Symposium
Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Mathematik: Über welche professionellen Kompetenzen bzw. über welches professionelle Wissen verfügen (angehende) Regel- und Förderlehrkräfte?
Chair(s): Elisabeth Moser Opitz (Universität Zürich, Schweiz)
Discussant(s): Elmar Souvignier (Universität Münster)
Zur Thematik der professionellen Kompetenz von Lehrkräften und deren Erfassung wurden im letzten Jahrzehnt zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Bisher kaum untersucht wurde die professionelle Kompetenz von Lehrkräften (und Studierenden) bezogen auf den Umgang mit Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Mathematik (Lietz, 2021; Author et al., 2017; Schmid & Schabmann, 2016). Im Kontext der Umsetzung von inklusivem Unterricht kommt dieser Thematik hinsichtlich von Diagnose und Förderung besondere Bedeutung zu. Mit Blick auf eine adäquaten Unterstützung der Schüler:innen im Unterricht ist es zentral Kenntnisse darüber zu erlagen, ob und wie sich Regel- und Förderlehrkräfte in ihrer professionellen Kompetenz bezüglich Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Mathematik unterscheiden.
In Anlehnung an Shulman (1986) wird im Fachdiskurs zur professionellen Kompetenz zwischen fachlichem und fachdidaktischem Wissen unterschieden. Hinsichtlich der Thematik des Umgangs mit Lernschwierigkeiten scheint diese Unterscheidung schwierig zu sein (Phelps & Schilling, 2004; Lietz, 2021). Zudem stellt sich bei der Erfassung der professionellen Kompetenz immer die Frage nach der Unterscheidung von Wissen und Können. Wenn eine Lehrkraft beispielsweise weiß, dass die Kenntnis des dezimalen Stellenwertsystems eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb der Grundoperationen ist, heißt das noch nicht, dass sie passende Fördermöglichkeiten kennt bzw. umsetzen kann. Wir unterscheiden deshalb in Anlehnung an Blömeke (2011) und Bremerich-Vos et al. (2011) bei der Erfassung von professioneller Kompetenz verschiedene kognitive Anforderungen: (1) Anforderungen im Sinn von Erinnern und Abrufen (eher deklaratives Wissen) und (2) Anforderungen im Sinn von Verstehen/Analysieren/Anwendung durch anwendungsbezogene Items. Je nach Schwerpunkt verwenden wir in den Beiträgen des professionellen Wissens oder der professionellen Kompetenz.
Ein wichtiger Aspekt professioneller Kompetenz zum Thema Lernschwierigkeiten, der gemäß Artelt (2009) domänenspezifisch zu konzeptualisieren ist, ist die diagnostische Kompetenz. Hier zeigen sich mehrere Forschungslücken: Es fehlen geeignete Instrumente, insbesondere wenn es darum geht, die professionelle Kompetenz von Regel- und Förderlehrkräften mit demselben Instrument messinvariant zu erfassen (Lietz, 2021). Als Folge dieses Mangels fehlen Erkenntnisse zur Frage, was Lehrkräfte über Diagnose und Förderung bei Lernschwierigkeiten wissen. Schließlich fehlen Erkenntnisse zur Frage, ob und wie sich professionelle Kompetenz zum Umgang mit Lernschwierigkeiten auf den Leistungszuwachs der Schüler:innen auswirkt.
Im Symposium werden vier Studien präsentiert, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der professionellen Kompetenz bzw. dem professionellen Wissen von Regel- und Förderehrkräften sowie von Lehramtsstudierenden zum Thema Lernschwierigkeiten befassen.
Im ersten Beitrag liegt der Schwerpunkt auf einem ausgewählten Aspekt der diagnostischen Kompetenz: der Urteilsgenauigkeit. Es wird untersucht, wie akkurat Regellehrkräfte die Lesekompetenz von Lernenden mit und ohne besonderen Förderbedarf einschätzen können.
Beitrag 2 untersucht, ob sich die diagnostische Kompetenz von Lehramtsstudierenden durch eine Lehrveranstaltung verbessern lässt und welche individuellen Merkmale die Entwicklung bedingen.
