Symposium
Studienabbruch und Studienerfolg
Chair(s): Carola Grunschel (Universität Münster, Deutschland), Martin Neugebauer (Freie Universität Berlin)
Discussant(s): Ulrich Heublein (Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung)
Nach Schätzungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) brechen rund 30 % aller Studierenden ihr Studium ab (Heublein, Hutzsch & Schmelzer, 2022). Die Studienabbruchraten an Universitäten sind dabei höher als an Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Studierende der Mathematik sowie der Natur- und Geisteswissenschaften sind besonders von einem Studienabbruch betroffen (fast 50 %). Angesichts dieser hohen Abbruchraten stehen Hochschulen vor der Herausforderung, Studienabbrüche zu verhindern und den Studienerfolg zu fördern (Neugebauer, Daniel & Wolter, 2021).
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert seit dem Jahr 2017 Forschungsprojekte, die sich mit der Untersuchung von Studienabbruch und Studienerfolg aus den Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen näher befassen. Im Rahmen des Symposiums präsentieren und diskutieren vier dieser Projekte Ergebnisse ihrer derzeitigen Forschungsaktivitäten. Die Beiträge unterscheiden sich hinsichtlich ihrer konkreten Fragestellungen, der eingesetzten Methoden, der verwendeten Daten und der disziplinaren Verortung, um das breite Spektrum laufender Forschungsaktivitäten im Rahmen der BMBF-Förderlinie „Studienerfolg und Studienabbruch II“ zu präsentieren.
Im ersten Beitrag (Preuß, Zimmermann & Jonkmann) wird eine Längsschnittstudie internationaler MINT-Studierender vorgestellt, in der aus psychologischer Sicht die inter- und intraindividuellen Zusammenhänge zwischen Komponenten der Studienmotivation (Erwartung und Wert) sowie Studienabbruchintentionen untersucht werden. Es zeigen sich insgesamt interindividuelle Zusammenhänge zwischen studienbezogenen Erwartungen und Wertüberzeugungen sowie Studienabbruchintentionen der internationalen Bachelorstudierenden. Im Unterschied dazu gab es kaum wechselseitige Beziehungen zwischen Veränderungen in motivationalen Merkmalen und Studienabbruchintentionen auf intraindividueller Ebene im Zeitverlauf.
Der zweite Beitrag (Scheunemann et al.), der ebenfalls in der Psychologie zu verorten ist, überprüft die Wirksamkeit eines mehrwöchigen, digitalen Präventionsprogramms für MINT-Studierende zur Förderung ihres Studienerfolg. Das Programm zielte besonders auf die Förderung der Motivation, Motivationsregulation und Zeitplanung im Studium ab. Als freiwilliges Angebot wurde es an fachwissenschaftliche Veranstaltungen im zweiten Semester angebunden. Im Rahmen einer Studie mit einem Wartekontrollgruppendesign zeigten sich positive Effekte im Hinblick auf die Studienmotivation, das Studierverhalten und Kriterien des Studienerfolgs.
Im dritten Beitrag (Berens et al.) aus dem Bereich der Bildungsökonomie wird untersucht, wie Verwaltungsdaten von Hochschulen genutzt werden können, um bereits zu Beginn des Studiums Studierende zu identifizieren, die Gefahr laufen, ihr Studium abzubrechen. Dabei wird auch analysiert, ob sich bestimmte Cluster von Studienabbrecher:innen identifizieren lassen. Des Weiteren wird die Effektivität von Interventionen überprüft, die mit geringem Aufwand umsetzbar sind. Es zeigt sich insgesamt, dass Hochschulen durch das Monitoring und die Nutzung von Daten ihrer Studierenden ein erhebliches Steuerpotential in Bezug auf den Studienabbruch haben.
