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Sitzungsübersicht
Sitzung
4-09: Professionelle Unterrichtswahrnehmung: Wie blicken Lehrkräfte auf ihre Schülerinnen und Schüler?
Zeit:
Dienstag, 19.03.2024:
10:30 - 12:10

Ort: S17

Seminarraum, 70 TN

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Präsentationen
Symposium

Professionelle Unterrichtswahrnehmung: Wie blicken Lehrkräfte auf ihre Schülerinnen und Schüler?

Chair(s): Christian Kosel (Technische Universität München), Tina Seidel (Technische Universität München), Andreas Gegenfurtner (Universität Augsburg)

Diskutant*in(nen): Rebekka Stahnke (Universität Kiel)

Professionelle Unterrichtswahrnehmung ist eine zentrale Kompetenz von Lehrkräften, da sie in der Lage sein müssen, relevante Ereignisse wahrzunehmen und als solche zu identifizieren, um entsprechend darauf reagieren zu können (Wolff et al., 2016). Studien konnten zeigen, dass Eye Tracking eine vielversprechende Methode darstellt, professionelle Unterrichtswahrnehmung bei Lehrkräften zu untersuchen (für ein Review dieser Arbeiten, Grub et al., 2020). Eye Tracking ermöglicht die präzise Erfassung der Blickbewegungen von Lehrkräften und somit die Analyse der Anzahl und Dauer von Fixationen auf Schüler:innen sowie die Untersuchung der Aufmerksamkeitsverteilung im gesamten Klassenzimmer (Stahnke & Blömeke, 2021).

Das Symposium präsentiert vier Beiträge, die mit Hilfe der Eye-Tracking-Technologie neue Einblicke in die professionelle Unterrichtswahrnehmung von Lehrkräften in komplexen schulischen Kontexten geben und der Frage nachgehen, wie Lehrkräfte ihre Aufmerksamkeit auf das Unterrichtsgeschehen und ihre Schüler:innen fokussieren.

Individuelle Schülermerkmale, darunter Geschlecht sowie motivational-affektive und kognitive Voraussetzungen, beeinflussen Lehrer-Schüler-Interaktionen im Unterricht (Brophy & Good, 1970). Obwohl ihre Bedeutung in der Unterrichtsforschung anerkannt ist, wurden sie in Untersuchungen zur professionellen Unterrichtswahrnehmung bisher vernachlässigt. Ungeklärt ist daher, ob auch die den Lehrkrafthandlungen oftmals vorausgehenden Aufmerksamkeitsprozesse der Lehrkräfte systematisch mit individuellen Schüler:innenmerkmalen zusammenhängen. In diesem Zusammenhang fokussiert Studie 1 auf die Heterogenität im Klassenzimmer im Hinblick auf das Geschlecht und geht der Frage nach, ob es Unterschiede im Blickverhalten von Lehrkräften gibt, je nachdem, ob sie Schülerinnen oder Schüler betrachten. Dabei argumentieren die Autor:innen, dass mögliche Geschlechterstereotype (z.B. Mädchen haben geringes Interesse in Mathematik; Stanat et al., 2018) Aufmerksamkeitsprozesse der Lehrkraft im Unterricht abbilden – angenommen wird, das trotz ähnlichem Verhalten der Schüler:innen, Schüler häufiger und länger Aufmerksamkeit von der Lehrkraft bekommen als Schülerinnen. Zusätzlich wird in der Studie untersucht, ob es einen Unterschied zwischen erfahrenen und unerfahrenen Lehrkräften gibt. In Studie 2 wird untersucht, wie Lehrkräfte ihre Aufmerksamkeit auf Schüler:innen mit unterschiedlichen kognitiven und motivational-affektiven Schüler:innenmerkmalen verteilen (dazu zählen Vorleistung, Interesse und Selbstkonzept). Aufbauend auf Forschungsergebnissen, die zeigen, dass Lehrkräfte häufig mit leistungsstarken Schüler:innen interagieren (Lipowsky et al. 2007), ist bislang ungeklärt, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf beispielsweise leistungsschwächere oder desinteressierte Schüler:innen richten, unabhängig von stattfindenden Interaktionen. Es wird vermutet, dass Lehrkräfte zwar weniger häufig mit leistungsschwächeren Schüler:innen interagieren, dass sie diese aber über die Dauer und Verteilung des Unterrichts hinweg immer wieder wahrnehmen und monitoren.