In Beitrag 3 wird eine Untersuchung präsentiert, in der Interviews mit Regel- und Förderlehrkräften zum Thema „Förderung bei Leseschwierigkeiten“ mit einem hochinferenten Ratingverfahren analysiert wurden, um zu überprüfen, ob sich zwischen den beiden Personengruppen Unterschiede zeigen.
In der Studie in Beitrag 4 wird untersucht, ob sich das professionelle Wissen von Regel- und Förderlehrkräften zum Umgang mit mathematischen Lernschwierigkeiten unterscheidet und ob und wie sich dies auf den Leistungszuwachs der Schüler:innen auswirkt.
Im Symposium werden die Beiträge zum einen hinsichtlich der eingesetzten Instrumente, zum anderen hinsichtlich des Wissens bzw. der Kompetenz der unterschiedlichen Gruppen von Lehrkräften bzw. Lehramtsstudierenden diskutiert.
Presentations of the Symposium
Die Urteilsgenauigkeit von Lehrkräften in der inklusiven Grundschule bezüglich des Leseverständnisses ihrer Schüler:innen
Sophia Hertel1, Karolina Urton2, Jürgen Wilbert3, Johanna Krull1, Janis Bosch2, Thomas Hennemann1
1Universität Köln, 2Universität Münster, 3Universität Potsdam
Theoretischer Hintergrund
Leseverständnis ist eine Schlüsselfähigkeit, die vorwiegend während der Grundschulzeit erworben werden sollte (Mendoza-Pinargote & Reyes-Meza, 2022). Allerdings nimmt die Zahl der Schüler:innen mit adäquaten Lesefähigkeiten ab, sodass ein Viertel der Viertklässler:innen über eine geringe Lesekompetenz verfügt (McElvany et al., 2023). Für den Aufbau des Leseverständnisses der Schüler:innen kommt den Lehrkräften eine zentrale Bedeutung zu (Hudson, 2022). Dazu gehört u.a. deren diagnostische Kompetenz, da diese als wichtige Voraussetzung für die Unterrichtsgestaltung und individuelle Förderung angesehen wird (Hasselhorn et al., 2019). Die Meta-Analyse von Südkamp und Kolleg:innen (2012) zeigte, dass Lehrkräfte die schulischen Leistungen von Schüler:innen durchschnittlich recht genau einschätzten, wenngleich eine hohe Variabilität der Beurteilungsleistung zwischen den Lehrkräften bestand (Gabriel et al., 2016). Von Interesse ist, inwiefern Lehrkräfte für die jeweilige Kompetenz relevante bzw. irrelevante Merkmale (Brunswik, 1956; Loibl et al., 2020) der Schüler:innen im Rahmen des Urteilsprozesses einbeziehen. Mit Blick auf die Merkmale der Schüler:innen wird deutlich, dass diese die Beurteilungsgenauigkeit der Lehrkräfte bei der Einschätzung des Leseverständnisses bedingten (Südkamp et al., 2012; Urhahne & Wijnia, 2021). Sowohl Begeny et al. (2011) als auch Paleczek et al. (2017) stellten fest, dass Lehrkräfte die Leseleistung von Leser:innen mit geringen und durchschnittlichen Leistungen schlechter beurteilen konnten. Weiterhin gibt es Belege dafür, dass Lehrkräfte Schüler:innenmerkmale, die für das zu bewertende Merkmal irrelevant sind, in ihre Bewertung einbeziehen (Südkamp et al., 2018). Dazu gehören u.a. Verhaltensauffälligkeiten (Schmidt & Schabmann, 2009), ein SPF (Author et al., 2020) sowie das Geschlecht der Schüler:innen (Klapp, 2015).
Fragestellungen
Basierend auf den oben genannten Forschungsbefunden werden die folgenden Fragestellungen untersucht:
(1) Inwiefern sind Lehrkräfte in der Lage in inklusiven Klassen die Lesekompetenz einer heterogenen Schüler:innenschaft auf Wort-, Satz- und Textebene korrekt einzuschätzen?