Der vierte Beitrag (Neugebauer & Forster) aus dem Bereich der soziologischen Bildungsforschung präsentiert die Ergebnisse eines Feldexperiments zu den Arbeitsmarktchancen von Studienabbrecher:innen. Dazu wurden über 3000 Bewerbungen an reale Ausbildungsbetriebe gesandt. In den Bewerbungen wurden Angaben zur Bildungsbiographie (Abitur, Studienabbruch), das Geschlecht und der ethnische Hintergrund der Bewerbenden variiert. Die Auswertungen des Feldexperiments zeigen, dass ein Studienabbruch Bewerbenden insgesamt nicht schadet. Für einige Gruppen konnten sogar Vorteile (z.B. Bewerberinnen), aber auch Nachteile (bei ethnischem Hintergrund) aufgedeckt werden.
Ein abschließender Diskussionsbeitrag von Ulrich Heublein synthetisiert die Befunde und reflektiert bestehende Herausforderungen im Forschungsfeld des Studienabbruchs und Studienerfolgs.
Presentations of the Symposium
Studienerfolg und Studienabbruch internationaler MINT-Studierender in Deutschland: Längsschnittliche Zusammenhänge zwischen Erfolgserwartungen, Wertüberzeugungen und Studienabbruchintentionen auf inter- und intraindividueller Ebene aus intersektionaler Perspektive
Judith Sarah Preuß, Julia Zimmermann, Kathrin Jonkmann
FernUniversität in Hagen
Theoretischer Hintergrund
An deutschen Hochschulen sind internationale Studierende mit einem Anteil von 12 % eine bedeutende, jedoch wenig beforschte Gruppe (DAAD & DZHW, 2023). Fast 53 % von ihnen studieren in MINT-Fächern und könnten somit dazu beitragen, den bestehenden Fachkräftemangel zu reduzieren (Hoffmeyer-Zlotnik & Grote, 2019). Jedoch brechen besonders viele internationale Bachelorstudierende (41 % versus 28 % der deutschen Studierenden) ihr Studium ab (Heublein et al., 2022). Ein Studienabbruch verursacht nicht nur persönliche, sondern auch gesellschaftliche und ökonomische Kosten. Um passgenaue Interventionen zu implementieren, ist es notwendig, die Bedingungen des Studienerfolgs und die Herausforderungen zu identifizieren, die zum Studienabbruch internationaler MINT-Studierender führen.
Die (situative) Erwartungs-Wert-Theorie (EVT; Eccles et al., 1983; bzw. SEVT; Eccles & Wigfield, 2020) erklärt Studienerfolg und Persistenz durch motivationale Merkmale, wie studienbezogene Erwartungen und Wertüberzeugungen. Eine vorhergehende querschnittliche Analyse (Preuß et al., 2023) zeigte Zusammenhänge zwischen den Erwartungs- und Wertüberzeugungen internationaler (MINT-)Studierender zu Beginn ihres Studiums in Deutschland, ihren Sprachkompetenzen sowie ihrer Zugehörigkeit zu (multiplen) demographischen Gruppen, die im Sinne der Intersektionalität (Cole, 2009; Crenshaw, 2017) potentiell Benachteiligungen im MINT-Studium bedingen könnten. Bezüglich des dynamischen Zusammenwirkens der verschiedenen EVT-Komponenten mit Kriterien des Studienerfolgs legten bisherige Befunde von Schnettler et al. (2023) zudem einen negativen Moderationseffekt der wahrgenommenen psychologischen Kosten auf den negativen Zusammenhang zwischen den Erfolgserwartungen und der Studienabbruchintention nahe.
Fragestellung
Vor diesem Hintergrund untersuchte die aktuelle Studie inter- und intraindividuelle Dynamiken zwischen Erwartungen, Wertüberzeugungen, Sprachkompetenzen und Studienabbruchintentionen internationaler MINT-Studierender mittels eines Random-Intercept Cross-Lagged Panel Models (RI-CLPM; Hamaker et al., 2015; Mulder & Hamaker, 2021). Zudem wurden interindividuelle Unterschiede aufgrund von Geschlecht, elterlichem akademischen Hintergrund und Herkunftsregion sowie deren Interaktion berücksichtigt, um mögliche Benachteiligungen spezifischer Studierendengruppe aus intersektionaler Perspektive zu betrachten. Weiterhin wurde durch eine Moderationsanalyse auf within-Ebene geprüft, ob intraindividuelle Zusammenhänge zwischen akademischer Selbstwirksamkeit und Studienabbruchsintentionen durch Veränderungen wahrgenommener psychologischer Kosten moderiert werden.
