Symposium
Selbsttests, Lernverhalten und Leistung in der Hochschulbildung. Einblicke aus digitalen Verhaltensspurdaten und Selbstberichten
Chair(s): Jakob Schwerter (Technische Universität Dortmund, Deutschland), Luise von Keyserlingk (Universität Tübingen)
Diskutant*in(nen): Dirk Ifenthaler (Universität Mannheim)
Viele Studierende haben zu Beginn ihres Studiums mit hohen Leistungsanforderungen und Durchfallquoten zu kämpfen (Faas et al., 2018). Die Leistungsprobleme werden unter anderem auf Motivationsprobleme und Schwierigkeiten beim Selbstregulierten Lernen von Studierenden zurückgeführt (Benden & Lauermann, 2022; Broadbent & Poon, 2015; Cogliano et al., 2022). Selbstreguliertes Lernen bezieht sich hierbei auf die Fähigkeit, den eigenen Lernprozess zu kontrollieren und zu steuern. Dazu gehören das Setzen von Zielen, das Überwachen von Fortschritten und das Anpassen von Strategien, was letztendlich zu akademischem Erfolg und einem tiefen Verständnis des Lernstoffs führt (Zimmerman, 1989). Eine Möglichkeit, die Leistung und Motivation der Studierenden zu verbessern, besteht somit darin, ihr selbstgesteuertes Lernen während des Studiums zu fördern, indem ihnen erweiterte digitale Lernmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, die das Lernen durch effektive Lerntechniken wie Selbsttests mit Feedback unterstützen. Dies erleichtert es den Studierenden, ihre Fortschritte zu überprüfen und ihre Lernstrategien anzupassen. Empirische Forschung zeigt, dass die aktive und regelmäßige Nutzung von Lernmaterialien und insbesondere die Verwendung von Selbsttests effektive Lernstrategien darstellen, die mit besseren Kursleistungen und geringeren Misserfolgsquoten im Hochschulkontext einhergehen (Yang et al., 2021). Einige Studien aus authentischen Hochschulkontexten deuten jedoch darauf hin, dass Studierende freiwillige Übungsaufgaben nur in geringem Umfang nutzen und meist erst kurz vor relevanten Deadlines oder Prüfungen anfangen zu lernen (Ifenthaler et al., 2022; Peverly et al., 2003, Schwerter et al., 2022). Ein zentrales Anliegen der empirischen Bildungsforschung ist es daher herauszufinden wie Studierende bei der Nutzung effektiver Lernstrategien im Studium unterstützt werden können. Das Symposium addressiert dieses Anliegen und beleuchted dabei zwei Übergeordnete Fragen: A) Welche Personenmerkmale sagen die Nutzung von Lernmaterialien und Selbsttests in Lernmanagementsystemen aus authentischen Vorlesungskontexten vorher (Beitrag 1 und 2)? Und B) Wie hängt die Nutzung verschiedener Lernmaterialien in den Lernmanagementsystemen mit der Testperformance und Kursleistung zusammen (Beitrag 1, 3, 4)? Damit gehen wir der allgemeinen Frage nach, wie wir Studierende dabei unterstützen können, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen. Dies ist ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu mehr personalisiertem Lernen (in der Hochschulbildung).
Alle vier Beiträge nutzen dabei digitale Verhaltensspurdaten aus verschiedenen Lernmanagementsytemen zur objektiven Erfassung des Lernverhaltens von Studierenden in Kombination mit Surveydaten (Beiträge 1 + 2) und Kursnoten (Beiträge 1, 3, 4). Die Studien nutzen Daten von vier unterschiedlichen Hochschulen in Deutschland. Beiträge 1 – 3 beinhalten Studien mit längsschnittlichen korrelativen Designs, während der vierte Beitrag ein Interventionsdesign mit within-person Randomisierung aufweist, das kausale Schlüsse über Zusammenhänge der Nutzung von Selbsttests mit Testleistung zulässt.