Auch in Studie 3 wird argumentiert, dass das Wahrnehmen von Schüler:innenvoraussetzungen eine wichtige Kernkompetenz von Lehrkräften darstellt, insbesondere um den Unterricht in heterogenen Klassenzimmern differenziert gestalten zu können. Aufbauend auf vorherigen Studien, die aufgezeigt haben, dass professionelle Unterrichtswahrnehmung mit spezifischen Wissensstrukturen der Lehrkraft in Zusammenhang stehen (Gegenfurtner et. al., 2023), wird in der Studie Professionswissen (pädagogisch-psychologisches Wissen) und Überzeugungen/Werthaltungen (z.B. Einstellungen zu Inklusion) der Lehrkraft in Verbindung mit ihren Aufmerksamkeitsprozessen beim Betrachten von Unterrichtsvignetten gebracht. Es wird analysiert, ob ein umfassendes Unterrichtswissen und eine hohe Selbstwirksamkeit in Bezug auf inklusiven Unterricht mit einem intensiveren Monitoring aller Schüler:innen sowie einer generell stärkeren Schüler:innenzentrierung (gemessen an der Anzahl und Dauer der Fixationen) einhergehen.

Während Eye Tracking präzise Daten über visuelle Aufmerksamkeitsprozesse liefert, bleibt die Interpretationstiefe dieser Aufmerksamkeitsprozesse ohne die Integration von weiteren Datenströmen—wie beispielsweise verbale Rückmeldungen—oftmals vage (Orquin & Holmqvist, 2017). Diese Methoden-Triangulation, obwohl in Eye-Tracking-Studien im Bereich der empirischen Unterrichtsforschung selten verwendet, bietet vertiefte Einblicke in kognitive Vorgänge. In diesem Zusammenhang leistet Studie 4 einen wichtigen Beitrag für zukünftige Forschungsarbeiten, indem die Autor:innen analysieren, wie verbale Rückmeldungen von Lehrkräften zu videografierten Unterrichtsereignissen mit ihrem Blickverhalten korrespondieren.

Das Symposium endet mit der Diskussion einer renommierten Unterrichtsforscherin über die Implikationen dieser vier Beiträge zur Integration von Eye Tracking in das Methodenrepertoire der empirischen Unterrichtsforschung.

 

Beiträge des Symposiums

 

Noticing-Fähigkeit von Lehrkräften auf Geschlechter von Schüler*innen

Özün Keskin1, Sylvia Gabel1, Rebekka Stahnke2, Andreas Gegenfurtner1
1Universität Augsburg, 2Universität Kiel

Theoretischer Hintergrund

Seidel und Stürmer (2014) definieren professionelle Unterrichtswahrnehmung als die Fähigkeit, relevante Unterrichtssituationen zu erkennen und zu interpretieren. Studien in diesem Bereich werden häufig mit der Eye-Tracking-Technologie durchgeführt, um die Augenbewegungen von Lehrkräften (z. B. die Anzahl und Dauer ihrer Fixationen) während des Unterrichtsgeschehens genau zu beobachten und für weitere Analysen zugänglich zu machen (Stahnke & Blömeke, 2022). Die Komponente des Erkennens wird häufig der Noticing-Fähigkeit gleichgesetzt. Diese ist im Bereich des Klassenmanagements sehr bedeutsam und meint eine wissensbasierte Fähigkeit, die Lehrkräfte dazu befähigt selektiv auf relevante Ereignisse in einer Unterrichtssituation zu achten und wahrzunehmen (van Es & Sherin, 2002). Ein professionelles Klassenmanagement zeigt sich unter anderem in der Beurteilungsfähigkeit und dem Verhalten der Lehrkraft im Klassenzimmer. Diese können jedoch durch Stereotype (z.B. Vorurteile gegenüber dem Geschlecht) und Unterrichtsstörungen (z.B. unangemessenes Verhalten einer Schüler*in) verzerrt werden (Glock & Baumann, 2022). Bisherige Befunde zeigen, dass vor allem Stereotype gegenüber Mädchen im Mathematikunterricht bestehen (Denn et al., 2015). Mädchen zeigen geringes Interesse am Fach sowie eine geringe Motivation, wodurch die aufmerksame Beteiligung am Mathematikunterricht erschwert wird (Stanat et al., 2018). Bisherige Forschungen zeigen, dass Lehrkräfte Mädchen im Mathematikunterricht weniger zutrauen als Jungen (Denn et al., 2015). Dabei stellt sich die Frage, ob sich diese Erwartungshaltung schon in der visuellen Aufmerksamkeit bemerkbar macht.

