Symposium
Chancengerechtigkeit in der Hochschule: Die Rolle von Beratung vor dem Abitur
Chair(s): Melinda Erdmann (WZB Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Deutschland), Irena Pietrzyk (Universität zu Köln)
Diskutant*in(nen): Martin Neugebauer (Freie Universität zu Berlin)
Die soziale Herkunft beeinflusst die nachschulischen Bildungsentscheidungen junger Erwachsener in Deutschland nach wie vor deutlich (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020; Hillmert & Jacob, 2010; Schindler & Lörz, 2012). Dies betrifft nicht nur die Wahl zwischen einem Studium und einer Berufsausbildung, sondern auch die Wahl zwischen einer Universität und einer Fachhochschule (z.B. Neugebauer et al., 2016), die Wahl des Studienfachs (Georg & Bargel, 2017) und die Absicht, ein Masterstudium aufzunehmen (z.B. Neugebauer et al., 2016).
Auch vor diesem Hintergrund stieg in den letzten Jahren in der Politik und der Forschung das Interesse an Programmen, die darauf zielen, soziale Disparitäten in der Hochschule abzubauen. Diese Programme haben oftmals zum Ziel, die nachschulischen Bildungsentscheidungen von der sozialen Herkunft zu entkoppeln, um horizontale und vertikale Ungleichheiten in der Hochschule zu reduzieren. Die Forschung zu solchen Beratungen steht in Deutschland jedoch noch am Anfang. So gibt es kaum Forschungsarbeiten dazu, wie diese Beratungen ablaufen, wie sie von den Akteur:innen erlebt werden und welche Wirkung sie entfalten. Zwar existieren bereits einige Studien zur Wirkung von Informationsworkshops auf die Einschreibung von Studierenden ohne akademischen Hintergrund (z. B. Barone et al. 2017; Ehlert et al. 2017), jedoch ist die Forschung zur Wirkung individueller Beratungen für Oberstufenschüler:innen in Europa noch sehr spärlich (Herbaut & Geven, 2020).
Das Symposium bringt empirische Studien zur Ausgestaltung und Wirkung von individuellen Beratungen in der Oberstufe zusammen, die versuchen, die nachschulische Bildungsentscheidung von sozialen Kontextfaktoren zu lösen. Diese Studien bearbeiten einige Wissenslücken in der aktuellen Forschungslandschaft, so etwa die Themen der Selektionsprozesse beim Zugang zu Beratungsprogrammen, der Beziehung zwischen beratenden Schüler:innen und Berater:innen und letztlich der Wirkung von intensiven Beratungen auf die nachschulischen Bildungsentscheidungen von jungen Menschen und damit ihrer Partizipation an der Hochschulbildung in Deutschland. Damit bietet das Symposium besondere Erkenntnisse darüber, ob und auf welche Weise junge Menschen dabei unterstützt werden können, Bildungswege zu wählen, die ihren Interessen und Potentialen entsprechen, statt Entscheidungen zu treffen, die recht eng an die familiäre Bildung angelehnt sind.
Das Symposium beginnt mit der Vorstellung der Ergebnisse zur Wirkung eines individuellen Beratungsprogramms auf die Bildungsentscheidung für einen nachschulischen Bildungsweg. In diesem Beitrag zeigen Erdmann et al. anhand eines experimentellen und längsschnittlichen Forschungsdesigns, dass eine individuelle Beratung von Oberstufenschüler:innen vor allem in der letzten Phase eines längeren Prozesses, der von der Studienintention bis zur Studienaufnahme verläuft, eine beachtliche ungleichheitsreduzierende Wirkung aufweist. Als größte Limitation der Studie wird diskutiert, dass aufgrund des Designs keine Aussagen über die konkreten Wirkmechanismen getroffen werden können und die Intervention somit eine Black Box bleibt. Diese Black Box wird im zweiten Beitrag von Bienek aufgebrochen, indem der Beitrag Befunde zur Zusammenarbeit von Abiturient:innen nichtakademischer Herkunft mit einem:r Berater:in vorstellt. Dabei arbeitet Bienek in ihrer qualitativ-rekonstruktiven Studie drei Typen der Zusammenarbeit heraus: die stetige berufswahlbezogene Kooperation, die engmaschige lebensbereichsübergreifende Begleitung und die punktuelle anlassbezogene Unterstützung. Die gefundenen Typen machen deutlich, dass eine Beratung individuell und flexibel sein sollte, um der Heterogenität der Bedarfe junger Menschen gerecht zu werden. Der dritte Beitrag von Schuchart knüpft an das Thema der individuellen Bedürfnisse bei der Berufsfindung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund an. In diesem Beitrag untersucht Schuchart, welche Bedeutung die Beziehung zwischen Berater:innen und Schüler:innen dafür hat, dass Schüler:innen handlungsmotiviert sind und eine nachschulische Bildungsentscheidung treffen, die als sicher empfunden wird. Besonderes Augenmerkt wird dabei auf die gegenseitige Übereinstimmung in der Wahrnehmung von Beratungsmotiven und der Wertschätzung gelegt. Anhand von quantitativen Befragungsdaten zu den Beratungsgesprächen zeigt Schuchart, dass vor allem eine gesteigerte Wertschätzung die Handlungsmotivation und Entscheidungssicherheit von Personen mit Migrationshintergrund erhöht.
