Paper Session
Wer wählt eigentlich Grundschulen – und nach welchen Kriterien? Soziale Ungleichheiten bei der Wahl der Grundschule
Lars Hoffmann1, Nicky Zunker2,3, Tanja Mayer2, Judith Schwarz2, Thomas Koinzer2
1Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der HU Berlin, Deutschland; 2Humboldt-Universität zu Berlin; 3DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation
Im Diskurs um die Genese herkunftsspezifischer Bildungsungleichheiten wird die Rolle von Bildungsentscheidungen als zentrales Erklärungsmoment immer wieder hervorgehoben. So sind für die unterschiedlichsten Übergangsschwellen, allem voran dem Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule, herkunftsspezifische Unterschiede im Entscheidungsverhalten intensiv beforscht und in unzähligen Studien empirisch belegt worden (zusammenfassend vgl. Dumont et al., 2014). Aus theoretischer Perspektive werden die beobachteten Ungleichheiten zumeist als Resultat rationaler Wahlentscheidungen interpretiert, teilweise aber auch auf gezielte Distinktionsprozesse oder strategische Investitionen in die Bildungskarrieren der Kinder als Ausdruck habituell geprägten Wahlverhaltens zurückgeführt (Maaz, Zunker & Neumann, 2018; Mayer & Koinzer, 2019). Diese Mechanismen können gleichermaßen auf die Wahl der Grundschule bezogen und damit entscheidungsbedingte soziale Ungleichheiten beim Übergang in die Grundschule postuliert werden. Auch wenn die Wahlmöglichkeiten aufgrund weitverbreiteter Einzugsgebietsreglungen bei der Grundschulwahl formell eingeschränkt sind, so gibt es in fast allen Bundesländern Sonderregelungen, die ein Ablehnen der Einzugsgebietsschule und die aktive Wahl einer Alternative zulassen (Mayer & Koinzer, 2019). Inwiefern Eltern von dieser Option Gebrauch machen, auch im Grundschulbereich aktiv Schulwahl betreiben und diesbezüglich herkunftsbezogene Disparitäten bestehen, ist für den deutschsprachigen Raum bisher nur regionalspezifisch oder mit Blick auf Schulen in freier Trägerschaft untersucht worden. Die wenigen bestehenden Studien deuten auf ein nach sozialer Herkunft verzerrtes Grundschulwahlverhalten hin (Altrichter et al., 2011; Schuchart et al., 2012; Schwarz et al., 2017), liefern allerdings kein eindeutiges Ergebnis und vermögen zudem nicht, Aussagen für das gesamte Bundesgebiet zuzulassen. Die vorliegende Studie knüpft an diese Befundlage an und zielt darauf ab, sie auf ein breiteres Fundament zu stellen. Dabei werden auf Grundlage einer bundesweiten Stichprobe die folgenden Forschungsfragen bearbeitet:
(1) Wie häufig wird von der Möglichkeit der Grundschulwahl Gebrauch gemacht?
(2) Inwiefern finden sich herkunftsbezogene Unterschiede zwischen Kindern, deren Eltern die Grundschule aktiv gewählt haben (Chooser), und solchen, deren Eltern nicht von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben (Non-chooser)?
(3) Inwiefern unterscheiden sich Chooser und Non-chooser hinsichtlich der Bedeutsamkeit, die sie verschiedenen Schulmerkmalen (z. B. Schulweglänge, Ruf der Schule) beimessen?
Die Studie basiert auf den Daten des in der vierten Jahrgangsstufe durchgeführten IQB-Bildungstrends 2021, in dessen Rahmen die Eltern der 24.171 teilnehmenden Grundschüler:innen u. a. um Angaben zur Wahl der von ihrem Kind besuchten Grundschule gebeten wurden. Unter Verwendung von Fallgewichten wurde basierend auf diesen Angaben der bundesweite Anteil der Chooser und Non-chooser ermittelt und es wurde (unter statistischer Kontrolle für das jeweilige Bundesland) untersucht, inwiefern sich diese beiden Gruppen im Hinblick auf herkunftsbezogene Indikatoren (HISEI, Zuwanderungshintergrund, Anzahl der Bücher im Haushalt als Indikator für das kulturelle Kapital) unterscheiden. Zur Untersuchung der Unterschiede bei der Bedeutsamkeit von Schulmerkmalen wurden Fixed-Effect-(FE)-Modelle spezifiziert, die sowohl für beobachtete als auch für unbeobachtete Unterschiede zwischen Schulen kontrollieren.