Bislang ist unklar, wie Lehrkräfte Schüler*innen Geschlechter wahrnehmen und wie ihre Wahrnehmung mit den schulischen Leistungen der Schüler*innen zusammenhängen. Zweifelsohne impliziert Lehrkraftprofessionalität, dass Lehrkräfte Schüler*innen ohne Voreingenommenheit wahrnehmen, um eine hohe Unterrichtsqualität für alle Schüler*innen unabhängig von ihrem Geschlecht und deren Unterrichtsbeteiligung zu gewährleisten.

Forschungsfrage

Aufgrund von wenigen Erkenntnisse zu Heterogenitätsaspekten im Zusammenhang mit der professionellen Wahrnehmung von Lehrkräften in Eye-Tracking Studien (Keskin et al., 2022) sind die Forschungsfragen dieser Studie wie folgt:

(a) Wie unterscheidet sich der Blick von Lehrkräften, wenn sie Schüler und wenn sie Schülerinnen fixieren, die ähnliche Verhaltensmuster zeigen, (b) wie unterscheiden sich in diesem Fall das Blickverhalten von erfahrenen und angehenden Lehrkräften?

Da erfahrene Lehrkräfte ein globaleres Monitoring im Unterricht aufweisen (Gegenfurtner et al., 2023), wird angenommen, dass diese unaufmerksame Jungen früher erkennen.Außerdem wird angenommen, dass erfahrene Lehrkräfte aufmerksame Mädchen erst später erkennen, da Lehrkräfte Mädchen im Mathematikunterricht weniger beachten.

Methode

An der Studie nahmen 20 erfahrene (15 weiblich, 5 männlich, MAlter = 45.10 Jahre, SDAlter = 9.69) und 20 unerfahrene (12 weiblich, 8 männlich, MAlter = 26.70, SDAlter = 3.79) Lehrkräfte teil. Dabei hatten erfahrene Lehrkräfte im Durchschnitt 18.30 Jahre (SD = 10.89) Berufserfahrung nach abgeschlossenem Referendariat und übernahmen zusätzlich eine Vorgesetztenrolle an ihrer Schule (z.B. Leitung der Fachschaft Mathematik oder Betreuung der Referendar*innen). Unerfahrene Lehrkräfte waren im Durchschnitt im letzten Semester ihres Masterstudiums (MSemester = 3.35, SDSemester = .90) zur Sekundarstufenlehrkraft.

Den Teilnehmenden wurden zwei kurze Videoausschnitte gezeigt, in denen jeweils ein authentischer Mathematikunterricht aus der Sekundarstufe zu sehen war. Während der Betrachtng wurden die Augenbewegungen der Teilnehmenden mit Hilfe eines Eye Trackers aufgenommen.

Ergebnisse

Aufgrund der nicht normalverteilten Daten haben wir Mann-Whitney U tests durchgeführt. Dabei konnten wir feststellen, dass Lehrkräfte länger (U = 10.00, z = -2.13, p = .03) und öfter (U = 110.00, z = -2.10, p = .04) auf Schüler und weniger auf Schülerinnen blicken, wobei die Expertise einen signifikanten Einfluss zeigte.

Diskussion

Die aufgestellten Hypothesen, lassen die praktische Implikation vermuten, dass angehende Lehrkräfte schon früh in der universitären Ausbildung auf bestehende Stereotype sensibilisiert werden müssten. Damit ist auch die Vermittlung von bestimmten Strategien zum Klassenmanagement verbunden. Weiterhin können situierte Lerngelegenheiten ermöglichen, dass angehende Lehrkräfte lernen in bestimmten Situationen professionell zu handeln. Unterstützend kann dabei beispielsweise der Eye Tracker als Reflexionsinstrument eingesetzt werden.

 

Im Blickfeld der Lehrkraft: Wie verteilen Lehrkräfte ihre Aufmerksamkeit auf Schüler:innen mit unterschiedlichen kognitiven und motivational-affektiven Lernermerkmalen?

