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Sitzungsübersicht
Ort: S22
Seminarraum, 50 TN
Datum: Montag, 18.03.2024
10:30 - 12:101-18: Sprachliche und kulturelle Diversität
Ort: S22
 
Paper Session

Bedingungen kompetenter Bilingualität von Grundschulkindern in Deutschland

Lisa Tinkl1,2, Aileen Edele1,2, Birgit Heppt1

1Humboldt-Universität zu Berlin, Deutschland; 2Berliner Institut für empirische Integrations-und Migrationsforschung (BIM)

Kinder, die in ihren Familien Türkisch oder Russisch sprechen, gehören zu den größten sprachlichen Minderheitsgruppen in Deutschland (Olczyk et al., 2016). Sie wachsen häufig zweisprachig auf, sind der Majoritätssprache (MaL: Deutsch) und der Minoritätssprache (MiL: Türkisch/Russisch) allerdings in verschiedenen Kontexten und in unterschiedlichem Maße ausgesetzt (Peña et al., 2022).

Bedingungen und Prozesse für die Entwicklung der Sprachkompetenz mehrsprachiger Kinder lassen sich durch das ökosystemische Modell von Bronfenbrenner (1979) und das Modell äußerer Bedingungsfaktoren der Sprachentwicklung von Montrul (2016) beschreiben. Beide Modelle verfolgen einen personenzentrierten Ansatz und betonen das komplexe Zusammenspiel individueller Voraussetzungen und unterschiedlicher Kontexteinflüsse für die Entstehung und Erklärung interindividueller Unterschiede. Bisherige Forschung konnte Zusammenhänge zwischen der bilingualen Sprachkompetenz und einer Reihe von Merkmalen auf unterschiedlichen Ebenen (individuell, familiär oder institutionell) finden, wie z. B. den kognitiven Grundfähigkeiten (z.B. Winsler et al., 2014), der Häufigkeit des familiären Sprachgebrauchs (z.B. Place & Hoff, 2016) oder dem institutionellen Sprachgebrauch (z.B. Montrul, 2016). Allerdings wurde bislang entweder nur eine begrenzte Anzahl an Merkmalen oder eine Ebene berücksichtigt. Auch wurden die Sprachkompetenzen bilingualer Kinder selten auf Grundlage objektiver Tests analysiert oder nach Kompetenzniveau in den jeweiligen Sprachen differenziert betrachtet.

Aufbauend auf dem bisherigen Forschungsstand ist das Ziel dieser präregistrierten Studie, (1) unterschiedliche bilinguale Profile bei bilingualen Grundschulkindern in Deutschland zu identifizieren und (2) die Bedingungen auf individueller, familiärer und institutioneller Ebene zu ermitteln, die die identifizierten bilingualen Profile charakterisieren. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Identifikation von Bedingungen, unter denen zweisprachig aufwachsende Kinder kompetent bilingual werden, d. h. hohe Kompetenzniveaus in beiden Sprachen erreichen (Grosjean, 2020).

Die Analysen basieren auf den Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) der Startkohorte 2 (SC2) (Blossfeld & Roßbach, 2019). Der Beitrag konzentriert sich auf Kinder in Regelschulen, die den MiL-Sprachtest in Russisch (RUS) oder Türkisch (TUR) und den MaL-Sprachtest in Deutsch in Welle 4 (Klasse 2) absolviert haben (NRUS=200 Kinder, NTUR=135 Kinder). Mittels latenter Profilanalyse (LPA) werden unterschiedliche bilinguale Profile identifiziert. Als Indikatorvariablen werden die Testwerte in MiL (Weighted Likelihood Estimates; WLE) und MaL (Summenscores) verwendet. Die identifizierten Profile werden anschließend mit multiplen logistischen Regressionsanalysen analysiert. Die Prädiktorvariablen stammen aus den Eltern- und Lehrkräftefragebögen (z.B. Spracherwerbsalter MaL/MiL, familiärer/institutioneller Sprachgebrauch) sowie aus Kompetenztests der Schüler:innen (kognitive Grundfähigkeiten).

Erste Ergebnisse der LPA ergeben, dass sich sprachübergreifend mehrere Profile in den Daten identifizieren lassen. In Modellvergleichen (AIC, BIC, SABIC) zwischen einem und vier Profilen je Sprache zeigen sich die besten Modellfits für Zwei- bzw. Drei-Profil-Modelle. Nach theoretischen Überlegungen fiel die Wahl auf die Drei-Profil-Modelle (z.B. SABICRUS_2P=1640.6; SABICRUS_3P=1648.4 bzw. SABICTUR_2P=1007.2; SABICTUR_3P=1009.8). Werden für beide Sprachkombinationen je drei Profile modelliert, können diese folgendermaßen charakterisiert werden (zur Einordnung der Profilmittelwerte die Gesamtstichprobe: GesamtmittelwertMaL=7.25; GesamtmittelwertRUS=0.02; GesamtmittelwertTUR=0.00):

Profil 1: vergleichsweise geringe Kompetenz in MiL (MRUS=-0.05; MTUR=-0.06) und in MaL (MRUS=6.24; MTUR=4.33);

Profil 2: geringe bis mittlere Kompetenz in MiL (MRUS=-0.17; MTUR=0.11) und in MaL (MRUS=7.49; MTUR=9.05);

Profil 3: vergleichsweise hohe Kompetenz in MiL (MRUS=1.63; MTUR=0.89) und in MaL (MRUS=13.12; MTUR=16.38).

In weiteren Modellierungen werden wir skalierte Kompetenzscores berücksichtigen, die eine Einordnung der MaL-Kompetenz an der Gesamtstichprobe erlauben. Für die zweite Fragestellung werden die Profile als abhängige Variablen und die Prädiktorvariablen als unabhängige Variablen in multiplen logistischen Regressionsmodellen analysiert. So kann die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit eines Individuums zu einem bestimmten Profil auf Basis der Prädiktoren geschätzt und der relative Beitrag jeder Prädiktorvariablen bestimmt werden (Eid et al., 2017).

Die ersten Ergebnisse zeigen, dass sich v.a. Profile von Schüler:innen identifizieren lassen, die in ihren beiden Sprachen ein ähnliches Kompetenzniveau aufweisen. Weitere Ergebnisse werden es ermöglichen, Bedingungen zu identifizieren, die die Entwicklung verschiedener Ausprägungen von Bilingualität begünstigen. Dies bildet eine wichtige Grundlage für die Ableitung gezielter Unterstützungs- und Fördermaßnahmen.



Paper Session

Entwicklungsverläufe des deutschen Wortschatzes bei Kindern mit Migrationshintergrund im Alter von drei bis sieben Jahren

Christian Lohmann1, Birgit Becker2

1Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi); 2Goethe Universität Frankfurt

Einleitung und Fragestellung

Viele Studien haben ergeben, dass Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem schlechter abschneiden als Kinder ohne Migrationshintergrund (für einen Überblick, vgl. Diehl et al., 2016; OECD, 2017), wobei die deutschen Sprachkenntnisse häufig als ein wichtiger Erklärungsfaktor für dieses Ergebnis angesehen werden (Kempert et al., 2016). Tatsächlich beginnen viele Kinder mit Migrationshintergrund die Schule mit geringeren Deutschkenntnissen (Ebert et al., 2013; Linberg & Wenz, 2017; Relikowski et al., 2015), was sie von Anfang an einem Risiko für ungünstige Bildungsverläufe auszusetzen scheint (Durham et al., 2007). Allerdings sind Kinder mit Migrationshintergrund in dieser Hinsicht sehr heterogen, was oft vernachlässigt wird, wenn nur Durchschnittswerte betrachtet werden.

In diesem Beitrag gehen wir auf diese Heterogenität ein und analysieren die folgenden Forschungsfragen: Welche Muster der Wortschatzentwicklung im Alter von drei bis sieben Jahren lassen sich bei Kindern mit Migrationshintergrund identifizieren? Wie lassen sich diese Muster/Profile in Bezug auf kindliche und familiäre Merkmale beschreiben, d. h. welche Kinder sind in diesen Profilen jeweils zu finden?

Theoretischer Hintergrund

Für unseren theoretischen Rahmen stützen wir uns auf Chiswicks Modell des Spracherwerbs im Kontext von Migration (Chiswick & Miller, 1998, 2001). Dieses Modell beinhaltet Exposure zur Sprache sowie die Effizienz des Lernenden als Hauptfaktoren für die individuelle Sprachentwicklung. Je nach der Kombination dieser beiden erklärenden Variablen können theoretisch unterschiedliche Profile der Sprachentwicklung erwartet werden.

Daten und Methode

Für die empirischen Analysen verwenden wir Daten aus der Neugeborenenkohorte des Nationalen Bildungspanels (NEPS, vgl. Blossfeld & Roßbach, 2019), die drei Messungen des deutschen Wortschatzes im Alter von drei bis sieben Jahren umfassen (NEPS-Netzwerk, 2023). Wir wenden Growth Mixture Models an, um unterschiedliche Muster/Profile der Wortschatzentwicklung a) in der Gesamtstichprobe (n=2406) und b) in der Teilstichprobe der Kinder mit Migrationshintergrund (n=944) zu identifizieren. Eine Lösung mit zwei Profilen erweist sich als am besten geeignet und zeigt in beiden Stichproben ähnliche Ergebnisse. Daher werden daher nur die Ergebnisse aus der Gesamtstichprobe weiter betrachtet.

Ergebnisse

Die beiden Profile zeigen ein paralleles Wachstum des Wortschatzes der Kinder, wobei die Ausgangsunterschiede vom dritten bis zum siebten Lebensjahr stabil bleiben. Das Profil mit den höheren Wortschatzwerten umfasst die große Mehrheit der Kinder (86 % der Kinder ohne Migrationshintergrund und 66 % der Kinder mit Migrationshintergrund). Im Gegensatz dazu umfasst das Profil mit den niedrigeren Werten einen viel kleineren Anteil der Stichprobe (14 % der Kinder ohne Migrationshintergrund, 34 % der Kinder mit Migrationshintergrund).

Im letzten Schritt beschreiben wir, wie sich die Kinder (mit und ohne Migrationshintergrund) in den beiden Profilen hinsichtlich der Kinder- und Familienmerkmale unterscheiden, die nach dem Chiswick-Modell als relevant angenommen werden. Im Vergleich der beiden Profile finden wir im Profil mit den höheren Wortschatzwerten höhere Werte bei leistungsbezogenen Variablen (Sensomotorik, Arbeitsgedächtnis) sowie bei Exposure-bezogenen Variablen (Alter bei Eintritt in eine frühkindliche Bildungseinrichtung, Häufigkeit des Vorlesens durch die Eltern) und beim sozioökonomischen Status der Eltern. Betrachtet man nur die Stichprobe der Kinder mit Migrationshintergrund, so zeigen sich die erwarteten Unterschiede zwischen den beiden Profilen hinsichtlich der Faktoren, die auf Exposure zur deutschen Sprache in der Familie hinweisen.

Insgesamt stimmen die beobachteten Unterschiede zwischen den Profilen mit den theoretischen Erwartungen überein. Es ist jedoch bemerkenswert, dass kein "Aufholprofil" identifiziert werden konnte. Diejenigen Kinder mit Migrationshintergrund, die bereits im Alter von drei Jahren über einen großen deutschen Wortschatz verfügen, weisen eine sehr ähnliche Wortschatzentwicklung auf wie die Mehrheit der Kinder ohne Migrationshintergrund. Dies gilt für zwei Drittel der Stichprobe von Kindern mit Migrationshintergrund. Im Gegensatz dazu zeigen die Kinder mit Migrationshintergrund im unteren Profil eine Häufung von Faktoren, die negativ mit der Sprachentwicklung korreliert sind. Die Implikationen dieser Ergebnisse werden diskutiert.



Paper Session

Deutsche Wortschatzkompetenzen von geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus dem Mittleren Osten - Eine Bestandsaufnahme des Sprachstands und des Lernfortschritts in der frühen Phase der Bildungslaufbahn in Deutschland

Julian Seuring1, Gisela Will1, Anike Schild2, Jutta von Maurice1

1Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi), Deutschland; 2Bamberg Graduate School of Social Sciences (BAGSS), Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Die Bildungsteilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung hat in den letzten Jahren zunehmend an Relevanz gewonnen. Viele junge Geflüchtete haben aufgrund der Flucht teilweise längere Unterbrechungen in ihren Bildungsbiografien erfahren. Die jüngeren Kinder haben in ihrem Heimatland oft noch gar keine Bildungseinrichtung besucht. Im Aufnahmekontext müssen die Kinder und Jugendlichen ihre Bildungslaufbahn in einem für sie komplett neuen Umfeld beginnen oder fortsetzen. Dies ist mit besonderen Herausforderungen sowohl für die jungen Geflüchteten als auch für die Bildungseinrichtungen und Lehrkräfte verbunden. Die Kompetenzen in der Unterrichtssprache sind dabei von zentraler Bedeutung für die Teilhabe an Bildung und eine zielgerichtete Förderung der Fähigkeiten und Bedürfnisse der geflüchteten Kinder und Jugendlichen.

Der Beitrag bietet eine deskriptive Bestandsaufnahme der deutschen Wortschatzkompetenzen und des Lernfortschritts von jungen Geflüchteten in den ersten Jahren ihrer Bildungslaufbahn in Deutschland. Hierzu werden Daten der Panelstudie „ReGES – Refugees in the German Educational System“ ausgewertet, welche seit 2018 die Bildungsverläufe von geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus dem Mittleren Osten begleitet (Will et al., 2021). Die Stichprobe umfasst zwei Alterskohorten: Kinder ab vier Jahren, die zum Zeitpunkt der Ziehung noch nicht eingeschult waren, und Jugendliche ab 12 Jahren, die eine allgemeinbildende Schule der Sekundarstufe I besuchten. Zum ersten Erhebungszeitpunkt (t1) lebten die meisten Kinder und Jugendlichen seit zwei bis drei Jahren in Deutschland. Die Wortschatzkompetenzen wurden anhand der deutschen Version des „Peabody Picture Vocabulary Test“ (PPVT-4; Lehnhard et al., 2015) erhoben. Zwei Jahre nach der Ausgangsmessung wurde eine Wiederholungsmessung durchgeführt. Die Daten bieten somit die Möglichkeit, den Wortschatz junger Geflüchteter in einem relativ frühen Stadium ihrer Bildungslaufbahn in Deutschland zu bestimmen und zusätzlich den Lernfortschritt im Zeitverlauf zu verfolgen.

