Veranstaltungsprogramm

Sitzung
5-11: Fachliches Lernen und Sprache: Die Bedeutung überfachlicher und domänenspezifischer Sprachkompetenzen auf den Wissenserwerb im schulischen Fachunterricht
Zeit:
Dienstag, 19.03.2024:
13:10 - 14:50

Ort: S27

Seminarraum, 70 TN

Präsentationen
Symposium

Fachliches Lernen und Sprache: Die Bedeutung überfachlicher und domänenspezifischer Sprachkompetenzen auf den Wissenserwerb im schulischen Fachunterricht

Chair(s): Miriam Dittmar (PH FHNW)

Diskutant*in(nen): Anke Schmitz (PH FHNW)

Lernen geschieht in der Schule mehrheitlich über Sprache. Liegen nur unzureichende sprachliche Kompetenzen vor, so wirkt sich das auch immer auf das fachliche Lernen aus. Diese Erkenntnis gilt für alle Fächer (Schmitz & Sturm, 2023), denn im Fachunterricht basiert die Wissensvermittlung mit zunehmender Schulstufe immer mehr auf dem Einsatz komplexer schriftlicher Texte (Becker-Mrotzek & Roth, 2017). Dazu zählen das Verstehen von Sachtexten in naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächern (Härtig et al., 2015), das Verstehen von Aufgabentexten in Mathematik (Prediger & Krägeloh, 2015) und das reflektierte, kritische Lesen von Verfassertexten und Quellentexten in Geschichte (Shanahan & Shanahan, 2020). Daher wird eine lernzielbezogene Nutzung von Fachtexten nach wie vor als Schlüsselqualifikation bezeichnet (Weis et al., 2019a). Entsprechend stellt schulischer Erfolg Anforderungen an die Lesekompetenz und die (fach-)sprachlichen Fähigkeiten der Schüler:innen (Kassis et al., eingereicht; Leiß et al., 2023). Die jeweiligen Unterrichtsfächer stellen dabei unterschiedliche Anforderungen an die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler (Paetsch et al., 2016; Schneider et al., 2018).
Bis heute ist jedoch weitgehend unbekannt, welche Merkmale auf der Textseite und der Lernendenseite das fachliche Lernen determinieren und was fachspezifische Verstehensprozesse im Sinne einer Disciplinary Literacy (Shanahan & Shanahan, 2020) kennzeichnet bzw. wo es Überschneidungen hinsichtlich fachübergreifender Aspekte gibt. Dies lässt sich mitunter damit erklären, dass die Forschung zu sprachbasierten Lernprozessen sich unterschiedlicher disziplinärer Zugänge (i.d.R. sprachwissenschaftlich oder kognitionswissenschaftlich orientiert) bedient, die stärker aufeinander bezogen werden müssten. Diese bislang weitgehend disziplinär stattfindende Forschung wird im Symposium zusammengeführt und stellt eine Fortsetzung des Symposiums „Fachlich-interdisziplinäre Perspektiven auf das Textverstehen: Studien zu leserseitigen Determinanten und Verstehensprozessen im Umgang mit Fachtexten und Aufgaben“ im Jahr 2022 dar.
Es werden vier Studien aus Deutschland und der Schweiz vorgestellt, die mit quantitativen Methoden Fragen nach dem Zusammenhang von sprachlichen Fähigkeiten, sprachlichen Merkmalen und fachlichem Lernen ab der sechsten Klasse beleuchten. Es handelt sich um interdisziplinäre Projekte mit Beteiligung von Fachdidaktiken (Deutschdidaktik, Geschichtsdidaktik, Mathematikdidaktik, Physikdidaktik) und pädagogischer Psychologie, die sich auf fachspezifische Verstehensprozesse und leser*innenseitige sowie textseitige Einflussfaktoren am Beispiel der Disziplinen Mathematik, Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften konzentrieren.
Beitrag 1 widmet sich mithilfe eines linguistischen Analysetools der sprachlichen Komplexität von Schulbuchtexten der Fächer Geographie und Biologie über Klassenstufen weiterführender Schulen hinweg, um Fragen einer angenommenen systematischen Komplexifizierung zu betrachten. In Beitrag 2 wird fachspezifisch beleuchtet, welche lernendenseitigen (fach-)spezifischen sprachlichen Determinanten Einfluss auf das Physiklernen nehmen. Eine materialbasierte Interventionsstudie wird in Beitrag 3 vorgestellt, in der die Wirksamkeit von lesedidaktischen Maßnahmen auf den Verstehensprozess und das historische Lernen im Fach Geschichte in Abhängigkeit von der Lesekompetenz der Lernenden untersucht wird. Beitrag 4 betrachtet Notizen als Verstehens- und Lösungsstrategie bei realitätsbezogenen sprachlich-variierten Aufgaben im Mathematikunterricht, um Zusammenhänge mit dem Anfertigen von Notizen und dem Lösen der Aufgabe zu eruieren.
In der Diskussion werden die Befunde aus sprachdidaktisch-kognitionswissenschaftlicher Perspektive zusammengefasst, theoretisch verortet und Ansatzpunkte für zukünftige Forschungsanlässe aufgezeigt, um Spezifika von Verstehensprozessen, Determinanten und Fördermöglichkeiten auszuloten.

