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Session Overview
Session
2-08: Unterrichtsstörungen als Interaktionsereignis: Empirische Untersuchungen zu Abweichungen, Herstellung und Wahrnehmung von Interaktionsordnungen im Unterricht
Time:
Monday, 18/Mar/2024:
1:10pm - 2:50pm

Location: S18

Seminarraum, 70 TN

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Presentations
Symposium

Unterrichtsstörungen als Interaktionsereignis: Empirische Untersuchungen zu Abweichungen, Herstellung und Wahrnehmung von Interaktionsordnungen im Unterricht

Chair(s): Nina C. Jansen (Bergische Universität Wuppertal, Deutschland), Matthias Herrle (Bergische Universität Wuppertal, Deutschland), Claudia Schuchart (Bergische Universität Wuppertal, Deutschland)

Discussant(s): Markus Neuenschwander (Pädagogische Hochschule Fachhochschule Nordwestschweiz)

Grundlegend für die im Symposium versammelten Forschungsansätze ist ein Verständnis von Unterricht als komplexem, durch multimodale Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen ko-konstruiertem Prozess (Proske, Rabenstein & Meseth, 2022; Vieluf, Praetorius, Rakoczy, Kleinknecht & Pietsch, 2020). Im Zusammenhang dieses interaktiven Prozesses werden soziale Ordnungen und damit verbundene Verhaltenserwartungen im Zusammenspiel schüler*innen und lehrkraftseitiger Interaktionspraktiken produziert (Hester & Francis, 2000). Während sowohl Schüler*innen als auch Lehrkräfte an der kontextbezogenen Herstellung unterrichtlicher Interaktionsordnungen beteiligt sind, wird insbesondere von Lehrkräften die Übernahme von Verantwortung zur Steuerung und Gestaltung des Interaktionsgeschehen als lehr-lernbezogenes Geschehen erwartet (Ophardt & Thiel, 2013). Verbunden damit sind Anforderungen der Etablierung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Interaktionsordnungen (Decristan, Jansen & Fauth, 2023; Thiel, 2016). Das der Lehrkraft obliegende Wiederherstellen einer erwarteten sozialen Ordnung (Doyle, 2006, 2013) wird relevant, wenn von korrespondierenden Verhaltenserwartungen abweichendes, überwiegend schüler*innenseitiges Verhalten (Scherzinger, Wettstein & Wyler, 2018) zu Störungen der Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen im Unterricht führt (Lohmann, 2018; Thiel, 2016; Wettstein & Scherzinger, 2019). Dementsprechende Unterrichtsstörungen, die das Lehren und Lernen „behindern“ (Nolting, 2017, S. 13), „unterbrechen oder unmöglich machen“ (Lohmann, 2018, S. 13), stellen ein alltägliches Phänomen in der unterrichtlichen Praxis dar (Eckstein, Grob & Reusser, 2016; Krause, 2004; OECD, 2014) und lassen Unterricht als „störanfällige Interaktionsordnung“ (Proske et al., 2022) gelten.

Um Unterrichtsstörungen als Störungen der unterrichtlichen Interaktionsordnung zu untersuchen, wird in diesem Symposium eine multiperspektivische Betrachtung des Phänomens vorgenommen, was in der empirischen Bildungsforschung bislang noch eher selten vorzufinden ist (Helsper & Klieme, 2013).

Mit Hilfe quantitativer und qualitativer Ansätze wird in den Beiträgen zum Symposium untersucht, a) wie Lehrkräften im Unterricht mit schüler*innenseitigen Störungen der Interaktionsordnung umgehen, b) wie Interaktionsordnungen durch Praktiken der Interaktionssteuerung (lehrkraftseitig) überhaupt hergestellt werden und c) wie bestehende Ordnungen schüler*innenseitig wahrgenommen werden und ob dies mit bestimmten Verhaltensweisen der Schüler*innen im Unterricht assoziiert ist.