Für die Analysen wurde die Stichprobe auf N=463 Kinder (4-6 Jahre zu t1) und N=490 Jugendliche (14-17 Jahre zu t1) mit gültigen Testergebnissen zu beiden Messzeitpunkten beschränkt. Für den PPVT liegen altersabhängige Normbereiche vor, die dazu verwendet wurden, den Sprachstand der geflüchteten Kinder und Jugendlichen mit dem der einheimischen Vergleichsgruppe in Beziehung zu setzen und quantitativ einzuordnen. Um ein aussagekräftiges Bild zu erhalten, wurde dieser Vergleich nicht nur basierend auf dem Alter, sondern auch unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer – als Indikator für die bisherige Lernzeit – vorgenommen.

Die Ergebnisse zeigen, dass zum ersten Messzeitpunkt die Wortschatzkompetenzen der jungen Geflüchteten deutlich unter den Normbereichen ihrer Altersgruppen lagen. Im Schnitt erzielten die Kinder 53,7 Punkte und die Jugendlichen 89,6 Punkte im PPVT, bei einem maximalen Punktwert von 228. Dies entspricht dem altersäquivalenten Normniveau von dreijährigen bzw. vier- bis fünfjährigen Kindern. Dieser Befund sollte allerdings vor dem Hintergrund bewertet werden, dass die meisten jungen Geflüchteten zu diesem Zeitpunkt erst seit zweieinhalb Jahren Deutsch lernen. Bis zum zweiten Messzeitpunkt konnten die Wortschatzkompetenzen der Kinder und Jugendlichen auf 88,4 bzw. 105,5 Punkte weiter verbessert werden. Der Lernzuwachs über die zwei Jahre entspricht dem in der Norm bei vergleichbaren Ausgangskompetenzen. Dabei verringert sich der Abstand zu den altersentsprechenden Normbereichen tendenziell zwar, bleibt aber auf hohem Niveau.

Die Befunde weisen darauf hin, dass junge Geflüchtete im Zeitverlauf substantielle Fortschritte im Erwerb des deutschen Wortschatzes erzielen. Trotzdem liegen die Wortschatzkompetenzen vieler geflüchteter Kinder und Jugendlicher am Anfang der Grundschulzeit bzw. beim Übergang zur Sekundarstufe II oder ins Ausbildungssystem noch unter den Normbereichen für ihr Alter. Um diese Lücke zu schließen, bedarf es zusätzlicher Zeit und Unterstützung. Diese Hinweise können bei der Gestaltung von Bildungsprogrammen und Maßnahmen zur Förderung der Bildungsteilhabe von Geflüchteten wichtig werden.



Paper Session

Kulturelle Diversität in den fächerübergreifenden Curricula auf dem Prüfstand multikultureller Bildung – Ergebnisse einer qualitativen Inhaltsanalyse

Sharleen Pevec-Zimmer1, Linda Juang1, Maja Schachner2, Miriam Schwarzenthal3

1Universität Potsdam, Deutschland; 2Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 3Bergische Universität Wuppertal

Theoretischer Hintergrund. Als Einwanderungsland müssen wir uns in Deutschland damit auseinandersetzen, wie die kulturelle Vielfalt adressiert und unterschiedliche Lebensrealitäten in die Schule einbezogen werden. Dies betrifft auch die curricularen Vorgaben, die „Standards für eine individuelle Gestaltung der Unterrichthalte“ festlegen und „eine wichtige Grundlage für die Qualitätsentwicklung der Schulen“ darstellen (SenBJF, o. J.). Das Kultusministerium versteht kulturelle Vielfalt als Norm und Ressource und hat in seinen Richtlinien zur interkulturellen Bildung und Erziehung für alle Bundesländer eine stärkere Orientierung an der multikulturellen Realität benannt (KMK, 2013).

Es finden sich bereits fachspezifische Untersuchungen dazu, wie die Themen Migration, Integration und kulturelle Vielfalt in den Curricula adressiert werden (z.B. Ahlrichs, 2015; Baumann, 2015; MIDEM, 2021; Neumann & Reuter, 2004; Rühle, 2015). Das Kultusministerium fordert jedoch auch das überfachliche Aufgreifen und hebt kulturelle Vielfalt als ein zentrales Thema für alle Lehrkräfte hervor. Dies stellt die Grundlage für unsere qualitative Analyse dar.

Das Konzept der multikulturellen Bildung (Banks, 2015), dem auch das kultursensible Unterrichten untergeordnet ist (Gay, 2018), erkennt die unterschiedlichen Identitäten und Zugehörigkeiten im Klassenraum an und zielt darauf, bessere Bildungschancen für alle Schüler*innen zu schaffen. Zentral für unsere Analyse sind die fünf Stufen multikultureller Bildung, die Gorski (2009) für Kurse zur Weiterbildung von Lehrkräften abgeleitet hat. Die Stufen erlauben Bezüge zur Migrationspädagogik (Mecheril, 2010) und werden für die Analyse curricularer Vorgaben adaptiert.

Fragestellung und Methode. Ausgerichtet an der multikulturellen Bildung untersuchen wir, auf welche Weise kulturelle Vielfalt in den überfachlichen Curricula aller deutschen Bundesländer einbezogen und adressiert wird.
Hierfür werden die staatlichen fächerübergreifenden curricularen Richtlinien für Lehrkräfte aller 16 Bundesländer einbezogen und mittels einer inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2022), unter der Verwendung theoretischer und thematischer Kategorien analysiert. Das Kategoriesystem enthält Haupt- und Subkategorien und wird im deduktiv-induktiven Verfahren entwickelt. Die Hauptkategorien orientieren sich an den fünf Stufen multikultureller Bildung (Gorski, 2009) und ermöglichen die Klassifizierung der Informationen als 0-Multikultureller Bildung widersprechend, 1-Unterrichten mit Norm und Andersartigkeit, 2-Unterrichten mit kultureller Sensibilität und Toleranz, 3-Unterrichten mit interkultureller Kompetenz, 4-Unterrichten in soziopolitischen Kontexten, 5-Unterrichten als Widerstand und Machtkritik.

Sättigung und Reliabilität der Hauptkategorien werden durch zufriedenstellende Intercoder-Übereinstimmungen von zwei Kodiererinnen sowie des finalen Kategoriensystems mit Subkategorien durch zufriedenstellende Intracoder-Übereinstimmungen (mehrfache Kodierungen derselben Kodiererin) angestrebt. Kodierungen und Kategoriesystem werden hinsichtlich der Beziehungen und Ausprägungen zwischen den Hauptkategorien sowie innerhalb der einzelnen Hauptkategorien anhand der Subkategorien ausgewertet und interpretiert. Als Sekundärverfahren wird eine anschließende Typenbildung der Bundesländer vorgenommen.

Ergebnisse. Die Ergebnisse aus dem finalen Kodierprozess mit Subkategorien und finalisiertem Kategoriensystem sind in Arbeit. Reliabilitätskoeffizienten und Quantifizierungen der kodierten Haupt- und Subkategorien werden berichtet. Vorläufige Ergebnisse nach dem ersten Kodierprozess veranschaulichen ausgeprägte Differenzen zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Quantität an Informationen und deren Auswertungen. Nur vereinzelt finden sich Vorgaben, die multikultureller Bildung widersprechen, indem kulturelle Vielfalt ignoriert oder abgewertet wird. Stattdessen fokussieren die curricularen Vorgaben einen wertschätzenden Umfang und kultureller Vielfalt mit Toleranz zu begegnen. Auch interkulturelle Kompetenz findet vermehrt Einzug in die Richtlinien. Auffällig ist, dass im Umgang mit kultureller Vielfalt eine vermeintliche Andersartigkeit betont und als Gegensatz zu einer bestehenden Norm dargestellt wird. Zudem zielen nur wenige Vorgaben darauf ab, in Schule und Unterricht ein kritisches Bewusstsein zu schaffen oder benennen gar die Relevanz der Schule zum Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit und beim Hinterfragen aktueller Machtverhältnisse.

Die vorläufigen Erkenntnisse verdeutlichen, dass die Relevanz von kultureller Vielfalt in den Curricula weitestgehend abgebildet und das Thema in den Curricula aufgegriffen wird. Für Deutschland als Einwanderungsland ergibt sich im Sinne der Migrationspädagogik weiterhin die drängende Aufgabe, in Schule und Unterricht kulturelle Vielfalt aktiver einzubeziehen, tatsächlich als Realität und Teil der Zugehörigkeit zu Deutschland zu beschreiben sowie bestehende Ungerechtigkeitsverhältnisse zu benennen und die Schlüsselrolle der Schule anzuerkennen.

 
13:10 - 14:502-18: Mathematische Bildung I
Ort: S22
 
Paper Session

Situationales Interesse beim Lösen selbstentwickelter Mathematikaufgaben – die Bedeutung von Aufgaben- und Personenmerkmalen

Janina Krawitz1, Stanislaw Schukajlow2

1Universität Paderborn, Deutschland; 2Universität Münster, Deutschland

Unter Interesse versteht man eine gegenstandsbezogene Motivation (Krapp, 2002). Empirische Studien deuten darauf hin, dass Interesse das Lernen positiv beeinflusst und sich vom zeitlich instabilen situationalen Interesse zum stabilen individuellen Interesse entwickelt (Hidi & Renninger, 2006). Es wird angenommen, dass Aufgaben- und Personenmerkmale für die Entwicklung des situationalen Interesses entscheidend sind. Diese Annahme wird hier für die Aufgabenmerkmale Modellierungspotential und Komplexität und für die Personenmerkmale Erfahrungen mit selbstentwickelten Aufgaben und mathematische Leistung erforscht. Das Entwickeln eigener anspruchsvoller Aufgaben zu realitätsbezogenen Situationen (Modellierungsaufgaben) wird als eine Möglichkeit gesehen, Interesse zu steigern (Cai & Leikin, 2020). Insbesondere das Modellierungspotential der selbstentwickelten Aufgaben (Authentizität und Offenheit) kann durch die Nähe zur Realität situationales Interesse auslösen. Appraisal-Theorien (Silvia, 2005) zufolge ist dabei entscheidend, dass die Aufgaben als herausfordernd (hohe Komplexität) und bewältigbar wahrgenommen werden. Die Erfahrung mit dem Entwickeln eigener Aufgaben (Personenmerkmal) kann das Interesse der Aufgabenbearbeitung über das Modellierungspotential und die Komplexität selbstentwickelter Aufgaben (Aufgabenmerkmale) positiv beeinflussen. Die Zusammenhänge zwischen der Erfahrung mit dem Entwickeln eigener Aufgaben und dem Interesse können für Personen mit verschiedenen mathematischen Leistungen (Personenmerkmal) variieren.

Hypothesen

  1. Wir erwarten einen positiven Zusammenhang zwischen dem Modellierungspotential und der Komplexität mit dem Interesse, der von der mathematischen Leistung moderiert wird, da die Nähe zur Realität (Niss & Blum, 2020) und Herausforderungen, die von den Lernenden als bewältigbar beurteilt werden (Silvia, 2005), zentral für Interessensentwicklung sind.
  2. Auf der Basis von Appraisal- und Interessenstheorien (Hidi & Renninger, 2006; Silvia, 2008) und der Theorie zum Entwickeln eigener Aufgaben (Leikin et al., 2023) erwarten wir, dass die Erfahrung mit dem Entwickeln von Aufgaben positiv mit dem Interesse zusammenhängt, wobei der Zusammenhang über Aufgabenmerkmale vermittelt wird.

Methode

105 Neuntklässler:innen (53% weiblich, M = 15 Jahre) wurden gebeten, zu sechs realitätsbezogenen Situationen je eine mathematische Aufgabe zu entwickelt. Nach der Entwicklung jeder Aufgabe wurde Interesse an der Bearbeitung jeder selbstentwickelten Aufgabe abgefragt. Anschließend haben Lernende ihre Erfahrung mit der Entwicklung von Aufgaben und die letzte Schulnote in Mathematik (mathematische Leistung) berichtet. Für die Befragungen wurden eine 5-stufige Ratingskala eingesetzt (1=stimmt gar nicht; 5=stimmt voll zu). Interesse wurde mit dem Item: „Es wäre interessant, die Fragestellung zu bearbeiten“ abgefragt und über 6 verschiedene Aufgaben zu einem Mittelwertscore aggregiert (Cronbachs α=.859). Die Erfahrungen wurden mit drei Items gemessen, z.B.: „Im Mathematikunterricht bearbeiten wir selbstausgedachte Fragen zu Textaufgaben“ (Cronbachs α=.714). Modellierungspotential wurde anhand der Authentizität und der Offenheit der selbstentwickelten Aufgaben dreistufig kodiert (von 0=niedrige Authentizität und geschlossene Aufgabe bis 2=hohe Authentizität und offene Aufgabe; Intercoderreliabilität .86; Cronbachs α=.676). Mathematische Komplexität wurde zweistufig kodiert (0=einstufige arithmetische Verfahren, 1=komplexe mehrstufige Verfahren; Intercoderreliabilität .573; Cronbachs α=.563). Die Ergebnisse wurden mit Pfadmodellen mit Hilfe von MPlus3.9 (MLR-Schätzer, CFI>0.923, SRMR<.031) berechnet. Fehlende Werte wurden mit FIML geschätzt.

Ergebnisse und Diskussion

Es zeigten sich keine Zusammenhänge zwischen Aufgabenmerkmalen und Interesse (p>.10). Wie erwartet moderierte die mathematische Leistung den Zusammenhang zwischen Modellierungspotential der Aufgaben und Interesse (β=−1.136, p=.009). Das Modellierungspotential hing positiv mit dem Interesse bei leistungsschwächeren Lernenden (β=0.885, p=.037) und negativ bei leistungsstärkeren Lernenden (β=−1.240, p=.039) zusammen. Keine Moderationseffekte wurden für den Zusammenhang zwischen Aufgabenkomplexität und Interesse festgestellt (p>.10).

Erfahrung mit selbstentwickelten Aufgaben hingen positiv mit Interesse zusammen (β=0.239, p=.002). Diese Effekte wurden aber nicht über die Aufgabenmerkmale vermittelt (p>.10).