Es sind insbesondere die unterschiedlichen Perspektiven und die Methodenvielfalt der Beiträge, die dabei helfen, ein tieferes Verständnis über individuelle Beratungen zur Reduzierung von Bildungsungleichheiten zu erhalten.
Beiträge des Symposiums
Individuelle Beratungsprogramme als Chance Bildungsungleichheiten entgegenzuwirken. Ergebnisse einer randomisiert kontrollierten Studie
Melinda Erdmann1, Irena Pietrzyk2, Juliana Schneider2, Marcel Helbig3, Marita Jacob2 1WZB Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Deutschland, 2Universität zu Köln, 3Leibniz-Institut für Bildungsverläufe
Trotz steigender Zahl der Studienberechtigten in Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit, ein Studium aufzunehmen, stark von der sozialen Herkunft junger Menschen abhängig (Quast et al. 2023). Dies steht im Widerspruch zur Chancengerechtigkeit und führt auf Ebene der Hochschulen zu einer eher homogenen Zusammensetzung der Studierendenschaft.
Vor diesem Hintergrund wurden in den letzten Jahren zunehmend Maßnahmen implemen-tiert, die von kurzen Informationsworkshops bis hin zu individuellen Beratungsprogrammen reichen. Ziel dieser Maßnahmen ist es, junge Menschen zu befähigen ihre nachschulische Bildungsentscheidung unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und ihrem sozialen Kontext zu treffen und umzusetzen. Studien, die insbesondere die Wirksamkeit individueller Beratungsprogramme kausalanalytisch untersuchen, existieren im europäischen Raum jedoch kaum (Herbaut und Geven 2020).
Mit der Studie „Zukunfts- und Berufspläne vor dem Abitur“ (ZuBAb) tragen wir dazu bei, die vorhandene Wissenslücke zu schließen, indem wir anhand eines experimentellen Studiendesigns die Wirkung eines Beratungsprogramms in NRW untersuchen (Pietrzyk et al., 2019). Das untersuchte Beratungsprogramm hat das übergeordnete Ziel, Oberstufenschüler:innen bei der Verwirklichung ihrer Bildungswünsche zu unterstützen und die Passung zwischen ihren Interessen und Fähigkeiten und des gewählten nachschulischen Bildungswegs zu erhöhen.
In unserem Beitrag betrachten wir die Aufnahme eines nachschulischen Bildungswegs als Ergebnis eines Prozesses mit mehreren Phasen, in denen sowohl Selbst- als auch Fremdselektionsprozesse stattfinden (siehe z.B. Finger 2022). Untersuchungen zu den jeweiligen Phasen zeigen, dass Ungleichheiten in der Bildungsaspiration vor dem Schulabschluss (Schneider und Franke, 2014; Woisch et al., 2019), im Bewerbungsverhalten (Ehlert et al. 2017) und letztlich in der Aufnahme unterschiedlicher nachschulischer Bildungswege (Neugebauer 2015; Quast et al. 2023) existieren. Eine intensive und lange Beratung kann potentiell auf verschiedene Phasen Wirkung entfalten. Wir untersuchen daher, auf welche dieser Phasen und Selektionsprozesse eine intensive Beratung wirkt, um soziale Ungleichheiten zu verringern.
