Symposium
Mehrsprachigkeit im Unterricht!? Ergebnisse der BLUME-Studie zu den ÜBerzeugungen von GrundschulLehrkräften im Umgang mit MEhrsprachigkeit
Chair(s): Sarah Désirée Lange (Technische Universität Chemnitz)
Diskutant*in(nen): Hanne Brandt (Universität Hamburg)
Kontext: Mehrsprachigkeit ist weltweit und auch in Deutschland durch die internationalen Migrations- und Fluchtbewegungen die Regel (Tracy, 2014). Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit bezieht sich dabei auf die verschiedenen Familiensprachen von Grundschulkindern, die die sprachliche Heterogenität im Grundschulunterricht prägen und ein zentrales Kennzeichen von Grundschulklassen darstellen (Grosjean, 2020). Aktuelle Ergebnisse der IQB-Studie zeigen, dass jedes fünfte Kind erst in der Grundschule mit Deutsch in Berührung kommt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2022). Davon ausgehend ist es gerade im grundschulpädagogischen Mehrsprachigkeitsdiskurs notwendig den Blick gezielter auf unterrichtsnahe Fragestellungen zu richten.
Professionstheoretische Verortung: In der BLUME-Studie werden Überzeugungen ausgehend von einem kompetenztheoretischen Verständnis professioneller Kompetenz (Baumert & Kunter, 2006) überwiegend dem affektiv-motivationalen Bereich zugeordnet, wobei diese auch kognitive Komponenten umfassen (Reusser, et al., 2011). Überzeugungen werden als selbst-normativ und individuell verstanden und zeichnen sich durch emotionale Gehalte aus. Die Überzeugungen von Lehrkräften sind als Forschungsgegenstand interessant, weil ihnen zugeschrieben wird, dass sie das Handeln steuern und Lehrkräfte ihr Handeln mit ihren Überzeugungen auch begründen (Buehl & Beck, 2015; Voss et al., 2011)
Forschungsstand & Forschungsdesiderat: Berufsbezogene Überzeugungen sind grundsätzlich auf eine bestimmte berufliche Anforderung gerichtet (Reusser et al., 2011, S. 642), wobei der Umgang mit Mehrsprachigkeit – insbesondere in Bezug auf berufstätige Grundschullehrkräfte und deren Überzeugungen – ein Forschungsdesiderat in der Grundschulpädagogik darstellt. Im internationalen Forschungsstand liegen einzelne Studien vor, welche die Überzeugungen von Lehrkräften zum Umgang mit kultureller und sprachlicher Vielfalt untersuchen (z.B. Haukas, 2015; Lundberg, 2019). Insgesamt deutet der Forschungsstand darauf hin, dass die Überzeugungen von Grundschullehrkräften gegenüber dem Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht insgesamt tendenziell positiv ausgeprägt sind. Zusammenfassend lässt sich das Forschungsdesiderat, auf das reagiert wird, wie folgt beschreiben: Vorliegende Studien fokussieren entweder nicht spezifisch das Konstrukt der Überzeugungen, sondern die Erhebung von Einstellungen über Mehrsprachigkeit (Maak et al., 2015), nicht spezifisch das Thema Mehrsprachigkeit, sondern Migrationshintergrund (Wischmeier, 2012) oder untersuchen als Zielgruppe Lehramtsstudierende (Fischer & Ehmke, 2019) oder pädagogische Fachkräfte (Kratzmann et al., 2017) – jedoch nicht berufstätige Grundschullehrkräfte. Im vorliegenden Symposium werden die Überzeugungen von berufstätigen Grundschullehrkräften in den Blick genommen.
Erkenntnisinteresse: Bei der DFG-geförderten BLUME Studie („ÜBerzeugungen von GrundschulLehrkräften zum Umgang mit MEhrsprachigkeit“) handelt es sich um eine Qualitative Vignettenstudie. Ziel der Studie ist eine differenziertere und tiefergehendere Analyse der mehrsprachigkeitsbezogenen Überzeugungen entlang von theoretisch entwickelten didaktischen Funktionen (Lange & Pohlmann-Rother, 2024/i.V.), die Grundlage waren für die Entwicklung von sechs Vignetten. Im vorliegenden Symposium werden die theoretischen und empirischen Ergebnisse der BLUME-Studie vorgestellt.