Die Ergebnisse bestätigen eine hohe Bedeutsamkeit von Aufgaben- und Personenmerkmalen für das situationale Interesse, wie in Motivationstheorien angenommen wurde. Das Modellierungspotenzial von selbstentwickelten Aufgaben ist insbesondere bei leistungsschwächeren Lernenden interessensförderlich. Eine Erklärung dafür kann sein, dass leistungsschwächere Lernende Realitätsbezüge besonders schätzen. Eine praktische Implikation der Studie ist, dass durch das Entwickeln eigener Aufgaben im Mathematikunterricht, Lernende wichtige Erfahrungen sammeln, die wiederum Interesse steigern können.



Paper Session

Adaptiver Umgang mit Fehlvorstellungen im Bereich Brüche - eine empirische Studie im Mixed-Methods Design

Sara Becker1, Andreas Obersteiner2, Anika Dreher3

1Universität Tübingen, Deutschland; 2Technische Universität München, Deutschland; 3Pädagogische Hochschule Freiburg, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Adaptiv mit Fehlvorstellungen von Lernenden umzugehen, welche sich zum Beispiel in fehlerhaft bearbeiteten Aufgaben widerspiegeln können, ist von grundlegender Bedeutung für die individuelle Förderung von Lernenden (Gallagher et al., 2020). Adaptive Lernimpulse von Lehrkräften sollten einerseits individuelle Bedürfnisse der Lernenden (Lernendenfokus) berücksichtigen und andererseits zum Aufbau tragfähiger Grundvorstellungen im jeweiligen Inhaltsbereich (Zielfokus) beitragen (Prediger et al., 2022).

Dieser Kompetenz von Lehrkräften, adaptiv mit Fehlvorstellungen umzugehen, liegen die Prozesse des Wahrnehmens von relevanten Informationen sowie die adäquate Interpretation der wahrgenommenen Informationen unter Rückgriff auf vorhandenes professionelles Wissen zugrunde (van Es & Sherin, 2021). Für die Interpretation ist insbesondere Fachwissen über den jeweiligen Inhaltsbereich und fachdidaktisches Wissen über mögliche Fehlvorstellungen von großer Bedeutung (Gallagher et al., 2020).

Empirische Studien haben gezeigt, dass adaptiver Unterricht insbesondere für angehende Mathematiklehrkräfte eine große Herausforderung darstellt, die Gründe für diese Herausforderung sind jedoch kaum untersucht (Hardy et al., 2019). Qualitative Ergebnisse weisen darauf hin, dass angehende Lehrkräfte rein motivationalen Aspekten einer Situation oft eine wichtigere Rolle zuschreiben als fachdidaktisch relevanten Aspekten, was ihre Entscheidung beim adaptiven Unterrichten beeinflussen könnte (z. B. Wirth et al., 2022). Bislang fehlen jedoch Studien, die experimentell untersuchten, inwieweit angehende Mathematiklehrkräfte adaptive Impulse zu vorliegenden Lösungen von Lernenden geben können, welche Informationen sie dabei wahrnehmen und auf welche kognitiven Ressourcen (z. B. welches Wissen) sie zurückgreifen.

Fragestellung

Die Studie untersucht, inwieweit angehende Mathematiklehrkräfte adaptive Lernimpulse für vorgegebene fehlerhafte Lösungen von Lernenden auswählen. Zur Analyse der zugrunde liegenden Prozesse des Wahrnehmens und Interpretierens werden zusätzlich die verbalen Begründungen der Teilnehmenden für ihre Auswahl in Hinblick auf a) die berücksichtigten Informationen und b) die genutzten kognitive Ressourcen analysiert.

Methode

Anhand von zehn textbasierten Vignetten wurden die Auswahl und Begründungen von N = 48angehenden Mathematiklehrkräften (Alter: M = 24,76 Jahre, SD = 1,80 Jahre; 70,2 % weiblich, 29,8 % männlich) untersucht. Die Vignetten umfassten jeweils fehlerhafte Lösungen von Lernenden im Inhaltsbereich Brüche, welche auf eine Fehlvorstellung hindeuteten, und drei mögliche Lernimpulse. Jeder Impuls bestand aus einer verbalen Erklärung und einer Visualisierung. Von den drei zur Wahl stehenden Lernimpulsen war jeweils einer am adaptivsten und beinhaltete gleichzeitig einen hohen Lernendenfokus und einen hohen Zielfokus (vgl. Prediger et al., 2022). Die beiden anderen Lernimpulse enthielten unvorteilhafte Erklärungen oder Visualisierungen, die das Potenzial hatten, die jeweilige Fehlvorstellung zu verstärken. Die Auswahl der Lernimpulse wurde quantitativ ausgewertet, die verbalen Begründungen wurden qualitativ und quantitativ analysiert.

Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigen, dass angehende Mathematiklehrkräfte nur in etwa der Hälfte der Vignetten (53 %) den adaptivsten Lernimpuls für die gegebene Lösung auswählten. Bei ihrer Auswahl berücksichtigten die Teilnehmenden am häufigsten Aspekte der Visualisierung (in 89 % der Begründungen) und rein motivationale Aspekte (in 73 %). Aspekte, die auf das Denken der Lernenden und mögliche Fehlvorstellungen hinweisen, wurden kaum berücksichtigt (in 18 % der Begründungen).

Bei der Begründung der Auswahl nutzten die Teilnehmenden insbesondere ihr fachdidaktisches Wissen (64 %) und motivationale Orientierungen (24 %). Auf relevantes Fachwissen bezogen sie sich hingegen nur in 2 % der Begründungen.

Interessanterweise zeigten sich hohe interindividuelle Unterschiede bei der Auswahl und den kognitiven Prozessen. Zum Beispiel zeigte sich, dass 68 % der Teilnehmenden, die fachdidaktisches Wissen nutzten, in mindestens der Hälfte der Vignetten auf dieses zurückgriffen. Die Nutzung variierte jedoch zwischen zwei und neun Vignetten. Aktuell analysieren wir mögliche Gründe für diese Unterschiede und inwieweit wahrgenommene Informationen und genutzte Ressourcen mit der Auswahl des Impulses zusammenhängen. Ergebnisse liegen bis zur Konferenz vor.

Die Ergebnisse der Studie bieten u. a. konkrete Ansatzpunkte, um die Wahrnehmung relevanter Informationen vorliegender Lösungen, die notwendigen Wissensaspekte sowie den adaptiven Umgang mit Fehlvorstellungen in der Ausbildung angehender Lehrkräfte gezielt zu fördern.



Paper Session

Zusammenhang zwischen der Nutzung intelligenter tutorieller Systeme (ITS) und dem Lernzuwachs in Mathematik in der Mittelstufe

Julius Schaaf1, Tobias Rolfes1, Gabriel Nagy2, Aiso Heinze2

1Goethe Universität, Deutschland; 2Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften

Theoretischer Hintergrund Im Mathematikunterricht werden digitale Medien in Form digitaler Mathematikwerkzeuge (z.B. grafikfähige Taschenrechner, dynamische Geometriesoftware) seit langem eingesetzt und sind auch fester Bestandteil der Bildungsstandards (KMK, 2022). Insbesondere durch die Corona-Pandemie sind in den letzten Jahren computerbasierte Mathematiklernsystem in Form von intelligenten tutoriellen Systemen (ITS) stärker in den Fokus gerückt. Diese Systeme zeichnen sich oft durch eine breite Basis an bereitstehenden Inhalten, Adaptivität und direktes Feedback aus. Die Studienlage zur Lernwirksamkeit von ITS ist uneindeutig (Steenbergen-Hu & Cooper, 2013, Kulik & Fletcher, 2016). Daher soll im Rahmen dieser Studie der Einfluss der Nutzung eines ITS (Bettermarks) auf den Lernzuwachs in Mathematik von Schülerinnen und Schülern untersucht werden.

Fragestellung Inwiefern existiert ein Zusammenhang zwischen

(1) der mittleren Nutzungshäufigkeit des ITS auf Klassenebene

(2) der individuellen Nutzungshäufigkeit des ITS relativ zum Klassenmittelwert

und dem Lernzuwachs von Schülerinnen und Schülern in Mathematik?

Methode Im Längsschnitt liegen die Daten von 942 Testpersonen (489 weiblich, 445 männlich, 8 ohne Angabe) aus 57 Klassen der Klassenstufe 7 und 8 aus Schleswig-Holstein vor. Von den Testpersonen besuchten 771 ein Gymnasium und 165 eine Gemeinschaftsschule. Das mittlere Alter betrug 12,8 Jahre (SD = 0.7).

An zwei Messzeitpunkten (Prätest: September bis November 2021, Posttest: Juni bis Juli 2022) wurde ein computerbasierter Fragebogen administriert. Die Zeitabstände zwischen Prä- und Posttest zwischen den Klassen betrugen im Mittel 253 Tage (Median). Zu beiden Messzeitpunkten wurden die Mathematikleistungen und weitere Schülermerkmale gemessen. Darüber hinaus wurde während des Schuljahres die Aktivität der einzelnen Schülerinnen und Schüler im ITS erfasst.

Die Schülerinnen und Schüler bearbeiteten in dem ITS sogenannte Worksheets (Arbeitsblätter). Bei jeder Bearbeitung eines Worksheets wurde erfasst, aus wie vielen Aufgaben es besteht, wie viele Aufgaben davon korrekt gelöst wurden und wann die Bearbeitung erfolgte. Über Umfang, behandelte Inhalte und Zeitpunkt der Nutzung entschieden Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler selbstständig.

Bei den administrierten Items handelte es sich größtenteils um Items aus der internationalen Trends in Mathematics and Science Study (TIMSS) für die Jahrgangsstufe 8.

Die Items deckten Unterrichtsinhalte der Jahrgangsstufen 7 und 8 mit den vier Leitideen „Zahl und Operation“, „Raum und Form“, „Größen und Messen“ und „Strukturen und funktionaler Zusammenhang“ entsprechend der Bildungsstandards (KMK, 2022) ab. Neben den Mathematikleistungen wurden noch weitere Schülermerkmale (z.B. End- und Halbjahresnoten in Mathematik, kulturelles Kapital des Elternhauses, Selbstkonzept in Mathematik) erfasst. Die Testergebnisse wurden mit Hilfe eines Rasch-Modells skaliert und in einem Mehrebenenmodell analysiert.

Ergebnisse Die Itemanalyse zeigte, dass die eingesetzten Items eine gute Passung aufwiesen (INFIT zwischen 0.87 und 1.15, Trennschärfe über 0.24). Die WLE-Reliabilität betrug 0.76. Der durchschnittliche Lernzuwachs der Stichprobe im Messzeitraum betrug 0.35 Standardabweichungen. Um den Zusammenhang zwischen der Nutzungshäufigkeit des ITS und dem Lernzuwachs der Schülerinnen und Schüler zu ermitteln, wurde die ITS-Nutzungshäufigkeit operationalisiert als die Anzahl der von einer Testperson zwischen den beiden Messzeitpunkten bearbeiteten unterschiedlichen Worksheets.

Darauf aufbauend wurde in einem Mehrebenenmodell der Einfluss der ITS-Nutzungshäufigkeit unter Kontrolle verschiedener Kovariaten (Schulform, Klassenstufe, Mathematik-Note, Selbstkonzept Mathematik) auf die Mathematikleistung im Posttest untersucht. Die Intraklassenkorrelation der Mathematikleistung betrug 0.39. Auf Individualebene wurde 30.8%, auf Klassenebene 80.5% der Varianz aufgeklärt. Auf Klassenebene hatte die ITS-Nutzung keinen Effekt, β = -0,01 (p = .77), während die Effektstärke der standardisierten, am Klassendurchschnitt gemittelten ITS-Nutzung auf Individualebene signifikante 0.06 (p= .009) betrug. Somit hatten Schülerinnen und Schüler, die das ITS häufiger als ihre Klassenkameraden nutzten, durchschnittlich einen größeren Lernzuwachs. Allerdings wiesen Klassen, die das Programm häufig nutzten, durchschnittlich keinen höheren Lernzuwachs auf. Dies lässt vermuten, dass nicht das Medium ITS ursächlich für den Lernzuwachs war, sondern der höhere Lernzuwachs von Schülerinnen und Schüler bei intensiverer ITS-Nutzung durch die größere Übungszeit verursacht wurde. Ein ähnlicher Übungszeiteffekt lässt sich möglicherweise auch mit klassischen Medien (z.B. Schulbuchaufgaben) erzeugen.



Paper Session

Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wär… Die Relevanz sprachlicher Merkmale bei bedingten Wahrscheinlichkeiten

Theresa Büchter, Andreas Eichler, Johanna Merkes, Madeleine Domenech

Universität Kassel, Deutschland

Theoretischer Hintergrund: Das Verständnis bedingter Wahrscheinlichkeiten ist häufig mit Missverständnissen verbunden, wie ein mittlerweile gesperrter Twitter-Post von Donald Trump mit fehlverstandenen Informationen zu Covid-Infektionen beim Tragen einer Maske exemplarisch illustrierte. Solche Missverständnisse zeigen ein vermindertes Bayesianisches Denken, das die Fähigkeit umfasst, bedingten Wahrscheinlichkeiten auf Basis von neuen Informationen einzuschätzen (Reani et al., 2018). Trotz bekannter hilfreicher Strategien (McDowell & Jacobs., 2017; Cui et al., 2023) bleiben auch bei Nutzung dieser Strategien Missverständnisse bestehen, wie die Verwechslung von bedingter mit konjugierter Wahrscheinlichkeit oder zweier bedingter Wahrscheinlichkeiten (Eichler et al., 2020).

Bestimmte sprachliche Beschreibungen könnten das Verständnis Bayesianischer Situationen erschweren (Post & Prediger, 2022) und mit Visualisierungen beim Bayesianischen Denken interagieren (Böcherer-Linder, et al., 2018). Bisher untersuchen nur wenige Studien, welche Formulierungen Transparenz über die Bedeutung bedingter Wahrscheinlichkeiten herstellen. Außerhalb dieses mathematischen Gebiets ist der Einfluss sprachlicher Merkmale auf (Mathematik)leistung intensiver untersucht worden und legt beispielsweise nahe, dass Nominalphrasen schwerer nachzuvollziehen sind als andere Phrasenstrukturen (Heine et al., 2018).