 

Beiträge des Symposiums

 

Ältere Schüler:innen – komplexere Texte? Zur Veränderung sprachlicher Komplexität von Schulbüchern

Nadine Cruz Neri, Jan Retelsdorf
Universität Hamburg

Theoretischer Hintergrund

Sprache spielt beim Erlernen von Fachinhalten eine wichtige Rolle, da sie die Kommunikation über und Vertiefung von Wissen ermöglicht (Nagy & Townsend, 2012). Lernende werden regelmäßig mit Sprache in Form von expositorischen Texten konfrontiert, z.B. in Schulbüchern (Berkeley et al., 2016). Beim Verstehen dieser Texte müssen sie ein Situationsmodell entwickeln (siehe Konstruktions-Integrations-Modell; Kintsch, 1988), was auf einer Auseinandersetzung mit der sprachlichen Gestaltung der Texte beruht. Entsprechend ist ein angemessenes Maß an sprachlicher Komplexität für das Verständnis der Fachinhalte in Schulbuchtexten unerlässlich. Gemäß der Annahme der systematischen Komplexifizierung sollten expositorische Texte in Schulbüchern in Abhängigkeit von der Lesekompetenz der Lernenden im Laufe der Schulzeit komplexer werden (Berendes et al., 2018). Tatsächlich sind Studien, die diese Komplexitätsannahme im deutschen Sprachraum untersuchen, rar. Unseres Wissens untersuchten nur Berendes et al. (2018) und Bryant et al. (2017) die sprachliche Komplexität von expositorischen Texten in Geographie-Schulbüchern. Es zeigte sich, dass die sprachliche Komplexität über die Klassenstufen nur teilweise zunahm, sodass die Annahme einer systematischen Komplexifizierung nicht vollständig bestätigt wurde.

Fragestellung

In der vorliegenden Studie wurde untersucht, ob die sprachliche Komplexität expositorischer Texte in deutschen Schulbüchern über Klassenstufen zunimmt. Gemäß der Annahme der systematischen Komplexifizierung nehmen wir an, dass Indikatoren für sprachliche Komplexität in expositorischen Texten aller Fächer systematisch über die Klassenstufen hinweg zunehmen.

Methoden

Es wurden Texte aus deutschsprachigen Schulbüchern für die Sekundarstufen I und II gewählt. Viele der Schulbücher sind für den Einsatz in mehreren Klassenstufen vorgesehen, weshalb drei Klassenstufen definiert wurden: die Beobachtungsstufe (Klassen 5/6), die Mittelstufe (Klassen 7-10) und die Oberstufe (Klassen 11-13). Bislang wurden 190 expositorische Texte der Schulfächer Biologie und Geographie analysiert. Die Analyse weiterer expositorische Texte und Fächer folgen. Für die Analysen wurde die Software LATIC gewählt (Linguistisches Analysetool für Text- und Itemcharakteristika), die eine hohe Genauigkeit bzgl. der Analysefunktionen bietet (Cruz Neri et al., 2022). Bislang konzentrierten wir uns auf neun sprachliche Merkmale, die in der Literatur als Indikatoren für sprachliche Komplexität gelten (z.B. White, 2012) wie bspw. verschiedene Lesbarkeitindices oder die Lexikvarianz.