Beitrag A führt mit der quantitativen Methode der Verhaltensbeobachtung in das Symposium ein und systematisiert welche Formen von Schüler*innenverhalten sich in klassenöffenlichen Unterrichtssettings als Störungen der unterrichtlichen Interaktionsordnung beobachten lassen. Dabei unterscheidet der Beitrag zwischen aktiven Störungen der Unterrichtsinteraktion und passiven Störungen und untersucht auf Basis dessen, welchen interaktionalen Umgang mit den jeweiligen Störungsformen Lehrkräfte zur Wiederherstellung von Interaktionsordnungen im Unterricht einsetzen. Diesbezüglich zeigt der Beitrag auf, dass aktive Störungen zwar seltener stattfinden, sich aber ein signifikanter Zusammenhang mit einem regulierend-reaktiven, lehrkraftseitigen Umgang - in Form von Ermahnungen - beobachten lässt. Passive Störungen treten dagegen häufiger auf, stehen jedoch mit keiner untersuchten Form des lehrkraftseitigen Umgangs mit Störungen der Interaktionsordnung in systematischem Zusammenhang.

Vor dem Hintergrund dieser differenziellen Befunde zum lehrkraftseitigen Umgang mit Störungen der unterrichtlichen Interaktionsordnung stellt Beitrag B die Frage, wie geltende Interaktionsordnungen und Verhaltenserwartungen im Unterricht durch Lehrkräfte überhaupt kommuniziert werden. Dazu analysiert der Autor lehrkraftseitige Praktiken der Interaktionssteuerung im Rahmen einer qualitativ-rekonstruktiven Analyse von mehrperspektivischen Unterrichtsvideos. Herausgearbeitet werden Differenzen zwischen verbal-expliziten und nonverbal-impliziten Praktiken der Interaktionssteuerung, kontextbezogene Besonderheiten ihres Auftretens in Settings, in denen starke oder abgeflachte Rollenasymmetrien zwischen Lernenden und Lehrkräften vorherrschen sowie Anforderungen, Chancen und Risiken, die mit dem Einsatz nonverbal-impliziter Praktiken der Interaktionssteuerung für die Entstehung von Störungen einhergehen können.

An diese zentralen Befunde unterschiedlicher lehrkraftseitiger Praktiken der Vermittlung geltender Interaktionsordnungen und ihrer Implikationen für den Unterrichtsprozess schließt Beitrag C mit einem Fokus auf die Schüler*innenperspektive an und untersucht im Rahmen eines Mixed-Methods-Ansatzes die schüler*innenseitige Wahrnehmung sozialer Ordnungen und deren Einfluss auf das Schüler*innenverhalten. Die Befunde der Untersuchung deuten auf komplexes Wissen der Schüler*innen zu verschiedenen Aspekten unterrichtlicher Interaktionsordnungen hin, welches allerdings in keinem signifikanten Zusammenhang mit gezeigtem Unterrichtsverhalten steht.

 

Presentations of the Symposium

 

Störungen der unterrichtlichen Interaktionsordnung durch Schüler*innen und der lehrkraftseitige Umgang

