Veranstaltungsprogramm

Sitzung
3-01: Trendanalysen sprachlicher Kompetenzen auf Systemebene: Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 und weiterführende Analysen
Zeit:
Montag, 18.03.2024:
15:20 - 17:00

Ort: H05

Hörsaal, 500 TN

Präsentationen
Eingeladenes Symposium

Trendanalysen sprachlicher Kompetenzen auf Systemebene: Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 und weiterführende Analysen

Chair(s): Stefan Schipolowski (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin), Rebecca Schneider (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin), Karoline A. Sachse (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin), Petra Stanat (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin)

Diskutant*in(nen): Miriam Vock (Universität Potsdam)

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) führt als wissenschaftliche Einrichtung der Länder regelmäßig Studien durch, um das Erreichen der in den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) definierten Kompetenzziele zu überprüfen. Im IQB-Bildungstrend 2022 (Stanat et al., 2023) wurden die sprachlichen Kompetenzen von Neuntklässler:innen in den Fächern Deutsch und Englisch in der Sekundarstufe I nach den Jahren 2009 und 2015 im Jahr 2022 zum dritten Mal erfasst. Damit ist es erstmals möglich, für die genannten Fächer in der Sekundarstufe I Entwicklungstrends über drei Messzeitpunkte zu beschreiben. Im Rahmen des Symposiums werden zentrale Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 vorgestellt und durch vertiefende Analysen zu den erreichten Kompetenzen und motivationalen Merkmalen der Schüler:innen in der Sekundarstufe I ergänzt.

Im ersten Beitrag wird der IQB-Bildungstrend 2022 als Teil des nationalen Bildungsmonitorings vorgestellt. Es werden die wichtigsten Ergebnisse der Studie zum Erreichen der Bildungsstandards und zu geschlechtsbezogenen, sozialen und zuwanderungsbezogenen Disparitäten im Jahr 2022 und im Trend präsentiert.

Der zweite Beitrag richtet den Blick auf das Fach Englisch, in dem sich – anders als im Fach Deutsch – die von den Schüler:innen erreichten Kompetenzen positiv entwickelt haben. Vor diesem Hintergrund geht der Beitrag der Frage nach, welche Rolle die Englischnutzung der Schüler:innen in der Freizeit sowie ein früher Beginn des Englischunterrichts in der Grundschule für das im Jahr 2022 erreichte Kompetenzniveau im Lese- und Hörverstehen spielen.

Neben den kognitiven Kompetenzen der Schüler:innen bilden motivationale Merkmale wichtige Aspekte des Bildungserfolgs. Im dritten Beitrag werden Analysen zu den fachbezogenen Selbstkonzepten und Interessen der Jugendlichen im Fach Deutsch dargestellt, wobei Unterschiede zwischen verschiedenen Teilpopulationen im Jahr 2022 und im Trend im Vordergrund stehen. Zudem wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Trends in den motivationalen Merkmalen zwischen den Jahren 2015 und 2022 mit den erreichten Kompetenzen der Schüler:innen und der Zusammensetzung der Schüler:innenschaft zusammenhängen.

Im vierten Beitrag werden Analysen zu Geschlechterunterschieden im Selbstkonzept und Interesse in den Fächern Deutsch und Mathematik im Jahr 2022 präsentiert. Im Fokus steht dabei die Frage, inwieweit das Design der Befragungsinstrumente (Reihenfolge der Fragen zu Geschlecht, Geschlechterstereotypen und motivationalen Merkmalen) die Angaben zum Selbstkonzept und zum Interesse beeinflusst.

 

Beiträge des Symposiums

 

Überblick zu den Hauptbefunden des IQB-Bildungstrends 2022

Petra Stanat, Stefan Schipolowski
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin

Keywords: IQB-Bildungstrend, sprachliche Kompetenzen, Deutsch, Englisch, Disparitäten

Die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) für die sprachlichen Fächer Deutsch und Englisch in der Sekundarstufe I definieren, welche Kompetenzen Schüler:innen entwickelt haben sollen, wenn sie den Ersten Schulabschluss (ESA; KMK, 2005a, 2005b) beziehungsweise den Mittleren Schulabschluss (MSA; KMK, 2004a, 2004b) erwerben. Für die Fächer Deutsch und Englisch in der Sekundarstufe I fand die erste Studie zur Überprüfung des Erreichens der Bildungsstandards im Jahr 2009 statt (IQB-Ländervergleich 2009; Köller et al., 2010). Im IQB-Bildungstrend 2015 (Stanat et al., 2016) und im IQB-Bildungstrend 2022 (Stanat et al., 2023) wurden die Kompetenzen von Neuntklässler:innen in diesen Fächern zum zweiten bzw. dritten Mal untersucht. Neben den Kompetenztests umfassten die Erhebungen Befragungen der teilnehmenden Schüler:innen, ihrer Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen, um schulische und außerschulische Lernbedingungen zu erfassen.