Im Rahmen erster Analysen fiel zunächst auf, dass für rund 35 Prozent der Studienteilnehmer:innen keine Elternangaben zur Grundschulwahl vorlagen. Diese Gruppe ist hoch selektiv zusammengesetzt und weist (im Vergleich zu den übrigen Studienteilnehmer:innen) einen signifikant niedrigeren soziökonomischen Status, weniger kulturelles Kapital und häufiger einen Zuwanderungshintergrund auf. Von den Eltern der übrigen Studienteilnehmer:innen gaben rund 61 Prozent an, im Rahmen der Schulanmeldung Wahlmöglichkeiten gehabt zu haben. Innerhalb dieser Gruppe konnten auf Basis ihrer Angaben zur gewählten Grundschule 67 Prozent als Non-Chooser und 33 Prozent als Chooser klassifiziert werden. Zwischen beiden Gruppen wurden keine signifikanten herkunftsbezogenen Disparitäten festgestellt, was sich vermutlich auf die erwähnte selektive Bearbeitung der Items zur Grundschulwahl zurückführen lässt. Signifikante Unterschiede fanden sich jedoch im Hinblick auf die Bedeutung, die beide Gruppen verschiedenen Schulmerkmalen beimessen: Während Chooser leistungs- und qualitätsbezogene Schulmerkmale (z. B. guter Ruf, hohes Leistungsniveau, hohe wahrgenommene Unterrichtsqualität) als besonders bedeutsam einschätzten, stuften Non-chooser pragmatische Merkmale (z. B. kurzer Schulweg, Geschwisterkinder an der gleichen Schule) als wichtiger ein.
Paper Session
Bildungsklima als Gelingensbedingung unterschiedlich zusammengesetzter Grundschulen?
Anja Kürzinger, Stefan Immerfall
PH Gmünd, Deutschland
Mit dem zunehmenden Rückgang von Leseleistungen (Stanat et al., 2022) und der steigenden ungünstigen Zusammensetzung von Grundschulen (Weishaupt, 2022) rücken in der aktuellen Debatte um soziale Bildungsdisparitäten insbesondere Schulen in benachteiligter Lage in den Blick. Sie kennzeichnen sich allgemein durch einen hohen Anteil an Schüler*innen aus Herkunftsmilieus mit geringerem sozialen, kulturellen oder ökonomischen Kapital, was tendenziell mit ungünstigeren Lern- und Leistungsvoraussetzungen zwischen Schule und Lernenden assoziiert ist (Klein, 2017, S. 4). Diese „Verräumlichung von Ungleichheit“ (Fölker et al., 2015) hat insofern eine zentrale Bedeutung für den Bildungserfolg, als dass die sozioökonomische bzw. leistungsbezogene Zusammensetzung der Schüler*innen in Klassen und Schulen über Kompositionseffekte einen eigenständigen Einfluss auf die individuelle Lernentwicklung nehmen kann (z.B. Baumert et al. 2006; Scharenberg et al., 2018; Wenger et al., 2020). Zur Abschwächung von Kompensationseffekten wird derzeit häufig gefordert, betroffene Schulen mit zusätzlichen Ressourcen bedarfsgerecht auszustatten (z.B. Köller et al., 2022). Angesichts der deutlichen Leistungsstreuung von Schulen mit ähnlich ungünstiger Zusammensetzung (z.B. Harris & Chapman, 2010) stellt sich jedoch auch verstärkt die Frage, auf welche Weise schulische Akteur*innen Lernbedingungen produktiv gestalten können.
Internationale Studien weisen in diesem Zusammenhang u.a. auf das Bildungsklima als schulisches Qualitätsmerkmal hin, das eine der zentralen Subdimensionen des Schulklimas darstellt (zsf. Wang & Degol, 2016). Konsens besteht darin, dass sich das Bildungsklima allgemein als kollektive Wahrnehmung akademischer bzw. leistungsbezogener Normen, Werte und Überzeugungen in einer Schule definiert (Brault et al., 2014), mit Leseleistungen von Grundschüler*innen assoziiert ist (z.B. Martin et al. 2013; Maxwell et al., 2017) sowie als erlern- sowie gestaltbar gilt (Boonen et al., 2014; Hoy et al., 2006).
Der Zusammenhang des Bildungsklimas mit der Schulkomposition ist allerdings noch nicht breit untersucht und speziell für den deutschsprachigen Raum liegen bislang vergleichsweise wenig Analysen vor.
