Veranstaltungsprogramm

Sitzung
1-01: Schüler:innenurteile zum Unterricht im Kontext heterogener Lerngruppen
Zeit:
Montag, 18.03.2024:
10:30 - 12:10

Ort: H05

Hörsaal, 500 TN

Präsentationen
Symposium

Schüler:innenurteile zum Unterricht im Kontext heterogener Lerngruppen

Chair(s): Jasmin Decristan (Bergische Universität Wuppertal), Benjamin Fauth (Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) und Universität Tübingen)

Diskutant*in(nen): Sebastian Röhl (Universität Tübingen)

Die Heterogenität von Schüler:innen in Schulklassen ist ein zentrales Thema sowohl bildungspolitischer und pädagogischer Debatten als auch der empirischen Unterrichtsforschung (vgl. Gräsel, Decristan & König, 2017). Eine hohe Unterrichtsqualität wird dabei als mitentscheidend dafür angesehen, das Lernen und die Motivation der Lernenden zu fördern und trägt zudem zu einem erfolgreichen Umgang mit Heterogenität bei (Klieme, 2019).

Unterrichtsqualität wird dabei oft als ein zwischen Klassen oder Lehrkräften variierendes Merkmal angesehen. Damit einher geht, dass interindividuelle Unterschiede in der Wahrnehmung von Unterrichtsqualität oft als (fehlerhafte) Abweichungen von der geteilten Wahrnehmung der in einer Klasse einheitlich realisierten Unterrichtsqualität betrachtet werden. Erst in jüngster Zeit werden Zusammenhänge zwischen Merkmalen der Schüler:innen in einer Klasse und der Unterrichtsqualität verstärkt in den Blick genommen (z.B. Göllner et al., 2018). Dabei können Zusammenhänge sowohl auf der Individualebene (z.B. Atlay et al. 2019) als auch auf der Klassenebene (als Kompositionseffekte; z.B. Fauth et al., 2021) unterschieden werden.

Konzeptionell wird Unterricht als interaktives und ko-konstruktives Geschehen zwischen Lehrenden und Lernenden in der Auseinandersetzung mit den Lerninhalten beschrieben (Fend, 1998; Klieme, 2019). Vor diesem Hintergrund lässt sich nur schwerlich von einem einheitlichen, für alle Schüler:innen gleichen, Unterrichtsangebot sprechen. Die Interaktionen einer Lehrenden mit den verschiedenen Lernenden innerhalb einer Klasse unterscheiden sich abhängig von deren Lernvoraussetzungen (differential teacher treatment, Bohlmann & Weinstein, 2013; Decristan, Jansen & Fauth, 2023).

Im Zuge der Debatte um Heterogenität gibt es verstärkte Bemühungen, den Unterricht besser an die Lernvoraussetzungen der individuellen Schüler*innen und der Lerngruppe anzupassen und somit adaptiv zu gestalten (Dumont, 2019). Hier geht es also um eine intendierte und gezielte Individualisierung. Hierfür kommt wiederum der Lehrkraft eine entscheidende Bedeutung zu.

Die Befunde zur Wirksamkeit dieser Maßnahmen beziehen sich jedoch oft auf Lerngruppen, während die individuelle Passung von Unterricht und Lernvoraussetzungen bislang kaum empirisch beleuchtet wurde. Einen wichtigen Ansatzpunkt hierfür stellt die systematische Berücksichtigung von interindividuellen Unterschieden in der Wahrnehmung des Unterrichts in Abhängigkeit von den jeweiligen Lernvoraussetzungen der Schüler:innen dar. Es kann beispielsweise angenommen werden, dass adaptiver Unterricht, also ein Unterricht, der zu den heterogenen Lernvoraussetzungen passt, mit vergleichsweise geringen Unterschieden in den Wahrnehmungen des Unterrichts durch die Schüler:innen einhergeht.

Vor diesem Hintergrund ist das Ziel dieses Symposiums, die Zusammenhänge zwischen heterogenen Lernvoraussetzungen in den Klassen bzw. Maßnahmen zum Umgang mit Heterogenität mit der von Schüler*innen wahrgenommenen Unterrichtsqualität eingehender in den Blick zu nehmen.