In diesem Beitrag wird zunächst dargestellt, wie die von Schüler:innen am Ende der Sekundarstufe I erreichten Kompetenzen im Jahr 2022 in den Fächern Deutsch (Lesen, Zuhören und Orthografie) und Englisch (Leseverstehen und Hörverstehen) ausgeprägt sind und wie sie sich zwischen den Jahren 2009, 2015 und 2022 verändert haben. Anschließend wird der Frage nachgegangen, inwieweit im Jahr 2022 geschlechtsbezogene, soziale und zuwanderungsbezogene Disparitäten bestehen und inwieweit Veränderungen in diesen Disparitäten festgestellt werden konnten.

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 zeigen nahezu spiegelbildliche Entwicklungen für die betrachteten Fächer: Während im Fach Deutsch in allen untersuchten Kompetenzbereichen in Deutschland insgesamt und in fast allen Ländern zwischen den Jahren 2015 und 2022 signifikante Kompetenzrückgänge zu verzeichnen sind, zeigen sich im Fach Englisch – wie bereits im Zeitraum 2009 bis 2015 – bundesweit positive Trends. Im Fach Deutsch sind die Anteile der Schüler:innen, die im Jahr 2022 die Mindeststandards verfehlen, besonders hoch. Den Mindeststandard für den MSA verfehlen rund 33 Prozent aller Neuntklässler:innen im Lesen, etwa 34 Prozent im Zuhören und rund 22 Prozent in der Orthografie. Im Fach Englisch fallen die Ergebnisse insgesamt günstiger aus. Hier verfehlen im Jahr 2022 im Leseverstehen knapp 24 Prozent und im Hörverstehen rund 14 Prozent aller Neuntklässler:innen den Mindeststandard für den MSA. Zudem erreicht im Fach Englisch ein relativ großer Anteil der Jugendlichen ein besonders hohes Kompetenzniveau (Optimalstandards), insbesondere an den Gymnasien.

Auch im IQB-Bildungstrend 2022 zeigen sich wieder geschlechtsbezogene, soziale und zuwanderungsbezogene Disparitäten (Kompetenzvorteile für Mädchen, für Schüler:innen aus Haushalten mit höherem kulturellen Kapital und für Jugendliche ohne Zuwanderungshintergrund). Während die sozialen und zuwanderungsbezogenen Disparitäten in früheren Studien weitgehend stabil geblieben waren, haben sie sich zwischen den Jahren 2015 und 2022 bundesweit in fast allen untersuchten Kompetenzbereichen signifikant verstärkt.

In der Gesamtschau weisen die Befunde erneut darauf hin, dass im Fach Deutsch der Fokus stärker auf die Sicherung der Mindeststandards gelegt werden sollte. Wichtig ist ferner, die sprachliche Förderung von Schüler:innen auf den Prüfstand zu stellen, die mit geringen Deutschkenntnissen ins deutsche Bildungssystem kommen, und zu fragen, wie diese weiter verbessert werden kann. Auch die Förderung des Interesses von Jugendlichen am Fach Deutsch, das sehr schwach ausgeprägt war und sich weiter reduziert hat, sollte in der Forschung und Praxis verstärkt in den Fokus genommen werden.

 

Positive Trends im Fach Englisch: Welche Rolle spielen die Englischnutzung in der Freizeit und der Englischunterricht in der Grundschule?

Stefan Schipolowski, Karoline A. Sachse
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin

Keywords: Englisch als Fremdsprache, Leseverstehen, Hörverstehen, Freizeitverhalten

Die Ergebnisse des nationalen Bildungsmonitorings zeigen, dass die Neuntklässler:innen in Deutschland seit Beginn der Messungen im Mittel immer höhere Kompetenzniveaus im englischsprachigen Lese- und Hörverstehen erreichen. So ist der Anteil der Jugendlichen, die den Mittleren Schulabschluss anstreben und im Hörverstehen im Fach Englisch den Optimalstandard für den MSA erreichen (GER-Niveau B2.2 oder höher) zwischen den Jahren 2009 und 2022 um 15 Prozentpunkte und im Leseverstehen sogar um fast 21 Prozentpunkte gestiegen (Niemietz et al., 2023). Als mögliche Erklärungen für diese positiven Entwicklungen, die in fast allen Ländern zu beobachten sind, nennen Stanat et al. (2023) zum einen eine intensivere Nutzung der englischen Sprache durch Kinder und Jugendliche in der Freizeit, vor allem im Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Medien, und zum anderen Weiterentwicklungen des Englischunterrichts, darunter die Etablierung frühen Englischunterrichts in der Grundschule (Porsch et al., 2023).