Der erste Beitrag untersucht anhand der Daten aus zwei sozialwissenschaftlichen Vorlesungen, wie motivationale Überzeugungen mit der Nutzung von Lernressourcen (i.e., Vorlesungsfolien und Übungsquizze) und Kursleistung zusammenhängen. Der zweite Beitrag nutzt Daten aus einem intelligenten tutoriellen Lernsystem, das Studierende für die Vorbereitung einer Statistikklausur nutzen und untersucht Zusammenhänge von subjektiven Judgments of Learning (JOL) in Lernkapiteln mit der Lernpersistenz und Leistung der Studierenden. Der dritte Beitrag untersucht wie die aktive und passive Nutzung von verschiedenen Lernressourcen (z.B. Instruktionsvideos ansehen vs. Übungsaufgaben bearbeiten) mit dem Leistungserfolg der Studierenden zusammenhängt. Der vierte Beitrag untersucht anhand von Daten von Mathematikvorlesungen für Betriebswirte die Wirksamkeit einer Selbsttest-Intervention mit Within-Person-Randomisierung auf Leistungserfolg in geübten und ungeübten Testaufgaben.
Nach einer kurzen Einführung durch die Vorsitzenden des Symposiums (3-5 Minuten) haben alle Sympsoiumsbeitragenden 15 Minuten Zeit, die jeweilige Studie vorzustellen und 1-2 Minuten für klärende Fragen. Im Anschluss wird der Diskutant als führender Experte auf dem Gebiet der Lernwissenschaften mit besonderen Schwerpunkten in Learning Analytics, Assessment und Feedback, sowie Educational Technology die Beiträge kritisch diskutieren. Das Symposium wird mit einer offenen Diskussion (5-10 Minuten) abgeschlossen.
Beiträge des Symposiums
Nutzen motivierte Studierende bessere Lernstrategien? Zusammenhänge zwischen Erfolgserwartungen und Wertüberzeugung mit der Nutzung von Lernmaterialien in Moodle
Luise von Keyserlingk1, Jakob Schwerter2, Steffen Wild2, Olga Kunina Habenicht2, Fani Lauermann3 1Universität Tübingen, 2TU Dortmund, 3Universität Bonn
Theoretischer Hintergrund:
Regelmäßige Lernaktivitäten und die Nutzung von Selbsttests beim Lernen sind effektive Strategien für Lern- und Prüfungserfolg von Studierenden. Dennoch zeigen empirische Befunde, dass viele Studierende ungünstige Lernstrategien verwenden und Lernmaterialien oft erst kurz vor Prüfungen nutzen (Broadbent und Poon 2015; Ifenthaler et al. 2022). Die Motivationsforschung zeigt, dass Lernende mit hohen Erfolgserwartungen und subjektiven Wertüberzeugungen (SEVT: Eccles und Wigfield 2020) höhere Lernerfolge erzielen und z.T. auch eine höhere Anstrengungsbereitschaft zeigen, während höhere wahrgenommene Kosten mit geringeren Leistungen eihergehen. Wertüberzeugungen können hierbei in Intrischischen Wert, wahrgenommene Wichtigkeit, Nützlichkeit und Kosten eines Kurses oder Faches unterschieden werden. Kosten können weiterhin in Anstrengungskosten durch den Kurs an sich (task effort cost), konfliktierende Kosten durch andere Verpflichtungen (outside effort cost), und emotionale Kosten unterteilt werden. Eine offene Frage ist, ob und wie diese motivationalen Überzeugungen von Studierenden mit ihren Lernaktivitäten und der Nutzung von zur Verfügung gestellten Lernmaterialien in Lehrveranstaltungen assoziiert sind.
Die Studie untersucht zwei Fragestellungen: A) Sagen Erfolgserwartungen und Wertüberzeugungen die Nutzung von Lernmaterialien vorher? B) Wie sind kurspezifische Motivation (Erfolgserwartungen, Wertüberzeugungen) und die Nutzung von Lernmaterialien mit Kursleistung assoziiert?