Fragestellung: Die Rezeption von (bedingten) Wahrscheinlichkeiten wird 1) auf rein sprachlicher Ebene (ohne numerische und/oder visuelle Informationen) und 2) mit numerischen und visuellen Informationen untersucht. Zu 1) analysieren wir, welche Formulierungen Missverständnisse (auf sprachlicher Ebene) bedingen. Zu 2) fragen wir, inwiefern Bayesianisches Denken von der Formulierung der Frage abhängt und unterscheiden Formulierungen mit Wenn-Satz und Bedingung am Satzanfang (Experimentalgruppe 1), Wenn-Satz und Bedingung am Satzende (Experimentalgruppe 2) und Nominalphrase (Experimentalgruppe 3).

Methode: An unserer präregistrierten Studie nahmen N=124 Schüler*innen eines Oberstufengymnasiums teil. Alle Schüler*innen sollten sieben Formulierungen von Wahrscheinlichkeiten in Gruppen äquivalenter Formulierungen einsortieren (Gruppenanzahl wurde selbst gewählt). Diese Formulierungen umfassen drei äquivalente Formulierungen des positiven Vorhersagewerts (2x Wenn-Satz; 1x Nominalphrase), eine Formulierung der Sensitivität als Wenn-Satz und drei äquivalente Formulierungen einer konjugierten Wahrscheinlichkeit (2x „und“-Formulierung; 1x „sowohl-als-auch“-Formulierung). Zusätzlich beantworteten sie acht Fragen (Formulierung entsprechend ihrer Experimentalgruppe) zum Bayesianischen Denken mit einem Netzdiagramm (Binder et al., 2020).

Ergebnisse: Für beide Fragestellungen wurde je ein gemischtes generalisiertes lineares Modell (GLMM) mit Maximum-Likelihood-Methode geschätzt.

Für GLMM1 wurden Paare von jeweils zwei aus den sieben Formulierungen betrachtet und damit insgesamt 21 Paare pro Person. Sind beide Formulierungen eines Paares äquivalent, sollte das Paar in der gleichen Gruppe sein (ansonsten in getrennten). Ob ein Paar korrekt (in eine (un)gleiche Gruppe) einsortiert wurde, ist die abhängige Variable in GLMM-1 (Kodierung mit 1, falls korrekt, sonst 0). In das Modell wurden als Prädiktoren aufgenommen, ob im Paar (i) die Formulierungen (nicht) äquivalent sind und (ii) eine Formulierung entsprechend einer Experimentalgruppe enthalten ist (und wenn ja welche) sowie deren Interkationen. In der Referenzgruppe (äquivalente Paare ohne Experimentalgruppen-Formulierung, also mit konjugierten Wahrscheinlichkeiten) werden 52% korrekterweise gleich eingruppiert. In äquivalenten Paaren (bedingter Wahrscheinlichkeiten) ausschließlich mit Wenn-Satz-Formulierungen gibt es mit 51% keinen signifikanten Unterschied zur Referenzgruppe (b1=–0,06, p=0,78). Äquivalente Paare mit einer Nominalphrase werden aber mit 33% korrekten Zuordnungen signifikant seltener korrekt eingruppiert (b2=–0,88, p<0,001). 77% der nicht-äquivalenten Paare werden korrekterweise ungleich eingruppiert und damit signifikant häufiger als die Referenzgruppe (b3=1,42,p<0,001). Nicht-äquivalente Paare mit Nominalphrase werden noch häufiger getrennt gruppiert (b4=0,57, p=0,01).

Die abhängige Variable in GLMM-2 ist die Lösung einer Bayesianischen Aufgabe (Kodierung mit 1, falls korrekt, sonst 0). In GLMM-2 wurde Experimentalgruppe 2 als Referenzgruppe verwendet und Experimentalgruppen 1 und 3 als dummy-kodierte Prädiktoren einbezogen. Der Anteil korrekter Lösungen variiert zwischen Experimentalgruppe 1 (51%), 2 (35%) und 3 (51%) und die Regressionsgewichte sind für Experimentalgruppen 1 (b1=1,03,p=0,023) und 3 (b2=1,01,p=0,019) signifikant. Bayesianisches Denken mit Netzdiagramm ist also bei Formulierungen mit Nominalphrase und Wenn-Satz am Anfang signifikant besser als bei Formulierung mit Wenn-Satz am Ende.

Zusammengenommen zeigt sich auf rein sprachlicher Ebene ein Nachteil von Nominalphrasen für das Verständnis bedingter Wahrscheinlichkeiten. Dieser kann anscheinend durch die Visualisierung der Bayesianischen Situation ausgeglichen werden.

 
15:20 - 17:003-18: Multimethodische Perspektiven auf Studienwahl und Studiumsverläufe
Ort: S22
 
Paper Session

Wo braucht es Orientierung? - Eine gesamtheitliche Kategorisierung der Orientierungsbedarfe von Schüler*innen bei der Berufs- und Studienwahl

Tillmann Woller, Stefan Janke, Karina Karst

Universität Mannheim, Deutschland

Der Anteil an Schüler*innen in gymnasialen Oberstufen steigt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018). Schüler*innen die mit ihrem Schulabschluss eine (Fach-) Hochschulzugangsberechtigung erwerben, stehen eine Vielzahl von Bildungswegen offen. Zentrale Stellen betonen in Anbetracht der schwer überschaubaren Auswahlmöglichkeiten, dass der Orientierungsprozess „bedarfsgerecht begleitet werden“ solle (KMK, 2017). Zahlreiche Forschungsarbeiten (Henderich 2005, Zoyke 2012, Hirschi 2013, Zoyke 2017) unterstreichen die Wichtigkeit einer Individualisierung des Studien- und Berufsorientierungsprozesses, im Sinne einer Ausrichtung nach den Bedarfen der einzelnen Schüler*innen. Die Herausforderung besteht entsprechend darin Prozeduren zu entwickeln, die beratende Personen dabei unterstützen, individuelle Bedarfe von Schüler*innen präzise diagnostizieren zu können. Daran anknüpfend zielt diese Untersuchung darauf ab, die Gesamtheit möglicher Orientierungsbedarfe sowohl zu erfassen als auch zu kategorisieren. Mit Hilfe des dadurch generierten Überblickswissens sollen beratende Personen Schüler*innen besser in ihrem Orientierungsprozess unterstützen können. Die zentrale Forschungsfrage lautet: Was sind die Bedarfe von Schüler*innen während des Berufs- und Studienorientierungsprozesses und wie lassen sie sich zum Einsatz in der Orientierungspraxis kategorisieren?

Methodisch folgten wir den Grundprinzipien der Grounded Theory, um einen umfassenden Blick auf das Phänomen der Orientierungsbedarfe zu gewinnen (Corbin & Strauss, 2015). Da zu erwarten ist, dass Schüler*innen selbst ein eher eingeschränktes Verständnis von einem optimalen Orientierungsprozess haben, werden die Beratungsbedarfe aus Sicht von Expert*innen für Studien- und Berufsberatung analysiert. Hierzu wurden leitfadenbasierte, semi-strukturierte Expert*inneninterviews geführt. Gemäß des Prinzips des theoretical sampling (Corbin & Strauss, 2015) wurden 21 Akteure identifiziert, welche die Orientierungslandschaft für Schüler*innen mit dem Abschlussziel Hochschulzugangsberechtigung möglichst umfassend abbilden, und schließlich befragt. Es wurden Interviews mit sechs BO-Lehrkräften, drei Berufsberater*innen der Bundesagentur für Arbeit, zwei Akteuren von Kammern, jeweils einem Mitglied von Schule-Wirtschaft Baden-Württemberg und der G.b.R. BoriS, einer Verwaltungsangestellten, die kommunal den Übergang Schule-Beruf organisiert sowie sieben Studienberater*innen unterschiedlicher Hochschularten zwischen März und September 2023 durchgeführt. Jedes Interview wurde in einer Audiodatei aufgezeichnet (durchschnittlich 41:31 Minuten) und anschließend transkribiert (Dresing & Pehl, 2020). Die Interviewtranskripte bilden einen Datenkorpus, welcher mittels einer typenbildenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2020) in MAXQDA ausgewertet wurde.

Die von den Interviewpartner*innen benannten Bedarfe wurden in vier Dimensionen kategorisiert. (1) Die erste Dimension lautet Selbst- und Sozialbedarfe, welche die Subkategorien Selbstreflexion, Entscheidungsprozessbedarfe und Persistenzbedarfe umfasst. Ein Selbstreflexionsbedarf ist beispielsweise, seine eigenen Interessen zu kennen. Mit einem Unsicherheitsgefühl umgehen zu können, ist ein Entscheidungsprozessbedarf. Als Persistenzbedarf gilt z.B., dass sich Schüler*innen an Regeln halten können sollten. (2) Die zweite Dimension sind Informationsbedarfe, welche einerseits Wissen über die Recherche und Ausgestaltung von Orientierungsangeboten und andererseits über potenzielle Bildungsgangsoptionen beinhaltet. Ein Bedarf der Subkategorie Wissen über Orientierungsangebote ist beispielsweise, Webseiten zu kennen, über die man Studiengänge finden kann. Die Entscheidung, ob man eine Ausbildung oder ein Studium beginnen möchte, ist ein Bildungsgangsoptionsbedarf. (3) Die dritte Dimension beinhaltet Bedarfe nach studien- und berufspraktischem Wissen, wie etwa den beruflichen Alltag eines potenziellen Zielberufs kennen zu lernen. (4) Dimension vier sind Übergangsorganisationsbedarfe, welche die drei Subkategorien finanzielle Planung, Organisation des Wohnorts und das Bewerbungsverfahren für den weiterführenden Bildungsgang enthalten. Ein finanzieller Planungsbedarf ist z.B. die Beantragung eines Studienkredits. Zur Organisation des Wohnorts kann der Bedarf bestehen, einen Studentenwohnheimsplatz zu beantragen. Für die Organisation des Bewerbungsverfahrens sollten die Bewerbungsfristen bekannt sein.

Abschließend werden Bezüge der explorierten Bedarfe zu gängigen Theorien zur Berufs- und Studienwahl sowie zu Konstrukten, wie Berufswahlbereitschaft (Ratschinski, 2014) oder Berufswahlkompetenz (Driesel-Lange et al., 2010) diskutiert.

Um die Bedarfe in den orientierungspraktischen Kontext transferieren zu können, wurde zu jedem Bedarf ein entsprechendes Lernziel formuliert. Zusätzlich wurden alle Bedarfe mittels zweier Merkmale typologisiert: erstens der Bedarfsdimension und entsprechender Subkategorien und zweitens anhand des Anforderungsbereichs des aus dem Bedarf abgeleiteten Lernziels. Die daraus gewonnene Typologisierung der Bedarfe wird auf der GEBF vorgestellt und deren theoretische sowie Orientierungspraktische Implikationen sollen erörtert werden.



Paper Session

Erfahrungen und Strategien von Erstakademiker*innen im Studium – Wirkung und Effektivität von Förderprogrammen

Lea Raczkowski, Tina Seufert

Universität Ulm / Institut für Psychologie und Pädagogik, Deutschland

Herkunftsspezifische Disparitäten beim Übergang in die Hochschule und innerhalb der akademischen Ausbildung sind bereits umfassend erforscht (vgl. z. B. Buchholz et al. 2022; Lörz et al. 2015). Kinder aus Nichtakademikerfamilien besuchen seltener ein Gymnasium, erwerben seltener die Hochschulreife (vgl. Autor*innengruppe Bildungsberichterstattung 2022, S. 203) und nehmen weniger häufig ein Hochschulstudium auf (vgl. Quast et al. 2023). Auch im weiteren Verlauf der Hochschulausbildung sind Erstakademiker*innen unterrepräsentiert (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft & McKinsey & Company 2022, S. 13). Die Gruppe der Erstakademiker*innen setzt sich aus unterschiedlichen Milieus zusammen, die divergierende Lebensführungen und Erfahrungen aufweisen (vgl. Lange-Vester 2020, S. 398). Alle eint jedoch ihre soziale Herkunft außerhalb des akademischen Feldes mit seinen distinktiven Habitus-Mustern (vgl. ebd.). Zumeist erleben Erstakademiker*innen ein Gefühl von Fremdheit und zweifeln an ihrer Zugehörigkeit zum akademischen Umfeld (vgl. ebd.; vgl. Hild 2019). Eine Studie zur Effektivität von NRW-Talentscouting zeigt, dass beratungsintensive Förderangebote zur Verringerung sozialer Bildungsungleichheit beitragen können (vgl. Erdmann et al. 2022a, 2022b). Jedoch fehlen bislang flächendeckende Erkenntnisse zur Wirksamkeit solcher Angebote. Ziel dieser Arbeit ist es, die Erfahrungen und Umgangsweisen von Erstakademiker*innen im Hochschulstudium zu ermitteln und die Effektivität von Förderprogrammen am Beispiel des Vereins First Generation Aachen e.V. zu prüfen. Dieses dient den Geförderten als Hilfestellung im Umgang mit ihren Herausforderungen im Studium und setzt sich aus Mentoring und Workshops zusammen.

Für diese Arbeit wurden fünf Geförderte, drei Mentor*innen und zwei Coaches in Form von problemzentrierten Interviews (Witzel 2000) befragt. Die Auswertung der Interviewdaten erfolgte in Anlehnung an die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018). Nach der Durchsicht aller verschriftlichten Interviewdaten schloss die initiierende Textarbeit sowie das Verfassen der Fallzusammenfassungen an. Anschließend erfolgte die erste Kodierung des gesamten Materials anhand der thematischen Hauptkategorien, die sich aus den Themen der Interviewleitfäden ergaben. Nach der ersten Kodierung wurden alle kodierten Textstellen erneut gesichtet und in Subkategorien ausdifferenziert. Anschließend erhielt jede identifizierte Kategorie eine Kategoriendefinition und wurde zu einem Kategoriensystem zusammengefasst. Im Sinne Kuckartz (2018) erfolgte anschließend ein erneuter Kodierprozess mithilfe des ausdifferenzierten Kategoriensystems (vgl. ebd., S. 100). Nach Abschluss aller Kodierphasen wurden fallbezogene thematische Zusammenfassungen der Subkategorien innerhalb der Hauptkategorien vorgenommen. Diese dienten als Grundlage für die weitere kategorienbasierte Auswertung entlang der Hauptkategorien (vgl. ebd., S. 118). Hierzu wurden alle Subkategorien der jeweiligen Hauptkategorien deskriptiv und vergleichend dargelegt und mit prototypischen Zitaten aus den Transkripten untermauert (vgl. ebd., S. 118–119).