Beitrag 1 untersucht Zusammenhänge zwischen Klassenkomposition und wahrgenommener Unterrichtsqualität und bezieht hier zugleich Merkmale der unterrichtenden Lehrkraft (Selbstwirksamkeit im Umgang mit heterogenen Lerngruppen) in die Analysen mit ein, um Moderationseffekte zu testen. Beitrag 2 nimmt anschließend in den Blick, inwieweit Lehrkräfte auf Individual- als auch auf Klassenebene das Unterrichtsangebot für unterschiedliche Schüler:innen adaptieren und inwiefern das wiederum mit Unterrichtsoutcomes zusammenhängt. Auch hier bilden die Schüler:innenurteile zur Unterrichtsqualität die Grundlage der empirischen Analysen. Die nächsten beiden Beiträge führen den Strang zum Umgang mit Heterogenität systematisch fort. Beitrag 3 untersucht den Zusammenhang zwischen individuellen Lernvoraussetzungen und der Wahrnehmung des Unterrichts an Grundschulen, die u.a. für einen besonders gelungenen Umgang mit Heterogenität ausgezeichnet wurden. Hieran anknüpfend wird geprüft, inwieweit Maßnahmen der Differenzierung durch die Lehrkraft zu weniger Wahrnehmungsunterschieden im Sinne einer besseren Passung führen. Beitrag 4 exploriert den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und der Wahrnehmung von Klassenführung und Klassenklima durch die Schüler:innen im Kontext einer Intervention, die darauf abzielte, die sprachlichen Ressourcen mehrsprachiger Grundschulkinder besser zu adressieren.

 

Beiträge des Symposiums

 

Zusammenhänge zwischen Klassenkomposition und Unterrichtsqualität in Klassen derselben Lehrkraft: Die Rolle der Selbstwirksamkeit der Lehrkraft im Umgang mit heterogenen Lerngruppen

Anne Heinschel1, Sofie Henschel1, Camilla Rjosk2
1Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, 2Universität Potsdam

Da sich die Unterrichtsqualität als prädiktiv für den Lernerfolg von Schüler:innen erwiesen hat (Praetorius et al., 2018), ist es von besonderem Interesse die Komplexität des Unterrichts anhand seiner Bedingungsfaktoren zu erklären und dadurch besser verstehen zu können. Auf Grundlage des Angebots-Nutzungs-Modells des Unterrichts (Vieluf et al., 2020) wird davon ausgegangen, dass sowohl Merkmale der Lehrkraft (insb. professionelle Kompetenzen; Seidel, 2014) als auch der Klasse (mittlere Ausprägungen und Heterogenitätsmaße u.a. in Bezug auf Geschlecht, Zuwanderungshintergrund, Vorwissen, Interesse; Helmke, 2017) die Qualität des Unterrichts beeinflussen.

Studien deuten darauf hin, dass neben dem professionellen Wissen (Voss et al., 2022) vor allem motivationale Merkmale der Lehrkraft (Enthusiasmus, Interesse, Selbstwirksamkeit; Baier et al., 2019; Lazarides & Schiefele, 2021a) für die Gestaltung qualitätsvoller Unterrichtsprozesse relevant sind. Bezogen auf Merkmale der Klassenkomposition zeigen Studien ebenfalls, dass neben den typischerweise untersuchten distalen und kognitiven Merkmalen (sozioökonomische Zusammensetzung, Anteil mehrsprachiger Schüler:innen, mittlere bzw. Streuung der kognitiven Fähigkeiten, Decristan et al., 2017; Fauth et al., 2021; Rjosk et al., 2014) auch motivationale Merkmale der Klassenkomposition wie das mittlere Interesse zur Erklärung von Unterschieden in der Unterrichtsqualität beitragen (Fauth et al., 2021; Lazarides et al., 2019). Dies ist auch unabhängig von der unterrichtenden Lehrkraft zu beobachten (Fauth et al., 2020; Heinschel et al., 2023).

Aufgrund ihrer Bedeutung für den Lernerfolg sollte Unterrichtsqualität möglichst unabhängig von Klassenmerkmalen ein hohes Niveau erreicht. Insofern ist es von besonderem Interesse herauszufinden, inwiefern eine Lehrkraft dazu beitragen kann, Effekte der Klassenkomposition auf die Unterrichtsqualität abzumildern. Als relevant für den konstruktiven Umgang mit Heterogenität gelten dabei vor allem die Motivation und die Einstellungen der Lehrkraft (Trautmann & Wischer, 2011). Erste Studien deuten an, dass die Lehrkraftmotivation Effekte des Anteils mehrsprachiger Schüler:innen auf die Unterrichtsqualität moderieren kann (Hachfeld & Lazarides, 2021). Es ist aber unklar, inwiefern dies auch für weitere Effekte der Klassenkomposition sowie über mehrere Klassen einer Lehrkraft hinweg gilt.