Methode
Genutzt wurden die Daten der ersten fünf Messzeitpunkte der Panelstudie „International Student Survey“ (Falk et al., 2021) von N = 840 internationalen MINT-Studierenden im Bachelorstudium. Effekte von Alter und vorhergehenden Aufenthalten in Deutschland wurden kontrolliert. Die akademische Selbstwirksamkeitserwartung (Erwartungskomponente) wurde mit einer adaptierten Version der Kurzskala zur Erfassung allgemeiner Selbstwirksamkeitserwartungen (ASKU, Beierlein et al., 2013) erhoben. Die Operationalisierung der studienbezogenen Wertüberzeugungen erfolgte mit sechs Items der Kurzskala von Gaspard et al. (2015) mit je zwei Items zu achievement value, utility value und costs. Intrinsic value wurde durch zwei Items der Facette „Zufriedenheit mit den Studieninhalten“ der Studienzufriedenheitsskala (Westermann et al., 1996, in Anlehnung an Heise & Thies, 2015) erfasst. Die Studienabbruchintention wurde mit einem Item „Ich denke ernsthaft darüber nach, mein aktuelles Studium ganz aufzugeben.“ aus dem NEPS (2018) operationalisiert. Zur Erfassung des kulturellen Hintergrundes wurden die Herkunftsländer der Studierenden zu Ländergruppen (DAAD & DZHW, 2020) zusammengefasst. Die Kategorie „mit akademischem Hintergrund“ wurde vergeben, wenn mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss aufwies.
Ergebnisse und ihre Bedeutung
Die bisherigen Befunde bestätigen die erwarteten interindividuellen Zusammenhänge zwischen studienbezogenen Erwartungen und Wertüberzeugungen und Studienabbruchintentionen der internationalen Bachelorstudierenden und legen eine Benachteiligung von internationalen MINT-Studentinnen sowie von Studierenden verschiedener Herkunftsregionen hinsichtlich der motivationalen Studienerfolgsbedingungen nahe. Demgegenüber gab es kaum Anhaltspunkte für wechselseitige (moderierte) Beziehungen zwischen Veränderungen in motivationalen Merkmalen und Studienabbruchintentionen auf intraindividueller Ebene im Zeitverlauf. Die Ergebnisse werden hinsichtlich theoretischer Implikationen und Schlussfolgerungen für die Gestaltung von Interventionsmaßnahmen, die die Verringerung von Studienabbruchsintentionen bewirken sollen, diskutiert.
Mit Motivation und guter Zeitplanung erfolgreich studieren – Unterstützung durch ein digitales Präventionsprogramm
Anne Scheunemann1, Lena S. Kegel2, Sophie von der Mülbe3, Jens Fleischer4, Markus Dresel3, Stefan Fries5, Detlev Leutner6, Joachim Wirth4, Carola Grunschel2
1Ruhr-Universität Bochum und Universität Münster, 2Universität Münster, 3Universität Augsburg, 4Ruhr-Universität Bochum, 5Universität Bielefeld, 6Universität Duisburg-Essen
Theoretischer Hintergrund und Fragestellung
Eine mangelnde Studienmotivation und Schwierigkeiten in der Handlungsregulation wie der Zeitplanung können zu ungünstigem Studierverhalten wie Prokrastination (Kegel et al., 2021; van Eerde, 2015) sowie beeinträchtigter Leistung und eingeschränktem Wohlbefinden von Studierenden (Liborius et al., 2019; Schneider & Preckel, 2017) führen. Besonders deutlich wird der Unterstützungsbedarf für den Umgang mit diesen multiplen selbstregulatorischen Herausforderungen im Studium bei MINT-Studierenden, die hohe Studienabbruchquoten aufweisen, die mit Motivations- und Leistungsproblemen einhergehen (Heublein et al., 2020). Bislang liegen jedoch überwiegend Präventionsmaßnahmen vor, die isoliert einzelne Aspekte wie Studienmotivation (Rosenzweig et al., 2022), Motivationsregulation (Eckerlein, 2020) oder Zeitplanung (Häfner et al., 2015) adressieren. Diese Schlüsselkompetenzen in ein Programm zu integrieren, erscheint zielführend, um Studierende ganzheitlich für den Umgang mit mehreren und gleichzeitig auftretenden Herausforderungen im Studium zu stärken.