Die Ergebnisse zeigen, dass die Herausforderungen und Strategien von Erstakademiker*innen vielfältig sind. Die genannten Hürden reichen von Schwierigkeiten, die primär die innere Verfassung wie Emotionen, intrinsische Motivation oder Selbstregulation betreffen, bis hin zu ebenjenen, die eng mit mangelnden Ressourcen und äußeren Faktoren verbunden sind. Einige der Herausforderungen weisen eine enge Verknüpfung auf und beeinflussen sich wechselseitig. So wird der nicht mit den Eltern geteilte Erfahrungsraum Studium als Ursprung weiterer Herausforderungen beschrieben. Insbesondere Strategien im Zusammenhang mit sozialen Kontakten werden häufig genannt. Hierbei spielt die Unterstützung des Vereins eine wichtige Rolle. Die übergeordnete Herausforderung scheint dabei das Anerkennen der eigenen Identität als Erstakademiker*in zu sein. Das neugewonnene studentische Selbstverständnis und das Bewusstsein der Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft ist dabei Treiber eines inneren Konfliktes der Zugehörigkeit. Dies kann als Habitus-Struktur-Konflikt beschrieben werden, der seinerseits die Umgangsweisen mit den erlebten Herausforderungen prägt (vgl. Schmitt 2010). Da sich soziale Ungleichheit jedoch über die alltäglichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster etabliert (vgl. Hild 2019, S. 427) ist das Konzept des Vereins, tief verwurzelte Glaubenssätze aufzulösen und die Bestärkung der Studierenden in den Fokus zu rücken, besonders sinnvoll. Solche Unterstützungsangebote, stellen einen Raum der Ermutigung dar, ohne die aus frühen Bildungsetappen verankerten Benachteiligungen auszuklammern. Darüber hinaus hilft die Förderung den Studierenden dabei Spannungsverhältnisse zwischen ihrem ‚bestehenden‘ und ‚neuen‘ Habitus auszuhalten.



Paper Session

Eltern- und Lehrpersonerwartungen sowie Leistungen und Anstrengungs-bereitschaft von Jugendlichen als Determinanten von intergenerationaler Bildungsmobilität

Markus P. Neuenschwander, Lukas Ramseier, Ariana Garrote

Pädagogische Hochschule FHNW, Schweiz

Theoretischer Hintergrund

In stratifizierten Ländern wie der Schweiz erreichen die meisten Jugendlichen den gleichen Bildungsabschluss wie ihre Eltern (Bauer & Riphahn, 2007; Blossfeld et al., 2016). Biografiestudien zeigten, dass neben Leistungen und Anstrengungsbereitschaft hohe Leistungserwartungen von Eltern und Lehrpersonen zur Erklärung der intergenerationalen Bildungsmobilität (d.h. Bildungsaufstieg und -abstieg) wichtig sind (Kellmer, 2015; Spiegler, 2018). Als Bildungsaufstieg wird definiert, wenn die Jugendlichen einen höheren Sek II-Abschluss als ihre Eltern erreicht haben. Ein Bildungsabstieg meint, dass sie einen tieferen Sek II-Abschluss als ihre Eltern erreicht haben. Die Häufigkeit von intergenerationaler Bildungsmobilität zeigt, wie sehr Herkunftseffekte auf Bildungsabschlüsse korrigiert werden können.

Im Schweizer Bildungssystem werden Jugendliche nach der Sekundarstufe I aufgrund ihrer Leistungen und Anstrengungsbereitschaft in eine allgemeinbildende Schule oder Berufsbildung zugewiesen. Die Durchlässigkeit zwischen diesen beiden Bildungskanälen ist gering (Babel & Lagana, 2016). Daher sind Leistungen und Anstrengungsbereitschaft in der Sekundarstufe I für den Sek II-Abschluss zentral.

Studien zu selbsterfüllenden Prophezeiungen zeigen, dass hohe Leistungserwartungen von Eltern und Lehrpersonen die Leistungen und Anstrengungsbereitschaft von Jugendlichen erhöhen (Wang et al., 2018; Urhahne & Wijnia, 2021). Leistungserwartungen von Eltern und Lehrpersonen könnten daher indirekt über die Leistungen und Anstrengungsbereitschaft der Jugendlichen einen Bildungsaufstieg bzw. Bildungsabstieg vorhersagen. Allerdings gibt es keine Längsschnittstudien, welche den Effekt von Leistungserwartungen von Eltern und Lehrpersonen zu Beginn der Sekundarstufe I auf die Wahrscheinlichkeit eines Bildungsaufstiegs und Bildungsabstiegs geprüft haben. Entsprechende Evidenzen könnten pädagogische Strategien begründen, um die Wahrscheinlichkeit von intergenerationaler Mobilität zu beeinflussen (Buchmann et al., 2020).

Fragestellung

Wie sehr sagen Leistungserwartungen von Lehrpersonen und Eltern im 7. Schuljahr die Wahrscheinlichkeit von Bildungsaufstiegen und Bildungsabstiegen vorher? Werden diese Effekte durch die Leistungen der Jugendlichen in Deutsch und Mathematik sowie ihre Anstrengungsbereitschaft mediiert?

Methode

Die Fragen wurden mit Längsschnittdaten der Schweizer WiSel-Studie bearbeitet. Lehrpersonen und Eltern füllten im 7. Schuljahr und Jugendliche im 9. Schuljahr einen Fragebogen aus. Ausgewertet wurden die Daten von allen Jugendlichen, die im 9. Schuljahr an der Studie teilnahmen (N=2376, weiblich =46.5%, Durchschnittsalter im 9. Schuljahr: 15.49 Jahre).

Leistungserwartungen der Eltern am Ende des 7. Schuljahres: Die Eltern schätzten mit je 3 Items ihre Erwartungen für Deutsch und Mathematik reliabel ein.

Die Elternangaben zu ihren höchsten Bildungsabschlüssen wurden gruppiert: (1) Mittelschulabschluss, (2), Berufsbildungsabschluss, (3) ohne Sek II-Abschluss.

Leistungserwartungen der Lehrpersonen im 7. Schuljahr: Lehrpersonen gaben ihre Erwartung an die Leistungen der Jugendlichen in Deutsch und Mathematik mit je einem Item an.

Die Leistungen der Jugendlichen in Deutsch und Mathematik im 7. Schuljahr wurden mit standardisierten reliablen Leistungstests erfasst und mit IRT analysiert (Moser et al., 2011).

Anstrengungsbereitschaft: Die Jugendlichen schätzten ihre Anstrengungsbereitschaft im 9. Schuljahr mit 4 Items in Anlehnung an Schmidt et al. (1998) ein (α = .89).

Den Fragebogendaten konnten die Bildungsabschlüsse der Jugendlichen fünf Jahre nach dem 9. Schuljahr aus amtlichen Strukturdaten zugeordnet werden: (1) Mittelschulabschluss, (2) Berufsbildungsabschluss, (3) ohne Sek II-Abschluss.

Die fehlenden Werte waren zufällig verteilt und wurden mit der FIML-Prozedur in Mplus 8 bearbeitet. Geschlecht, Staatsangehörigkeit und die Persönlichkeitseigenschaft Gewissenhaftigkeit wurden kontrolliert.

Ergebnisse

Strukturgleichungsmodelle mit guter Modellpassung zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Bildungsaufstiegs durch Anstrengungsbereitschaft und Leistungen signifikant erklärt werden kann. Indirekte Effekte der Lehrpersonenerwartungen und der Elternerwartungen im 7. Schuljahr auf die Wahrscheinlichkeit eines Bildungsabstiegs waren signifikant.

Das Modell zum Bildungsabstieg zeigte eine gute Modellpassung. Tiefe Anstrengungsbereitschaft und tiefe Leistungen sagten die Wahrscheinlichkeit eines Bildungsabstiegs signifikant vorher. Elternerwartungen und Lehrpersonenerwartungen sagten den Bildungsabstieg indirekt signifikant vorher.

Die Ergebnisse zeigen erstmals, dass hohe Bildungserwartungen von Eltern und Lehrpersonen an Jugendliche im 7. Schuljahr indirekt einen Bildungsaufstieg bzw. Bildungsabstieg 7 Jahre später vorhersagen. Die Effekte werden durch Leistungen und Anstrengungsbereitschaft vollständig mediiert. Die Befunde sind im Hinblick auf Massnahmen zur Erhöhung intergenerationaler Bildungsmobilität relevant.



Paper Session

Organisationales Commitment zum Ausbildungsbetrieb und Studienabbruch im dualen Studium – eine Ereignisanalyse

Wild Steffen1, Sebastian Rahn2, Meyer Thomas3

1Technische Universität Dortmund, Deutschland; 2htw saar, Deutschland; 3Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Der Einfluss von den Ausbildungsstätten auf den Studienabbruch im dualen Studium, etwa vor dem Hintergrund der vielen Praxisphasen bei den Ausbildungsstätten, ist gering erforscht und theoretisch wenig elaboriert (Nickel et al., 2022). Erste Erklärungsansätze können sowohl aus der Hochschulforschung wie Bäulke et al. (2021), Heublein (2014) oder Tinto (1975) als auch aus der Berufsbildungsforschung wie Krötz und Deutscher (2022) herangezogen werden. In diesem Kontext stellt sich die Frage, welche Rolle die Verbundenheit, Zugehörigkeit und Identifikation mit einer Ausbildungsstätte für den Studienabbruch spielt. Angesichts der Argumentation von van Dick (2017) und Felfe (2020), dass bei höherem Commitment Freiräume für Engagement im Unternehmen besser genutzt werden oder Veränderungen sowie neue Entwicklungen eher akzeptiert werden, ist es verwunderlich, dass Commitment bisher in diesem Kontext ein Schattendasein fristet.

Der Side-Bets-Ansatz von Becker (1960) stellt rationale Kosten-Nutzen-Abwägungen in den Mittelpunkt der Commitmentforschung, während Mowday et al. (1982) die emotionale Komponente betonen. Meyer und Allen (1991) haben diese Ansätze zum Modell des organisationalem Commitments weiterentwickelt, das die drei Dimensionen des affektiven Commitments („wollen“), kalkulatorischen Commitments („müssen“) und normativen Commitments („sollen“) umfasst (Voigt & Jöns, 2006). Empirische Ergebnisse von Meyer et al. (2002) zeigen in einer Metaanalyse auf, dass der Zusammenhang zwischen affektivem Commitment und Leistungsergebnissen höher ist als bei den beiden anderen Komponenten des Commitments. Weitere Metaanalysen zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen dem organisationalen Commitment und Wohlbefinden bei der Arbeit (Kleine et al., 2019) sowie mit der Tätigkeit einer sinnvollen Arbeit (Allan et al., 2019).

Fragestellung

Das Risiko des Studienabbruchs ist im ersten Studienjahr am höchsten (Chen, 2012). Allerdings sind relevante Indikatoren von Seiten der Ausbildungsstätten im dualen Studium gering erforscht. Vor dem Hintergrund des bisherigen Forschungsstandes stellt sich daher die Frage, welchen Einfluss das organisationale Commitment im ersten Studienjahr auf den Studienabbruch hat. Im Einzelnen werden folgende Hypothesen untersucht

H1: Je höher das affektive Commitment ist, umso geringer ist das Risiko eines Studienabbruch bei einem Studierenden.

H2: Je höher das kalkulatorische Commitment ist, umso geringer ist das Risiko eines Studienabbruch bei einem Studierenden.

H3: Je höher das normative Commitment ist, umso geringer ist das Risiko eines Studienabbruch bei einem Studierenden.

Methode

Wir verwendeten die erhobene Daten der vierten Panelwelle des Forschungsprojekts „Studienverlauf – Weichenstellungen, Erfolgskriterien und Hürden im Verlauf des Studiums an der DHBW“ (Deuer & Meyer, 2020) mit 2,263 dual Studierenden aus dem ersten Studienjahr (März 2019) mit einmaliger Messung, d. h. Querschnittsdesign . Zum Ende des Studienjahres (30. September 2019) wurde von der Hochschulverwaltung die Information über 149 Studienabbrüche in den Datensatz integriert. Die gemessenen drei Skalen zum organisationalen Commitment basierend auf dem Instrument von Felfe et al. (2002) zeigen problematische bis ausgezeichnete Reliabilitäten (ω = .66–.88). Zur Analyse der Daten wurde eine Cox Regression verwendet (Schendera, 2014). Das Modell wurde mit den Variablen Alter, Abiturnote, Studienfach (Technik vs. Wirtschaft), Geschlecht, Bildungsherkunft und den drei psychologischen Grundbedürfnissen (Ryan & Deci, 2017) kontrolliert.

Ergebnisse

Die Analyse zeigt, dass die emotionale Komponente, hier das affektive Commitment (HR = 0.68; p ≤ .001), einen negativen Einfluss auf den Studienabbruch besitzt. Dagegen besitzen die Komponenten der rationale Kosten-Nutzen-Abwägungen, hier das kalkulatorische Commitment (HR = 0.98; p = .852) und das normative Commitment (HR = 1.10; p = .349), keinen signifikanten Effekt auf den Studienabbruch. Die Ergebnisse untermauern, dass das Commitment zum Ausbildungsbetrieb ein wichtiger Faktor ist, der in die theoretische Modellierung zum Studienabbruch bei dual Studierenden aufgenommen werden muss. Ausbildungsbetriebe könnten u.a. bei der Steigerung des affektiven Commitment ansetzen, etwa durch die Sensibilisierung von Ausbildungsleiter:innen, um einen Studienabbruch entgegenzuwirken. Zukünftige Studien zum Commitment sollten die Auswirkung, wie etwa auf einen Studienfachwechsel oder den Wechsel in eine berufliche Ausbildung, als abhängige Variable weiter aufgreifen.

 
Datum: Dienstag, 19.03.2024
10:30 - 12:104-18: Digitale Kompetenzen II
Ort: S22
 
Paper Session

Digitalkompetenzen von Grundschulkindern. Was wissen und können Grundschulkinder im Bereich Datenschutz?