Im IQB-Bildungstrend 2022 bearbeiteten mehr als 31.000 Neuntklässler:innen aus allen 16 Bundesländern Testaufgaben zu den Bildungsstandards im Lese- und Hörverstehen im Fach Englisch. Zudem wurden die Schüler:innen gefragt, in welchen Jahrgangsstufen sie in der Schule Englischunterricht erhalten haben und wie häufig sie die englische Sprache in der Freizeit nutzen. Dabei wurde sowohl die Verwendung von Englisch im Zusammenhang mit digitalen Medien (z. B. Filme und Serien auf Englisch schauen, englischsprachige Webseiten besuchen) als auch bei anderen Aktivitäten (z. B. Bücher auf Englisch lesen, außerhalb des Unterrichts mit anderen Englisch sprechen) berücksichtigt.

Regressionsanalysen unter Berücksichtigung der komplexen Stichprobenstruktur zeigen für die Daten zum Jahr 2022 enge Zusammenhänge zwischen einem Gesamtwert, der die Häufigkeit der Nutzung der englischen Sprache in der Freizeit abbildet, und den Kompetenzschätzern (Plausible Values) zum englischsprachigen Leseverstehen (r = .50) und Hörverstehen (r = .54). Die Zusammenhänge bleiben auch bei statistischer Kontrolle der Schulart (Gymnasium versus andere Schulart) und wesentlicher soziodemografischer Hintergrundmerkmale (Geschlecht, Buchbesitz und sozioökonomischer Status der Familie, Häufigkeit der Nutzung der deutschen Sprache in der Familie) substanziell (r = .44 bzw. r = .50).

Neben häufigerer Nutzung von Englisch in der Freizeit ist auch ein früher Beginn des Englischunterrichts in der Grundschule mit Kompetenzvorteilen in der 9. Jahrgangsstufe assoziiert. In einem Regressionsmodell mit drei Ebenen (Länder, Schulen, Schüler:innen) zeigt sich unter Kontrolle soziodemografischer Hintergrundmerkmale auf der Individualebene ein signifikanter Kompetenzvorsprung für Jugendliche, die bereits vor Klasse 3 in der Schule Englischunterricht erhalten haben (+26 bzw. +24 Punkte auf der Berichtsmetrik im Lese- bzw. Hörverstehen gegenüber Jugendlichen, die erst ab Klasse 4 oder später Englischunterricht erhalten haben).

Insgesamt legen die Befunde nahe, dass sowohl die Englischnutzung in der Freizeit als auch die Etablierung frühen Englischunterrichts in der Grundschule für die langjährigen positiven Trends im Fach Englisch von Bedeutung sind. Die Effekte sind dabei auch dann substantiell, wenn beide Faktoren (Freizeitnutzung der englischen Sprache und früher Beginn des Englischunterrichts) gemeinsam sowie unter Berücksichtigung soziodemografischer Hintergrundmerkmale modelliert werden. Diese und weitere Ergebnisse werden im Vortrag präsentiert, diskutiert und hinsichtlich ihrer Relevanz für die Praxis eingeordnet.

 

Kohortentrends in schulischer Motivation im Fach Deutsch: Zusammenhänge mit Veränderungen in den Leistungen und der Zusammensetzung der Schüler:innenschaft

Rebecca Schneider, Sebastian Weirich
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin

Keywords: Motivation, Selbstkonzept, Interesse, Schülermerkmale, schulische Leistung