Methode
Die Studie nutzt Survey Daten und digitale Verhaltensspurdaten aus dem Lernmanagement System Moodle aus zwei sozialwissenschaftlichen Vorlesungen an einer deutschen Hochschule (N=425 Studierende, Wintersemester 2022/23). Beide Vorlesungen fanden in einem wöchentlichen Rhythmus als Präsenzveranstaltung statt und Moodle wurde genutzt um den Studierenden die Vorlesungsfolien und freiwillige Übungsquizze zur Verfügung zu stellen. Die Motivation von Studierenden wurde zu Beginn des Semesters (T1) und in der Mitte des Semesters (T2) per Fragebögen erhoben. Moodle Daten wurden über das gesamte Semester erhoben. Es wurden zwei Variablen zum Nutzungsverhalten von Lernmaterialien verwendet: Die Anzahl aufgerufener Foliensätze und die Anzahl eingereichter Übungsquizze pro Studierendem. In längschnittlichen Strukturgleichungsmodellen in Mplus wurde berechnet wie T1 Motivation die Nutzung von Lernmaterialien in der ersten Semesterhäflte und T2 Motivation die Nutzung von Lernmaterialien in der zweiten Semesterhälfte sowie die Klausurnote vorhersagte.
Ergebnisse
Studierende nutzten die Vorlesungsfolien über das Semester hinweg, wohingegen Übungsquizze vorwiegend kurz vor der Abschlussklausur genutzt wurden. Studierende mit höherer Erfolgserwartung nutzen mehr Foliensätze und mehr Übungsquizze in der zweiten Semesterhälfte (Folien: β = .23, SE = .08, p < .05; Quizze: β = .15, SE = .07, p < .05), während höhere Wertüberzeugungen (intrinsischer Wert, Nützlichkeit, Wichtigkeit) mit vermehrter Folien- und Quiznutzung in der ersten Semestserhälfte einhergingen (Folien: β = .24, SE = .06, p < .05; Quizze: β = .20, SE = .06, p < .05). Bei den wahrgenommenen Kosten zeigte sich vor allem, dass Studierende die auf Grund anderer wichtiger Verpflichtungen und Aktivitäten angaben nicht genügend Zeit für die Vorlesung zu haben (outside effort cost) weniger Folien und Quizze nutzten (T1 Folien: β = -.22, SE = .06, p < .05; T2 Folien: β = -.16, SE = .06, p < .05; T2 Quizze: β = -.16, SE = .07, p < .05). Anstrengungskosten durch die Vorlesung an sich war ausschließlich mit geringerer Nutzung der Vorlesungsfolien zu T2 assoziiert (Folien: β = -.20, SE = .09, p < .05). Es zeigten sich keine Zusammenhänge zwischen der Motivation und Klausurleistung. Bezüglich der Nutzung von Lernmaterialien zeigte sich das vermehrte Nutzung der Quizze mit besseren (niedrigeren) Klausurnoten einhergingen (β = -.25, SE = .08, p < .05). Diese Ergebnisse zeigen, dass Selbsttests eine effektive Lernstrategie darstellen, die von Studierenden jedoch nur kurz vor Klausuren genutzt werden. Wie erwartet wurden Selbsttests eher von Studierenden mit höheren Erfolgserwartungen und „positiven“ Wertüberzeugungen genutzt. Interessanterweise zeigte sich bei den wahrgenommenen Kosten, dass weniger die Anstrengung oder Stress durch die Vorlesung selbst, sondern vor allem mangelnde Zeit auf Grund anderer Verpflichtungen mit geringerer Nutzung von Selbsttests einherging.