Christian Kosel, Ricardo Böheim, Tina Seidel
Technische Universität München

Einleitung

Die Fähigkeit von Lehrkräften, ihre visuelle Aufmerksamkeit im komplexen Umfeld des Klassenzimmers gezielt auf relevante Informationen zu lenken, wird als professionelle Unterrichtswahrnehmung (PU) bezeichnet (Seidel & Stürmer, 2014). Um diese Wahrnehmungsprozesse tiefergehend untersuchen zu können, werden in der aktuellen Bildungsforschung häufig Eye-Tracking-Studien durchgeführt (Grub et al., 2020). Die Erfassung von Blickbewegungen und die Analyse von Fixationsfrequenzen und –dauern, sowie die Betrachtung der Aufmerksamkeitsverteilung im Klassenzimmer ermöglichen eine umfassende Analyse der PU.

Bisherige Forschungsarbeiten haben sich darauf konzentriert, inwieweit Lehrkräfte beim Monitoring alle Schüler:innen gleichermaßen berücksichtigen können (Dessus et al., 2016). Allerdings wird in diesen Studien nicht berücksichtig, ob die Aufmerksamkeitsverteilung im Zusammenhang zu den individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler:innen steht. Unterschiede in den kognitiven und motivational-affektiven Lernvoraussetzungen beeinflussen das Interaktionsverhalten mit der Lehr-kraft (Jurik et al., 2013). Forschungsergebnisse aus videobasierten Unterrichtsstudien zeigen, dass Lehrkräfte oftmals mit leistungsstarken Schüler:innen interagieren, um einen reibungslosen Unterrichtsfluss zu gewährleisten (Lipowsky et al. 2007) — wie sie jedoch beim Monitoring ihrer Schüler:innen ihre Aufmerksamkeit auf beispielsweise leistungsschwächere oder desinteressierte Schüler:innen richten, ist bislang unerforscht.

Ziel der Studie

Die vorliegende Studie untersucht die Verteilung der Aufmerksamkeitsprozesse von Lehrkräften in Abhängigkeit von kognitiven und motivational-affektiven Lernvoraussetzungen der Schüler:innen (dazu zählen Vorleistung, Interesse und Selbstkonzept). In einem ersten Schritt sollen Schülerprofile aus den verschiedenen Lernvoraussetzungen erstellt werden. Auf der Grundlage bisherigere Forschungsergebnisse erwarten wir sowohl konsistente Schülerprofile (z.B. starke und schwache Schüler:innen) als auch inkonsistente Schülerprofile (z.B. überschätzende Schüler:innen, die ein geringes Vorwissen aber ein hohes Interesse und Selbstkonzept aufweisen) (Jurik et al., 2013). In einem zweiten Schritt soll dann mittels Eye-Tracking Analysen überprüft werden, ob systematische Unterschiede in der Aufmerksamkeitsverteilung zwischen den identifizierten Schülerprofilen existieren. Dabei soll sowohl die Dauer als auch die Häufigkeit der Fixation auf die jeweiligen Schülerprofile verglichen werden.

Methode

An der Studie nahmen fünf Gymnasiallehrkräfte (2 weiblich) im Fach Mathematik teil. Mittels mobilen Eye-Tracking (Tobi Pro Glases 2) wurde das Blickverhalten der Lehrkräfte während einer gesamten Mathematikstunde in der neunten Jahrgangsstufe erhoben. Das Stundenthema und der Ablauf der Stunde waren vorgegeben. Im Anschluss an die Unterrichtsstunde wurden die 92 Schüler:innen mittels Fragebogen zu ihrer Vorleistung, dem fachspezifisches Interesse und dem fachspezifischen Fähigkeitsselbstkonzept befragt.

Zur Identifizierung der Schülerprofile wurde eine explorative Profilanalyse mit dem R package tidyLPA gerechnet. Die Analyse der Fixationen auf diese Schülerprofile befindet sich aktuell noch in Bearbeitung. Derzeit werden die Areas of Interest (AOIs) mit Hilfe Tobii Pro definiert, um daraus die Blickbewegungsparameter für jede:n Schüler:in zu extrahieren. Die Ergebnisse zu den Aufmerksamkeitsprozessen für jedes Schülerprofil werden in den kommenden Wochen aufbereitet und auf der Konferenz präsentiert.