Vor diesem Hintergrund beleuchtet die Stabil-Studie die Bedeutung des Bildungsklimas für die Leseleistung baden-württembergischer Schüler*innen an unterschiedlich zusammengesetzten Grundschulen. Die Untersuchung ist in das Forschungs- und Nachwuchskolleg „Heterogenität gestalten – starke Grundschulen entwickeln“ (Grassinger et al., 2022) eingebettet, das vom Wissenschaftsministerium in Baden-Württemberg finanziert wird.
Für den Vortrag ist folgende Forschungsfrage leitend: Vermittelt das Bildungsklima den Zusammenhang zwischen Schulkomposition und Leseleistung von Grundschüler*innen?
Das Bildungsklima wurde in der vorliegenden Studie anhand eines Online-Fragebogens auf Basis verschiedener validierter Skalen (z.B. Hußmann et al., 2020) bei Schulleitungen erhoben. Die Stichprobe der Schulleitungsbefragung setzt sich aus 145 Schulen (N=5.507 Schüler*innen) zusammen, die mit den VERA 3 Daten zur Leseleistung (M=495.91; SD=131.69) und der soziokulturellen Schulkomposition (kulturelles Kapital: M=3.16, SD=1.17, 1-5; Geschlecht: 49% weiblich; nichtdeutsche Alltagssprache: M=24%; SD=0.43) von Drittklässler*innen aus dem Schuljahr 2018/2019 kombiniert wurde.
Die im Vortrag berichteten drei Subskalen der Bildungsklima-Skala Schwerpunktsetzung auf akademischen Erfolg (in Anlehnung an Hußmann et al., 2020; 10 Items, 5-stufig) weisen insgesamt zufriedenstellende interne Konsistenzen auf: kollektive schulische Wirksamkeit (M=3.97; SD=0.53; α=.80), Vertrauen in die Eltern (M= 3.19; SD= 0.70; α=.82) und akademischer Fokus (M=3.68; SD=0.45; α=.66).
Mehrebenenanalysen mit Mplus zeigen, dass das von den Schulleitungen wahrgenommene Vertrauen in die Eltern (β=12.87; p=0.018) und ein akademischer Fokus der Schulen (β=16.70; p=0.028) die Beziehung zwischen Leseleistung und Schulkomposition mediieren (indirekter Effekt: β=-0.37; p=0.001). Während der Anteil von Schüler*innen mit nichtdeutscher Alltagssprache in den Grundschulen zwar nicht direkt mit der Leseleistung zusammenhängt (in Kontrast zur sozialen Herkunft), wirkt sich die ethnische Zusammensetzung vermittelt über das Bildungsklima auf das Lesen aus: Bei einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Grundschüler*innen mit nichtdeutscher Alltagssprache nimmt tendenziell das Vertrauen in die Eltern sowie der akademische Fokus an den Grundschulen ab, was wiederum mit niedrigeren Leseleistungen einherzugehen scheint.
Im Vortrag werden diese Befunde auch mit Blick auf die Limitationen der Studie (z.B. keine Kontrolle der Lernvoraussetzungen der Schüler*innen) kritisch diskutiert und Implikationen zur Gestaltung von Bildungsprozessen abgeleitet.
Paper Session
Soziale Disparitäten beim Übergang in den Sekundarbereich I und ihr Zusammenhang mit institutionellen Rahmenbedingungen
Josefine Lühe1, Sebastian Weirich2
1DIPF, Deutschland; 2IQB, Deutschland
Der nach der Grundschule erfolgende Übergang stellt eine wichtige Gelenkstelle für den weiteren Bildungs- und Lebensverlauf dar, an der soziale Disparitäten sichtbar und verstärkt werden. Dabei sind auch die institutionellen Rahmenbedingungen des Bildungssystems von Bedeutsamkeit für Bildungsungleichheiten – bezogen auf den Übergang in den Sekundarbereich I sind dies in Deutschland v.a. die durch Grundschule abgegebenen Schullaufbahnempfehlung (verbindlich vs. unverbindlich) sowie die Schulstruktur (zweigliedrig, zweigliedrig erweitert vs. mehrgliedrig). Vor diesem Hintergrund analysiert der Beitrag soziale Ungleichheiten am Übergang in den Sekundarbereich I anhand der Gymnasialempfehlung und des -übergangs mit einem besonderen Fokus auf den vergleichsweise wenig beforschten Zusammenhang mit den institutionellen Rahmenbedingungen. Dazu werden zunächst soziale Herkunftseffekte (1) in der Gymnasialempfehlung und im Gymnasialübergang untersucht. Darauf aufbauend wird (2) analysiert, ob soziale Disparitäten in der Gymnasialempfehlung und -beteiligung mit den institutionellen Rahmenbedingungen (Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung, Schulstruktur) variieren.