Motivationale Merkmale bilden neben kognitiven Fähigkeiten wichtige Aspekte des Bildungserfolgs und werden deshalb regelmäßig in Schulleistungsstudien untersucht. Für das Fach Deutsch weisen empirische Befunde des IQB-Bildungstrends 2022 in der Sekundarstufe I auf einen leichten Rückgang im Selbstkonzept und Interesse in Deutschland in den untersuchten Kohorten hin, also auf ungünstige Veränderungen in motivationalen Merkmalen im Zeitverlauf auf Populationsebene (-.29 ≤ d ≤ -.22; Schneider et al., 2023). Da fachbezogene Leistungen substantiell mit korrespondierenden Selbstkonzepten und Interessen zusammenhängen (z. B. Möller et al., 2020; Valentine et al., 2004) und auch für Leistungen im Fach Deutsch ungünstige Kohortenunterschiede für Neuntklässler:innen beobachtet wurden (Boemmel & Schneider, 2023), stellt sich die Frage, inwieweit sich die Veränderungen in den motivationalen Merkmalen auf die Veränderungen in den Leistungen zurückführen lassen. Ergebnisse für Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer deuten jedoch darauf hin, dass sich Trends in der Motivation nicht bedeutsam auf Testleistungs- und Notenunterschiede zwischen Kohorten zurückführen lassen (Schneider, Gentrup et al., 2022). Daher soll in diesem Beitrag zusätzlich untersucht werden, inwieweit Veränderungen in der Zusammensetzung der Schüler:innenschaft mit Kohortentrends in der Motivation in Zusammenhang stehen. So berichten beispielsweise Schüler:innen mit Zuwanderungshintergrund in Deutschland teilweise geringere Selbstkonzepte im Fach Deutsch als Schüler:innen ohne Zuwanderungshintergrund (z. B. Shajek et al., 2006; siehe aber auch Schöber et al., 2015). Da sich in den betrachteten Zeiträumen der Anteil von Schüler:innen mit Zuwanderungshintergrund in der Gesamtpopulation erhöht hat (Henschel et al., 2023), könnte sich dies auch auf die Trends für die motivationalen Merkmale im Fach Deutsch ausgewirkt haben.

In diesem Beitrag sollen deshalb zum einen Motivationstrends in verschiedenen Subpopulationen von Schüler:innen (z. B. nach Zuwanderungshintergrund) analysiert sowie zum anderen untersucht werden, ob die gefundenen Kohortentrends im Selbstkonzept und im Interesse im Fach Deutsch in der Gesamtpopulation auf Unterschiede in schulischen Leistungen zwischen Kohorten und/oder auf Veränderungen in der Zusammensetzung der Schüler:innenschaft zwischen den Erhebungszeitpunkten zurückgeführt werden können.

Die Analysen basieren auf Daten der IQB-Bildungstrends 2015 und 2022 für jeweils über 30.000 Neuntklässler:innen. Das Selbstkonzept und Interesse der Schüler:innen im Fach Deutsch wurde zu den beiden Erhebungszeitpunkten mit den gleichen Items erhoben. Als Leistungsindikatoren wurden die Testleistungen der Schüler:innen in den Kompetenzbereichen Lesen, Zuhören und Orthografie sowie die Schulnote im Fach Deutsch herangezogen. Zudem wurden vier Merkmale der Schüler:innenschaft in die Analysen einbezogen, die nicht dem Einfluss des Schulsystems unterliegen: der Zuwanderungshintergrund der Schüler:innen, die zu Hause gesprochene Sprache, der Highest International Socio-Economic Index of Occupational Status (HISEI) als Indikator des sozioökonomischen Status sowie die Anzahl der Bücher zu Hause als Indikator für das kulturelle Kapital der Fami¬lie.

Neben den Trendergebnissen für die anhand dieser Hintergrundmerkmale gebildeten Subgruppen von Schüler:innen werden die Ergebnisse adjustierter Trends berichtet. Diese schätzen, wie die Veränderungen in den beiden motivationalen Konstrukten im Fach Deutsch ausfallen würden, wenn die mittlere Ausprägung der Leistungen und der Merkmale der Schüler:innenschaft zwischen den Erhebungs¬zeitpunkten konstant geblieben wäre (vgl. z. B. Mayer et al., 2016). Die Analysen zeigen, dass sich die adjustierten Mittelwerte im Selbstkonzept und im Interesse unter Berücksichtigung sowohl der Leistungen als auch der untersuchten Populationsmerkmale zu den einzelnen Messzeitpunkten nur geringfügig von den nicht-adjustierten Mittelwerten unterscheiden. Entsprechend sind die Trends zwischen 2015 und 2022 in den beiden motivationalen Merkmalen auch nach der Adjustierung weiterhin signifikant negativ und fallen ähnlich groß aus wie die Trends ohne Adjustierung. Abschließend sollen u. a. Implikationen der Befunde für das Bildungssystem diskutiert werden.