Datenerhebung und -auswertung: Die Stichprobe der vorliegenden Studie beläuft sich auf N=43 Grundschullehrkräfte in sechs verschiedenen Bundesländern. Als Stimulus für die Interviews dienten Unterrichtsvignetten als kurze Fallbeispiele (Atria et al., 2006) zu alltäglichen Mehrsprachigkeitssituationen im Unterricht. Das Interview gliedert sich in eine narrative Einstiegsphase (Teil 1) mit offener Fragestellung und eine Vignettenphase (Teil 2), in der die Lehrkräfte gebeten wurden zu zwei der sechs theoretisch entwickelten Unterrichtsvignetten Position zu beziehen (vgl. Lange & Pohlmann-Rother, 2024/i.V.). Jeder Unterrichtsvignette lag dabei eine der in Vortrag 1 beschriebenen didaktischen Funktionen von Mehrsprachigkeit im Unterricht zugrunde.
Ablauf des Symposiums: Nach einer kurzen Einführung werden in Vortrag 1 die theoretischen Ergebnisse der BLUME-Studie in Form der theoretisch ausgearbeiteten didaktischen Funktionen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht vorgestellt. Anschließend werden in Vortrag 2 die empirischen Ergebnisse der Vignettenstudie präsentiert, indem zum einen die induktiv-deduktiv herausgearbeiteten Kategorien zur fallübergreifenden Beschreibung der Ausprägungen der Überzeugungen der Lehrkräfte und zum anderen die fünf Überzeugungstypen der Typenbildung nach Kelle und Kluge (2010) präsentiert werden. Abschließend werden in Vortrag 3 die Ergebnisse der deduktiv-induktiven Sekundäranalyse präsentiert, mit der im Rahmen der DFG-geförderten Zusatzstudie BLUME IV-Migration die Konstruktion von Linguizismus im Unterricht untersucht wurde. Abschließend werden die Vorträge aus Sicht der Diskutantin kritisch-konstruktiv reflektiert.
Beiträge des Symposiums
Didaktische Funktionen zum Einbezug von Familiensprachen im Unterricht
Anna Plohmer1, Sarah Désirée Lange1, Sanna Pohlmann-Rother2 1Technische Universität Chemnitz, 2Universität Würzburg
Hinführung: Das Thema Mehrsprachigkeit ist von hoher pädagogischer und gesellschaftlicher Relevanz, da Grundschullehrkräfte täglich sprachlicher Heterogenität begegnen. Im aktuellen Diskurs lässt sich ein Perspektivwechseln von der Defizitperspektive hin zu ressourcenorientierter Betrachtung von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit erkennen (Autor:innen, 2020). Der Grundschule als „Schule der Vielfalt und Gemeinsamkeit“ (Schorch, 2007, S. 35) kommt ein demokratischer Bildungsauftrag als ‚Schule für Alle‘ sowie die Aufgabe zu, kindgemäße Lernumgebungen zu gestalten sowie unterschiedliche Vorerfahrungen und Wissensstände der Kinder einzubeziehen (Jung, 2021). Ausgangspunkt des Beitrags ist die Ausformulierung eines theoretisch begründeten grundschulpädagogischen Selbstverständnisses hinsichtlich der lernförderlichen Nutzung von nicht-deutschen Familiensprachen im Grundschulunterricht. Der ressourcenorientierte Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht kann u.a. bildungstheoretisch und pädagogisch begründet werden (Autor:innen).