Vor diesem Hintergrund untersuchen wir (1) inwiefern Merkmale der Klasse und die Selbstwirksamkeit der Lehrkraft im Umgang mit heterogenen Lerngruppen je einen spezifischen Beitrag zur Erklärung von Unterschieden in der Unterrichtsqualität zwischen Klassen leisten. Zudem wird untersucht, (2) ob die Selbstwirksamkeit der Lehrkraft Effekte der Klasse auf die Unterrichtsqualität im Sinne einer negativen Moderation abschwächen kann.

Wir nutzen Daten aus dem IQB-Bildungstrend 2018 (Stanat et al., 2022), in denen für jede Lehrkraft Angaben von mehreren nichtgymnasialen Klassen zu ihrer Unterrichtsqualität im Mathematikunterricht (kognitive Aktivierung, 12 Items, α = .81; Schülerorientierung, 5 Items, α = .88; Störungen, 3 Items, α = .91) vorliegen (217 Klassen, 105 Lehrkräfte, insgesamt 3550 Schüler:innen). In latent-manifesten Drei-Ebenen-Strukturgleichungsmodellen (Marsh et al., 2009) betrachten wir (1) Effekte der Klassenkomposition (mittleres fachbezogenes Interesse, 4 Items, α = 0.89, sowie deren Streuung; mittlere kognitive Fähigkeiten sowie deren Streuung, Wilhelm et al., 2014; mittlerer sozioökonomischer Hintergrund: HISEI; Anteil Mädchen; Anteil mehrsprachiger Schüler:innen) und der Selbstwirksamkeit der Lehrkraft im Umgang mit heterogenen Lerngruppen (6 Items, α = .87) sowie (2) Interaktionseffekte dieser Merkmale auf die genannten Dimensionen der Unterrichtsqualität. Als Kontrollvariablen werden die genannten Klassenmerkmale auf Individualebene sowie das Geschlecht und die Berufserfahrung der Lehrkräfte berücksichtigt.

Vorläufige Analysen deuten darauf hin, dass ein höheres mittleres Interesse mit höherer Schülerorientierung und kognitiver Aktivierung, ein höherer Anteil mehrsprachiger Schüler:innen mit höherer kognitiver Aktivierung und ein höherer Anteil weiblicher Schüler:innen mit einem niedrigeren Niveau an Störungen einhergeht. Heterogenität der Klasse bezogen auf kognitive Fähigkeiten und fachliches Interesse steht nicht in Zusammenhang mit Merkmalen der Unterrichtsqualität. Eine höhere Selbstwirksamkeit der Lehrkraft geht mit höherer Schülerorientierung und kognitiver Aktivierung einher, moderiert jedoch keine Zusammenhänge von Klassenmerkmalen und Unterrichtsqualität. Die Ergebnisse werden mit Blick auf die Frage diskutiert, inwiefern Merkmale der Lehrkraft das Bemühen um qualitätsvollen Unterricht unabhängig von der Klassenkomposition fördern können.

 

Adaptive Unterrichtsqualität: Ermittlung von lehrkraft- und klassenspezifischen Urteilseffekten bei Schülereinschätzungen

Ann-Kathrin Jaekel1, Alexander Jung1, Richard Göllner2
1Universität Tübingen, 2Universität Tübingen und Universität Regensburg