Ausgewählte Ergebnisse und Diskussion

Es wurden multivariate Varianzanalysen mit Post-hoc-Tests für jedes Fach durchgeführt, um zu prüfen, ob sich die sprachlichen Merkmale zwischen den Klassenstufen signifikant unterschieden. Die Klassenstufen dienten als unabhängige Variable, die sprachlichen Merkmale als abhängige Variablen. Aufgrund der Vielzahl der Tests wurde eine Bonferroni-Korrektur vorgenommen.

Die Ergebnisse zeigten, dass einige sprachliche Merkmale, die auf die sprachliche Komplexität hinweisen, im Laufe der drei Klassenstufen signifikant zunahmen. In dieser Hinsicht stachen v.a. Oberflächenmerkmale wie die durchschnittliche Wort- und Satzlängen heraus. Es zeigte sich auch ein Anstieg der Lesbarkeitsindizes in Biologie- und Geographieschulbüchern im Verlauf der Klassenstufen. Verfassende von Schulbüchern sind sich solcher Oberflächenmerkmale oder Lesbarkeitsindizes entsprechend ggf. bewusst und berücksichtigen sie aktiv.

Über diese Oberflächenmerkmale hinaus, waren die Ergebnisse weniger eindeutig. So wird beispielsweise argumentiert, dass Konnektoren die Generierung von Schlussfolgerungen und den Aufbau eines Situationsmodells unterstützen (Kohnen & Retelsdorf, 2019). Es gab jedoch keinen Unterschied im prozentualen Anteil dieser zwischen den Klassenstufen in Geographie-Schulbüchern, obwohl gerade jüngere Lernende von Konnektoren profitieren könnten (Cain & Nash, 2011). Darüber hinaus zeigte sich in beiden Fächern keine systematische Zunahme der Lexikvarianz über die Klassenstufen hinweg. Angesichts dessen, dass eine höhere Lexikvarianz auf einen größeren Wortschatz hindeutet, wäre es wünschenswert, jüngere Lernende zu unterstützen, indem die Breite des Wortschatzes verringert wird.

Diese ersten Ergebnisse legen nahe, dass Verfassende von Schulbüchern die sprachliche Komplexität stärker berücksichtigen sollten. Lehrkräfte sollten anerkennen, dass expositorische Schulbuchtexte hohe sprachliche Anforderungen an Lernende stellen. Daher sollten Diskussionen um sprachliche Komplexität stärker im Unterricht stattfinden. Die Bewältigung sprachlicher Herausforderungen kann Lernende helfen, Texte besser zu verstehen und so ein kohärentes Situationsmodell zu erstellen (Kintsch, 1988).

 

Sprache als Schlüssel zum Verständnis der Physik: Evidenz aus Schweizer Grundschulen

Ursina Markwalder
PH Zürich

Theoretischer Hintergrund

Physik ist aufgrund ihrer Komplexität ein anspruchsvolles Fach und viele persönliche Einflussfaktoren werden beim Verständnis davon als relevant angesehen. Dazu gehören Sprachkompetenz, kognitive Fähigkeiten, vorherige Physikausbildung, Erstsprache, Geschlecht und der sozioökonomische Status der Familie (Angell et al., 2004; Bøe et al., 2011). Obwohl weithin anerkannt ist, dass Sprache eine zentrale Rolle beim Verständnis von naturwissenschaftlichen Fächern spielt (Härtig et al., 2015), wurde die Verbindung zwischen Physik- und Sprachkompetenz bislang kaum untersucht (Kempert et al., 2018). Dabei ist die Sprachkompetenz im Besonderen für das Fach Physik von grosser Bedeutung, weil sich beispielsweise die Fachkonzepte mit Schüler:innen-Vorstellungen aus der Alltagssprache vermengen. Ein anschauliches Beispiel ist der Begriff "Kraft". Im Alltag sagen wir beispielsweise: "Du musst Kraft aufwenden, um die Flasche zu öffnen" oder "Er hat mit Kraft auf den Tisch geschlagen". Im Gegensatz dazu besagt das erste Newtonsche Gesetz, dass ein ruhender Gegenstand in Ruhe verbleibt oder sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, es sei denn, eine äussere Kraft wirkt auf ihn ein. Mit dem Wort "Kraft" werden Konzepte aktiviert, die nicht dem Fachkonzept von Kraft entsprechen (Rincke, 2007). Das stellt insbesondere für diejenigen Schüler:innen eine grosse Hürde dar, die nie zuvor mit physikalischem Fachjargon in Kontakt gekommen sind, beispielsweise solche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund (Wolter et al., 2018).