Grundschulpädagogisches Selbstverständnis: Zur theoretischen Untermauerung der Bedeutung des Themas Mehrsprachigkeit im Unterricht wurden sechs Begründunglinien zu einem grundschulpädagogischen „Selbstverständnis“ ausformuliert. So wird postuliert, dass der Einbezug von Mehrsprachigkeit in den Unterricht (a) die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung der Schüler:innen unterstützen kann (Martschinke, 2014), (b) das Selbstwertgefühl und die Lernmotivation der Kinder fördern (Lohrmann & Hartinger, 2014) und (c) die Vermittlung sprachbezogener Basiskompetenzen bestärken kann (Busch, 2013). Eine (d) diversitätssensible Orientierung des Unterrichts kann sicherstellen, dass der Unterricht an den sprachlichen Lernvoraussetzungen aller Kinder orientiert wird (Fürstenau, 2011). Außerdem kann die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit im Unterricht (e) die Verbindung sprachlicher Bildungsprozesse mit fachlichen Inhalten unterstützen (Gogolin, 2020) sowie (f) außerschulische und kulturelle Spracherfahrungen aufgreifen (Neuhaus, 1991).
Didaktische Funktionen zur Ausdifferenzierung des lernförderlichen Nutzens von Mehrsprachigkeit im Grundschulunterricht: Aufbauend auf diesen Begründungslinien wird für die Unterrichtsebene eine Systematisierung zu sechs verschiedenen didaktischen Funktionen entworfen, die mit dem Einbezug von nicht-deutschen Familiensprachen im Unterricht verfolgt werden können. Diese Funktionen wurden auf Grundlage des aktuellen Forschungsstands zur migrationsbedingten Mehrsprachigkeit sowie unter Einbezug der spezifischen grundschulpädagogischen Kernaufgaben entwickelt. Es handelt sich um die identitätsstiftende, soziale, spracherwerbsstützende, diskriminierungskritische, fachliche und kulturelle didaktische Funktion (vgl. Autor:innen).
Die identitätsstiftende didaktische Funktion bspw. bezieht sich auf das Bewusstsein verschiedener sprachlicher Identitäten. Dies kann bei den Schüler:innen ein Identitätsbewusstsein fördern; die Stärkung des Selbstkonzepts kann zur Identitätsentwicklung der Schüler:innen beitragen (Krumm, 2020) und das Selbstbewusstsein von mehrsprachigen Kindern als Herkunftssprecher:innen fördern (Riehl, 2014). Bei der sozialen didaktischen Funktion geht es um die Bildung einer Gemeinschaft in der Schulklasse durch Wertschätzung und Darstellung der Mehrsprachigkeit (Fürstenau, 2017). Mit der spracherwerbsstützenden didaktischen Funktion kann durch Sprachvergleiche, sowie Vorteile des grammatischen Grundgerüst der Erstsprachen der Kinder sprachliche Bildung erfolgen (Akbulut et al., 2017). Durch die gleiche Wertschätzung und Berechtigung aller Sprachen soll mit der diskriminierungskritischen didaktischen Funktion der Diskriminierung einzelner Schüler:innen entgegengewirkt (Riehl, 2014) und vorurteilsbewusste Bildung angestrebt werden. Die fachliche didaktische Funktion definiert sich durch mögliche kognitive und kommunikative Vorteile, die der Einbezug der Familiensprachen in den Unterricht für das fachliche Lernen bringen kann (Prediger et al., 2019). Mit der kulturellen didaktische Funktion kann ausgehend von einer kindlichen Lebenswelt über den Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden kulturelle Bildung erreicht werden (Nießeler, 2016).
Diskussion: Die ausgeführten didaktischen Funktionen sind hypothetische und theoriefundierte Unterscheidungen zum Einbezug von Mehrsprachigkeit in den Grundschulunterricht und beschreiben didaktische Prozesse und Zielsetzungen. Das Ziel besteht darin, zu einer Ausdifferenzierung der bisher im Diskurs dominierenden Polarisierung zwischen stark befürwortenden oder ablehnenden Positionen in der Mehrsprachigkeitsforschung beizutragen, um den Blick zu schärfen für das breitere Spektrum der verschiedenen Möglichkeiten des Einbezugs von Mehrsprachigkeit im Grundschulunterricht.