Für die Beantwortung dieser Frage stellen wir entlang der Phasen Ergebnisse verschiedener Teilstudien vor. Die Grundlage für die Analysen bieten die Daten von anfänglich 1404 Schüler:innen, die über einen Zeitraum von vier Jahren in Rahmen des ZuBAb-Projekts erhoben wurden. Für die Analyse nutzen wir lineare Wahrscheinlichkeitsmodelle und wenden für die Bestimmung des Programmeffekts die intention-to-treat Analysestrategie an.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich sichtbare Programmeffekte erst bei der letzten Phase, der Studienaufnahme, beobachten lassen. So zeigt die intensive Beratung keine Wirkung auf die während der Schulzeit erfasste Studienaspiration der Schüler:innen. Zudem unterscheidet sich das Bewerbungsverhalten der Programmteilnehmenden im ersten Jahr nach dem Abitur nicht signifikant von ehemaligen Schüler:innen, die der Vergleichsgruppe zugeordnet wurden. Erst anderthalb Jahre nach dem Schulabschluss zeigt sich ein deutlicher ungleichheitsreduzierender Effekt. Dieser verzögerte Effekt wird teils dadurch erklärt, dass sich soziale Ungleichheiten beim Studienübergang in Deutschland erst ein Jahr nach dem Erlangen der Hochschulreife herausbilden. Vor allem Abiturient:innen aus akademischen Elternhäusern absolvieren nach der Schule ein sogenanntes Gap Year und nehmen erst ein Jahr später ein Studium auf. Weil wir keinen Effekt auf die Studienaspiration beobachten, lassen die Ergebnisse für die verschiedenen Phasen darauf schließen, dass das Programm vor allem die Umsetzung einer Studienaspiration unterstützt.
Unser Beitrag schließt mit einer Diskussion der Limitationen und bildungspolitischen und forschungspraktischen Implikationen unserer Ergebnisse. Die größte Limitation unserer Studie ist, dass die vorgestellten Ergebnisse keine Schlüsse über die zugrundeliegenden Wirkmechanismen der Beratung zulassen. Ohne tiefergehende Analysen zum konkreten Geschehen innerhalb der Beratung stellt sich diese als Black Box dar. Dennoch zeigen unsere Ergebnisse, wie bedeutend eine Beratung von Oberstufenschüler:innen für die Reduzierung von sozialer Ungleichheit sein kann.
Wie gestalten Abiturient:innen nichtakademischer Herkunft die Zusammenarbeit mit einem Talentscout? Befunde einer qualitativ-rekonstruktiven Studie zur Berufsfindung von Teilnehmenden des NRW-Talentscoutings
Magdalena Bienek NRW Talentzentrum
Als Fundament für eine erfolgreiche Bewältigung des nachschulischen Übergangs hat der Berufsfindungsprozess junger Menschen eine hohe individuelle und gesellschaftliche Relevanz. Die Berufsfindung wird auch von Abiturient:innen als herausfordernd erlebt (Hurrelmann et al. 2019), wobei junge Menschen nichtakademischer Herkunft vermehrt angeben, kurz vor dem Abitur noch keine gefestigte Bildungsintention zu haben und ihren eigenen Informationsstand niedriger einschätzen als Befragte mit akademischem Familienhintergrund (Süßlin 2014; Woisch et al. 2019). Unabhängig von der sozialen Herkunft sind sich viele Abi-turient:innen unklar über ihre Fähigkeiten und äußern den Wunsch nach persönlicher und bedarfsbezogener Beratung (Oechsle et al. 2009).
Ein bildungspolitisch stark unterstütztes und medial präsentes Beratungsangebot für junge Menschen in der Phase der Berufsfindung ist das NRW-Talentscouting. Im Rahmen des Programms begleiten sogenannte Talentscouts von 23 Universitäten und Hochschulen landesweit Schüler:innen von Berufskollegs, Gesamtschulen und Gymnasien auf ihrem Bildungsweg. Das Talentscouting richtet sich insbesondere an engagierte Schüler:innen der Sekundarstufe II, die Potenziale aufweisen und aus weniger privilegierten oder nichtakademischen Familien stammen. Das Angebot ist langfristig, freiwillig und hinsichtlich der Anschlussoption (Studium, Berufsausbildung, FSJ etc.) ergebnisoffen angelegt (Kottmann & Bienek 2023; Kottmann & Meetz 2019).
Individuelle Angebote der Berufsorientierung werden von Abiturient:innen zumeist positiv bewertet (Oechsle et al. 2009). Während einzelne Effekte individueller Beratungsangebote, z. B. eine Steigerung der Selbstwirksamkeit und der subjektiven Erfolgserwartung (Mohrenweiser & Pfeiffer 2016), belegt sind, fehlt es an Studien, die die Subjektsicht der teilnehmenden Abiturient:innen in den Blick nehmen.