(2) Inwiefern wird die Einschätzung der Lesekompetenz durch die Merkmale Klassenstufe, SPF und Geschlecht der Schüler:innen bedingt?
Methode
In der Studie wurde das Leseverständnis von Schüler:innen der 2. bis 4. Jahrgangsstufe ohne (n = 1565) und mit SPF Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache (n = 381) auf Wort-, Satz- und Textebene anhand der ELFE 1-6 (Lenhard & Schneider, 2006) erfasst. Die Lehrkräfte (n = 102) schätzten anhand eines Kompetenzratings, welches den Bereichen der ELFE entspricht, die Fähigkeiten der Schüler:innen ihrer Klasse ein.
Die Daten wurden mittels einer Mehrebenenanalyse modelliert. Dabei wurden die jeweilige Testleistung der Schüler:innen (Perzentile auf Wort-, Satz- und Textebene) durch das korrespondierende Rating der Lehrkräfte prädiziert. Die Effekte des Förderbedarfs (getrennt nach SPF Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache), der Klassenstufe und des Geschlechts wurden über Interaktionseffekte mit dem Rating beschrieben.
Ergebnisse
Hinsichtlich der ersten Fragestellung zeigte sich, dass die Lehrkrafturteile im unteren Leistungsbereich weniger differenzieren als im mittleren und oberen Leistungsbereich. Dabei ist die Differenzierung im Bereich des Wortverstehens deutlich geringer als für das Satz- und Textverstehen. Für die zweite Fragestellung deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das Lehrkrafturteil ungenauer für Schüler:innen mit SPF im Bereich des Lernens sowie in niedrigeren Klassenstufen ist. Die Beurteilung der Leistung erfolgte unabhängig vom Geschlecht der Schüler:innen.
Betrachtet man diese Ergebnisse in Zusammenhang mit der Annahme, dass Schüler:innen mit einem SPF Lernen, ebenso wie Schüler:innen niedrigerer Klassenstufen, eine geringere Leseverständniskompetenz aufweisen, so untermauern die Ergebnisse die Annahme, dass Lehrkräfte das Leseverständnis von Schüler:innen mit geringen Kompetenzen in diesem Bereich nur ungenau einschätzen können. Zudem zeigte sich, dass eine Erhöhung der Komplexität des zu bewertenden Merkmals (Leseverständnis auf Wort-, Satz- und Textebene) sowie eine höhere Klassenstufe zu einer differenzierteren Bewertung durch die Lehrkräfte führen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Lehrkräfte eine größere Anzahl von Merkmalen, mit Bedeutung für das Leseverständnis, berücksichtigen können.
Entwicklung der diagnostischen Kompetenz von Lehramtsstudierenden bezüglich Leseschwierigkeiten
Jennifer Igler, Anke Hußmann, Janin Brandenburg
Technische Universität Dortmund
Theoretischer Hintergrund
Lesekompetenz bezeichnet die Fähigkeit, schriftsprachliche Formen zu verstehen und nutzen zu können. Damit ist sie eine zentrale Voraussetzung für den Lernerfolg; im Fach Deutsch sowie auch in anderen Unterrichtsfächern (Leisen, 2007; Rosebrock & Nix, 2012). Nach den Ergebnissen der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung sind jedoch ein Viertel der Viertklässler: innen in Deutschland als schwach lesend einzustufen (McElvany et al., 2023).