In der Diskussion wird ausgeführt, wie die zentralen Aspekte der didaktischen Funktionen in Unterrichtsvignetten operationalisiert wurden, die im Rahmen der DFG-geförderten X-Studie in Interviews mit Grundschullehrkräften eingesetzt wurden, in der die Überzeugungen von Grundschullehrkräften zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht untersucht werden. Die vorliegenden Ergebnisse zur Theoriebildung aus der X-Studie stellen den Kern des Beitrags dar.
„Also es ist utopisch“ – Ergebnisse der Typenbildung zu den Überzeugungen von Grundschullehrkräften zum Umgang mit Mehrsprachigkeit
Sarah Désirée Lange1, Sanna Pohlmann-Rother2 1Technische Universität Chemnitz, 2Universität Würzburg
Fragestellung: Um dem Ziel der X-Studie nachzukommen, die Überzeugungen der Grundschullehrkräfte in ihrer Vielschichtigkeit und auch möglichen Widersprüchlichkeit zu beschreiben, wurden mit 43 Grundschullehrkräften vignettengestützte Interviews durchgeführt und qualitativ ausgewertet.
Datenauswertung: Um der Herausforderung nachzukommen, die Überzeugungen der Lehrkräfte in den Beschreibungen und Begründungen im Vignetteninterview sichtbar zu machen, wurden zunächst mit einer Basiskodierung ‚Positionierungsaussagen‘ identifiziert. Diese Positionierungsaussagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine subjektive Bewertung der Lehrkräfte darstellen und eine klare und eindeutige eigene Positionierung zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht mit inhaltlichem „Ich“-Bezug aufweisen.
(1) Induktiv-deduktive Kategorienbildung: Im Rahmen der Kodierung der Positionierungsaussagen wurde zunächst ein Kategoriensystem aus einzelnen Interviews mit Haupt- und Unterkategorien erarbeitet, um fallübergreifend die Ausprägungen der Überzeugungen der Grundschullehrkräften zum Umgang mit Mehrsprachigkeit zu beschreiben. Das so entstandene Kategoriensystem umfasst elf Hauptkategorien, welche die mehrsprachigkeitsbezogenen Positionierungen der Lehrkräfte zu Mehrsprachigkeit im Unterricht abbilden. Jedes Interview wurde in zwei unabhängigen Durchgängen doppelt kodiert und in regelmäßigen Auswertungstreffen in der Forschungsgruppe konsensuell validiert (Hopf & Schmidt, 1993). Parallel fand eine Beratung über die Kodierentscheidung statt, um das Kategoriensystem gegebenenfalls noch zu präzisieren und im Sinne der induktiven Datenauswertung an das Datenmaterial anzupassen (vgl. Levasier, 2022).
(2) Typenbildung: Ausgehend vom Kategoriensystem wurde eine Typenbildung nach Kelle & Kluge (2010) durchgeführt. Zunächst wurden Vergleichsdimensionen erarbeitet – ausgehend vom Kategoriensystem und auch fallspezifisch ausgehend von den Fallzusammenfassungen zu den Interviews. Folgend wurden die Fälle anhand der Vergleichsdimensionen gruppiert und die empirischen Regelmäßigkeiten analysiert, die Merkmalskombinationen mit Hilfe von Kreuztabellen erstellt und inhaltliche Sinnzusammenhänge herausgearbeitet. Abschließend wurden die konstruierten Typen anhand ihrer Merkmalskombinationen und der übergreifenden Zusammenhänge charakterisiert. Für jeden gebildeten Typ wurde ein repräsentativer Prototyp herausgestellt.
Empirische Ergebnisse:
(1) Kategorienbildung: Die Ausprägungen der Überzeugungen von Grundschullehrkräften zu Mehrsprachigkeit im Unterricht lassen sich in vier übergeordnete Bereiche fassen, die durch verschiedene Ober- und Unterkategorien ausdifferenziert werden: (1) Befürwortende Kategorien zur Bedeutung von Mehrsprachigkeit im Unterricht, (2) Eher ablehnende Kategorien zu Schwierigkeiten und Grenzen von Mehrsprachigkeit im Unterricht, (3) Priorisierung des Deutschen im Unterricht im Gegensatz zu ‚Normalität‘ von Mehrsprachigkeit und (4) Reflexion der eigenen Überzeugungen durch die Lehrkraft. Diesem Bereich werden auch Aussagen der Lehrkräfte zugeordnet, in denen sie ihre eigene Ambivalenz zum Thema beschreiben.