Caroline Theurer, Tina Jocham, Sanna Pohlmann-Rother

Universität Würzburg, Deutschland

HINTERGRUND

Um in einer zunehmend digital vernetzten Welt verantwortungsvoll und selbstbestimmt handeln zu können, sind Digitalkompetenzen zentral. Auch für die Grundschule hat dies Konsequenzen. Beispielsweise wird gefordert, dass eine „Kultur der Digitalität“ (Irion & Knoblauch, 2021, S. 123) etabliert werden müsste, damit Kinder den Anforderungen einer vernetzen Welt adäquat begegnen können (Grundschulverband [GV], 2015; Thumel, Kammerl & Irion, 2020). Um Kinder auf die sich stetig wandelnde Umwelt vorzubereiten, sollten ihre Digitalkompetenzen kontinuierlich erfasst werden. Dies erscheint umso dringlicher, da erst darauf aufbauend adäquate Fördermöglichkeiten initiiert und medienbezogene Bildungsprozesse angeregt werden können. Digitalkompetenzen sind bislang allerdings weder erschöpfend konzeptualisiert noch empirisch geprüft. Vorliegende Konzeptualisierungen digital-bezogener Kenntnisse, Fähigkeiten und Überzeugungen beziehen sich zudem nicht explizit auf Kinder in der Grundschule, sondern fokussieren stark auf Jugendliche (Cwielong & Bergner, 2020; Gesellschaft für Informatik e.V. [GI], 2016; Kultusministerkonferenz (KMK), 2016, 2021; Vuorikari, Kluzer & Punie, 2022). Vorliegende bildungspolitische Rahmenvorgaben beinhalten zwar teilweise Konzeptualisierungen für das Grundschulalter und Kompetenzerwartungen für Teilbereiche (Medienberatung NRW, 2020), allerdings handelt es sich hier eher um normative Setzungen, die nicht empirisch hergeleitet oder überprüft sind. Vorschläge zur Erfassung der Kompetenzen oder ihrer Teilbereiche werden nicht gemacht. Angelehnt an den Schweizer Lehrplan entwickelten Hermida, Hielscher und Petko (2017) den frei zugänglichen Medienprofis-Test an. Dieser erfasst – auch für das Grundschulalter – in einem spielerischen Rahmen zwar wichtige Teilbereiche von Digitalkompetenzen (beispielsweise Digitalisierung und Computerisierung oder Informationsfreiheit und Glaubwürdigkeit), ein Abgleich mit deutschen bildungspolitischen Rahmenvorgaben offenbart allerdings Leerstellen, wie beispielsweise die dezidierte Erfassung von Kompetenzen im Bereich Datenschutz und Sicherheit im Netz.

FRAGESTELLUNG

Hier setzt das Projekt Digit.El (Digital Competencies in Elementary School Age) an: Sukzessive sollen in einem mehrschrittigen, multimethodischen Vorgehen die im Medienkompetenzrahmen (Medienberatung NRW, 2020) vorgeschlagenen Teilbereiche von Digitalkompetenzen im Grundschulbereich theoretisch konzeptualisiert sowie operationalisiert und gemessen werden. Damit wird mittelfristig auch das Ziel verfolgt, angemessene Fördermöglichkeiten initiieren zu können. Aktuell wird sich im Projekt Digit.El u.a. dem Bereich Datenschutz gewidmet. Die im Vortrag bearbeiteten Fragestellungen lauten: Was wissen Kinder am Ende der Grundschulzeit über Datenschutz und Sicherheit im Netz? Wie kompetent agieren sie, wenn sie sich im Netz bewegen?

METHODE

Zur Beantwortung der Fragestellung wurden in einer ersten Projektphase Leitfadeninterviews mit 32 Grundschulkindern der Klassenstufe 3 und 4 durchgeführt. Basierend auf theoretischen sowie empirischen Vorüberlegungen wurde eine fiktive Plattform zur vermeintlichen Anmeldung bei einem Messengerdienst auf SoSci-Survey aufgebaut. Die Kinder wurden gebeten sich dort anzumelden, wobei ihr konkretes Verhalten in der Anmeldesituation die Grundlage für das nachfolgende Interview darstellte. Die audiographierten und transkribierten Interviews wurden inhaltlich strukturierend (Kuckartz, 2018) ausgewertet mit einem deduktiv-induktiv entwickelten Kategoriensystem. Sowohl in der Erhebung als auch in der Auswertung der Daten wurde unterschieden zwischen Wissens- und Verhaltensebene (Weinert, 2001), um sich Kompetenzen stärker anzunähern.

ERGEBNISSE

Erste Ergebnisse dieser qualitativen Pilotierungsphase des Erhebungsinstrument beleuchten Diskrepanzen zwischen der Wissens- und Verhaltensebene. Insgesamt lassen sich durch die Äußerungen der Kinder solide Wissensbestände in einigen Bereichen erkennen, die jedoch nicht durchgängig auch auf der Verhaltensebene erkennbar sind (Theurer, Jocham & Pohlmann-Rother, angenommen). Beispielsweise wissen Kinder mehr über Passwortsicherheit oder die Sicherheit ihres eigenen Benutzernamens als ihr Verhalten in der Anmeldung erkennen ließ. Weiter wussten viele Kinder um die Problematik öffentlicher Profile und verhielten sich in der Anmeldesituation entsprechend. Obwohl den Kindern ein fremdes Gerät ausgehändigt wurde, entschied sich die Mehrheit der Kinder für eine Speicherung ihrer Anmeldedaten. Erst durch das spätere Interview wurde den Kindern die Probematik dieser Entscheidung bewusst.

Aktuell fließen die Ergebnisse der Pilotstudie in die Entwicklung eines Testinstruments ein, das quantitative Daten zum Themenbereich generieren wird. Erste Ergebnisse hierzu können auf der Tagung berichtet werden.



Paper Session

Inhalte im Internet bewerten. Entwicklung und empirische Evaluation eines Messinstruments für Grundschulkinder

Tina Jocham, Sanna Pohlmann-Rother

Universität Würzburg, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Grundschulkinder leben in einer digitalen Welt, in der die gesteigerte Verfügbarkeit von Informationen zu Herausforderungen führt. Insoweit gewinnt ein kritischer Umgang mit Inhalten an Bedeutung (Çetta et al., 2020). WhatsApp, Google und YouTube zählen zu den häufigsten Anwendungen, die von Grundschulkindern genutzt werden (Feierabend et al., 2023). Folglich werden sie mit unterschiedlichen Inhalten konfrontiert, deren Bewertung Strategien voraussetzt. Beeinflusst wird dieser Bewertungsprozess durch Faktoren wie Vorwissen, Geschlecht, Bildungsniveau oder Lesekompetenz (Purington-Drake et al., 2022). Untersuchungen belegen, dass SuS die Glaubwürdigkeit von Onlineinhalten weder evaluieren (Kiili, 2018) noch Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können (Hasebrink, 2019). Der Förderung von Informationsbewertungskompetenzen kommt daher bereits in der Grundschule ein wichtiger Stellenwert zu. Voraussetzung für die Gestaltung und Evaluation von Fördermöglichkeiten ist allerdings ein Messinstrument zur Erfassung verschiedener Kompetenzfacetten in diesem Bereich. Die systematische Entwicklung eines solchen Modells, das relevante Teilkompetenzen und Inhaltsbereiche berücksichtigt und zwischen diesen differenziert, steht allerdings noch aus.

An dieser Stelle setzt das vorliegende Dissertationsprojekt an, in dem ein standardisiertes Messinstrument zum Konstrukt der „Informationsbewertung“ mehrschrittig modelliert, konstruiert und validiert wird. Das Projekt ist in die Studie Digit.El eingebettet, welche die Erfassung von Digitalkompetenzen von Grundschulkindern zum Ziel hat.

Methodisches Vorgehen

Messmodell

Die Modellierung des Konstrukts der Informationsbewertung basiert zunächst auf einer Analyse bestehender Konzeptionalisierungen und empirischer Erkenntnisse. Ergänzend wurden alle Lehrpläne systematisch auf relevante (normative) Teilkompetenzen und Inhaltsbereiche untersucht. Explorative Expert:innen-Interviews aus dem Online-Kinderbereich dienten als weitere Indikatoren (Brückner, 2020). Ergebnis ist ein selbstentwickeltes Messmodell, welches in die Inhaltsfelder Werbung, Wissensvermittlung, Unterhaltung, Täuschung sowie Persönlichkeitseingriff unterteilt ist und die Teilkompetenzen Identifizieren, Wirklichkeitsnähe, Glaubwürdigkeit und Methoden der Beeinflussung umfasst.

Messinstrument

Auf Basis des Messmodells wurde ein digitaler Leistungstest mit gebundenen Mehrfachwahlaufgaben entwickelt. Zur Steigerung der Inhaltsvalidität wurde das Instrument aus multimodalen Testaufgaben von den beliebtesten Plattformen der Altersgruppe konzipiert (WhatsApp/YouTube/TikTok; Reppert-Bismarck, 2019). Qualitative Verständlichkeitsanalysen der 20 Testaufgaben erfolgten in Kleingruppendiskussionen mit Personen aus dem universitären und schulischen Bereich sowie mit fünf Kindern, begleitet durch die Methode des lauten Denkens (Brandt, Moosbrugger, 2020).

Pilotierung

Eine erste Überprüfung des Messinstruments erfolgte mit 81 Schüler:innen (56,8% weiblich) der 3./4. Jahrgangsstufe (M=10,4, SD=0,64). 57 Kinder erhielten die elterliche Erlaubnis, Angaben zum sozioökonomischen Status zu machen (HISEI=47,44, SD=16,42). 51,9% sprechen zuhause vorwiegend eine andere Sprache.

Ziel der Pilotierung war eine erste deskriptive Itemanalyse, wobei explorativ die Aufgabenschwierigkeit, -varianz und -trennschärfe ermittelt wurden. Die Berechnung eines Gesamtscore setzt Itemhomogenität voraus, wobei hohe Trennschärfeindizes ein erster Hinweis sein können (Kelava, Moosbrugger, 2020).

Ergebnisse der Pilotierung

Die Analyse ergab, dass 15 von 20 Testaufgaben eine Aufgabenschwierigkeit von 45≤Pi≤ 78 haben. Fünf Items wiesen eine höhere Schwierigkeit (25≤Pi≤39) auf. Dies betraf Items, die Phishing, Clickbait, Umgang mit fremden Daten und Bots thematisierten.

Die Berechnung der korrelativen Zusammenhänge zeigte ein inkonsistentes Bild für die jeweiligen Aufgaben, woraus sich auch z.T. geringe Trennschärfeindizes (rit.<.3) ergaben. Aufgrund der geringen Stichprobengröße konnte nicht abschließend überprüft werden, ob eine ein- oder mehrdimensionale Struktur der Daten vorlag (Hauptkomponentenanalyse/Varimax-Rotation), weshalb die Trennschärfen nicht weiter interpretiert wurden (Kelava, Moosbrugger, 2020).

Diskussion

Wenig überraschend erscheint, dass Schüler:innen Testaufgaben im Bereich Täuschung und Persönlichkeitseingriff nicht korrekt lösen konnten, da Phänomene wie Phishing/Bots selbst für Erwachsene herausfordernd sind (Wineburg et al. 2019). Es lässt sich diskutieren, ob diese Inhalte grundsätzlich für den Grundschulbereich ungeeignet sind, wenngleich diese eine lebensweltliche Relevanz aufweisen.

Als Ergebnis der Pilotierung wurde deshalb die Aufgabenschwierigkeit der fünf schwierigsten Items angepasst, ohne die Kerninhalte zu ändern. Da genaue Angaben zur Eindimensionalität nur mithilfe von „testtheoretisch begründeten Modellierungen“ möglich sind, werden Modelle der IRT zur Datenanalyse der Hauptstudie herangezogen (Kelava, Moosbrugger, 2020). Die Datenerhebung der Hauptstudie läuft von Juli-November (n=600) und zielt auf präzisere Erkenntnisse zur Item- und Testqualität. Erste Ergebnisse werden auf der Tagung vorgestellt.



Paper Session

Effekte eines Lernangebotes zu Computational Thinking in der Sekundarstufe I auf die Fähigkeit zum komplexen Problemlösen

Thomas Leitgeb1, Wolfram Rollett2, Katja Scharenberg3

1PH Burgenland; 2PH Freiburg; 3LMU München

International werden zunehmend Lernangebote in der Schule implementiert, die sich am Konzept des Computational Thinking orientieren (z.B. Shi, 2018; Kwon & Schroderus, 2017). Zentrales Anliegen ist es dabei, den Schüler:innen zu vermitteln, wie sich Algorithmen für die Lösung von Problemen nutzen lassen (z.B. Li et al., 2020; Eickelmann et al., 2019). Dazu werden Schüler:innen typischerweise kognitiv herausfordernde Problemstellungen vorgegeben, für die sie Lösungen suchen sollen (Lodi & Martini, 2021). Dabei sollen sie lernen, schwierige und komplexe Probleme in kleinere, handhabbare Bestandteile zu zerlegen, Muster und Beziehungen zu identifizieren sowie Algorithmen zu erstellen und für die Problemlösung anzuwenden. Mit diesem Ansatz verbindet sich die Erwartung, dass die Schüler:innen in ihren kognitiven Fähigkeiten gefördert werden (Scherer, Siddiq, & Sanchez-Scherer, 2021). Diese Annahme ließ sich in einer Vielzahl von Studien bestätigen. So konnten Scherer, Siddiq und Viveros (2018) in ihrer Metaanalyse auf der Basis von 105 Studien positive Effekte eines an Computational Thinking orientierten Programmierunterrichts auf kognitive Grundfähigkeiten, mathematische Fähigkeiten, metakognitive Kompetenzen und das kreative Denken nachweisen. Bisher nicht untersucht wurde, ob sich auch positive Effekte auf die Fähigkeit zum komplexen Problemlösen zeigen. Das ist überraschend, da die Vorgabe anspruchsvoller Probleme, die sich im Sinne von Dörner (1998) durch Polytelie, Vernetztheit, Intransparenz und Eigendynamik auszeichnen, zentral für die Vermittlung von Computational Thinking ist. Der vorliegende Beitrag geht daher der Frage nach, ob und inwiefern sich ein nach dem Konzept des Computational Thinking gestaltetes Lernangebot auf die Entwicklung der Fähigkeit, komplexe Probleme zu bearbeiten, auswirkt.