Nina C. Jansen, Jasmin Decristan
Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Unterrichtsstörungen manifestierten sich als Ausprägung dysfunktionaler unterrichtlicher Interaktionen zwischen Schüler*innen und Lehrkräften (Nolting, 2017; Winkel, 2011). Dadurch werden geltende Interaktionsordnungen von Unterrichtssettings gestört (Thiel, 2016; Wettstein & Scherzinger, 2019), was sich negativ auf den Unterrichtverlauf auswirken kann (Scherzinger et al., 2018; Winkel, 2011), die zur Verfügung stehende aktive Lernzeit reduziert (Angus et al., 2010; Scherzinger & Wettstein, 2019) und auf diese Weise die Lernprozesse einzelner Schüler*innen oder ganzer Lerngruppen negativ beeinträchtigt (Helmke & Weinert, 1997; Wettstein & Scherzinger, 2019). Die Ausprägungsformen dieser Störungen lassen sich grundsätzlich in aktive (nach außen gerichtete) und passive (innerliche) Verhaltensweisen unterscheiden (Nolting, 2017). Aktive Störungen können durch ihre expressiven Ausprägungen (z.B. motorische Unruhe oder unpassende Lautäußerungen) die Interaktionsordnung einer gesamten Lerngruppe und somit deren Lehren und Lernen stören (Lohmann, 2018; Nolting, 2017). Passive Störungen (z.B. in Form von Tagträumerei oder Ablenkung) beeinträchtigen vor allem die Lernprozesse betroffener Schüler*innen selbst (Nolting, 2017). Beide Formen verletzen Verhaltenserwartungen im Kontext geltender Interaktionsordnungen (Hester & Francis, 2000) und stören somit die Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler*innen. Infolge dieser unterschiedlichen Implikationen kann erwartet werden, dass Lehrkräfte differenziell mit den beschriebenen Störungsformen umgehen (Plax, Kearney, McCroskey & Richmond, 1986; Thiel, 2016), um gestörte unterrichtliche Interaktionsordnungen wiederherzustellen (Doyle, 2006, 2013). So kann angenommen werden, dass Lehrkräfte mit dem Ziel einer schnellen Unterbindung disruptiver, aktiver Störungen, einen regulierenden Umgang, durch verbale Interventionen wie Ermahnungen, wählen (z.B. Keller, 2014; Nolting, 2017). Im Umgang mit dem weniger disruptiven Störungspotential passiver Störungen kann dagegen ein aktivierender Umgang, z.B. über Aufruf zur (Wieder-)Einbindung ins Unterrichtsgespräch, angenommen werden (Keller, 2014), denn diese können einerseits eine Refokussierung der Aufmerksamkeit betroffener Schüler*innen fördern und andererseits implizit an geltende Verhaltenserwartungen erinnern (z.B. aktive Partizipation statt Tagträumen im Unterrichtsgespräch). Die empirische Untersuchung entsprechender Zusammenhänge lehrkraftseitiger Verhaltensweisen im Umgang mit aktiven bzw. passiven Ausprägungsformen von Störungen der unterrichtlichen Interaktionsordnung stellt jedoch bisher ein Desiderat der Unterrichtsforschung dar.

Daher untersucht diese Studie:

Welche Ausprägungsformen schüler*innenseitiger Störungen der unterrichtlichen Interaktionsordnung lassen sich im klassenöffentlichen Unterrichtsgespräch beobachten?

Welche lehrkraftseitigen Umgangsformen steht mit den Ausprägungsformen schüler*innenseitiger Störungen der unterrichtlichen Interaktionsordnung in Zusammenhang?

Dazu wurden 10-minütige Videosequenzen des klassenöffentlichen Unterrichtsgesprächs aus 35 Lerngruppen (681 Schüler*innen) der dritten Jahrgangsstufen an Grundschulen in Deutschland selektiert und aktive sowie passive, schüler*innenseitge Störungen der Interaktionsordnung anhand eines niedrig-inferenten Kategoriensystems erfasst. Geschulte Beobachter*innen kodierten das Auftreten (1) bzw. Nicht-Auftreten (0) typischer Verhaltensindikatoren der beiden Kategorien (in Anlehnung an die definitorische Grundlage von Nolting, 2017) in 30-sekündigen Intervallen für jede*n teilnehmende*n Schüler*in (aktive Störungen – substanzielle IRR, Fleiss κ = .67; passiver Störungen – moderate IRR, Fleiss κ = .57, Landis & Koch, 1977). Die lehrkraftseitigen Verhaltensweisen im Umgang mit diesen Störungen wurde im Rahmen eines ergänzenden Kodiersystems erfasst und in Form von Ermahnungen (regulierender Umgang) und Aufrufen ohne Meldung (aktivierender Umgang) einbezogen.

Die Ergebnisse dieses Beitrags zeigen im klassenöffentlichen Unterrichtsgespräch ein häufigeres Auftreten passiver Störungen, die mit 42% aller Kodierungen in knapp der Hälfte aller Beobachtungssequenzen dokumentiert wurden, gegenüber aktiven Störungen, die in nur 14% der ausgewerteten Sequenzen kodiert wurden. Beide Störungsformen korrelierten nicht signifikant miteinander. Mehrebenen-Regressionsanalysen zeigen bei der Analyse des Interaktionsgeschehens innerhalb von Lerngruppen (within class), dass aktive Störungsformen mit einem regulierenden Umgang der Lehrkräfte durch Ermahnungen assoziiert waren. Für passive Störungen finden sich dagegen keine signifikanten Zusammenhänge mit dem untersuchten regulierenden oder aktivierenden, lehrkraftseitigen Umgang mit diesen Störungsereignissen.