Als theoretisches Erklärungsmodell für die mit der sozialen Herkunft variierenden Schullaufbahnempfehlungen und Gymnasialübergangsquoten wird das Modell der primären und sekundären Herkunftseffekte herangezogen (Boudon 1974) und um die sekundären Herkunftseffekte der Übergangsentscheidung sowie der Leistungsbeurteilung und der Laufbahnbeurteilung (Maaz und Nagy 2010) ergänzt. Der Forschungsstand zu sozialen Ungleichheiten am Übergang in den Sekundarbereich I fällt vergleichsweise umfangreich aus und zeigt eine dreifache Benachteiligung von Kindern mit niedrigerem sozioökonomischem Status (SES): Sie weisen schlechtere Schulleistungen auf, erhalten bei gleichen objektiven Leistungen eine schlechtere Benotung sowie seltener eine Gymnasialempfehlung und gehen zudem auch bei Erhalt einer solchen häufiger auf eine nichtgymnasiale Schulform über (Ditton und Krüsken 2006; Pietsch 2007; Arnold et al. 2010; Maaz & Nagy 2010). Sowohl die Verbindlichkeit der Schullaufbahnempfehlung als auch die Schulstruktur des Sekundarbereichs I stellen relevante institutionelle Rahmenbedingungen für den Übergang nach der Grundschule dar und werden als Instrumente zur Reduzierung sozialer Ungleichheiten diskutiert. Der Forschungsstand zum Zusammenhang zwischen der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung und sozialen Disparitäten in der Gymnasialbeteiligung fällt vergleichsweise gering und uneinheitlich aus (Jähnen & Helbig 2015; Dollmann 2011; Gresch et al. 2010; Neugebauer 2010). Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Schulstruktur und sozialen Disparitäten deutet sich an, dass sich die soziale Segregation in der Verteilung der Schüler:innen auf die verschiedenen Schulformen des Sekundarbereichs I zwischen Ländern mit zweigliedrigen und mehrgliedrigen Schulsystem nicht unterscheidet (Lenz et al. 2019; Neumann et al. 2017; Helbig & Nicolai 2017).
Die Untersuchung basiert auf Daten des IQB-Bildungstrends 2021 und umfasst 12.275 Viertklässler:innen aus allen Ländern in Deutschland in denen der Übergang in den Sekundarbereich I regulär in Klasse 5 erfolgt. Die abhängigen Variablen sind zum einen die Schullaufbahnempfehlung und zum anderen der Gymnasialübergang, welcher über die voraussichtlich in Klasse 5 besuchte Schulart abgebildet wird. Es wird davon ausgegangen, dass diese Angabe den tatsächlich realisierten Übergang sehr gut approximiert, da die Erhebung in den meisten Ländern nach bereits erfolgten Anmeldungen an den weiterführenden Schulen durchgeführt wurde. Die unabhängigen Variablen sind die soziale Herkunft, abgebildet mittels des International Socio-Economic Index (ISEI), sowie Schulnoten und Testleistungen. Die Fragestellungen werden mittels logistischer Mehrebenen-Regressionsanalysen beantwortet.
Die Ergebnisse zeigen zunächst in Übereinstimmung mit bisherigen Forschungsarbeiten, dass Kinder mit höherem SES auch bei gleichen Leistungen und Schulnoten häufiger eine Gymnasialempfehlung erhalten und auch häufiger auf ein Gymnasium übergehen. Bezüglich der institutionellen Rahmenbedingungen zeigt sich für die Schulstruktur, dass in Ländern mit zweigliedriger Schulstruktur die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, kontrolliert für Schulnoten, Leistung und Empfehlung signifikant geringer ausfällt als in Ländern mit mehrgliedriger Schulstruktur. Bezüglich der Verbindlichkeit der Gymnasialempfehlung zeigt sich, dass in Ländern mit verbindlicher Gymnasialempfehlung die Wahrscheinlichkeit des Gymnasialübergangs (kontrolliert für Leistung, Schulnoten, Gymnasialempfehlung) geringer ausfällt, als in Ländern ohne verbindliche Gymnasialempfehlung. Dieser negative Effekt der Verbindlichkeit fällt für Kinder aus Elternhäusern mit hohem SES im Betrag signifikant geringer aus.
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