Zur Untersuchung dieser Fragestellung wurde im Schuljahr 2018/19 in der siebenten Schulstufe aller 38 Mittelschulen im Burgenland (Österreich) eine längsschnittliche quasi-experimentelle Studie im Prä-Post-Kontrollgruppendesign mit drei Messzeitpunkten (Beginn, Mitte und Ende des Schuljahres) durchgeführt. Die Datenerhebung erfolgte mithilfe von Online-Fragebögen. Die Bruttostichprobe umfasste 1.676 Schüler:innen. Davon nahmen 1.383 (85,5 Prozent) mit Zustimmung der Eltern an der Studie teil. 404 Schüler:innen der Versuchsgruppe besuchten das auf dem Ansatz des Computational Thinking basierende Wahlpflichtfach “Coding & Robotik” (Leitgeb, 2018), in dem mit Robotersystemen anspruchsvolle Probleme bearbeitet wurden. Die Schüler:innen der Kontrollgruppe (n=979) besuchten alternative Wahlpflichtfächer ohne konzeptuellen Bezug zu Computational Thinking (Leitgeb, Rollett & Zimmermann, 2023). Für die Wahlpflichtfächer sind drei Unterrichtsstunden pro Schulwoche vorgesehen. Versuchs- und Kontrollgruppe waren soziokulturell ähnlich zusammengesetzt, in der Versuchsgruppe war der Mädchenanteil aber geringer (33% vs. 51%).

Zur Messung der Fähigkeit zum komplexen Problemlösen wurden allen Schüler:innen zu jedem Messzeitpunkt drei bis vier Aufgaben vom DYNAMIS-Typ (Funke, 1992) vorgegeben, mit jeweils zwei bis drei Input- und zwei bis drei Outputvariablen. Abhängige Variablen waren das nach zwei Explorationsdurchgängen (nach je fünf Eingriffen) ermittelte Systemwissen (Güte der Kausaldiagramme, GdK; Funke 1992), die Systematizität der Eingriffe (Vollmeyer, Burns & Holyoak, 1996) und die anschließend in einem Durchgang erreichte Steuerungsleistung (Problemlösegüte, PLG; Funke, 1992).

Zur statistischen Auswertung wurden Varianzanalysen mit Messwiederholung verwendet und die Interaktion Gruppe x Zeit mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von α < .05 geprüft.

Zu Beginn des Schuljahres zeigten sich zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe keine signifikanten Unterschiede bezüglich der untersuchten abhängigen Variablen. Über die drei Messzeitpunkte hinweg entwickelten sich die Schüler:innen der Versuchsgruppe signifikant besser in Bezug auf das Systemwissen (F1,91;2640,03 = 41.9**, partielles η2=.029), die Systematizität (F1,40;2671,68 = 12.3**, partielles η2 = .009) und die Steuerungsleistung (F1,91;2626,85 = 13.2**, partielles η2=.010).

Mit den in diesem Beitrag berichteten Befunden ist es damit nach unserer Kenntnis zum ersten Mal gelungen, empirisch nachzuweisen, dass ein am Konzept des Computational Thinking orientiertes Lernangebot die Fähigkeit zum komplexen Problemlösen fördern kann. Der Ansatz des Computational Thinking hat sich in dieser Hinsicht bewährt. Dies kann als ein weiterer Hinweis darauf gedeutet werden, dass sich die Implementation entsprechender Lernangebote mit Blick auf die kognitive Entwicklung der teilnehmenden Schüler:innen lohnt.

 
13:10 - 14:505-18: Schulischer Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen
Ort: S22
 
Paper Session

Schulische Demokratiebildung vor dem Hintergrund unterschiedlicher inklusiver Rahmenbedingungen

Cornelia Gresch, Annika Francke, Lena Külker

Humboldt-Unversität zu Berlin, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Demokratiebildung ist ein zentrales Anliegen schulischer Bildung, welches zudem eng mit schulischer Inklusion assoziiert ist. Hintergrund ist eine gemeinsame Wertebasis, wobei insbesondere gleichberechtigte Teilhabe als verbindendes Element der beiden Ansätze gilt (z. B. Gerdes et al., 2015). Weiterhin wird in Artikel 24 Absatz 1 der UN-BRK als Ziel eines inklusiven Bildungssystems die Achtung vor den Menschenrechten formuliert – einem bedeutsamen Merkmal von Demokratie. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Kopplung zwischen schulischer Inklusion und Demokratiebildung annehmen. Die Art und Weise, wie Demokratiebildung im Schulkontext vermittelt wird, wird dabei häufig durch die Dimensionen der Bildung über, durch und für Demokratie beschrieben (z. B. Edelstein, 2015). Eine explizite Untersuchung aller drei Dimensionen wurde bisher nicht vorgenommen. Gleichfalls ist bisher nicht erforscht, ob Demokratiebildung an Schulen mit ausgewiesener inklusiver Schwerpunktsetzung in höherem Maße stattfindet als an anderen Schulen. Inwiefern Demokratiebildung umgesetzt wird, wird dabei häufig über Befragungen der Lehrkräfte oder der Schüler*innen erfasst. Dabei zeigen verschiedene Studien, dass Lehrkräfte pädagogische Praktiken in Schulen häufig etwas positiver bewerten als die Schüler:innen (z. B. den Brok et al., 2006). Dies kann möglicherweise u. a. darauf zurückgeführt werden, dass die Planungsprozesse und Überlegungen der Lehrkräfte von den Schüler:innen zum Großteil nicht wahrgenommen werden.

Fragestellung

Der Beitrag untersucht, wie Schüler:innen und Lehrkräfte Demokratiebildung an ihren Schulen wahrnehmen, inwiefern inklusive Rahmenbedingungen mit den Wahrnehmungen von Demokratiebildung zusammenhängen und ob sich Unterschiede in diesen Zusammenhängen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen abzeichnen.

Methode

Datengrundlage bildet eine bundesweite Längsschnittstudie, die im Rahmen des Projekts „INSIDE – Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland“ erhoben wurde. Dabei wurden in Klassenstufe 7 Schüler:innen (N = 1,572) und Lehrkräfte (N = 487) gebeten, einzuschätzen, inwiefern an ihrer Schule Demokratiebildung umgesetzt wird. Zudem liegen über die Schulleitungen umfassende Informationen zu den inklusiven Rahmenbedingungen vor. Dabei wurden angelehnt an die Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung (QU!S) fünf Ebenen einbezogen: „Kinder/Jugendliche“, „Unterricht“, „Team“, „Schulkonzept“ und „Vernetzung“. Fehlende Werte wurden in Stata mit MICE imputiert (van Buuren et al. 1999; Royston, 2004). Für die Analysen wurden Regressionsanalysen unter Einbeziehung der Mehrebenenstruktur berechnet.

Ergebnisse

Die Auswertungen zeigen, dass Lehrkräfte die Demokratiebildung höher einschätzen als die Schüler:innen, wenngleich grundsätzlich in beiden Gruppen und für alle drei Formen der Demokratiebildung (über, durch und für) eine hohe Zustimmung zur Umsetzung vorliegt. Für die verschiedenen Ebenen inklusiver Rahmenbedingungen bestehen nahezu durchgehend positive Effekte auf alle drei Formen der Demokratiebildung. Nur das inklusive Schulkonzept hängt nicht positiv mit der wahrgenommenen Bildung durch Demokratie zusammen. Eine differenzierte Betrachtung der Zusammenhänge für Schüler:innen und Lehrkräfte zeigt, dass teilweise sowohl Unterschiede in den Effekten als auch zwischen den verschiedenen Formen der Demokratiebildung vorliegen: Beispielsweise spielt die Vernetzung auf Schulebene bei den Lehrkräften kaum eine Rolle mit Blick auf ihre Wahrnehmung von Demokratiebildung. Gleichfalls spielen die verschiedenen inklusiven Rahmenbedingungen nur eine geringe Rolle bei der Wahrnehmung der Schüler:innen von Bildung durch Demokratie. Zudem sind die Effekte von der (inklusiven) Unterrichtsebene und der Teamebene auf die Bildung durch Menschenrechte bei Lehrkräften höher als bei Schüler:innen.

Diskussion

Die Befunde zeigen, dass Schulen, die sich auf den Weg einer vertiefenden Umsetzung von Inklusion gemacht haben, gleichzeitig auch einen Beitrag zu einer verstärkten Demokratiebildung leisten. Und zwar auf allen Ebenen: der Bildung über, durch und für Demokratie. Gleichzeitig weisen die Unterschiede zwischen Schüler:innen und Lehrkräften darauf hin, dass die Lehrkräfte eine höhere Wahrnehmung der Umsetzung von Demokratie in den Schulen haben als die Schüler:innen. Dies könnte auch mit den größeren Handlungsspielräumen der Lehrkräfte zusammenhängen.



Paper Session

Schüler*innen als mündige Bürger*innen des 21. Jahrhunderts – Förderung der Fähigkeit des kritischen Denkens im Fachunterricht

Dominik Schlüter1, Maike Hagena2, Michael Besser1, Dominik Leiss1

1Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland; 2Leibniz Universität Hannover, Deutschland

Theorie. Die Unterstützung der Entwicklung junger Menschen zu mündigen Bürger*innen ist zentraler Bildungsauftrag von Schule (European Commission, 2019). Neben dem Aufbau fachlicher Kompetenzen sollen Schüler*innen hierzu insbesondere auch die Fähigkeit des kritischen Denkens (Lai, 2011) als Bestandteil von „21st-Century-Skills“ (Voogt & Roblin, 2010) erwerben. Kritisches Denken wird dabei als Form der reflektierten Begründung von Handlungen im Lebensalltag verstanden und umfasst insbesondere den Prozess der Entscheidungsfindung (decision making), also des (Aus-)Wählens/Abwägens von „besten“ oder „hinreichend guten“ Handlungsoptionen unter bewusster Berücksichtigung eines (erheblichen) Umfangs an Informationen und/oder Argumenten (Amgoud & Prade, 2009). Aus theoretischer Sicht kommt hier (auch) dem Mathematikunterricht in der Schule eine entscheidende Rolle zu, denn dieser soll Schüler*innen unterstützen, Entscheidungsfindungen zu alltagsbezogenen Problemstellungen unter Rückgriff auf mathematikhaltige Informationen/Argumente (bspw. Daten, Diagramme, usw.) reflektiert zu begründen (Böhm et al., 2020). Es ist jedoch unklar, welche mathematikhaltigen Informationen/Argumente Schüler*innen beim Bearbeiten alltagsbezogener Problemstellungen tatsächlich zur Entscheidungsfindung heranziehen (Status Quo) und wie genau der Aufbau so verstandener Fähigkeiten des kritischen Denkens im Mathematikunterricht erfolgreich unterstützt werden kann (Entwicklung). Ein möglicher Zugang zur Entwicklungsfrage scheint zu sein, mittels fachübergreifender Lernangebote mit sprachlicher und mathematischer Förderung die Fähigkeit der Entscheidungsfindung als Momentum kritischen Denkens aufzubauen (Hagena et al., 2017).

Forschungsfragen. Die Studie greift aufgezeigtes Forschungsdesiderat auf und adressiert zwei Forschungsfragen: (FF1–Status Quo) Ziehen Schüler*innen bei der Bearbeitung alltagsbezogener Problemstellungen zur Entscheidungsfindung mathematikhaltige Informationen/Argumente (erfolgreich) heran? (FF2–Entwicklung) Greifen Schüler*innen vermehrt (erfolgreich) auf mathematikhaltige Informationen/Argumente bei der Entscheidungsfindung zurück, wenn diese an einem fächerübergreifenden Lernangebot mit sprachlicher und mathematischer Förderung teilnehmen?

Methode. Im Rahmen des Forschungsprojekts FASAF (Mercator-Institut; Projektleitung: Neumann, Leiss, Schwippert) haben von November 2014 bis April 2015 insgesamt N=420 Schüler*innen der Jahrgangsstufe 7 an einer sich über 16 Wochen erstreckenden Interventionsstudie zum Aufbau der Fähigkeit der Entscheidungsfindung teilgenommen. Neben einer Wartekontrollgruppe (WKG; n=244) wurden die Schüler*innen entweder einer Experimentalgruppe A (EG-A; integrierte sprachliche/mathematische Förderung; n=85) oder einer Experimentalgruppe B (EG-B; separierte sprachliche/mathematische Förderung; n=91) randomisiert parallelisiert (kontrolliert u. a. für mathematische Leistung) zugeteilt. Inhaltlich fand eine Auseinandersetzung mit alltagsbezogenen Problemstellungen in Form klassischer Entscheidungssituationen (Beispiel: „Lohnt sich der Kauf einer Dauerkarte im Vergleich zum Kauf von Einzelkarten?“) mit explizitem Fokus auf Möglichkeiten des Rückgriffs auf sowohl sprachliche als auch mathematikhaltige Informationen/Argumente statt. Die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung wurde im Pre-Post-Design mittels eines neu entwickelten Testinstruments erfasst (interne Konsistenz = .90). Analysen zu deskriptiven Werten (FF1) als auch zu Veränderungen bzw. Effekten (FF2) erfolgen mittels SPSS27.

Ergebnisse. (FF1) Vor Beginn der Intervention greifen Schüler*innen bei der Entscheidungsfindung in alltagsbezogenen Problemsituationen allein in 40% der Fälle auf mathematikhaltige Informationen/Argumente zurück. Wenn Schüler*innen dies tun, dann ist ein solches Vorgehen jedoch oftmals nicht erfolgreich. (FF2) Ein erheblicher Anteil der Schüler*innen verändert durch die Intervention die Art der Entscheidungsfindung (37% der Schüler*innen nutzen im Posttest mathematikhaltige Informationen/Argumente, obwohl sie dies im Pretest nicht getan haben). Varianzanalysen mit Messwiederholung (Faktor Zeit) und den verschiedenen Bedingungen (Faktor Gruppe) belegen einen Effekt der Zeit (Eta-Quadrat=.25; p<.001), der Gruppe (Eta-Quadrat=.07; p<.05) sowie einen Interaktionseffekt von Zeit und Gruppe (Eta-Quadrat=.19; p<.001) auf den Erfolg solcher Entscheidungsfindungen. Am stärksten wird dieser Erfolg der Entscheidungsfindung durch die Zugehörigkeit zu EG-A beeinflusst, ein Effekt der WKG liegt nicht vor.