Ergebnisse und ihre Bedeutung

Die explorativen Profilanalyse ergab vier Schülerprofile. Erwartungsgemäß konnten sowohl ein starkes Profil (n = 18) als auch ein schwaches Profil (n = 34) identifiziert werden. Zudem ergaben sich zwei inkonsistente Schülerprofile: Ein durchschnittliches Schülerprofil mit besonders niedriger Vorleistung (n = 32) und ein überschätzendes Schülerprofil, dass eine geringe Vorleistung aufweist und gelichzeitig durch ein starkes Fähigkeitsselbstkonzept und ein hohes Interesse charakterisiert ist (n = 16).

Die zusätzlichen Analysen der mobilen Eye-Tracking Daten sollen Aufschluss darüber geben, ob Lehrkräfte ihre Aufmerksamkeit vergleichbar über diese Schülerprofile verteilen oder ob einzelne Schülerprofile tendenziell übersehen werden, während anderen mehr Aufmerksamkeit zugewandt wird. Die Ergebnisse dieser Forschung sollen Lehrkräfte für die Heterogenität der Schüler:innen sensibilisieren und eine adaptive Aufmerksamkeitsverteilung fördern, damit die unterschiedlichen Schülertypen ihren Bedürfnissen entsprechend gesehen und gefördert werden können.

 

Oculus Inclusio – Eine quasi-experimentelle Eye-Tracking Studie zur Wahrnehmung inklusiver Unterrichtssituationen

Ann-Sophie Grub, Tom Selisko, Franziska Perels, Antje Biermann
Universität des Saarlandes

Inklusive Bildung bedeutet die gemeinsame Beschulung aller Kinder, um die Grundlage für Teilhabe an der Gesellschaft zu schaffen (Ainscow, 2007; Göransson & Nilholm, 2014) . So stellt das Wahrnehmen und Identifizieren von physischen wie psychischen Voraussetzungen individueller Schüler:innen eine Kernkompetenz von (angehenden) Lehrkräften dar, um Unterricht adaptiv und differenziert gestalten zu können (Soodak, 2003). Im Sinne eines schülerorientierten, adaptiven Unterrichts bei dem allen Schüler:innen trotz unterschiedlicher Voraussetzungen die gleichen Chancen auf Lernerfolg geboten werden, ist ebendiese Professionelle Wahrnehmung von notwendiger Lernunterstützung und individuellen Lernangeboten im heterogenen Klassenraum besonders relevant.

Professionelle Wahrnehmung wurde bisher meist im Rahmen von Studien zur Klassenführung (z. B. Wolff et al., 2016; Stahnke & Blömeke, 2021) verwendet, wobei der Fokus hierbei meist auf Unterrichtsstörungen lag (siehe Grub et al., 2020). Der konstruktive Umgang mit Heterogenität nimmt mit fortschreitender Inklusion zu (Akalin & Sucuoglu, 2015) und im Gegensatz zu einer auf Homogenität ausgelegten Lerngruppe, bei der grundsätzlich ein ähnliches Arbeitstempo und -pensum vorausgesetzt werden, ist diese Annahme für inklusive Klassen nicht mehr haltbar. Die Merkmale effektiver Klassenführung: Allgegenwärtigkeit und Überlappung, Reibungslosigkeit und Schwung, Gruppenmobilisierung und Abwechslung und Herausforderung (Kounin, 2006) stellen demnach eine besondere Herausforderung dar.

Die Studie kombiniert Aspekte professioneller Handlungskompetenz, die insbesondere für den inklusiven Unterricht von Bedeutung sind (Södervik et al., 2022): Professionswissen – insbesondere pädagogisch-psychologisches Wissen – sowie Überzeugungen/Werthaltungen (Baumert & Kunter, 2011). Aus den Einstellungen zu Inklusion leitet sich die Bereitschaft zur Umsetzung ab (Dignath et al., 2022), während die Selbstwirksamkeit die Überzeugung abbildet, diese Umsetzung auch durchführen zu können. Bisherige Forschung zeigt insbesondere, dass Unterschiede in der Professionellen Wahrnehmung mit spezifischen Wissensstrukturen in Zusammenhang stehen und ein ganzheitliches Bild von Unterricht erlauben (Carter et al., 1987; Grub et al., 2022a, 2022b).