Theoretischer Hintergrund

Merkmale, wie die Klassenführung, die Lernunterstützung oder der kognitive Anregungsgehalt einer gelten als zentrale Aspekte eines qualitätsvollen Unterrichts (Hamre & Pianta, 2010; Klieme et al., 2009; Praetorius et al., 2018). Die dafür notwendigen Kompetenzen erwerben Lehrkräfte im Rahmen ihrer Ausbildung und während ihrer beruflichen Tätigkeit. Allerdings berücksichtigen bisherige Studie kaum, inwieweit Lehrkräfte ihr Unterrichtshandeln im Sinne verschiedener Qualitätsdimensionen an den Erfordernissen einer Klasse ausrichten. Eine Studie von Voss und Kollegen (2022) zeigte beispielsweise, dass die Unterrichtsqualität von ein und derselben Lehrkraft über unterschiedliche Klassen hinweg variierte. Die Autorinnen und Autoren interpretierten diese Ergebnisse dahingehend, dass es nicht allen Lehrkräften in gleicher Weise gelingt in unterschiedlichen Klassen ein gleich hohes Maß an Unterrichtsqualität zu erreichen. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass eine Anpassung des konkreten Lehrkraftverhaltens an die Bedürfnisse einer spezifischen Klasse durchaus im Sinne eines adaptiven Unterrichts zu verstehen ist. Während beispielsweise die Schülerinnen und Schüler der einen Klasse ein höheres Monitoring benötigen, ist das für eine andere Klasse nicht notwendigerweise der Fall. Ziel der vorliegenden Studie war es daher, auf der Grundlage von Längsschnittdaten sowohl lehrkraft- als auch klassenspezifische Aspekte der Unterrichtsqualität auf der Grundlage von Schülereinschätzungen zu ermitteln.

Methode

Daten der UNITAS-Studie wurden in den Jahren 2018 und 2019 in 25 baden-württembergischen Schulen aller Klassenstufen der Sekundarstufe I erhoben. Insgesamt nahmen N = 6.479 Schülerinnen und Schüler aus insgesamt 401 Klassen an der Befragung im Frühjahr/Sommer 2018 teil. Im Mittelpunkt der Befragung stand die Erfassung der Unterrichtsqualität anhand von Schülereinschätzungen in den Fächern Mathematik und Deutsch. Schülerinnen und Schüler wurden nach einem Jahr wiederholt befragt. Erfragt wurden die Unterrichtsqualität entlang der drei Qualitätsdomänen „guten“ Unterrichts. Für die vorliegende Studie wurden die Qualitätsdimensionen Monitoring, Störungen, Lernunterstützung, Feedback, anspruchsvolle Aufgaben und Sokratischer Dialog ausgewählt. Zur Beantwortung der Fragestellung wurde ein Längsschnittmodell verwendet, welches die zeitlichen Stabilitäten, für die durch Schülerinnen und Schüler beurteilten Qualitätsdimensionen, ermittelte (Göllner et al., 2018). Die zeitlichen Stabilitäten wurden für drei Gruppen anhand eines Mehrgruppenmodells getrennt betrachtet: a) gleiche Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlicher Lehrkraft (lehrkraftunspezifisch, K = 76 Klassen), b) gleiche Lehrkraft mit unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern (lehrkraftspezifisch, K = 163 Klassen) und c) gleiche Lehrkraft mit gleichen Schülerinnen und Schülern (klassen- und lehrkraftspezifisch, K = 118 Klassen). Entsprechend der Forschungsfragen standen die zeitlichen Stabilitäten der Schülerurteile auf der Klasseneben im Mittelpunkt der Analysen.

Ergebnisse

Die Ergebnisse des Mehrgruppenmodells zeigten entlang der klassischen Modellgütekriterien eine jeweils gute Passung für sechs Einzelmodelle im Hinblick auf die gängigen Modelgütekriterien. Die zeitlichen Stabilitäten variierten über die sechs Qualitätsdimensionen und über die drei Gruppen zwischen r = .25 (Sokratischer Dialog) und r = .56 (Anspruchsvolle Aufgaben). Getrennt nach Gruppen, zeigten sich erwartungsgemäß die höchsten Stabilitäten für die Gruppe mit gleichen Schülerinnen und Schülern sowie gleicher Lehrkraft (.34 ≤ r ≤ .75). Die Stabilitäten der Gruppe mit gleichen Schülerinnen und Schülern aber unterschiedlicher Lehrkraft (.28 ≤ r ≤ .45) und der Gruppe mit gleicher Lehrkraft aber unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern (.26 ≤ r ≤ .52) fielen demgegenüber geringer aus. Weiterführende Modelle zur Quantifizierung der Stabilitätsunterschiede zeigten, dass unter Kontrolle der lehrkraftunspezifischen Stabilitäten die klassen- und lehrkraftspezifischen Urteilseffekte mit Ausnahme des Sokratischen Dialogs statistisch signifikant waren (ps‘ < .05). Diese Urteilseffekte konnten für die meisten Qualitätsdimensionen auf lehrkraftspezifische Effekte zurückgeführt werden. Lediglich für das Monitoring einer Lehrkraft und das Ausmaß an Störungen fanden sich darüber hinaus klassenspezifische Effekte, die im Sinne eines gelungenen oder weniger gelungenen adaptiven Lehrkraftverhaltens interpretiert werden können.

