenfassend legen unsere Ergebnisse nahe, dass Fremdheitserleben und soziale Integration im Studium wichtige Faktoren sind, die Studienverlauf und Studienerfolg beeinflussen können. Wir konnten Zusammenhänge zwischen dem Fremdheitserleben bzw. der sozialen Integration, der motivationalen Regulation, der Zielorientierung und den Lernstrategien finden. Darüber hinaus deuten die Daten darauf hin, dass sich EA und AK hinsichtlich ihres Strategiewissens nicht unterscheiden, jedoch zeigen EA bei der situativen Anwendung der Lernstrategien ein Produktionsdefizit.

 

Wer darf sich selbst als talentiert betrachten? Sozialisierte Unterschiede in Talent-Selbstkonzepten benachteiligen Erstakademiker:innen in talentorientierten Feldern

Christina Bauer1, Veronika Job1, Bettina Hannover2
1Universität Wien, 2Freie Universität Berlin

In westlichen Bildungskontexten gilt angeborenes intellektuelles Talent gemeinhin als wichtiger und erstrebenswerter Erfolgsfaktor. Eine Umfrage unter 1.820 westlichen Forscher:innen in verschiedenen Fachgebieten ergab beispielsweise eine breite allgemeine Zustimmung zu Aussagen wie "Wenn man in [meinem Fachgebiet] erfolgreich sein will, reicht harte Arbeit allein nicht aus; man muss eine angeborene Begabung oder ein Talent haben" (Leslie et al., 2015). Außerdem deutet Forschung darauf hin, dass Menschen talentierte "Naturtalente" gegenüber fleißigen "Strebern" selbst dann bevorzugen, wenn Letztere für eine Stelle besser qualifiziert sind (Tsay, 2016).

In solchen talentorientierten Umgebungen - d.h., Umgebungen, die Talent eine hohe Bedeutung zumessen – spielt das Ausmaß, in dem sich Studierende selbst für talentiert halten, eine wichtige Rolle. Studierende, die sich für relativ weniger talentiert halten, mögen sich zum Beispiel unsicher fühlen und sich weniger trauen, sich an der Universität einzubringen. Dabei erlauben die unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen, die Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen machen, es nicht jeder Person, sich in gleichem Maße für talentiert zu halten (Eccles & Wigfield, 2020).

Fragestellung

In der vorliegenden Studie untersuchen wir Unterschiede im Talentselbstkonzept von Studierenden in Abhängigkeit von ihrer Bildungsherkunft. Wir vermuten, dass Erstakademiker:innen sich selbst als relativ weniger talentiert sehen als ihre Altersgenossen, selbst wenn man frühere Leistungsunterschiede berücksichtigt. Wir nehmen an, dass diese Verzerrung spezifisch für das Talentselbstkonzept ist und sich nicht für anstrengungsbezogene Komponenten des Selbstkonzepts wie das Fleiß-Selbstkonzept zeigt. Darüber hinaus vermuten wir, dass die Verzerrung des Talentselbstkonzepts zu Nachteilen hinsichtlich des akademischen Erlebens und Engagements unter Erstakademiker:innen in talentorientierten Umgebungen beiträgt. Schließlich untersuchen wir, ob die Kultivierung von anstrengungs- statt talentorientierten Umgebungen die negativen Folgen von verzerrten Talentselbstkonzepten abfedern kann.

Methode

Wir untersuchen unsere Hypothesen in fünf Studien mit insgesamt 3.584 Studierenden in westlichen Ländern. Dabei nutzen wir unterschiedliche Methoden. Um die Auswirkung von Bildungshintergrund auf Talent-Selbstkonzepte zu untersuchen, vergleichen wir die Selbstkonzepte von Erstakademiker:innen und Nicht-Erstakademiker:innen in einem quasi-experimentellen Design unter Kontrolle bisheriger Leistungen (Quasi-Experimente 1a-b; N = 694; 316). Zum Nachweis von Konsequenzen dieser Talent-Selbstkonzept-Verzerrungen kombinieren wir eine korrelative Feldstudie, die indirekte „Bildungshintergrund -> Talent-Selbst-Konzept -> Outcome“-Pfade testet (Feldstudie 2a; N = 1.881) mit einer experimentellen Studie, die das Talent-Selbstkonzept experimentell manipuliert und kausale Folgen untersucht (Experiment 2b; N = 372). Damit folgen wir dem „Causal Chain Approach“, der uns erlaubt, Kausalität in unserem Mediationsmodell nachzuweisen (Spencer et al., 2005). Schlussendlich manipulieren wir unseren angenommenen Moderator – den Anstrengungs- vs. Talent-Fokus in der akademischen Umgebung – in einem Experiment (Experiment 3; N = 331), um zu untersuchen, ob so Disparitäten, die durch verzerrte Talent-Konzepte entstehen, vermindert werden können.

Ergebnisse

Quasi-Experimente 1a und b zeigen, dass sich Erstakademiker:innen als relativ weniger talentiert, aber nicht weniger fleißig einschätzen. Diese Unterschiede zeigen sich auch unter Kontrolle bisheriger Leistungsunterschiede. Feld- und experimentelle Studien 2a-b zeigen weiterhin, dass Verzerrungen im Talent-Selbstkonzept zu Benachteiligungen von Erstakademiker:innen beitragen: Die geringeren Talent-Selbstkonzepte von Erstakademiker:innen sagen Benachteiligungen in ihrem akademischen Erleben und Engagement vorher (korrelative Feldstudie 2a) und eine experimentelle Verminderung von Talent-Selbstkonzepten (Experiment 2b) führt zu solchen Benachteiligungen. Experiment 3 demonstriert schlussendlich, dass Benachteiligungen, die aus verzerrten Talentselbstkonzepten stammen, am stärksten in talentorientierten Umfeldern ausgeprägt sind. Wenn jedoch das Umfeld Anstrengung statt Talent betont, werden die mit dem Talentselbstkonzept verbundenen Nachteile gemildert.

Insgesamt scheinen die Erfahrungen, die Erstakademiker:innen in derzeitigen westlichen Umfeldern machen, sie dazu zu bringen, sich selbst als relativ weniger talentiert zu sehen. Dies trägt zu sozialen Disparitäten bei. Die Kultivierung von anstrengungs- statt talent-orientierten Umfeldern kann diesen Disparitäten entgegenwirken und Gleichstellung fördern.