Um Lernende bestmöglich fördern und den Unterricht an deren Bedürfnisse anpassen zu können, müssen Lehrkräfte sowohl Wissen im Bereich der Förderung als auch in der Diagnostik aufweisen (Bäuerlein, 2014). Studien verweisen auf Probleme von Lehrkräften, die Lesekompetenz ihrer Lernenden einschätzen zu können (Karing, Matthäi & Artelt, 2011; Lorenz & Artelt, 2009); insbesondere bei Lernenden mit schwachen Leseleistungen (Bates & Nettelbeck, 2001; Feinberg & Shapiro, 2009). Um angehende Lehrkräfte früh auf die Schulpraxis vorzubereiten, sollten bereits während des Studiums die diagnostische Kompetenz gefördert (Grotegut & Klingsieck, 2022) und individuelle Determinanten für den Kompetenzerwerb in den Blick genommen werden. Dies erscheint insbesondere deshalb bedeutsam, da nach dem Modell von Blömeke et al. (2015) Lehrkräfte u.a. auf Basis von individuellen diagnostischen Dispositionen (z.B. Überzeugung, Erfahrung, Selbstkonzept und Motivation) in verschiedenen pädagogischen Handlungssituationen pädagogische Diagnostik durchführen (auch Leuders et al. 2018). Trotz ihrer Relevanz für die universitäre Lehrkräfteausbildung liegen über die Entwicklung der diagnostischen Kompetenz während des Studiums und ihrer Determinanten bislang noch wenig bzw. inkonsistente Befunde vor (Buholzer & Zulliger, 2013; Heeg, Bittorf & Schanze, 2021).
Fragestellungen
F1 Entwickelt sich die diagnostische Kompetenz von Studierenden bezüglich Leseschwierigkeiten positiv durch den Besuch eines Seminars im Bereich Diagnostik und Förderung von Lesekompetenzen?
H1 Durch den Besuch eines Seminars im Bereich Diagnostik und Förderung von Lesekompetenzen kommt es bei Lehramtsstudierenden zu einem bedeutsamen Anstieg ihrer fachspezifischen diagnostischen Kompetenz.
F2 Welche individuellen Merkmale bedingen eine positive Entwicklung der diagnostischen Kompetenz von Lehramtsstudierenden bezüglich Leseschwierigkeiten?
H2 Die individuellen Merkmale Überzeugung, Erfahrung, Selbstkonzept und Motivation bedingen die Entwicklung der diagnostischen Kompetenz von Lehramtsstudierenden bezüglich Leseschwierigkeiten.
Methode
Für die Beantwortung der Fragestellungen wurden bzw. werden Studierende des Lehramtsstudiengangs für Sonderpädagogische Förderung der TU Dortmund zu zwei Messzeitpunkten (Anfang und Endes des Semesters) in zwei Erhebungswellen (Sommersemester 2023 und Wintersemester 2023/2024) zu ihrem professionellem Wissen als Facette der diagnostischen Kompetenz anhand einer gekürzten Version des Wissenstests von Lietz (2021) mit 24 Items (Cronbachs αMZP1 = .61; Cronbachs αMZP2 = .57) befragt. Bisher nahmen N = 36 Masterstudierende an der Umfrage im Längsschnitt teil (75.0% weiblich; MAlter = 26.14, SD = 5.71). Für die Erfassung der individuellen Merkmale wurden die Frage nach der Erfahrung durch das Praxissemester und die Skalen Überzeugungen zur Nützlichkeit Lesediagnostik, Selbstkonzept und Motivation bezüglich Diagnostik im Leseunterricht eingesetzt (alle Cronbachs α ≥ .84). Im Rahmen eines Seminars befassten sich die Studierenden mit der Thematik der Diagnostik und Förderung von Lesekompetenzen.
Ergebnisse
Erste Ergebnisse eines t-Tests für abhängige Stichproben zeigten einen signifikanten Anstieg der diagnostischen Kompetenz der Studierenden (MMZP1 = 0.68, SDMZP1 = 0.18; MMZP2 = 0.81, SDMZP2= 0.17; t(34) =-5.37 , p < .01 , d =-0.74). Studierende erreichten nach dem Besuch des Seminars einen höheren Wert in ihrer Diagnosekompetenz als am Anfang des Semesters. Mittels Regressionsanalysen konnte festgestellt werden, dass die Motivation (β = .41, SE = 0.04, p < .05) und das Selbstkonzept (β = -.39, SE = 0.04, p < .05) prädiktiv für die Entwicklung der diagnostischen Kompetenz waren, jedoch nicht die Überzeugungen und die Erfahrung.