Das Ziel unserer Eye-Tracking-Studie lag in einer differenzierten Analyse der Professionellen Wahrnehmung Lehramtsstudierender im Bereich der Klassenführung als eine Voraussetzung Differenzierten Unterrichts. Untersucht wurde mittels eines quasirandomisierten Versuchsdesigns mit vier Unterrichtsvignetten (Toolbox Lehrerbildung, Lewalter et al., 2020), ob ein größeres Wissen über Unterricht(en) sowie eine höhere Selbstwirksamkeit hinsichtlich inklusiven Unterrichts mit (a) einem Monitoring (Fixationsverteilung) sowie (b) einer Schülerorientierung (Fixationsanzahl, -dauer) einhergeht. Dabei werden Pädagogisches Unterrichtswissen (PUW; König & Blömeke, 2010), Einstellungen zu Inklusion (Lüke & Grosche, 2017), sowie Selbstwirksamkeitserwartungen zum adaptiven Unterrichten in heterogenen Lerngruppen (SAUL; Meschede & Hardy, 2020) – und Blickbewegungsdaten mittels stationärem Eye-Tracking (Fixationsanzahl, Fixationsdauer sowie Fixationsverteilung/Gaze Relational Index; Grub et al., 2020; Gegenfurtner et al., 2020) zusammengebracht. Die Blickbewegungsmaße werden basierend auf bestimmten vorab definierten und anhand eines Masterratings mit einer erfahrenen Lehrkraft validierten Ereignissen ausgewertet (AOI-basierte Analysen). Hierzu werden Situationen mit einem Fokus kognitiver Aktivierung im Rahmen einer effektiven Klassenführung näher betrachtet (z. B. Notwendigkeit der Lernunterstützung).

An der Studie nahmen N = 80 Lehramtsstudierende (44 weiblich, 34 männlich, 2 divers) der Universität des Saarlandes (MAlter= 24, SDAlter= 6,03) teil, die im Durschnitt im 5. Fachsemester Bildungswissenschaften studierten.

Vorläufige inferenzstatistische Regressionsanalysen mit Einstellung bzw. Selbstwirksamkeit als Prädiktoren und den Blickbewegungsparametern als Kriterien (am Beispiel einer der Videosequenzen) zeigen keine signifikanten Ergebnisse: Weder Selbstwirksamkeit im Umgang mit heterogenen Lerngruppen, noch Einstellungen zu Inklusion können die Ausprägung der Blickbewegungsparameter vorhersagen, Fixationsanzahl: F(3,74) = 0.810, p = .492), Fixationsdauer; F(3,74) = 0.954, p = .419), Fixationsverteilung/Gaze Relational Index: F(3,74) = 0.652, p = .584). Die vollständigen Ergebnisse für alle vier Videos unter Bezugnahme des Wissenstests werden bis zur GEBF 2024 ausgewertet sein.

Die Ergebnisse werden im Hinblick auf bisherigen, publizierten Forschungsergebnissen zur Professionellen Wahrnehmung und Inklusion diskutiert und verschiedene Erklärungsmöglichkeiten dargeboten (z. B. zu geringe Power, Priming durch den Wissenstest, etc.). Außerdem werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund der Unterstützungsmöglichkeiten für Lehramtsstudierende diskutiert, um zukünftig Methoden zu entwickeln, die eine effektivere Identifikation relevanter Unterrichtssituationen in der universitären Ausbildung ermöglichen.

 

Was können uns Blickverhalten und verbale Aussagen über Professional Vision offenbaren? Erkenntnisse einer Mixed Methods Studie mit angehenden und erfahrenen Lehrkräften

Corinne Wyss, Kerstin Bäuerlein, Sara Mahler
Fachhochschule Nordwestschweiz

Lehrkräfte sind tagtäglich mit komplexen Unterrichtssituationen konfrontiert. Sie müssen daher wissen, worauf sie im Unterricht achten müssen, wie diese Informationen zu interpretieren sind und welche Unterrichtsentscheidungen daraus resultieren sollten (Kohler et al., 2008). In der Bildungsforschung werden diese Kompetenzen als "Professional Vision" (PV) bezeichnet (Keller et al., 2022). PV ist typischerweise durch zwei miteinander verbundene wissensbasierte Teilprozesse gekennzeichnet: Noticing und Knowledge-based Reasoning (Seidel et al., 2017; Todorova et al., 2017). Noticing bedeutet, die Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Aspekte des Unterrichts zu richten (Ereignisse, die das Lernen fördern oder beeinträchtigen), während nicht relevante Ereignisse ignoriert werden. Knowledge-based Reasoning ist die Fähigkeit, auf der Grundlage von professionellem Wissen und Überzeugungen über Unterrichtsbeobachtungen nachzudenken (Meschede et al., 2017).