 

Adaptiver Unterricht aus Sicht von Schüler:innen: Unterrichtswahrnehmungen in Abhängigkeit individueller Lernvoraussetzungen

Katharina Schnitzler1, Nora Fröhlich2, Jasmin Decristan3, Benjamin Fauth4, Hanna Dumont1
1Universität Potsdam, 2Institut für Bildungsanalysen Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW), 3Universität Wuppertal, 4Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) und Üniversität Tübingen

Aktuelle empirische Befunde zeigen, dass sich Grundschüler:innen innerhalb einer Klasse in der Wahrnehmung ihres Unterrichts in Abhängigkeit ihrer individuellen soziodemographischen, kognitiven und motivationalen Lernvoraussetzungen unterscheiden (Igler et al., 2019; Stang und McElvany, 2021). Dabei bleibt eine offene Frage, inwiefern diese Divergenzen in individuell unterschiedlichen Wahrnehmungen desselben Unterrichts oder in tatsächlichen, wenn auch nicht intendierten Unterschieden im Unterrichtsangebot begründet sind (Igler et al., 2019). Vor diesem Hintergrund werden zunehmend Forderungen laut, den Unterricht adaptiv zu gestalten, also gezielt an die individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler:innen anzupassen (Dumont, 2019). Im Hinblick auf die Wahrnehmung der Unterrichtsqualität wäre hier denkbar, dass sich Schüler:innen mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gleichermaßen herausgefordert und unterstützt fühlen und daher in ihrer Unterrichtswahrnehmung übereinstimmen. Im vorliegenden Beitrag wird der Fokus auf die Unterrichtswahrnehmung von Schüler:innen an Grundschulen gelegt, die mit dem Deutschen Schulpreis unter anderem für ihren produktiven Umgang mit individuellen Lernvoraussetzungen ausgezeichnet worden sind. Daher ist davon auszugehen, dass die Preisträgerschulen gezielt Maßnahmen der Differenzierung—als ein zentrales Merkmal von adaptivem Unterricht— einsetzen. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich Schüler:innen innerhalb von Klassen in ihrer Unterrichtswahrnehmung in Abhängigkeit individueller Lernvoraussetzungen unterscheiden. Zusätzlich wird untersucht, ob dabei dem Grad der Differenzierung im Unterricht eine moderierende Rolle zukommt.

Zur Beantwortung der Fragen wurden Daten von N = 552 Schüler:innen (51.05% weiblich; 25.4% mit Migrationshintergrund) aus 50 Klassen der 3. und 4. Jahrgangsstufe von neun Preisträger-Schulen genutzt. Neben soziodemographischen Lernvoraussetzungen (Geschlecht, SÖS und Migrationshintergrund) wurden kognitive (kognitive Fähigkeiten, Lese- und Mathematikleistung) und motivationale Lernvoraussetzungen (Selbstkonzept in Deutsch und Mathe, Interesse an Deutsch und Mathe, Anstrengungsbereitschaft und Lernfreude) mittels standardisierter Tests beziehungsweise Fragebögen erfasst (α = 0.80 – 0.92; ICC1 = 0.01 – 0.09). Die Unterrichtswahrnehmung der Schüler:innen wurde ebenfalls über Fragebögen zu den drei Basisdimensionen der Unterrichtsqualität (kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung und Klassenmanagement) erhoben (α = 0.75 – 0.89; ICC1 = 0.11 – 0.20). Die Differenzierung im Unterricht wurde über eine Skala von den Schüler:innen erfragt (α = 0.78; ICC1 = 0.62).