Im Forschungsprojekt wurde ein Präventionsprogramm entwickelt, das neun wöchentliche Kapitel à 30 Minuten umfasst und digital über Lernplattformen der beteiligten Universitäten angeboten wird. Es beinhaltet Inputvideos, Reflexionsaufgaben und Anwendungsmöglichkeiten zum Einüben von Strategien zur Förderung der Motivation, Motivationsregulation und Zeitplanung. Dazu zählen fähigkeitsbezogene Selbstinstruktionen, Zeitpläne sowie der Umgang mit negativen Emotionen im Studium.
Ziel des Beitrags ist das Präventionsprogramm anhand von proximalen und distalen Variablen mittels eines Warte-Kontrollgruppen-Designs zu evaluieren. Wir erwarten günstige Veränderungen primär in der Studienmotivation (Erwartung, positive Wertkomponenten, motivationale Kosten) sowie dem Einsatz von Motivationsregulations-, Emotionsregulations- und Zeitplanungsstrategien als proximale Variablen. Zudem wird geprüft, inwiefern sich günstige Veränderungen in Prokrastination und Studienerfolg (Studienzufriedenheit, Studienabbruchintention, Studienleistung) als distale Variablen ergeben.
Methode
Studierende im zweiten Semester verschiedener MINT-Studiengänge an vier deutschen Universitäten nahmen im Sommersemester 2023 am Präventionsprogramm teil, das als freiwilliges Angebot in zentrale Lehrveranstaltungen eingebettet war. Weitere MINT-Studierende anderer Universitäten bildeten die Warte-Kontrollgruppe. Zur Untersuchung kurzfristiger Effekte des Präventionsprogramms diente eine Prä-Post-Befragung. Ein Follow-Up zu Beginn des Wintersemesters 2023/2024 ermöglicht die Untersuchung langfristiger Effekte. Einschlusskriterien für die Analysen waren die Teilnahme an Prä- und Post-Befragung sowie mindestens fünf vollständig bearbeitete Kapitel des Präventionsprogramms. Damit ergeben sich für die Präventionsprogrammgruppe N = 57 Studierende (47 % weiblich) und für die Warte-Kontrollgruppe N = 202 Studierende (30 % weiblich). Die Auswertungen erfolgten mittels ANOVAs mit Messwiederholung.
Ergebnisse und ihre Bedeutung
Es zeigten sich günstige Effekte unseres Präventionsprogramms gegenüber der Warte-Kontrollgruppe in folgenden proximalen Variablen (Interaktion Zeit X Treatment): Erwartung (F(1, 257) = 8.409, p = .004; partielles η2 = .032), Anstrengungskosten (F(1, 257) = 6.715, p = .010; partielles η2 = .025), Akzeptanz von Emotionen (F(1, 257) = 4.688, p = .032; partielles η2 = .018), Emotionsregulation (F(1, 257) = 6.166, p = .014; partielles η2 = .023), Anwendungshäufigkeit fähigkeitsbezogener Selbstinstruktionen (F(1, 257) = 14.614, p < .001; partielles η2 = .054) und wahrgenommene Zeitkontrolle (F(1, 257) = 6.480, p = .011; partielles η2 = .025). Die Verringerung von Anstrengungskosten ist besonders interessant, da frühere Kosteninterventionen keine Effekte für Kosten zeigten (z.B. Perez et al., 2019). Für die distalen Variablen zeigten sich günstige Effekte für Prokrastination (F(1, 257) = 6.601, p = .011; partielles η2 = .025) und Zufriedenheit mit den Studienbedingungen (F(1, 257) = 4.246, p = .040; partielles η2 = .016). Möglicherweise entfalten sich weitere günstige Effekte in den distalen Variablen erst langfristig. Die Ergebnisse werden daher bis zur Tagung im März um Ergebnisse des Follow-Ups ergänzt.