Die aktuelle Studie wurde im Rahmen der SMS-Längsschnittstudie (Schweizer MINT-Studie) durchgeführt. In der SMS-Längsschnittstudie setzten sich Schüler:innen intensiv mit physikalischen Konzepten wie Schwimmen und Sinken, Schall, Luft und Luftdruck sowie Brücken auseinander (Hardy et al, 2006, Jonen & Möller, 2005). Das Material war so aufbereitet, dass die Schüler:innen die Fachinhalte durch Zuhören, Lesen, Sprechen und Schreiben verarbeiteten und mit ihrem Vorwissen verknüpfen mussten (Schalk et al, 2019).

Forschungsziel und Fragestellung

Ziel dieser Studie ist es, jene Einflussfaktoren aufzudecken, die die allgemeine Physikkompetenz von Grundschulkindern bestimmen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Sprachkompetenz liegt. Die Hypothese lautet daher: Die allgemeine Sprachkompetenz wird die allgemeine Kompetenz in Physik über andere wichtige Einflussfaktoren wie kognitive Fähigkeiten, Motivation, sozioökonomischer Status, Geschlecht, im Elternhaus gesprochene Sprache und frühe Physikausbildung hinaus vorhersagen.

Methode

In der Studie nahmen 855 Schülerinnen und Schüler teil (413 Jungen und 442 Mädchen), durchschnittlich 12,7 Jahre alt (SD = 0,464). Die abhängige Variable, die allgemeine Physikkompetenz, zielt auf ein umfassendes Verständnis der Physik ab und basiert auf Aufgaben aus der TIMSS-Studie (Trends in International Mathematics and Science Study) (Mullis et al., 2012).

Mittels einer «Mixed-Effects»-Regressionsanalyse mit dem lme4-Paket in R (Bates et al., 2015) untersuchten wir die zentralen Einflussfaktoren auf die allgemeine Physikkompetenz. Als unabhängige Variablen fungierten folgende Einflussfaktoren: Sprachkompetenz (gemessen am Lesetest "Lesen 6-7" (Bäuerlein et al, 2012)), Erstsprache, Geschlecht, familiärer sozioökonomischer Status (ISEI) (Ganzeboom et al, 1992), kognitive Fähigkeiten (drei Subskalen des KFT), Teilnahme am Frühphysikunterricht (aus der Schweizer MINT-Studie), Motivation für Naturwissenschaften sowie die Noten in Sprache und Mathematik.

Die hierarchische Struktur der Schüler:innen-Daten, die in Klassen verschachtelt sind, wurde durch Hinzufügen eines «Random Effects» für die Klasse berücksichtigt.

Ergebnisse

Die allgemeine Sprachkompetenz (Lesen 6-7) war der stärkste Prädiktor (β = .43, p < .00) für die allgemeine Physikkompetenz (TIMSS). Als weitere signifikante Prädiktoren mit kleinerer Effektstärke stellten sich der frühe Physikunterricht (β = .10, p = .01), kognitive Fähigkeiten (β = .17, p < .00), das Geschlecht (β = .14, p < .00) und die Note in Sprache (β = .10, p < .05) heraus. Die Resultate von beiden Teilstudien zeigen deutlich, dass die allgemeine Sprachkompetenz ein sehr wichtiger Prädiktor für die allgemeine Physikkompetenz (TIMSS) ist, mit einem wesentlich stärkeren Effekt als die anderen getesteten Variablen.