Anknüpfend an dieses Forschungsdesiderat stellt der Beitrag Befunde zur Zusammenarbeit von Abiturient:innen nichtakademischer Herkunft mit einem Talentscout vor. Der Beitrag basiert auf einer qualitativ-rekonstruktiven Studie zur Berufsfindung von Abiturient:innen nichtakademischer Herkunft, die am Programm NRW-Talentscouting teilnehmen (Bienek 2023). Die Studie nimmt eine praxeologisch-wissenssoziologische Perspektive (Bohnsack 2017) ein, entsprechend derer davon ausgegangen wird, dass die Handlungspraxis in der Berufsfindung und die Inanspruchnahme des Talentscoutings insbesondere durch implizite, atheoretische Wissensbestände angeleitet wird. Dementsprechend folgt das methodische Vorgehen der Methodologie der Dokumentarischen Methode (ebd.). Um einen Zugang zum impliziten, handlungsleitenden Wissen der Akteur:innen zu erhalten, wurden 15 narrativ-fundierte Interviews mit Abiturient:innen benachteiligter Herkunft geführt, die mindestens ein Jahr durch einen Talentscout begleitet wurden und ihre (Fach-)Hochschulreife auf Gesamtschulen und Berufskollegs im Ruhrgebiet abgelegt haben. Die Datenanalyse erfolgte mittels des mehrstufigen Verfahrens der Dokumentarischen Interviewinterpretation (Bohnsack 2021; Nohl 2017). Die rekonstruierten sinngenetischen Typen können als unterschiedliche Bearbeitungsweisen (modi operandi) eines gemeinsamen Themas verstanden werden.
Als Ergebnis lassen sich drei Modi der Zusammenarbeit im Talentscouting differenzieren, die sich hinsichtlich des Gegenstands der Zusammenarbeit, der Interaktionsgestaltung sowie bezüglich der Sicht auf das Programm Talentscouting unterscheiden. Während der Talentscout beim ersten Typ als stetiger berufswahlbezogener Kooperationspartner fungiert und die Interaktion durch eine selbstbestimmte Beziehungspflege und Hilfe zur Selbsthilfe gekennzeichnet ist, erscheint der Talentscout beim zweiten Typ als engmaschige lebensbe-reichsübergreifende Begleitung, in der eine Asymmetrie der Beziehung und emotionaler Rückhalt zentral sind. Für den dritten Typ fungiert der Talentscout als punktuelle anlassbezogene Unterstützung, wobei der Erhalt von Informationen und eine Arbeitsteilung charakteristisch sind. Im Beitrag werden mögliche Relationen zu verschiedenen Bearbeitungsweisen der Berufsfindung sowie zu unterschiedlichen familiären Bildungserwartungen diskutiert.
Die Befunde verweisen auf den Stellenwert der Interaktionsgestaltung für die Zusammenarbeit und knüpfen damit an Studien zu Coaching- oder Mentoringansätzen (Stein 2020; Wahl 2021) sowie zum pädagogischen Arbeitsbündnis (Oevermann 2017) an. Insgesamt zeigen die Ergebnisse am Beispiel des Talentscoutings auf, dass die Bedürfnisse sowie die Inanspruchnahme eines individuellen Beratungsangebots durch junge Menschen höchst heterogen sind. Um dieser Heterogenität gerecht zu werden, bedarf es eines Angebots, das flexibel und langfristig angelegt ist und jungen Menschen eine selbstbestimmte Nutzung erlaubt.
Gegenseitige Übereinstimmung zwischen schulischen Berater:innen und Schüler:innen: Zur Entwicklung der wechselseitigen Gesprächswahrnehmung über die Zeit
Claudia Schuchart Bergische Universität Wuppertal
Einleitung/Theorie
Schüler:innen mit Migrationshintergrund haben größere Schwierigkeiten, ihre Bildungsziele und Karrierepläne zu verwirklichen als Schüler:innen ohne Migrationshintergrund. Einer der Gründe dafür ist, dass viele von ihnen weder über das notwendige Wissen über das Bildungssystem noch über den Zugang zur Hilfe anderer verfügen (Stanton-Salazar et al., 2001). Schulische Berater:innen können Schüler:innen dabei unterstützen ihre Bildungsziele umzusetzen (Heath et al., 2010).