Judgments of Learning prädizieren Lernverhalten und Erfolg in intelligenten tutoriellen Lernsystemen
Marc Philipp Janson1, Samuel Wissel1, Franziska Schäfer2, Monika Undorf2 1Universität Mannheim, 2Technische Universität Darmstadt
Theoretischer Hintergrund
Selbstreguliertes Lernen erfordert dass Lernende, ihre eigenen Lernaktivitäten überwachen und kontrollieren (Schunk & Zimmerman, 2023; Zimmerman & Schunk, 2011). Auch bei digital gestützten Lerngelegenheiten sind erfolgreiche Selbstregulationsstrategien von großer Bedeutung für den Lernerfolg (Azevedo et al., 2011; Winters et al., 2008). Metakognitionen, also das Wissen von Menschen über ihr eigenes Wissen, spielen eine zentrale Rolle für selbstreguliertes Lernen und sind ein zentraler Prädiktor für akademischem Erfolg (Soderstrom et al., 2016; Vrugt & Oort, 2008). Um zu erfassen, was Lernende über ihr eigenes Wissen wissen, werden typischerweise Selbsteinschätzungen erfragt. Bei den häufig verwendeten Judgments of Learning (JOLs; Koriat, 1997) beispielsweise werden Lernende gebeten, vorherzusagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie gelernte Inhalte in einem späteren Test werden erinnern können. Studien zeigen, dass JOLs recht akkurat im Hinblick auf die Vorhersage zukünftiger Lernleistung sind (Rhodes & Tauber, 2011) und Einfluss auf Selbstregulation nehmen (Metcalfe & Finn, 2008). Da sich viele dieser Studien jedoch auf Laborparadigmen beschränken (siehe Rhodes, 2016), ist es eine offene Frage, ob JOLs auch im Feld Lernerfolg und Selbstregulation vorhersagen.
Ziel der vorliegenden Studie ist es, die Effekte von JOLs im Kontext eines intelligenten tutoriellen Lernsystems (Kulik & Fletcher, 2016; Ma et al., 2014) zu untersuchen, das von Studierenden für die selbstgesteuerte Klausurvorbereitung genutzt wird. Das Lernsystem bietet Übungsaufgaben in verschiedenen inhaltlichen Kapiteln zum Zwecke des practice testing (Roediger & Karpicke, 2006b, 2006a). Wir erwarteten, dass höhere JOLs für ein Kapitel mit höherer Leistung bei den Übungsaufgaben des spezifischen Kapitels und mit geringerer Lernzeit je Kapitel assoziiert sind. Hierbei erwarteten wir absolute Effekte hinsichtlich geringerer Lernzeit bei höherer JOLs und relative Effekte von mehr allokierter Lernzeit auf Kapitel mit relativ gesehen geringeren JOLs.
Methode
102 Studierende, die das intelligente tutorielle Lernsystem für die Vorbereitung auf eine Statistikklausur selbstreguliert nutzten (im Schnitt 24,72h reine Lernzeit je Individuum) erhielten jede Woche beim ersten Login in die Software die Aufforderung, ein JOL für jedes der sechs Kapitel abzugeben. Wir analysierten die prädiktive Validität der JOLs für das nachfolgende Lernverhalten. Wir betrachteten jeweils auf Tagesebene aggregierte Lernverlaufsdaten (Investierte Lernzeit und Anteil korrekt gelöster Aufgaben pro Tag und Lernkapitel), was in insgesamt N = 5321 Beobachtungen resultierte.
Mehrebenenanalysen bestätigten unsere Annahmen: JOLs hingen mit Persistenz und Leistung zusammen, wenn für allgemeine Trends steigender Lernaktivitäten und Leistung mit zeitlicher Nähe zur Klausur kontrolliert wurde (Capelle et al., 2022). Die kapitelspezifische JOLs sagten die Lösungswahrscheinlichkeit nachfolgender Übungsaufgaben im Lernsystem vorher, β = 0.14, p < .001. So wurde insgesamt weniger Lernzeit pro Tag für Kapitel investiert, bei denen höhere JOLs abgegeben wurden, β = -0.09, p < .001. Ebenfalls wurde die geringere relative Lernzeit pro Tag, das heißt die prozentuale Verteilung der Lernzeit auf die einzelnen Kapitel, durch die höhere relative Ausprägung der JOLs vorhergesagt, β = -0.09, p < .001.