Unser integriertes Präventionsprogramm zeigt, dass die ganzheitliche Förderung von Motivation, Motivationsregulation und Handlungsregulation positive Effekte für proximale und distale Zielvariablen eines erfolgreichen Studiums vereinen kann. Die digitale Umsetzung ermöglicht einen einfachen Transfer in andere Lehrveranstaltungen sowie ein zeit- und ortsflexibles Bearbeiten der Kapitel. Üblicherweise profitieren von solchen Trainingsangeboten v.a. leistungsschwächere Studierende (z.B. Rosenzweig et al., 2019). Weitere Analysen sind geplant, um zu überprüfen, ob sich ähnliche Effekte auch für das vorliegende Präventionsprogramm zeigen.
Studienabbrüche früh und präzise vorhersagen - und dann?
Johannes Berens, Thomas Gößl, Leandro Henao, Luis Rumert, Kerstin Schneider, Franz Westermaier
Bergische Universität Wuppertal
Studienabbrüche sind mit erheblichen Kosten für Studierende, Hochschulen und die Gesellschaft verbunden. Ein Studienabbruch kann als Fehlinvestition sowie als Scheitern interpretiert werden (Larsen et al. 2013). Daher entwickeln Hochschulen verstärkt Maßnahmen, um Studienabbrüche zu verhindern oder zu beschleunigen. Dabei ist bekannt, dass das erste Studienjahr einen besonderen Einfluss auf den akademischen Werdegang (Brahm et al. 2016) hat und stärker mit dem Studienerfolg korreliert als folgende Studienjahre (Stinebrickner und Stinebrickner 2014, 2008; Arcidiacono et al. 2016). Die Abbruchneigung von Studierenden sollte also früh erkannt werden, um Unterstützung anbieten zu können (Arulampalam et al. 2005; Heublein et al. 2017). Allerdings zeigen Interventionen allerdings häufig nur geringe Effekte (Oreopoulos et al. 2022) und effektive Interventionen wie Mentoring-Programme sind oft teuer (Sneyers and De Witte 2018). Zudem müssen sowohl der besondere Kontext des deutschen Hochschulsystems (Himmler et al. 2019; Brade et al. 2022) als auch die Heterogenität der Studierenden für den Zuschnitt der Maßnahmen berücksichtigt werden (McBroom et al. 2020; Behr et al. 2021).
Die direkte Ansprache abbruchgefährdeter Studierender durch die Hochschulen ist in Deutschland selten, auch weil an Hochschulen in Deutschland kein konsequentes Monitoring eingesetzt wird. Damit verzichten Hochschulen auf Steuerungspotential. Die Studie schließt an Berens et al (2019) an, nutzt die Studierendendaten einer mittelgroßen Universität in NRW und fragt
a. ob frühe Prognosen bereits in den ersten Monaten des Studiums auch ohne Leistungsdaten des ersten Semesters möglich sind,
b. ob Studienabbrecher eine heterogene Gruppe sind und wie Cluster gebildet werden können,
c. wie (abbruchgefährdete) Studierende adressiert werden können und ob Interventionen heterogene Effekte aufweisen.
Drohende Studienabbrüche lassen sich mit Methoden des maschinellen Lernens auf der Basis von Verwaltungsdaten nach §3HStatG früh im Studium vorhersagen. Da Leistungsdaten aus dem ersten Semester jedoch erst im zweiten Semester vorliegen, können darauf aufbauende Interventionen erst gegen Mitte des zweiten Semesters beginnen. Um früher zu prognostizieren, werden Daten von Klausuranmeldungen genutzt. Es zeigt sich, dass sowohl die Accuracy als auch die Precision der Prognose mit Klausurergebnissen nahezu die Prognosegüte mit Informationen aus Klausuranmeldungen erreicht.