(2) Typenbildung: Die Typenbildung ergab fünf Überzeugungstypen, die eine große Bandbreite und Widersprüchlichkeiten im Umgang der Lehrkräfte mit Mehrsprachigkeit aufzeigen.
Typ 1: Der selbstsichere, mehrsprachigkeitsbefürwortende Typ zeichnet sich dadurch aus, dass er Mehrsprachigkeit gegenüber aufgeschlossen und sehr zugewandt ist. Typ 2: Der unsichere, offene Typ zeichnet sich durch Unsicherheiten im unterrichtlichen Umgang mit Mehrsprachigkeit aus. Typ 3: Der hierarchisierende, ambivalente Typ ist Mehrsprachigkeit gegenüber teilweise aufgeschlossen, teilweise (leicht) zurückhaltend. Typ 4: Der ambivalente, unsichere Typ zeichnet sich durch Unsicherheiten im gewählten Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht aus. Typ 5: Der zurückweisende, funktionale Typ ist Mehrsprachigkeit im Unterricht gegenüber zurückweisend eingestellt. Mehrsprachigkeit wird von diesen Lehrkräften nicht als Aufgabe angesehen und nicht als Thema im Unterricht berücksichtigt.
Diskussion: Trotz der sozialen Erwünschtheit bei diesem Thema und des Rahmens einer Interviewsituation, ist es gelungen, die ganze Bandbreite der Überzeugungen von Lehrkräften zu erfassen. Neben der Vielschichtigkeit zeigen die Ergebnisse der X-Studie auch die Widersprüchlichkeiten der Überzeugungen der Lehrkräfte zum Umgang mit Mehrsprachigkeit.
Sprachliche Diskriminierung im Unterricht – Ergebnisse einer linguizismuskritischen Sekundäranalyse
Zahia Alhallak, Sarah Désirée Lange Technische Universität Chemnitz
Kontext der Studie sind die empirisch erwiesenen, stabilen Bildungsungleichheiten und -gerechtigkeiten in Grundschulen in Deutschland, wie sie bereits vor zehn Jahren insbesondere an den Übergängen zu und von der Grundschule empirisch sichtbar wurden (Gomolla, 2013; Gresch, 2016; Ditton, 2016; Cloos, 2017; Schräpler & Weishaupt, 2019). Wenn Sprache als Differenzmittel in der Zuordnung von Personen zu gesellschaftlichen, meist untergeordneten Gruppen verwendet wird und dies zu Abgrenzungs- und Ausgrenzungspraktiken führt, bezeichnet Dirim (2010) dies als Linguizismus.
Empirische Befunde zu sprachbezogenen Bildungsungleichheiten zeigen bspw., dass es einen Zusammenhang bei Kindern mit Migrationserfahrungen zwischen den Kompetenzen der Zweitsprache Deutsch mit Blick auf (1) Rückstellungen vor der Einschulung und hinsichtlich (2) Schulleistungen gibt (Kemper, 2015). Zwar ist eine Entwicklung des theoretischen Verständnisses von sprachbezogenen Ungerechtigkeiten in der Grundschule zu beobachten, jedoch sind Fragen zur Konstruktion der belegten Diskriminierungsphänomene nach wie vor offen.