Um den Zusammenhang der Unterrichtswahrnehmung mit den Lernvoraussetzungen der Schüler:innen zu prüfen, wurden Mehrebenen-Regressionsanalysen durchgeführt. Auf Individualebene wurden die am Klassenmittelwert zentrierten Lernvoraussetzungen als Prädiktoren aufgenommen. Auf Klassenebene wurden die aggregierten Klassenmittelwerte der Lernvoraussetzungen und die am Gesamtmittelwert zentrierte Unterrichtsdifferenzierung als Prädiktor modelliert. Um den Grad der Unterrichtsdifferenzierung als Moderator zu prüfen, wurden Cross-Level-Interaktionen zwischen den Lernvoraussetzungen und der Unterrichtsdifferenzierung einbezogen.

Innerhalb einer Klasse stimmten Schüler:innen mit unterschiedlichen soziodemographischen und kognitiven Lernvoraussetzungen in der Unterrichtswahrnehmung weitestgehend überein. Der SÖS und Migrationshintergrund standen in keinem Zusammenhang mit der Unterrichtswahrnehmung. Gleichwohl zeigten sich vereinzelt auch signifikante Unterschiede in der Unterrichtswahrnehmung. Mädchen nahmen die konstruktive Unterstützung und das Klassenmanagement höher wahr als Jungen. Schüler:innen mit höheren kognitiven Fähigkeiten nahmen die kognitive Aktivierung niedriger wahr, während Schüler:innen mit höheren Testleistungen die konstruktive Unterstützung und die Klassenführung höher wahrnahmen. Die motivationalen Lernvoraussetzungen standen in einem systematischen Zusammenhang mit der Unterrichtswahrnehmung innerhalb der Klassen. Alle erfassten motivationalen Lernvoraussetzungen hingen signifikant positiv mit der Wahrnehmung der drei Basisdimensionen der Unterrichtsqualität zusammen, d.h. motiviertere Schüler:innen nahmen den Unterricht positiver war. Die Cross-Level-Interaktionen waren nicht signifikant und zeigten, dass die Differenzierung im Unterricht die Zusammenhänge nicht moderierte.

Obwohl im adaptiven Unterricht alle Schüler:innen gleichermaßen gefördert werden sollten, konnten insbesondere Unterschiede in der Unterrichtswahrnehmung in Abhängigkeit der motivationalen Lernvoraussetzungen festgestellt werden. Auch stimmten die Schüler:innen in einem stärker differenzierten Unterricht nicht mehr in ihrer Wahrnehmung des Unterrichts überein. Die Studie leistet einen ersten Beitrag dazu die Wahrnehmung des Unterrichts in Abhängigkeit von individuellen Lernvoraussetzungen und Differenzierung zu explorieren und hieraus Hinweise zur Adaptivität von Unterricht abzuleiten.

 

Wahrnehmung von Classroom Management und Klassenklima von Schüler*innen im Kontext einer Intervention zum Einbezug von Familiensprachen im Unterricht

Jasmin Decristan1, Victoria Bertram2, Valentina Reitenbach1, Katharina Maria Schneider3, Dominique Rauch3
1Universität Wuppertal, 2DIPF ∣ Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, 3PH Ludwigsburg

Die zunehmende Globalisierung und Migration geht mit einer großen Sprachenvielfalt in heutigen Schulklassen in Europa einher. In der Forschung wurden zahlreiche Vorstellungen und Konzepte eingebracht, um die verschiedenen Familiensprachen der Schüler*innen als Ressource im Unterricht aufzugreifen (z.B. Duarte & Günther-Van der Meij, 2018; Lorenz et al., 2021). So bezieht sich der Ansatz des „Translanguaging“ auf eine flexible Verwendung aller Sprachen mehrsprachiger Schüler*innen, um das gesamte sprachliche Repertoire zu nutzen (z.B. Lewis et al., 2012). Empirische Studien im Kontext des Fremdsprachenlernens zeigen die Potenziale von Translanguaging für ein effektives Classroom Management und positives Klassenklima auf.

Auf der andren Seite werden in vielen europäischen Ländern die sprachlichen Ressourcen mehrsprachiger Schüler*innen im Unterricht kaum aufgegriffen (z. B. Ellis et al., 2010 in Deutschland und Österreich; Lorenz et al., 2021 in Norwegen). Dieser „monolinguale Habitus“ (Gogolin, 1997) spiegelt sich auch in Bedenken von Lehrkräften zum Einbezug verschiedener Familiensprachen im Unterricht wider (z.B. Bredthauer & Engfer, 2016). Diese Bedenken beziehen sich – in genau umgekehrter Weise – auf ein niedriges Classroom Management durch organisatorische Herausforderungen, Störungen und weniger Lernzeit sowie auf ein schlechteres Klassenklima durch den Ausschluss vor allem monolingualer Schüler*innen, die die Sprachen der anderen Kinder nicht verstehen.