Weiterhin können Studierende oder abbruchgefährdete Studierende basierend auf den Verwaltungsdaten geclustert werden. Dazu wird eine Kombination aus zwei Unsupervised-Learning Algorithmen verwendet (UMAP und HDBSCAN). Das Verfahren findet drei Cluster von Studierenden, nämlich Studierende
- ohne Studienabschlussintention (Scheinstudierende),
- mit Passungsproblemen und
- mit fachlichen Problemen.
Schließlich werden in verschiedenen RCTs die Wirkungen von Interventionen auf Cluster von Studierenden getestet. Dabei werden zunächst nur Informationen über die akademischen Leistungen per E-Mail an die abbruchgefährdeten Studierenden geschickt. Während sich über alle abbruchgefährdeten Studierenden und die Gruppe der inaktiven Studierenden kein signifikanter Effekt zeigt, brechen aktive Studierende der Ingenieurwissenschaften aus der Interventionsgruppe ein Jahr nach der Intervention ihr Studium eher ab, während aktive MINT-Studierende eine geringere Abbruchneigung haben.
Eine weitere Intervention als RCT macht Studierende auf ein Self-Assessment MOVEO von ORCA.NRW zur Studienmotivation aufmerksam. In einem ersten Schritt wurden Studierende von Lehrenden angeschrieben und motiviert teilzunehmen (keine Bezahlung). Im Folgesemester wurden die Studierenden aus Erstsemesterveranstaltungen von den Lehrenden angeschrieben und es wurde eine Entschädigung von 5€ gezahlt. Schließlich wurde das Thema Studienmotivation durch das Projektteam in den Vorlesungen gepitched und in einer Lotterie konnten 20€ gewonnen werden. Die Take-up-Rate ist am höchsten, wenn der Nutzen der Intervention in der Vorlesung erläutert wurde. Aber auch in den anderen Experimenten zeigt sich, dass insbesondere jüngere Studierende der Versuchsgruppe von dem Self-Assessment profitieren, seltener ihr Studium abbrechen und mehr CP erreichen. Es zeigt sich jedoch kein Effekt auf Noten.
Hochschulen liegen also hinreichende Informationen für ein automatisiertes Monitoring vor. Bereits im ersten Semester können abbruchgefährdete Studierende identifiziert werden. Die Heterogenität der Studierendenschaft kann durch automatisierte Clusterverfahren abgebildet werden, um basierend darauf zielgenaue Maßnahmen zur Unterstützung von Studierenden zu entwickeln.
Schadet der Abbruch eines Bachelorstudiums jungen Menschen bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle? Ein Feldexperiment.
Martin Neugebauer, Andrea Forster
Freie Universität Berlin
Fragestellung und theoretischer Hintergrund
Das Gros der Studienabbruchforschung konzentriert sich auf die Beschreibung seiner Ursachen sowie Maßnahmen zu seiner Reduktion (Neugebauer et al. 2019). Im Vergleich dazu ist unser Wissen zu den Abbruchfolgen sehr begrenzt. Die bisherige Forschung zu den Arbeitsmarktfolgen eines Studienabbruchs stützt sich überwiegend auf Befragungsdaten ehemaliger Studierender mit begrenzten Möglichkeiten zur Berücksichtigung nicht beobachteter Heterogenität (z.B. Heublein et al., 2017). Erst in jüngster Zeit wurden experimentelle Vignettenstudien vorgestellt, die messen, unter welchen Umständen Arbeitgeber:innen bereit sind, Studienabbrecher:innen einzustellen (Daniel et al., 2019; Neugebauer & Daniel, 2022). Allerdings messen diese Studien lediglich Einstellungsabsichten von Arbeitgeber:innen und nicht deren tatsächliches Verhalten. Darüber hinaus konzentrieren sie sich auf eine begrenzte Anzahl von Berufen im IT- und im kaufmännischen Bereich sowie auf männliche Bewerber ohne Migrationshintergrund, wodurch die Vielfalt realer Bewerberfelder nicht angemessen abbildet wird.