Ergebnisse
Die Ergebnisse unterstreichen die prädiktive Validität von JOLs unter Nutzung objektiver Verhaltensspurdaten (Baker et al., 2020). JOLs eignen sich zur Vorhersage von zukünftiger Lernleistung und nachfolgendem Lernverhalten in einem intelligentem tutoriellen Lernsystem über den Verlauf mehrerer Wochen und unterstreichen damit die Bedeutung metakognitiver Prozesse bei der Selbstregulation von (digitalen) Lernaktivitäten. Auch wenn die Studie einen wichtigen Beitrag im Hinblick auf die Validierung von JOLs in bildungsbezogenen Lernumgebungen leistet und damit eine bestehende Forschungslücke schließt, ist sie mit einigen Einschränkungen im Design verbunden. Die Abgabe der JOLs im wöchentlichen Turnus sowie die aggregierte Abfrage auf Kapitelebene dürfte zu höherer Ungenauigkeit der Vorhersagen der Lernenden geführt haben. Eine Follow-Up Studie, bei der die JOLs während des Lernens auf Aufgabenebene abgefragt werden, zur Replikation und weiteren Validierung der Ergebnisse auch unter Betrachtung von Klausurerfolg, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Erhebung.*
*Auswertung der Daten bis zur GEBF avisiert
Fleißig und/oder stetig?: Was macht Bachelor-Studierende erfolgsreich in großen Einführungskursen?
Florian Berens1, Sebastian Hobert2 1Universität Tübingen, 2Technische Hochschule Lübeck
Theoretischer Hintergrund
Seit Jahrzehneten ist aus vielfältigen Laborstudien bekannt, dass verteiltes Lernen erfolgreicher ist als massiertes Lernen (z.B. Bjork & Allen, 1970). Dennoch wird weiterhin daran gearbeitet, ideale Lernverteilungen und Lernrhythmen zu finden (z. B. Murphy et al., 2022). Die deutliche Mehrheit der Studien untersucht Lernen dabei im Labor und über relativ kurze Zeiträume (Cepeda et al., 2006). Die fortschreitende Digitalisierung von Lernen macht es heute aber möglich, Lernen und Lernverhalten nicht-invasiv über digitale Verhaltensspuren zu untersuchen. In Bezug auf verteiltes Lernen ist von diesen Möglichkeiten aber bisher wenig Gebrauch gemacht worden. Yeckehzaare und Kollegen (2022) konnten durch dieses so gennnte Learning Analytics in einem Kurs zeigen, dass die Verteilung von Lernen im Semesterverlauf in Beziehung steht zum Lernerfolg. Analysen, die mehrere Dimensionen von Verteilung des Lernens und verschiedene Lernformate getrennt voneinander analysieren und dann in Beziehung setzen, fehlen jedoch.
Diese Untersuchung thematisiert daher, ob verschiedene Formen und Varianten von verteiltem Lernen alle jeweils positiv mit Lernerfolg verbunden sind. Außerdem sollen die Stärken dieser Beziehungen miteinander und mit der Beziehung zwischen Fleiß und Lernerfolg verglichen werden.
Methode
Untersucht wird ein einführender Statistikkurs des ersten Studienjahres verschiedener sozialwissenschaftlicher Studiengänge. Für n=181 Studierende des Kurses liegen digitale Verhaltensdaten und verknüpfbare Prüfungsdaten vor. Die Verhaltensdaten enthalten dabei Informationen über den Umgang der Studierenden mit den vorlesungsersetzenden Lernvideos, mit den Übungsaufgaben, über die (aktive und passive) Teilnahme am Tutorium und über die Nutzung des Kursglossars. Diese Daten wurden zu folgenden Variablen operationalisiert: als Maß für das rezeptive Lernen die Anzahl der im Laufe des Semesters angesehenen Lehrvideos (1), als Maß für das aktive Lernen die Anzahl der durchgeführten Übungen (2) und die Anzahl der Suchen im Glossar (3). Als viertes Maß für die Quantität des Lernens wurde die Häufigkeit der Teilnahme an Tutorien gezählt (4). Als Maß für die Verteilung des Lernens wurde sowohl für die gesehenen Videos (5) als auch für die bearbeiteten Übungen (6) der Anteil berechnet, der während des Kurses und nicht erst kurz vor der Prüfung stattfand. In Bezug auf die Übungen wurde auch berechnet, welcher Prozentsatz des Lernens sich auf einen bestimmten Wochentag konzentrierte (7) und welcher Prozentsatz des Lernens während des Tages zwischen 9 Uhr und 17 Uhr stattfand (8).