Insgesamt bekräftigen diese Ergebnisse die häufig postulierte, aber selten empirisch untersuchte, Schlüsselrolle der Sprachkompetenz für das Physikverständnis (Härtig & Kohnen, 2017).

 

Die Wirksamkeit textseitiger und aufgabenseitiger lesedidaktischer Maßnahmen auf das Textverstehen und das fachliche Lernen in Geschichte

Miriam Dittmar, Claudia Schmellentin
PH FHNW

Theoretischer Hintergrund

Historisches Wissen wird in hohem Maß mithilfe von Texten vermittelt und angeeignet (Rüsen, 2008). Die Anforderungen, die Geschichtslehrmitteltexte an die literalen Kompetenzen von Jugendlichen stellen, übersteigen jedoch häufig die vorhandenen Kompetenzen (von Borries et al., 2005). So erfordern Geschichtslehrmitteltexte nicht einfach die Informationsentnahme, sondern das kritische Hinterfragen von Narrativen (Wineburg, 2001) oder das Anwenden komplexer historischer Denkoperationen (Kühberger, 2012). Folglich sind die Lesekompetenzen für das Verstehen dieser Texte mindestens der PISA-Kompetenzstufe V zuzuordnen (Weis et al. 2019a). Um diese hierarchiehohen Leseverstehensleistungen zu erreichen, sind fachspezifische Lesestrategien notwendig, an welche Schüler*innen der Sekundarstufe I allerdings kaum hingeführt werden (Handro, 2018). Auch besteht nur wenig empirisch fundiertes Wissen darüber, wie diese Hinführung für die Sekundarstufe I didaktisch zu modellieren ist: Textseitig schlägt Schrader (2020) vor, den Leseverstehensprozess durch Kohärenzbildungshilfen (Schnotz, 1994) zu entlasten, welche globale Thema-Strukturen, übergeordnete Wissenseinheiten, funktionale Relationen sowie die Leseziele explizieren und sich an geschichtsdidaktischen Zielen orientieren. Zudem kann der Leseprozess sowie die Anwendung von fachspezifischen Lesestrategien mit leseprozesssteuernden Aufgaben angeleitet werden (Lindauer et al., 2013).

Forschungsziel und Fragestellung

Ziel des SNF-Forschungsprojektes ist es, die Wirksamkeit von Kohärenzbildungshilfen bzw. leseprozesssteuernden Aufgaben auf das Leseverstehen von Schüler*innen der Sekundarstufe I im Fach Geschichte zu überprüfen, um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie das Lernen mit Texten allen Lernenden – auch leseschwächeren – zugänglich gemacht werden kann. Daten liegen dazu aus einer Interventionsstudie vor, welche folgende Forschungsfragen bearbeitet:

1. Kann das Leseverstehen von Schüler*innen der achten Klasse beim Lesen eines Geschichtstextes verbessert werden, wenn lesedidaktisch orientierte Kohärenzbildungshilfen im Text eingefügt sind, bzw. wenn der Leseverstehensprozess durch leseprozesssteuernde Aufgaben angeleitet wird.

2. Wie profitieren Lernende mit unterschiedlichen Lesevoraussetzungen von den Kohärenzbildungshilfen bzw. den leseprozesssteuernden Aufgaben?