Theoretisch liegt der Studie ein migrationspädagogisches Bildungsverständnis zugrunde, mit dem differenz-, macht- und rassismuskritische Perspektiven auf Bildungsinstitutionen sowie deren Akteur:innen und entsprechende Bildungspraktiken gerichtet werden (Mecheril, 2004). Dabei sollen insbesondere der Zusammenhang von Kultur, Macht und Sprache sowie systematische Marginalisierungsprozesse im Kontext von Migration aufgedeckt und reflektiert werden (Auernheimer, 2013; Emmerich & Hormel, 2015). Im Unterricht zeigt sich dies häufig durch Abgrenzungspraktiken und binäre Trennung vom Eigenen und vermeintlich Fremden – nach Spivak (1985) mit ‚Othering‘ bezeichnet. Solche Abgrenzungspraktiken sind häufig mit herabmindernden Zuschreibungen und damit erwarteten, identitätsstiftenden Wirkungen hinsichtlich der Illusion von innerer ‚Homogenität‘ und Ordnung verbunden (Foroutan & İkiz, 2016; Akbas & Polat, 2020, S. 152).
Erkenntnisinteresse und Methode: Empirische Grundlage stellt die DFG-geförderte X-Studie dar, in der Interviews mit Grundschullehrkräften (N=43) in sechs Bundesländern erhoben wurden, um die berufsbezogenen Überzeugungen von Grundschullehrkräften zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht zu analysieren. In der vorliegenden Teilstudie werden diese Interviews unter linguizismuskritischer Perspektive anhand der qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2016) mit deduktiv-induktiver Kategorienbildung analysiert.
Das Ziel der Studie ist es, die Konstruktion von möglichen, linguizismusbezogenen Benachteiligungen in der alltäglichen Bildungspraxis zu analysieren, um folgende Forschungsfragen zu beantwortet: (1) Welche Alltagspraktiken von Grundschullehrkräften sind hinsichtlich des Umgangs mit Mehrsprachigkeit im Unterricht aus linguizismuskritischer Sicht zu beschreiben? (2) Welche Begründungen und Legitimierungen werden von Lehrkräften geäußert, um hypothetisches linguizistisches Verhalten zu rechtfertigen?
Ergebnisse und Diskussion: Die Auswertung ergab acht zentrale Themen, die aus linguizismuskritischer Perspektive in den Äußerungen der Lehrkräfte eine besondere Bedeutung einnehmen. Diese umfassen die Beschreibungen von Hierarchisierungen zwischen Sprachen. So äußern die Lehrkräfte bspw. Auf- und Abwertungen zwischen verschiedenen Sprachen, wobei Deutsch und Sprachen wie Englisch oder Französisch im Hinblick auf die Vorbereitung auf zukünftige Bildungswege als überlegen und prestigeträchtiges angesehen werden („wenn Kinder aufs Gymnasium wechseln möchten / (.) ist nun mal ähm Englisch Minimum. Deutsch dann ja schon dazu. Und dann natürlich noch mindestens Französisch, (.) Spanisch oder halt, welche Sprache dann noch anerkannt ist“; I1, Pos. 409-411). Als auch zentral zeigten sich Sprachgebote und Sprachverbote in Schule und Unterricht. Auch die Sonderstellung der Kinder aufgrund der Familiensprachen sowie die Distanzierung von der Aufgabe mehrsprachige Kinder zu unterrichten sind Themen im empirischen Material. Zudem beschäftigen die Lehrkräfte Probleme, die besonders mehrsprachigen Schüler:innen zugeschrieben werden – insbesondere bezogen auf Sprachnutzung und Lernausgangslagen – sowie sprachbezogene Schwierigkeiten im familiären Kontext. Ferner reflektieren sie sprachbezogene Diskriminierung und benennen ihre Vorstellungen von Normalität und Alterität in Bezug auf Mehrsprachigkeit im Unterricht.
Die Ergebnisse können dazu beitragen, einen Anstoß für Veränderungsprozesse im Bildungssystem im Sinne der demokratischen Teilhabegerechtigkeit zu geben. Das bessere Verstehen der Konstruktion von Linguizismus kann dazu beitragen, in der Ausbildung von Grundschullehrkräften den Fokus darauf zu richten, Lehrkräftekompetenzen im Umgang mit sprachlicher Vielfalt auszubilden, indem Lehrkräfte für die verschiedenen Erscheinungsformen von Differenz und Diskriminierung sensibilisiert werden (Winter, 2022).
|