Ergebnisse
Die Korrelationen zwischen den genannten Variablen und dem Prüfungserfolg zeigen für alle Variablen hochsignifikante Korrelationen. Die Anzahl der absolvierten Übungen korreliert mit 0,540 am stärksten, während die Anzahl der angesehenen Videos deutlich geringer korreliert (0,274). Die geringste Korrelation findet sich für die Abfragen im Glossar mit 0,177. Die Teilnahme am Tutorium liegt relativ hoch (0,456). Unter den Variablen des verteilten Lernens korreliert auf Ebene der Verteilung im Kursverlauf der Anteil bei den Videos mit 0,494 deutlich höher als der Anteil der Fragen (0,209). Etwas höher korreliert die Konzentration des Lernens an einem Wochentag mit -0,342. Der Anteil des Lernens während des Arbeitstages korreliert mit 0,197 niedriger.
Bringt man alle genannten Variablen sowie den Abiturdurchschnitt und das Geschlecht in ein Regressionsmodell zur Erklärung des Erfolgs, ergibt sich ein Modell mit R^2=0,540. Neben dem Notendurchschnitt und dem Geschlecht zeigen auch die Gesamtzahl der bearbeiteten Übungen, der Anteil der während des Kurses angesehenen Videos und der Anteil der zwischen 9 und 17 Uhr bearbeiteten Fragen signifikante Effekte. Die anderen Effekte verschwinden aufgrund der Kollinearität der Prädiktoren.
Betrachtet man die Ergebnisse in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich, dass die Verteilung des Lernens tatsächlich einen Einfluss auf den Lernerfolg hat. Allerdings sind diese Effekte für das rezeptive Lernen stärker als für das aktive Lernen. Daraus lässt sich schließen, dass in realen Lernumgebungen die Quantität und die Verteilung des Lernens relevant sind und darüber hinaus der Lernform Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.
Retrieval Practice in der Hochschulbildung: Erforschung der Auswirkungen des Inhaltstransfers in einem Gateway-Mathekurs
Jakob Schwerter1, Thomas Dimpfl2, Fani Lauermann3 1TU Dortmund, 2Universität Hohenheim, 3Universität Bonn
Theoretischer Hintergrund
Der positive Effekt von Selbsttests (retrieval practice, self-testing) auf das Lernen von Lernenden gehört zu den am besten gesicherten Erkenntnissen in der Lernforschung (z.B., Meta-Analysis von Yang et al., 2021). Es gibt jedoch relativ wenige Studien, die sich auf Mathematik in authentischen Kontexten konzentrieren, und unser Wissen über potenzielle Transfereffekte auf nicht getestete, aber konzeptuell verwandte Inhalte ist begrenzt. Obwohl einige Forscher*innen bezweifeln, dass Selbsttests zu einem Inhaltstransfer führen können, weil dieser mit zunehmender Komplexität verschwindet (Anderson et al., 1994; van Gog & Sweller, 2015), gibt es Hinweise darauf, dass ein Transfer auf nicht getestete, aber konzeptionell verwandte Informationen möglich ist (Bjork et al., 2014; Butler, 2010). In der vorliegenden Studie wurde mit Hilfe von Randomisierung innerhalb einer Person (within-person randomization) und einer Instrumentvariablen-Regression das Problem der Selektion in die Übung im Vergleich zu anderen Studien gelöst (Förster et al., 2018; Schwerter et al., 2022), um die Effekte kausal zu interpretieren.