Die Befunde zum Umgang mit aktivem Störverhalten bei Schüler*innen untermauern bisherige Annahmen anhand empirischer Daten. Das Fehlen eines Zusammenhangs von passiven, schüler*innenseitigen Störungen mit den untersuchten Formen des lehrkraftseitigen Umgangs mit Störungen (Ermahnungen bzw. Aufrufe ohne Meldung), soll im Rahmen des Symposiums hinsichtlich möglicher Ursachen (z.B. ein weniger konsistenter Umgang oder ein allgemein selteneres, lehrkraftseitiges Adressieren von weniger disruptiven Störungsformen) diskutiert werden.

 

Störungsfreiheit als ganz normale Unwahrscheinlichkeit?! Empirische Untersuchungen zu Praktiken und Kontexten der Herstellung von Interaktionsordnungen klassenöffentlichen Unterrichts

Matthias Herrle
Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Anschließend an ethnomethodologische Ansätze der Unterrichtsinteraktionsforschung im anglo-amerikanischen Raum (Cazden, 1986; Hester & Francis, 2000; O’Connor & Snow, 2018) kann Unterricht als in-situ-Geschehen betrachtet werden, das aus der Verkettung multimodaler Interaktionsereignisse emergiert. Interaktionsordnungen werden im Unterricht konstruiert, indem selektiv Interaktionsbeiträge von Lehrkräften und Schüler:innen aneinander anschließen bzw. deren Nicht-Anschließen als Erwartungsabweichung kommuniziert wird (Proske et al., 2022). Je nach Kontext werden dabei bestimmte Verhaltensweisen als (in)adäquat interpretiert: „each context makes different interactional demands on the memberts of the class“ (Shultz & Florio, 1979, S. 169). Aus dieser Perspektive kann Unterricht „als störanfällige Interaktionsordnung“ (Proske et al. 2022, S. 916) betrachtet werden, für dessen Herstellung und Aufrechterhaltung von den Beteiligten praktisch-operative Lösungen gefunden werden müssen. Aufgrund der asymmetrisch angelegten Rollenverteilung in (Schul-)Unterrichtssettings fungiert die Lehrkraft als primär verantwortlich für die Herstellung sozialer Ordnungen (Paoletti & Fele, 2004), indem sie Handlungsprogramme situativ in primäre Handlungsvektoren übersetzt, auf die sie „die Schülerinnen und Schüler verpflichtet“ (Ophardt & Thiel, 2013, S. 53). Aus dieser Perspektive erscheinen Unterrichtsstörungen als Abweichungen von Ordnungserwartungen, die durch Aktivitäten in Relation zum Kontext ihrer Hervorbringung bzw. in Relation zu dem von der Lehrkraft situativ-enaktierten Handlungsprogramm produziert werden: „misbehavior is any behavior by one or more students that is perceived by the teacher to initiate a vector of action that competes with or threatens the primary vector of action at a particular moment in a classroom activity” (Doyle, 2006, 2013, S. 112).

Vor diesem theoretischen Hintergrund wird im Projekt „Pädagogische Interaktion als Koordinationsproblem“ die Frage verfolgt, welche multimodalen Praktiken Schüler:innen und insb. Lehrkräfte im Unterricht realisieren, um Interaktionsordnungen herzustellen und deren Reproduktion zu ermöglichen. Im hier projektierten Beitrag sollen Befunde einer Teilstudie dargestellt werden, in der die Fragestellung untersucht wird, wie Lehrkräfte Ordnungserwartungen im klassenöffentlichen Unterricht kommunizieren: Welche Interaktionspraktiken realisieren Lehrkräfte im Umgang mit Anforderungen der Interaktionssteuerung in Settings klassenöffentlichen Unterrichts? Gezielt wird bei dieser qualitativ-rekonstruktiv angelegten Studie darauf, ein breites Spektrum an Varianten der Interaktionssteuerung zu identifizieren und Hypothesen zu kontextbezogen Besonderheiten zu generieren.