Die Ergebnisse leisten einen Beitrag für das noch nicht hinreichend untersuchte Feld der diagnostischen Kompetenz bezüglich Leseschwierigkeiten. Mit Blick auf die Lehrkraftausbildung können die erwarteten Ergebnisse die Bedeutsamkeit der Förderung von individuellen Merkmalen wie z.B. Motivation für eine optimale Aus- und Weitertbildung im Bereich der diagnostischen Kompetenz betonen.
Professionelle Kompetenz von Regellehrkräften und Förderlehrkräften zur Leseförderung
Meret Stöckli1, Susanne Schnepel2, Maria Wehren-Müller3, Simon Luger3, Elisabeth Moser Opitz3
1HfH Zürich, 2Universität Münster, 3Universität Zürich
Theoretischer Hintergrund
Professionelles Wissen wird im Bereich Lesen und Schriftspracherwerb häufig mittels Fragebögen erfasst (z.B. Van den Hurk et al., 2017; König et al., 2022; Jordan & Bratsch-Hines, 2020). Hier liegen beispielsweise Erkenntnisse zum linguistisches Grundlagenwissen und zum Wissen zu basalen Komponenten des Leseerwerbs vor (Moats, 2009). Erst vereinzelt untersucht worden ist das professionelle Wissen von Lehrkräften zur Leseförderung bzw. zur Förderung von Schüler:innen mit Leseschwierigkeiten (Jakobson et al., 2022; Lietz, 2021). Im Kontext von inklusivem Unterricht stellt sich zudem die Frage, ob sich Regel- und Förderlehrkräfte hinsichtlich ihres professionellen Wissens unterscheiden und ob dieses bei Lehrkräften mit unterschiedlicher Ausbildung (Grundschulpädagogik, Förderpädagogik) mit demselben Instrument messinvariant erfasst werden kann. Lietz (2021) hat das professionelle Wissen von Studierenden der Regel- und der Förderpädagogik mit einem Fragebogen erfasst. Für die Studierenden der Förderpädagogik konnte ein reliables Instrument entwickelt werden, für die Studierenden der Regelpädagogik ist dies nicht gelungen. Ein alternativer Zugang stellt die Durchführung und Analyse von leitfadengestützten Interviews (für das Leseverständnis Jakobson et al., 2022) dar. Dieses Vorgehen bietet den Vorteil, dass durch anwendungsbezogene Fragen ein stärkerer Praxisbezug im Sinn von Anwenden, Verstehen und Analysieren hergestellt werden kann als mit einem Fragebogen, und der Fokus somit stärker auf der professionellen Kompetenz liegt.
Fragestellung
Mittels einem hochinferenten Rating von leitfadengestützten Interviews wird folgende Frage untersucht:
Über welche professionelle Kompetenz zur Leseförderung verfügen Regel- und Förderlehrkräfte?
Methodisches Vorgehen
Im Anschluss an zwei Unterrichtsbesuche wurden zu zwei Messzeitpunkten je ein leitfadengestütztes Interview zum Thema Leseförderung mit Regel- und Förderlehrkräften geführt (306 Interviews). Diese unterrichteten im Team auf der 2. bis 4. Klassenstufe (N = 153; Regellehrkräfte: n = 91; Förderlehrkräfte: n = 62) in inklusiven Klassen. Die Lehrkräfte wurden u.a. zu Förderzielen und Fördermaßnahmen eines leseschwachen Kindes aus der Klasse sowie zu wichtigen Aspekten ihrer Leseförderungspraxis befragt. Die Auswahl der leseschwachen Kinder erfolgte aufgrund der Leistungen in einem Leseverständnistest (ELFE 1-6; Lenhard & Schneider, 2006)
Die Interviews wurden mit einem hochinferenten Ratingverfahren hinsichtlich der professionellen Kompetenz zur Leseförderung von drei Raterinnen theoriebasiert mit vier Indikatoren ausgewertet: (A) Weiß die Lehrkraft, dass die Leseflüssigkeit eine wichtige Voraussetzung für das Leseverständnis ist (z.B. Chard et al., 2012) und berücksichtigt sie dies für die Umsetzung der Leseförderung? (B) Wendet die Lehrkraft Maßnahmen zur Leseförderung an, die zu den Lernvoraussetzungen der Klasse bzw. einzelnen Lernenden passen und kann sie diese Maßnahmen unter Verwendung von Fachbegriffen begründen? (C) Berücksichtigt die Lehrkraft unterschiedliche Schwierigkeitsgrade von Texten für unterschiedliche Lernniveaus (z.B. Artelt, 2009)? (D) Weiß die Lehrkraft, dass bei der Förderung der Leseflüssigkeit je nach Lernstand gezielt auf der Wort-, Satz- oder Textebene gefördert werden soll (Lenhard et al., 2020)?