 

Auswirkungen von Priming des Geschlechts auf das berichtete fachspezifische Selbstkonzept und Interesse von Schüler:innen in geschlechterkonnotierten Schulfächern

Annika Liebelt, Sarah Gentrup, Rebecca Schneider, Sofie Henschel
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)

Keywords: Selbstkonzept, Interesse, Sekundarstufe, Priming, Geschlechterstereotype

Mädchen und Jungen unterscheiden sich teilweise deutlich bezüglich ihrer fachspezifischen Selbstkonzepte und Interessen. So weisen Mädchen im Mittel ein positiveres Selbstkonzept und höheres Interesse in den Bereichen Lesen und Schreiben im Fach Deutsch auf als Jungen (z. B. Böhme et al., 2016; Diedrich et al., 2019; Schneider et al., 2022), wohingegen Jungen ein positiveres Selbstkonzept und höheres Interesse in Mathematik berichten (z. B. Else-Quest et al., 2010; Jansen et al., 2019; Schneider et al., 2022). Diese motivationalen Geschlechterdisparitäten spiegeln sich fachspezifisch in der Leistung der Schüler:innen wider, wobei der mathematische Leistungsvorsprung von Jungen deutlich kleiner ausfällt (z. B. Else-Quest et al., 2010; Schipolowski et al., 2019) als der sprachliche Vorsprung der Mädchen (z. B. Gentrup et al., 2022; Reilly et al., 2019).

Als eine mögliche Erklärung für derartige Geschlechterdisparitäten werden Geschlechterstereotype und deren Auswirkungen diskutiert (Kessels & Heyder, 2010). Chalabaev et al. (2013) argumentieren, dass Stereotype auf verschiedenen Wegen einen Einfluss auf Personen ausüben können  zum einen durch die Verinnerlichung von Stereotypen, zum anderen durch deren situative Auswirkungen. Zu den situativen Konsequenzen von Stereotypen gehört das Phänomen des Stereotype Threat: Ist ein Stereotyp über eine Gruppe in der Gesellschaft verbreitet und werden Personen der entsprechenden Gruppe in einer Situation mit diesem konfrontiert, verhalten sie sich häufig dem Stereotyp entsprechend (Steele & Aronson, 1995). Die Forschung zu Stereotype Threat konzentriert sich im schulischen Kontext vor allem auf Leistungen von Schüler:innen. Es wurde gezeigt, dass sich durch Priming der weiblichen Identität oder vorherrschender Geschlechterstereotype die Leistung von Mädchen bzw. Frauen in Mathematiktests verschlechterte (z. B. Ambady et al., 2001; Franceschini et al., 2014). Ungeklärt ist, ob Stereotype situativ auch das fachspezifische Selbstkonzept und Interesse von Schüler:innen beeinflussen können. Auch im Schulkontext können Situationen wiederkehrend auftreten, in denen Geschlechterstereotype oder die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht aktiviert werden. Dadurch könnte die Motivation der geschlechterstereotypisierten Gruppe beeinträchtigt werden, was wiederum negative Konsequenzen für die weitere Lernentwicklung haben kann.

Im Beitrag wird deshalb anhand von Daten des IQB-Bildungstrends 2022 in der 9. Jahrgangsstufe untersucht, ob das Selbstkonzept und Interesse von Mädchen und Jungen in Deutsch und Mathematik in Abhängigkeit vom Priming der Geschlechterkategorie variiert. Um zu untersuchen, ob das Priming der Geschlechterkategorie einen Einfluss auf die Ausprägung der motivationalen Konstrukte hat, wurde in einem Teilsample von 2.489 Schüler:innen aus 142 Schulen in sechs Bundesländern ein Rotationsdesign realisiert. Die Schüler:innen wurden schulweise zufällig einer von drei Gruppen zugeordnet, in denen die Reihenfolge der gestellten Fragen zu Geschlecht, Geschlechterstereotypen, fachspezifischem Selbstkonzept und Interesse rotiert war. Dadurch ergibt sich eine Variation der Stärke des Primings. Während Schüler:innen der Rotation 1 ihr fachspezifisches Selbstkonzept und Interesse ohne vorheriges Priming einschätzten, wurde in Rotation 2 durch vorherige Abfrage ihres Geschlechts die Geschlechterkategorie aktiviert. In Rotation 3 wurden vor Beantwortung der motivationalen Items neben der Geschlechterkategorie zusätzlich auch Geschlechterstereotype bewusst gemacht. Alle Analysen werden fachspezifisch und unter Berücksichtigung der komplexen Datenstruktur durchgeführt. Zur Fragestellung nach den Primingeffekten sind noch keine Analysen erfolgt, da die Studie zunächst präregistriert werden soll. Zur Präsentation auf der GEBF werden die Ergebnisse vorliegen.

Die im IQB-Bildungstrend 2022 gefundenen stabilen bzw. leicht ansteigenden Geschlechterdisparitäten verdeutlichen, dass weiterhin gezielte Anstrengungen zur Reduktion geschlechtsspezifischer Unterschiede im schulischen Kontext notwendig sind. Die Priming-Studie wird hierzu neue Erkenntnisse zum Einfluss von Geschlechterstereotypen in spezifischen Situationen liefern.