Als Grundlage dafür fungieren zwei Datenkorpora an mehrperspektivischen Videoaufzeichnungen des prozessförmigen Geschehens in Veranstaltungen der Erwachsenen-/Weiterbildung (n= 128) sowie des Haupt-, Real- und Gymnasialunterrichts der sechsten Klasse (n= 24). Zum Einbezug relevanter Fälle wird sich an Strategien des Theoretical Sampling orientiert (Glaser & Strauss, 2005), um anhand minimaler und maximaler Kontrastierungen das empirische Spektrum an Varianten lehrkraftseitiger Interaktionssteuerung auszuloten. Die Analyse der videographischen Daten orientiert sich an Ansätzen mikroethnographischer und konversationsanalytischer Interaktionsforschung (Erickson, 2006; Herrle, 2020; Mondana, 2016). Mit Hilfe segmentierungsanalytischer und sequenzanalytischer Verfahren werden Ablaufordnungen von Unterrichtsinteraktionen analysiert und kontextbezogen Formen und Funktionen von Interaktionspraktiken identifiziert, die Lehrkräfte im Umgang mit Herausforderungen der Interaktionssteuerung in Phasen klassenöffentlichen Unterrichts zum Einsatz bringen.

Erste Befunde, die im Vortrag am Datenmaterial illustriert werden sollen, zeigen, dass (1) die Form von Praktiken der Interaktionssteuerung insbesondere hinsichtlich ihres Explizitheitsgrades bzw. der zu ihrer Darstellung genutzten Äußerungsressourcen differiert; (2) dass die selektive Realisierung von Praktiken der Interaktionssteuerung an das Ausmaß der im jeweiligen Kontext vorherrschenden Rollenasymmetrie zwischen Lehrkraft und Lernenden gebunden scheint – besondere Kontraste ergeben sich hier zwischen schulischen und volkshochschulischen Settings; (3) dass eine beiläufige Realisierung minimaler Übergänge zwischen Phasen im klassenöffentlichen Unterricht mit besonderen Anforderungen an die lehrkraftseitige Darstellung von Kontextualisierungshinweisen und deren Wahrnehmung und Interpretation durch die Schüler:innen gebunden ist, um eine störungsfreie Reproduktion der jeweiligen lehr-lernbezogenen Interaktionsordnung zu ermöglichen.

Vor diesem Hintergrund erscheint weniger die Störungen als vielmehr die Ordnung von Unterricht als komplexes und erklärungsbedürftiges Phänomen (Vanderstraeten, 2001), zu dessen Aufklärung Untersuchungen zur Funktionsweise von Interaktionskontexten und zu Praktiken ihrer koordinierten Herstellung wichtige Beiträge liefern können (Herrle & Dinkelaker, 2018).

 

„Nicht kippeln, nicht reinrufen und keinen Blödsinn machen.“ – Die Wahrnehmung schulischer Ordnung und ihr Einfluss auf das Unterrichtsverhalten von Grundschüler*innen

Leon Dittmann, Benjamin Schimke, Doris Bühler-Niederberger, Claudia Schuchart
Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Regeln besagen, welches Verhalten im Rahmen der sozialen Ordnung der Schule als legitim gilt. Sowohl das theoretische als auch das didaktische Verständnis von Regeln impliziert, dass das Wissen über bestehende schulische Ordnungsstrukturen als Indikator für die Produktion legitimen und regelkonformen Verhaltens seitens der Schüler*innen betrachtet werden kann (Alter & Haydon, 2017). Ausgehend von einem interaktionistischen Verständnis schulischer Ordnung, welches deren Produktion nicht ausschließlich als eine Leistung der Lehrkräfte versteht, lässt sich schulische Ordnung als situativ und komplex beschreiben, da Regeln und Verhaltenserwartungen häufig unscharf, mehrdeutig oder widersprüchlich sind (Jäger, 2019; MacLure, Jones, Holmes & MacRae, 2012; Mehan, 2014; Schuchart & Bühler-Niederberger, 2022). Entgegen der lehrer*innenzentrierten Betrachtung schulischer Ordnung wird in diesem Beitrag die Perspektive der Kinder fokussiert, deren Beitrag bei der Aufrechterhaltung dieser Ordnung als zentral verstanden werden muss. Während es bereits Arbeiten gibt, die die subjektive Sicht von Schüler*innen auf Regeln und Sanktionierung retrospektiv mit Hilfe von Fragebögen untersuchen (z.B. Payne, 2015), verfolgen wir einen innovativen Ansatz, bei dem Experteninterviews mit Kindern mit deren objektiv beobachtetem Unterrichtsverhalten verknüpft werden können. Damit bearbeiten wir ein auch für Lehrkräfte relevantes Forschungsdefizit. So zeigt eine Studie von Kumschick, Piwowar und Thiel (2018), dass es Lehrkräften besser gelingt, adäquat auf Störungen zu reagieren, wenn sie die Perspektive der Schüler*innen kennen und berücksichtigen. In unserer explorativ angelegten Studie betrachten wir die folgenden Fragen:

Wie wird schulische Ordnung aus der Perspektive von Grundschüler*innen wahrgenommen?

Welchen Einfluss hat die individuelle Wahrnehmung von schulischer Ordnung auf das Verhalten der Grundschüler*innen im Unterricht?

Wir verwenden einen Mixed-Methods-Ansatz, der sich aus Verhaltensbeobachtungen und qualitativen Interviews zusammensetzt. Die Beobachtungen wurden in 22 ersten Klassen in 209 Unterrichtsstunden von jeweils 2 geschulten Beobachter*innen zu 2 bis 5 Zeitpunkten durchgeführt. In Anlehnung an validierte Messinstrumente (Gadow, Sprafkin & Nolan, 1996; Muris, Meesters & van den Berg, 2003; Shapiro, 2011) wurden motorische, verbale, aggressive und passive Unterrichtsstörungen individuell erfasst. Im Anschluss an die Beobachtungen wurden einzelne Kinder in qualitativen Interviews gefragt, welche Empfehlung sie anderen Kindern geben würden, um in der Schule „gut zurechtzukommen und wenig Ärger zu bekommen“. Die insgesamt 149 geführten Interviews, bei denen 107 Kinder teilweise wiederholt befragt werden konnten, wurden dann mittels qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring & Fenzl, 2019) ausgewertet. Zur Prüfung der Zusammenhänge zwischen der individuellen Regelkenntnis (ja/nein) und dem Störverhalten (Häufigkeit) wurden bivariate lineare Regressionen durchgeführt.

Die inhaltsanalytischen Interviewauswertungen zeigen, dass die Erstklässler*innen vor allem über Wissen zu verbalen Verhaltensregeln (76,5%) und zur Beteiligung am Unterricht (62,4%) verfügen, während sie motorisches Handeln (31,5%) deutlich seltener als Teil schulischer Ordnung betrachten. Eine häufig genannte Kategorie stellt dabei auch das Wissen über die Bestrafung abweichenden und die Belohnung legitimen Verhaltens (49,7%) dar. Daneben kannten die Kinder auch allgemeine Regeln der sozialen Interaktion. So äußerten sich mehr als die Hälfte aller befragten Kinder über Regeln des sozialen Miteinanders (54,4%) und etwa ein Drittel über die Vermeidung von physischer Gewaltanwendung (34,2%). Als weitere Kategorie ließen sich zudem auch Äußerungen über das Befolgen von Anweisungen und Vorgaben von Autoritäten (17,4%) sowie unspezifische Äußerungen über erwartetes oder unerwünschtes Verhalten (34,2%) kodieren. Die regressionsanalytische Auswertung zeigt, dass in allen Kategorien Regelkenntnis nur tendenziell, jedoch nicht signifikant im Zusammenhang mit der Häufigkeit des jeweiligen Störverhaltens der Kinder steht.

Die Vielzahl von Verhaltensregeln, die die Kinder nennen konnten, spiegelt die komplexen Anforderungen an das Verständnis der Kinder wider, die mit Schuleintritt an sie gerichtet sind. Dass die Regelkenntnis keinen Niederschlag im Verhalten findet, kann mehrere Gründe haben. So müssen Kinder lernen, dass Regeln nicht in jeder Situation gelten (Doyle, 2006, 2013; Jäger, 2019), und nur 40% der Verstöße werden unseren Daten zufolge durch die Lehrkraft geahndet. Im nächsten Schritt sollen diese Zusammenhänge im Längsschnitt genauer untersucht werden.



 
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