25% aller Interviews (n = 40) wurden über die gesamte Auswertungszeit verteilt von allen Raterinnen eingeschätzt und der Generalisierbarkeitskoeffizient wurde berechnet. Die Interraterreliabilität (G-Koeffizient) betrug .76 bis .94 und kann als gut bis sehr gut bezeichnet werden (Seidel et al., 2003).
Nebst deskriptiven Analysen wurde mittels T-Tests untersucht, ob sich signifikante Unterschiede in der professionellen Kompetenz der Regel- und der Förderlehrkräfte zeigen.
Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigen, dass die im Rating erfasste professionelle Kompetenz zur Leseförderung der Förderlehrkräfte (M = 2.47, SE = 0.13) im Vergleich zu den Regellehrkräften (M = 2.16, SE = 0.09) signifikant höher ausfiel (t (151) = -2.00, p = .047), jedoch mit einer kleinen Effektstärke (Cohens d = 0.33).
Im Symposium wird das Instrument vorgestellt und der methodische Zugang wird diskutiert.
Professionelles Wissen von Regel- und Förderlehrkräften zur Förderung bei mathematischen Lernschwierigkeiten
Maria Wehren-Müller1, Susanne Schnepel2, Simon Luger1, Meret Stöckli3, Elisabeth Moser Opitz1
1Universität Zürich, 2Universität Münster, 3HfH Zürich
Theoretischer Hintergrund
Ein wichtiges Ziel von inklusivem Unterricht ist u.a. die fachliche Förderung der Lernenden. Untersuchungen zum professionellen Wissen von Regellehrkräften zeigten, dass das professionelle mathematikbezogene Wissen der Lehrkräfte bedeutsam ist für den Leistungszuwachs der Lernenden (z.B. Baumert et al., 2010; Hill et al., 2005). Bislang liegen nur wenig Erkenntnisse zum professionellen Wissen von (ausgebildeten) Förderlehrkräften vor. Nach Jandl und Moser Opitz (2017) verfügten ausgebildete Förderlehrkräfte über ein höheres professionelles Wissen bezüglich der mathematischen Förderung von Kindern mit einer intellektuellen Beeinträchtigung als Lehrkräfte ohne entsprechende Ausbildung. Feng und Sass (2013) zeigten auf, dass Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten, die von ausgebildeten Förderlehrkräften unterrichtet wurden, bessere Leistungen in Mathematik erzielten als Lernende, die den Unterricht bei nicht sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrkräften besuchten. Im Unterschied zur bisherigen Forschung fokussiert die vorliegende Studie das professionelle Wissen von Regel- und Förderlehrkräften, die im inklusiven Unterricht zusammenarbeiten und gemeinsam die Förderung von Schüler:innen mit mathematischen Lernschwierigkeiten verantworten.
Fragestellungen
1. Wie unterscheiden sich Regel- und Förderlehrkräfte, die gemeinsam in inklusiven Klassen unterrichten, in ihrem professionellen Wissen zur Förderung bei mathematischen Lernschwierigkeiten?
2. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem professionellen Wissen und der sonderpädagogischen Ausbildung der Lehrkräfte?