Wir erweitern den Forschungsstand in zweifacher Hinsicht: Erstens stellen wir ein Feldexperiment vor, das es uns erlaubt, den kausalen Effekt des Studienabbruchs zu schätzen, indem wir die Einstellungsentscheidungen realer Ausbildungsbetriebe direkt beobachten. Zweitens untersuchen wir, ob die Folgen eines Abbruchs bei verschiedenen soziodemografischen Gruppen und in verschiedenen Berufsfeldern unterschiedlich sind. In Deutschland versuchen die meisten Studienabbrecher:innen, über die Aufnahme einer Berufsausbildung auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen (Heublein et al., 2019). Beliebt sind dabei vor allem anspruchsvolle Ausbildungsberufe, auf die sich typischerweise Abiturient:innen bewerben. Im vorliegenden Beitrag fragen wir daher, ob Studienabbrecher:innen bei der Bewerbung um Ausbildungsstellen Nachteile gegenüber Abiturient:innen haben, weil ihnen ein Makel des Scheiterns anhaftet, oder ob sie aufgrund ihrer zusätzlichen Studienerfahrung sogar einen Wettbewerbsvorteil genießen.
Humankapitaltheoretisch (Becker, 1964) sollte die an einer Hochschule verbrachte Zeit mit einer Akkumulation von Fähigkeiten verbunden sein. Studienabbrecher:innen hätten demnach Vorteile bei Bewerbungen, insbesondere dann, wenn im Falle eines fachverwandten Studiums berufsrelevante Fähigkeiten erworben wurden. Signaltheoretisch (Spence, 1973) könnte man hingegen annehmen, dass Arbeitgeber:innen einen Abbruch als Versagen und damit als Signal für geringe Fähigkeiten oder mangelndes Durchhaltevermögen interpretieren, was die Einstellungschancen von Studienabbrecher:innen gegenüber Abiturient:innen reduzieren sollte. Hinsichtlich verschiedener soziodemographischer Gruppen lässt sich unter Rückgriff auf die Theorie der statistischen Diskriminierung (Arrow, 1973) vermuten, dass der Nichtabschluss eines Hochschulstudiums bestehende Stereotype über ethnische Minderheiten (z.B. geringe Fähigkeiten) und über Frauen (z.B. mangelnde Flexibilität am Arbeitsplatz) verstärkt und als Auswahlkriterium für Arbeitgeber dient, um Bewerber:innnen mit diesen Merkmalen zu benachteiligen. Mit Blick auf verschiedene Berufe vermuten wir, dass Bewerbungen auf Berufe mit ausgeprägtem Fachkräftemangel die Chancen von Studienabbrecher:innen erhöhen sollten.
Daten und Methoden
In einem landesweiten Feldexperiment haben wir im Jahr 2022 N = 3.002 Bewerbungen auf real ausgeschriebene Ausbildungsstellen in vier Berufsfeldern (Elektronik, Labor, Verwaltung und Medien) verschickt. Experimentell variiert wurden dabei in einem 3 x 2 x 2 Design die Bildungsbiographie (Abitur, Abitur + Studienabbruch in Germanistik, Abitur + Studienabbruch Mathematik), das Geschlecht und der ethnische Hintergrund (deutsch, türkisch). Wir schätzen lineare Wahrscheinlichkeitsmodelle mit dem Antwortverhalten der Arbeitgeber:innen als abhängige Variable (Einladung zum Vorstellungsgespräch oder Absage).
Erste Ergebnisse
Unsere vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass der Abbruch eines Bachelorstudiums Bewerbenden nicht schadet. Im Durchschnitt haben sie eine etwa 2 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden als Bewerbende ohne Studienepisode.
Eine differenziertere Analyse legt nahe, dass dieser kleine Vorteil bei deutschen Frauen am größten ist (etwa 7 Prozentpunkte), bei deutschen Männern kleiner ist (2 Prozentpunkte) und bei Bewerber:innen mit türkischen Namen nicht existiert. Im Vergleich zu Bewerber:innen mit deutschen Namen werden sie seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, wenn sie einen Abbruch erlebt haben. Es zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Berufen.
Wir diskutieren die Bedeutung dieser Befunde vor dem Hintergrund hoher Studienabbruchquoten und ungleicher Lebenschancen.