Methodisches Vorgehen

Die Fragestellung wurde mithilfe einer materialbasierten Intervention im between-subjects Design untersucht. Das Material bestand zum einen aus einem gut verständlichen Geschichtslehrmitteltext mit oder ohne lesedidaktisch orientierten Kohärenzbildungshilfen, zum anderen aus Aufgaben, die den Leseverstehensprozess zu diesem Lehrmitteltext kleinschrittig anleiten. Die Entwicklung der Materialien basierte sowohl auf Komplexitätsmerkmalen von Geschichtstexten (Schmellentin, 2020) als auch auf Ergebnissen aus Leseprozessbeobachtungen zu Textverstehensschwierigkeiten bei Achtklässler*innen (Dittmar et al., eingereicht). In der Interventionsstudie kam der Geschichtslehrmitteltext in vier Versionen in einem between-subjects Design zum Einsatz. Die drei Experimentalgruppen bearbeiteten je eine der drei Textversionen mit lesedidaktischen Maßnahmen (nur Kohärenzbildungshilfen (E1) oder nur Leseprozesssteuerung (E2) oder mit der Kombination aus beiden Maßnahmen (E3)), während die Kontrollgruppe den Text ohne lesedidaktische Maßnahmen (K) bearbeitete. Die Stichprobe setzte sich aus n=384 (14 Jahre 4 Monate, 56.5% weiblich, 43% männlich, 0.5% divers) Schüler*innen aus achten Sekundarklassen (nicht-gymnasial) in der Schweiz zusammen. Als Kovariablen wurden Leseflüssigkeit und Leseverstehen (LGVT 5-12+, Schneider et al., 2017), nichtsprachliche Intelligenz (CFT 20-R, Weiss, 2019), fachliches Vorwissen, DaZ- und Migrationshintergrund (Weis et al., 2019b) und SES (gemessen mit dem HISEI (Ganzeboom et al., 1992)) erhoben.

Ergebnisse

Die abhängige Variable bildete der Wissenszuwachs von Messzeitpunkt 1 (textbezogenes Vorwissen) zu Messzeitpunkt 2 (textbezogenes Nachwissen), die unabhängige Variable die Zugehörigkeit zu einer der vier Interventionsgruppen (K, E1, E2, E3). Erste Varianzanalysen zeigen einen knapp mittelstarken Haupteffekt für Interventionsgruppe (F(3,364)=6.252, p=0.000, η2=0.050). Kovarianzanalysen zeigen schwache bis mittelstarke Effekte aller Kovariablen sowie einen starken Effekt für Leseverstehen (F(2,364)=34, p=0.000, η2=0.162). Daher wurden drei Gruppen (Terzile) in Bezug auf Leseverstehenswerte (LGVT 5-12+) gebildet (schwache, mittlere und starke Leser*innen) und separat analysiert. Post Hoc Analysen mit Bonferroni-Korrektur weisen darauf hin, dass vor allem mittelstarke Leser*innen sowohl von Kohärenzbildungshilfen als auch von leseprozesssteuernden Aufgaben profitieren und schwach Lesende nicht. Stark Lesende profitieren nur gegenüber dem Originallehrmitteltext, wenn sie eine Kombination aus Kohärenzbildungshilfen und leseprozesssteuernde Aufgaben erhalten.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Kohärenzbildungshilfen und leseprozesssteuernde Aufgaben differenziell wirken und leseschwächere Lernende anderer Unterstützungsmaßnahmen bedürfen, die sprach- und geschichtsdidaktisch diskutiert werden.

 

Zur Beziehung zwischen Textverstehen, mathematischer Aufgabenlösung und Notizen

Lisa-Marie Wienecke
Leuphana Universität Lüneburg

Theoretischer Hintergrund

Klimawandel und Ressourcenknappheit - realitätsbezogene Aufgaben im Mathematikunterricht sind jene Aufgaben, bei denen solch reale Kontexte als inhaltliche Rahmung genutzt werden (Parchmann & Kuhn, 2018), um die Mündigkeit der Schüler*innen zu fördern (Boaler, 2001).

Zahlreiche empirische Studien haben gezeigt, dass der Übersetzungsprozess zwischen Realität und Mathematik während der Arbeit mit realitätsbezogenen Aufgaben mit kognitiven Barrieren verbunden ist (Galbraith & Stillman, 2006). Die Bildung eines adäquaten Situationsmodells aus dem Aufgabentext, welches die Voraussetzung für das richtige Lösen realitätsbezogener Aufgaben ist, fordert viele Schüler*innen heraus und hängt stark von verschiedenen individuellen sprachlichen Fähigkeiten (Strohmaier et al., 2023) ab - insbesondere vom Leseverstehen (Leiss et al., 2010; Pongsakdi et al., 2020) und der Lesestrategieanwendung (Schlager, 2020; Schmitz & Karstens, 2022, Schukajlow & Leiss, 2011).