Die Studie untersucht, (a) ob Übungstests die Leistungen von Studierenden in einem Mathematik-Grundkurs beeinflussen und (b) ob Übungstests einen Transfer auf ungeübte Mathematikaufgaben ermöglichen.
Methode
An der Studie nahmen Studierende der Betriebswirtschaftslehre (N = 731, 50% weiblich) teil, die in einem Mathe-Gateway-Kurs eingeschrieben waren. Eine Randomisierung innerhalb der Gruppe stellte sicher, dass alle Studierenden die wöchentlichen Online-Selbsttests erhielten und davon profitieren konnten. Die Studierende bearbeiteten wöchentlich eine Teilmenge aus einem größeren Pool möglicher Matheaufgaben und drei Zwischentests über das Semester hinweg. Hierbei bereiten die wöchentlichen Übungen jeweils auf den nächsten Zwischentest vor.
Wir untersuchten, ob die Studierende nur aufgabenspezifisches Wissen für die spezifischen Matheaufgaben erwarben, die sie bearbeiteten, oder ob sie auch mathematisches Wissen über die geübten Aufgaben hinaus erwarben (d.h. Transfereffekte). Die Studierende gaben zu Beginn der wöchentlichen Online-Übungen an, wie sie am Kurs teilgenommen hatten (Vorlesungen besuchen, Arbeitsblätter bearbeiten, Lösungsvideos ansehen). Die Teilnahme der Studierende und Fixed-Effects für jede Matheaufgabe dienten als Kontrollvariablen. Es gab Anreize für die Teilnahme: Die Studierende konnten sich die Teilnahme an der Abschlussprüfung anrechnen lassen.
Ergebnisse
Mit Hilfe von Instrumentvariablen-Regressionen wurden die Auswirkungen der Behandlung auf die Behandelten geschätzt. Einen zum 1%-Signifikanzniveau signifikanten positiven Übungseffekt um 3.7% und 4.0% in den respektiven Zwischentestaufgaben wurde gefunden, die die Studierende in ähnlicher Form in ihren wöchentlichen Online-Übungen geübt hatten, z. B. die gleiche Aufgabe, aber mit anderen Zahlen (Gruppe 1: β = .037, SE = .014, p < .01; Gruppe 2: β = .0.04, SE = .015, p < .01). Fixed-Effects und Random-Effects Panel-Regressionen bestätigten die Ergebnisse. Die Studierende schnitten am besten bei ähnlichen Matheaufgaben ab, deutlich schlechter bei mittleren Transferproblemen (z.B. unterschiedliche Formulierungen, β = -.038, SE = .016, p < .05) und am schlechtesten bei fernen Transferproblemen (neue Arten von Matheaufgaben; β = .785, SE = .022, p < .001). Die Wechselwirkungen zwischen der Treatmentvariable (welche spezifischen Probleme geübt wurden) und der Transferbedingung (kein Transfer, mittlerer Transfer und ferner Transfer) waren nicht signifikant, was darauf hindeutet, dass die Treatmentresultate unabhängig von der Transferbedingung waren (Gruppe 1 \times mittlerer Transfer: β = -.001, SE = .027; Gruppe 1 \times ferner Transfer: β = -.012, SE = .034; Gruppe 2 \times mittlerer Transfer: β = -.057, SE = .036; Gruppe 2 \times ferner Transfer: nicht genug Variation).
Diese Studie ist eine der ersten, die einen kausalen Nachweis für die Wirksamkeit von Übungstests in einem Mathe-Gateway-Kurs an der Universität liefert. Insbesondere deuten die Analysen darauf hin, dass der Treatmenteffekt auch für Mathematikaufgaben mit mittlerem und hohem Schwierigkeitsgrad gilt, was die Wirksamkeit von Übungstests im (höheren) Mathematikunterricht belegt. Die Studie zeigt somit, wie vielversprechend Übungstests sind, um das Lernen von Studierenden in anspruchsvollen Bildungskontexten zu unterstützen.
|