Einige Autoren weisen darauf hin, dass die Berater:innen nicht nur kompetent sein müssen, sondern auch in der Lage sein sollten, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. (Schneider et al., 2014; Stanton-Salazar, 2011). Darauf sind besonders nichtprivilegierte Schüler:innen angewiesen (Dogan & Dollarhide 2021). Vertrauensvolle Beziehungen entwickeln sich als Ergebnis der Erfahrung von „Gegenseitigkeit“, d.h. eines gemeinsamen Verständnisses zu Motiven und Zielen der Beratung sowie einem gegenseitigen Rollenverständnis (Bryk & Schneider, 2002, Holland, 2015). Eine wichtige Grundlage ist die durch Berater:innen ausgedrückte Wertschätzung, wie sie sich bspw. im Interesse an der Zukunft der Schüler:innen und im persönlichen Engagement ausdrückt (Noddings 2005). Wenn zwischen Schüler:innen und Berater:innen jedoch aufgrund unterschiedlicher sozialer und kultureller Erfahrungen Differenzen bestehen, kann es schwierig sein, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Dementsprechend weisen einige Studien darauf hin, dass es den Berater:innen besonders schwerfällt, die Bedürfnisse und Ziele von Studierenden mit Migrationshintergrund zu verstehen, mit dem Ergebnis, dass diese Studierenden häufiger entmutigt werden (z. B. Holland, 2015; Tatar, 2012).
Insgesamt wissen wir immer noch wenig über die Qualität und Dynamik zwischenmenschlicher Prozesse und ihrer Ergebnisse in der Beratung, da nur wenige Studien sich mit den prozessualen Aspekten der Beratung befasst haben und damit, wie diese durch den Migrationsstatus der Schüler:innen beeinflusst werden. Außerdem sind diese Studien qualitativer Natur, und es ist wenig über die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse auf andere Kontexte bekannt. Die vorliegende Studie richtet sich auf Merkmale gegenseitiger Übereinstimmung in Beratungsbeziehungen und fragt:
1. Ist die Entwicklung von Übereinstimmung beeinflusst durch den Migrationsstatus der Schüler:innen?
2. Beeinflusst Übereinstimmung in Wechselwirkung mit dem Migrationsstatus der Schüler:innen die Ergebnisse der Beratung?
Methode
Die vorliegende Studie basiert auf einer quantitativen Befragung von Schüler:innen der gymnasialen Oberstufe und von Berater:innen, die als externe "Talentscouts" regelmäßig Beratungen an diesen Schulen anbieten. Für unsere Studie wurden über einen Zeitraum von neun Monaten (2018-2019) Daten zu 265 Beratungsgesprächen von 169 Studierenden und 10 Berater:innen erhoben. Beratenden und Schüler:innen wurden nach jedem Gespräch die gleichen Fragen vorgelegt: Variablen: Beratungsmotive der:s Schüler:in (5 Items zur Studien- und Berufsplanung, ja/nein). Pro Motiv wurden beide Parteien nach der Einschätzung gefragt, ob die Beratung hilfreich war (Effektivität, Skala 1-4). Schließlich wurde nach der persönlichen Wertschätzung durch die Berater:innen gefragt (7 items, α = .91, Skala 1-5). Die Übereinstimmung zwischen Schüler:in und Berater:in wurde durch die Differenz in ihren Angaben zu den drei Aspekten ermittelt. Die Beratungseffekte wurden durch jeweils ein Item zur Handlungsmotivation (1-5) und Entscheidungssicherheit (0-1) erfasst. Weiterhin wurde der Migrationshintergrund (erste/zweite Generation) erfasst. Die Analysen wurden mittels Mehrebenenregressionen durchgeführt.
Ergebnisse
Frage 1: Zu Beginn des Beratungsprozesses bestand eine geringere Übereinstimmung zwischen Berater:innen und Schüler:innen bezüglich der Beratungsmotive bei Gesprächen mit Schüler:innen der ersten Generation, die über die Zeit jedoch abnahm. Die Effektivität der Beratung als auch die Wertschätzung von beiden Seiten wurde insgesamt als sehr positiv eingeschätzt. Zunehmende migrationsspezifische Differenzen in der Einschätzung der Effektivität und der Wertschätzung sind auf eine zunehmend skeptische Haltung der Berater:innen zurückzuführen, die möglicherweise auf Unsicherheit beruht. Frage 2: Eine höhere Wertschätzung führt insbesondere bei Schüler:innen mit Migrationshintergrund zu einer höheren Handlungsmotivation und zu einer insgesamt höheren Entscheidungssicherheit.
Diskussion
Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass es den externen Berater:innen gelingt, über eine auf shared understanding beruhende Beziehung Bildungsentscheidungen von Schüler:innen mit Migrationshintergrund zu unterstützen. Gefragt werden muss, ob dieser Grad an vertrauensvollen Beziehungen auch zu Lehrkräften aufgebaut werden kann.
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