Eine vielversprechende Lese- und Lösungsstrategie zur Überwindung der oben beschriebenen Schwierigkeiten ist das Anfertigen von Notizen (Graham et al., 2020; Rogiers et al., 2020; Rovers et al., 2019; Samuelstuen & Bråten, 2007; Schukajlow et al., 2012; Wienecke et al., 2023)

Fragestellungen

Differenzierte Analysen zur Gestaltung von Notizen und zum spezifischen Einfluss des Notizenanfertigens auf den Lösungsprozess stellen jedoch ein Forschungsdesiderat dar, welches in der vorliegenden Studie aufgegriffen wird:

FF1: Welche Merkmale weisen die Notizen der Schüler*innen bei der Bearbeitung von realitätsbezogenen Aufgaben auf?

FF2: Welche personenbezogenen Merkmale sind mit dem Anfertigen von Notizen bei der Bearbeitung realitätsbezogener Aufgaben verbunden?

FF3: Inwieweit erklärt das Anfertigen von Notizen zusätzliche Varianz bei der Lösung realitätsbezogener Aufgaben?

Methode

Die Daten zur Anfertigung von Notizen und dem Textverstehen wurden im Rahmen des DFG-geförderten VAMPS-Projekts (Variation Aufgaben Mathematik Physik Sprache) im within-subject Design erhoben. 424 Schüler*innen (47.0 % ♀, 50.6 % ♂, 2.4 % divers) der Klassenstufen 7 bis 10 einer kooperativen Gesamtschule in Niedersachsen generierten durch die Bearbeitung von je 3 Aufgaben 1 272 Antworten in einer Paper-Pencil-Erhebung. Die verschiedenen Ausprägungen von Notizen, die bei der Bearbeitung der realitätsbezogenen Aufgaben entstanden, wurden in den Auswertungen sowohl als abhängige (FF2) als auch unabhängige Variable (FF3, AV: Aufgabenlösung) betrachtet. Neben den Aufgaben wurden noch ein Cloze-Test, ein Fachtest zu den mathematischen Inhaltsbereichen der Aufgaben und ein soziodemografischer Fragebogen zur Erfassung von Kovariablen eingesetzt.

Ergebnisse

Insgesamt wurden zu knapp einem Drittel der bearbeiteten Aufgaben unaufgefordert Notizen gemacht. Prozentual zeigt sich, dass entgegen der Erwartungen das Unterstreichen nicht die meistgenutzte Form der Notiz ist (7,2 %). Tendenziell wurden mit 21,5 % die meisten Aufgaben mit der Strategie des Herausschreibens der relevanten Daten gelöst. Eine weitere viel genutzte Strategie ist die Verwendung strukturierender Merkmale (22,5 %). Bezüglich des Einflusses von personenbezogenen Merkmalen zeigt sich am stärksten ein Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status (r = .12 mit p < .001). In Bezug auf den Einfluss auf die fachliche Lösung zeigen die Koeffizienten eines Generalized Linear Mixed Models, dass Notizen unter Kontrolle der innermathematischen (beta = .47 mit p < .001) und sprachlichen (beta = .52 mit p < .001) Kompetenzen ein signifikanter Prädiktor (beta = .39 mit p < .01) für die richtige Lösung realitätsbezogener Aufgaben sind. Fügt man als möglichen Prädiktor das Textverstehen hinzu, bleibt neben innermathematischen und sprachlichen Kompetenzen das Textverstehen und das Anfertigen hilfreicher Notizen signifikant. Der Modellfit wurde unter anderem mit einem conditional R2 (Nakagawa et al., 2017) und dem Akaike information criterion (Burnham & Anderson, 2004) überprüft und es zeigt sich, dass die Modelle, die das Anfertigen von Notizen enthalten, besser sind als jene ohne Notizen.

Resultierend zeigt sich, dass verschiedene Formen von Notizen verschiedene Einflussfaktoren haben, verschieden den Lösungsprozess beeinflussen und es folglich weiterer Analysen auf diesem Gebiet bedarf.