Um PV im Rahmen der Lehrkräftebildung zu fördern und zu überprüfen werden heute mehrheitlich videobasierte Ansätze verwendet, da diese als besonders vielversprechend gelten (Kramer et al., 2020). Bislang wurde die PV von Lehrkräften zumeist anhand von verbalen Daten untersucht. Lehrkräfte wurden dementsprechend gebeten, sich zu Unterrichtssituationen zu äussern, die in der Regel als Videoclips zur Verfügung gestellt wurden (Minarikova et al., 2021). Solche Verfahren fokussieren damit hauptsächlich auf den Teilprozess des Knowledge-based Reasonings. Ein relativ neuer Ansatz zur Untersuchung der PV von Lehrkräften basiert auf der Erfassung ihrer Blickbewegungen mit Hilfe von Eye Tracking Technologien (Vogt & Schmiemann, 2020). Anhand von remote und mobilem Eye Tracking kann die visuelle Aufmerksamkeit beim Betrachten von Unterrichtsvideos oder im Klassenzimmer selbst ermittelt werden. Es wird dadurch möglich, auch den Teilprozess Noticing spezifisch zu untersuchen. Insbesondere in Kombination mit verbalen Daten in Mixed Methods Ansätzen ergeben sich neue Möglichkeiten der Analyse der PV. Solche Studien sind bislang jedoch noch weitestgehend inexistent (Muhonen et al., 2021).

In einer Studie mit 31 angehenden und 20 erfahrenen Lehrkräften wurde ein solches Mixed Methods Design umgesetzt. Die Studie hatte zum Ziel, die Möglichkeiten dieses Ansatzes zu erproben und dabei zu untersuchen, ob sich die Gruppen darin unterscheiden, was sie wahrnehmen und wie sie über videografierte Unterrichtsereignisse argumentieren sowie inwieweit ihr Blickverhalten mit ihren verbalen Aussagen korreliert. Konkret wurden folgende Forschungsfragen bearbeitet:

- Unterscheiden sich angehende und erfahrene Lehrkräfte hinsichtlich der von ihnen beobachteten und beschriebenen Aspekte des Unterrichts?

- Inwiefern korrespondieren das Blickverhalten und die verbalen Aussagen?

Die Testpersonen wurden gebeten, sich einen Videoclip von authentischem Unterricht im Fach Deutsch anzusehen. Die Unterrichtsstunde war aus unterschiedlicher Kameraperspektive aufgezeichnet. Zwei Aufnahmen zeigen die Perspektive des/der Beobachtenden und wurden mit statischen Kameras aufgenommen. Die dritte Aufnahme zeigt die Perspektive der Lehrkraft, die während der Unterrichtsstunde eine Eye-Tracking-Brille (Tobii Pro Glasses 2) trägt.

Der visuelle Aufmerksamkeitsfokus der Testpersonen beim Betrachten der Videoclips wurde mit einem Desktop Eye Tracker (Tobii Pro Nano, 60 HZ) aufgezeichnet. Anschliessend berichteten die Testpersonen in einem Interview, was ihnen aufgefallen war.

Für die Analyse der Eye Tracking Videos wurden in Anlehnung an Cortina et al. (2018) sogenannte Areas of Interest (AOIs) festgelegt und jede Fixation einem dieser AOIs zugeordnet. Die verbalen Aussagen wurden mit analogen Kategorien anhand qualitativer Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018) in MAXQDA analysiert. Die triangulierten Daten zeigen, dass sich das Blickverhalten der angehenden und erfahrenen Lehrkräfte nicht unterscheidet, wohl aber der Inhalt ihrer verbalen Äusserungen. Je nach Videoperspektive fokussierten die Testpersonen häufiger auf einen der AOIs, dieser Unterschied spiegelte sich jedoch nicht in den verbalen Daten wider. Das Blickverhalten und die verbalen Aussagen waren demgemäss nicht überall konsistent.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Berücksichtigung mehrerer Datenquellen und -typen für die Erforschung der PV wertvoll sein kann und neue Einsichten in die PV von Lehrkräften ermöglicht. Im Beitrag werden die gewonnen Erkenntnisse wie auch die Herausforderungen solcher Mixed Methods Studien dargestellt und diskutiert.