Forschungsfragen

Der Beitrag untersucht daher den Zusammenhang zwischen dem Einbezug von Familiensprachen im Unterricht und Unterrichtsqualität in heutigen migrationsbedingt mehrsprachigen Grundschulklassen. Dabei wird gefragt: (1.) Welche Bedeutung hat der Einbezug von Familiensprachen für die Wahrnehmung von Classroom Management und Klassenklima von Grundschulkindern? (2.) Inwieweit unterscheiden sich einsprachig-deutsche Schüler*innen in ihrer Wahrnehmung von ihren mehrsprachigen Mitschüler*innen? (3.) Welcher Zusammenhang zeigt sich zwischen der Familiensprachennutzung im Unterricht und der Wahrnehmung von Classroom Management und Klassenklima?

Methode

Die Daten stammen aus einer Interventionsstudie in Klassen der vierten Jahrgangsstufe in Deutschland. Lehrkräfte der Treatmentgruppe (TG) nahmen an Fortbildungen zu einer Unterrichtsreihe teil und setzten die Inhalte anschließend in ihren Klassen um. Lehrkräfte der Kontrollgruppe (KG) setzten ihren regulären Deutschunterricht fort. Die Unterrichtsreihe (12 Unterrichtsstunden á 45 Minuten) in der TG zielte darauf ab, die Deutsch-Lesekompetenz der Schüler*innen zu verbessern. Dafür wurde die kooperative Lernmethode des Reziproken Lehrens eingesetzt (z.B. Rosenshine & Meister, 1984). Mehrsprachigen Schüler*innen wurden zusätzliche Stimuli zum Translanguaging gegeben, und zwar durch (a) bilinguales Material, (b) nach Familiensprachen zusammengesetzte Kleingruppen und (c) Impulse zur Wertschätzung sprachlicher Vielfalt.

Insgesamt nahmen 51 Klassen (32 TG, 19 KG) teil. Die Schüler*innen waren im Mittel 10 Jahre alt. Von 916 Schüler*innen waren 605 (66,0%) mehrsprachig (68,4% TG, 63,5% KG).

Vor (t1) und nach (t2) der Intervention fanden Erhebungen in den Klassen statt. Dabei wurden Classroom Management (5 Items; α>.85, ICC1>.17, ICC2>.77) und Klassenklima (4 Items; α>.73, ICC1>.09, ICC2>.61) über Schüler*innenfragenbögen adaptiert nach Fauth et al. (2014) erfasst. Von den mehrsprachigen Schüler*innen in der TG gaben 40.7% an, während der Unterrichtsreihe mehrere Sprachen verwendet zu haben.

Ergebnisse und Implikationen

Es wurden Mehrebenenanalysen mit MPlus 8.9 (Muthén & Muthén, 2012–2022) berechnet und die Prädiktorvariablen auf individueller und auf Klassenebene aggregiert. In allen Analysen wurden die t1-Werte von Unterrichtsqualität als Kontrollvariablen eingefügt. Die Ergebnisse zeigen, dass (1.) Schüler*innen in der TG ein höheres Classroom Management und positiveres Klassenklima wahrnahmen als Schüler*innen in der KG, dass (2). sich einsprachige und mehrsprachige Schüler*innen nicht in ihrer Wahrnehmung von Unterrichtsqualität unterschieden und dass (3). weder der individuelle Gebrauch mehrerer Sprachen noch der Anteil an Schüler*innen mit multiplem Sprachgebrauch in einer Klasse mit der Wahrnehmung von Unterrichtsqualität in Beziehung stand. Die Ergebnisse liefern empirische Hinweise dazu, dass – entgegen der oftmals geäußerten Befürchtungen – die Nutzung von Herkunftssprachen nicht zu geringerer Unterrichtsqualität führt. Vielmehr wurde im Rahmen der Intervention ein Unterricht realisiert, in dem alle Schüler*innen, egal ob mehrsprachig oder nicht, ein effektives Classroom Management und positives Klassenklima wahrnahmen.