3. Wirkt sich das professionelle Wissen auf den mathematischen Leistungszuwachs aller Schüler:innen aus?
Methode
Stichprobe
Durchgeführt wurde eine Längsschnittstudie mit N = 156 Lehrkräften (n = 81 Regellehrkräfte, n = 61 Förderlehrkräfte mit sonderpädagogischer Ausbildung, 14 ohne sonderpädagogische Ausbildung) aus 81 inklusiven Klassen (N = 1390 Schüler:innen; n = 716 Jungen, n = 674 Mädchen) im 2. bis 4. Schuljahr.
Instrumente Lehrkräfte
Interview: Mittels eines Ratings von strukturierten Einzelinterviews mit Regel- und Förderlehrkräften wurde das professionelle Wissen der Lehrkräfte hinsichtlich der folgenden Aspekte ermittelt: Behandlung zentraler Inhalte (z.B. Bedeutung dezimales Stellenwertsystem), Verwendung geeigneter Arbeitsmittel und Veranschaulichungen; Kenntnis des Lernstands bzw. der Lernentwicklung ausgewählter Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten (3 Items, McDonalds Omega = .67, Interraterreliabilität G-Koeffizient = .71 bis .81).
Fragebogen: Mittels einer Online-Befragung wurde das professionelle Wissen der Regel- und Förderlehrkräfte zu Merkmalen und geeigneten Fördermaßnahmen bei mathematischen Lernschwierigkeiten erfasst (22 Items, WLE-Reliabilität = .71, Codierübereinstimmung Cohens Kappa = .74 bis .94 von 8 offenen Items).
Instrumente Schüler:innen
Mathematiktests: Es wurde ein von der Forschungsgruppe entwickelter Tests zur Ermittlung der grundlegenden arithmetischen Fähigkeiten der Schüler:innen eingesetzt (Anfang Klasse 2: 28 Items, Cronbachs Alpha = .90; Ende Klasse 2/Anfang Klasse 3: 30 Items, Cronbachs Alpha = .90, Ende Klasse 3/Anfang Klasse 4: 41 Items, Cronbachs Alpha = .92; Ende Klasse 4: 58 Items, Cronbachs Alpha = .92).
Kontrollvariablen: Es erfolgte eine Erhebung des Geschlechts sowie der allgemeinen Denkfähigkeit entsprechend dem Alter (CFT 1-R, Weiß & Osterland, 2013, 150 Items, Cronbachs Alpha = .96; CFT 20-R, Weiß, 2006, 56 Items, Cronbachs Alpha = .82).
Analysen
Es wurden Mittelwertvergleiche und (Mehrebenen-) Strukturgleichungsmodelle bezogen auf die Gesamtstichprobe berechnet.
Ergebnisse
Frage 1: Die Analysen zeigen einen signifikanten Unterschied zwischen Regel- (n = 81) und Förderlehrkräften (n = 75) hinsichtlich des professionellen Wissens zur Förderung bei mathematischen Lernschwierigkeiten zugunsten der Förderlehrkräfte (Interview-Rating: d = 0.88, p < .01; Fragebogen: d = 0.34, p < .05).
Frage 2: Zwischen der Art der Ausbildung (n = 95 Regellehrkräfte und Förderlehrkräfte ohne sonderpädagogische Ausbildung, n = 61 Förderlehrkräfte mit sonderpädagogischer Ausbildung) und dem professionellen Wissen besteht ein (tendenziell) positiver Zusammenhang (Interview-Rating β = .41, p < .001, Fragebogen β = .16, p = .06). Ausgebildete Förderlehrkräfte verfügen demnach über ein höheres professionelles Wissen als Förderlehrkräfte ohne sonderpädagogische Ausbildung und Regellehrkräfte.
Frage 3: Das professionelle Wissen (Fragebogendaten) von Regel- (β = .14, p < .05) und Förderlehrkräften (β = .25, p < .05) hat einen positiven Einfluss auf den Leistungszuwachs der Schüler:innen der Gesamtstichprobe.
Im Symposium werden die Ergebnisse hinsichtlich der eingesetzten Instrumente diskutiert.