Diskussion. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Schüler*innen bei der Entscheidungsfindung zu alltagebezogenen Problemen nur bedingt mathematikhaltige Informationen/Argumente (erfolgreich) berücksichtigen. Eine integrierte sprachliche und mathematische Förderung kann hier eine Entwicklung der Schüler*innen unterstützen. Mit Blick auf das Ziel von Schule, junge Menschen zu mündigen Bürger*innen zu erziehen und in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Fähigkeit des kritischen Denkens im Allgemeinen sowie der reflektierten und bewussten Entscheidungsfindung (decision making) im Speziellen zu fördern, sind diese Ergebnisse für den Aufbau von 21st-Cetury-Skills durch schulischen Fachunterricht zu diskutieren.



Paper Session

Gymnasien zwischen cancel culture und Konformismus? Eine Standortbestimmung

Anna Roßmann, Christine Sälzer

Universität Stuttgart, Deutschland

Theoretischer Hintergrund:

Der Begriff cancel culture beschreibt das Bestreben, soziale Akteure kategorisch auszuschließen, weil diese sich auf eine Weise verhalten, die als moralisch verwerflich empfunden wird. Auch geht es darum, Dinge aus moralischen Gründen aus ihrem Verwendungszusammenhang zu entfernen. Die schulische Relevanz von cancel culture ist ein Forschungsfeld im Entstehen. Erste Annäherungen untersuchen, inwiefern das Canceln Bildungsprozesse negativ tangiert (Appleman, 2022; Gordon, 2022; Obiols-Suari et al., 2022). Besagte Forschung basiert auf einem normativen Wahrheitsbegriff und zielt auf Werturteile.

Fragestellung:

In der Studie, auf der dieser Vortrag gründet, nehmen wir von dem normativen Wahrheitsbegriff und den Werturteilen Abstand und nähern uns von einer anderen Warte. Wir legen den Fokus auf eine empirisch-beschreibende Sicht mit der Frage, inwiefern sich cancel culture im Bildungsbereich – genauer: an deutschen Gymnasien – tatsächlich ereignet: In welchem Ausmaß wird cancel culture wahrgenommen? Sind tatsächliche Begebenheiten die Grundlage, sich mit ihr zu beschäftigen? Oder erwächst dies aus einer alarmierten gesellschaftlichen Debatte (Daub, 2023)? Beziehen sich Vorkommnisse auf Unterrichtsmaterialien oder auf schulangehörige Personen? Beeinflussen eine etwaige cancel culture oder das schlichte Reden über sie das Handeln schulischen Personals? Gibt es Befürchtungen, dass derartige Vorfälle zunehmend auftreten könnten? Zu diesen Fragen liegen bis dato keine wissenschaftlichen Studien vor.

Methode:

Den metatheoretischen Rahmen für unsere Forschungsarbeit bildet die Phänomenologie in der Tradition von Alfred Schütz (Schütz, 1971, 2016). In der Folge treffen wir so wenige theoretische Vorannahmen wie möglich. Ferner muss gewährleistet sein, so nah wie umsetzbar an die sozialen Interaktionen und Sinnzuschreibungen heranzutreten, die eine etwaige cancel culture beschreiben. Dies erreichen wir mittels leitfadengestützter, explorativer Experteninterviews (Helfferich, 2022). Dabei sind die Experten schulische Lehrkräfte an deutschen Gymnasien, die ihre Wahrnehmungen schildern. Das Sampling ist in der Tendenz offen, mit dem Ziel, die Vielfalt des wenig erforschten Gegenstands zu erfassen (Akremi, 2022, S. 408 ff.). Dabei befragen wir in mehreren Tranchen, bis eine theoretische Sättigung erreicht ist (Glaser & Strauss, 2010). Der Feldzugang erfolgt zum einen über Schulleitungen, zum anderen über das Schneeballprinzip (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2021, S. 82 f.). Die Daten werten wir mit Hilfe der dokumentarischen Methode aus (Nohl, 2012, S. 1 ff.; Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2021, S. 348 ff.).

Ergebnisse und ihre Bedeutung:

Die Befragungen lassen bisher auf sehr wenige Fälle einer ausgeprägten cancel culture schließen. Vergleichsweise gehäufter ist ein moralischer Absolutismus, der nicht auf den konkreten Ausschluss von Personen oder Materialien gerichtet ist. Beides scheint sich in der Wahrnehmung der Befragten in den letzten fünf Jahren an vielen, wenngleich nicht an allen interviewten Schulen verstärkt zu haben. Themen sind Rassismus, Diskriminierung in Bezug auf Geschlecht sowie sexuelle Orientierung und, hervorstechend, die Religion. Daneben gibt es unter Schülern ein auffallendes moralisches Laisser-faire und konformistische Tendenzen. Die Lehrkräfte sehen in Vorkommnissen von cancel culture und der genannten Vorstufe einen didaktischen Anlass für Demokratiebildung – zeigen also eher einen konfrontierenden anstelle eines vermeidenden Stiles. Die sich andeutende Typologie wird bis zur GEBF differenziert herausgearbeitet sein.

Die Ergebnisse sind aus mehreren Gründen relevant für Bildungsforschung und Schulpraxis: Ein wesentliches Merkmal von cancel culture ist, dass ihre Akteure den Korridor des Sagbaren verengen (möchten). Das berührt den zentralen demokratischen Wert der Meinungsfreiheit (Frick, 2023; Tappe, 2022) und somit auch den schulischen Bildungsauftrag. Denn: In Deutschland sind Schulen per Gesetz verpflichtet, Schüler im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erziehen (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland, 2023). Über die Rekonstruktion der Frage, inwieweit Lehrkräfte im schulischen Umfeld das Phänomen der cancel culture wahrnehmen, stellen wir eine Theorie auf, die anschlussfähig ist für Demokratieerziehung und weiterführende Forschung.

Die Auswertung ist momentan vorangeschritten. Zur GEBF wird die Studie abgeschlossen sein.



Paper Session

„Wenn die Welt Fieber hat, haben wir auch Fieber!“ – Grundschulkinder diskutieren über den Klimawandel

Sarah Désirée Lange2, Lisa Gutschik1

1Universität Bamberg; 2Technische Universität Chemnitz

Kinder verfügen über vielfältige Erfahrungen und Kenntnisse der globalisierten Welt. Dabei haben sie individuelle Interessen und Überzeugungen, die zwischen Zukunftsfreude und Resignation oszillieren und ihre Vorstellungen beeinflussen. Diese Vorstellungen zu kennen, ist für die Gestaltung von Unterricht bedeutsam, um dem grundschuldidaktischen Prinzip des Lebensweltbezugs nachzukommen und um Kinder dabei zu unterstützen, ihre Vorstellungen zu validieren, zu überarbeiten und zu erweitern (vgl. Adamina et al., 2018).

Die querschnittliche Verankerung der ‚Bildung für Nachhaltige Entwicklung‘ zählt zu den übergreifenden Erziehungs- und Bildungszielen der Grundschule. Im Sinne der Gestaltungskompetenzen nach Bormann und de Haan (2008) sollen Kinder befähigt werden, die Umwelt aktiv und nachhaltig zu prägen. Dabei sollte bedacht werden, dass Kinder über Wissen über Umweltbelange verfügen und sich mit Klimabewegungen, sowie Umwelt- und Klimaschutz beschäftigen (BMUV, 2022). Demzufolge muss Grundschulkindern, die Möglichkeiten gegeben werden, sich forschend mit der Welt auseinanderzusetzen und selbsttätig Gestaltungskompetenzen zu erlernen, die z.B. Umbrüche im ökologischen Bereich möglich machen (Stoltenberg, 2008).

Die vorhandenen Studien zeigen, dass Umwelt- und Tierschutz zu Themen gehören, die Kinder interessieren (Melchert, 2014; Lüschen, 2015). Wie sich ihre Sicht zu Nachhaltigkeitsthemen und zum Klimawandel beschreiben lässt, bleibt dabei aber weitgehend unbeleuchtet. Gaubitz (2018) zeigt, dass Kinder ökologische Wertorientierungen aufzeigen und auch in der ‚Göttinger Kinderdemokratie‘-Studie (Blöcker & Redlich, 2021) machen Kinderzeichnungen das Selbstverständnis, mit dem Grundschulkinder sich mit Umwelt- und Klimaproblemen auseinandersetzen deutlich.

Mit der X-Studie (X), wird untersucht, welche Vorstellungen Grundschulkinder zum Klimawandel haben. Hierzu wurden fünfzehn Gruppendiskussionen mit Kindern im Alter von fünf bis elf Jahren durchgeführt und inhaltsanalytisch mit induktiv-deduktiver Kategorienbildung (Mayring, 2022) ausgewertet. Die Kindergespräche wurden mit zwei Impulsen strukturiert. Der Eingangsimpuls umfasste einen Videoausschnitt, einer ‚Fridays for Future‘-Demonstration, welcher im Verlauf der Diskussion durch visuelle Bildimpulse ergänzt wurde.

Die Ergebnisse zeigen, wie dieses gesellschaftlich und wissenschaftlich präsente Thema – welches von Cross & Congreve (2021) als „super wicked problem“ bezeichnet wird – die Lebenswelt von Grundschulkindern prägt. Die Auswertungen präsentieren breit gefächerte Vorstellungen, welche sich in vier zentrale Bereiche konzentrieren:

(1) Kennzeichen des Klimawandels (z.B. CO2-Ausstoß & Treibhauseffekt; Erderwärmung; Menschliches Handeln als (Teil-)Ursache des Klimawandels: „Und für den Klimawandel können wir Menschen auch sehr viel.“; GD Giraffe, Z. 72-72);

(2) Folgen des Klimawandels (Folgen für Tiere; Folgen für Menschen; Folgen für Natur und Umwelt („Und immer wenn der Klimawandel schlimmer wird regnet es lange Zeit nicht und dann regnet es einmal so stark dass alles vollschwemmt wird“; GD Jaguar, Z.246-248).

(3) Umgang mit Folgen des Klimawandels (verändertes Verhalten bezüglich der Energieversorgung; verändertes Verhalten im Hinblick auf Mobilität; Umgang mit Müll („Und vielleicht in ein paar Jahren, wenn man dann im Meer schwimmen will, dann schwimmt man halt im Müll“; GD Adler, Z. 312-313).

(4) Perspektiven auf die eigene Zukunft und die von nachfolgenden Generationen. (Perspektivlosigkeit und Resignation; Auseinandersetzung mit der Bedrohung durch Krieg („ja, weil es ist ja auch so, wenn man, wir haben halt nur die Erde halt, was er auch gesagt hat, aber wenn wir die jetzt vollkommen verschmutzen, dann haben wir die ja gar nicht mehr. Also dann bringt es ja eigentlich gar nichts mehr, dass wir auf der Erde leben.“; GD Adler, 16-18.).

Die Ergebnisse werden auch forschungsethisch und methodisch reflektiert: Zum einen dahingehend wie Kindervorstellungen anhand des Gruppendiskussionsverfahrens erfasst und analysiert werden können und zum anderen, wie mit dem Grundsatz umgegangen werden kann, dass Kinder als kompetente Gesellschaftsmitglieder anzusehen sind (vgl. Heinzel, 2000).

Die bedeutende Rolle von Nachhaltigkeitsthemen im Lebensbereich von Grundschulkindern, die mit den vorliegenden Ergebnissen untermauert wird, weist auf die Brisanz und Aktualität einer notwendigen grundschulpädagogischen Auseinandersetzung hin (vgl. Luschin-Ebengreuth & Feyta, 2020; Wulfmeyer, 2020).

 
15:20 - 17:006-18: Klassenführung
Ort: S22
 
Paper Session

Die mediierende Rolle von sozialen Beziehungen zwischen der wahrgenommenen Klassenführung und der Einstellung von Schüler:innen gegenüber der Schule

Ramona Obermeier1, Juliane Schlesier2, Karin Heinrichs3

1Johannes Kepler Universität Linz, Österreich; 2Universität Vechta, Deutschland; 3Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Österreich

Theoretischer Hintergrund

Der positiven Einstellung der Schüler:innen gegenüber der Schule kommt eine zentrale Rolle für eine gelingende Anpassung an die schulischen Anforderungen zu (Longobardi et al., 2021; Thornberg et al., 2022). Sie ist außerdem eine wesentliche Komponente des schulischen Wohlbefindens (Schürer et al., 2021) und nimmt über die Schullaufbahn hinweg besonders stark ab (Kleinkorres et al., 2023; Obermeier & Gläser-Zikuda, 2022). Für die Entstehung und Aufrechterhaltung des schulischen Wohlbefindens und damit auch der positiven Einstellung gegenüber der Schule ist die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse nach sozialer Eingebundenheit, Kompetenz- und Autonomieerleben zentral (Deci & Ryan, 2012). Dies untermauern bisherige Studien, welche zeigen, dass sozial besser eingebundene Schüler:innen mehr Wohlbefinden erleben und die Schule eher positiv wahrnehmen (Borgonovi & Pál, 2016; García-Rodríguez et al., 2023; Li, 2021). Qualitativ hochwertiger Unterricht kann ebenfalls zur Befriedigung der drei Grundbedürfnisse beitragen. Dabei lässt sich vor allem die Klassenführung hervorheben, da diese unter anderem die effektive Lernzeitnutzung und das soziale Miteinander fördert (Longobardi et al., 2021). Eine effektive Klassenführung wirkt direkt auf das schulische Wohlbefinden und dessen Dimensionen (Obermeier et al., 2022; Raufelder & Kulakow, 2021). Dies trifft ebenfalls auf die Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung - auf Individual- und Klassenebene (Schürer et al., 2021) - sowie Peer-Beziehungen (Borgonovi & Pál, 2016) zu. Ferner ist belegt, dass effektive Klassenführung das Sozialverhalten der Schüler:innen fördern kann (Longobardi et al., 2021). Dies impliziert eine Mediation des Zusammenhangs zwischen Klassenführung und Einstellung zur Schule über die wahrgenommenen sozialen Beziehungen, die in bisherigen Studien bislang nicht untersucht wurde.

Fragestellung

Im Rahmen der durchgeführten Studie wird daher die folgende Fragestellung adressiert: Mediiert die Qualität der Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung und der Peer-Beziehungen (gemessen auf Individual- und Schulebene) den Zusammenhang zwischen schüler:innenperzipierter Klassenführung (auf Individual- und Schulebene) und positiver Einstellung der Schüler:innen zur Schule?

Methode

Für die Klärung der Fragestellung wurden im März-April 2022 N = 453 Neuntklässler:innen (Durchschnittsalter: M = 14.98, SD = 0.67, 36.1 % weiblich, 32.1 % mit Migrationshintergrund) in neun einjährigen Polytechnischen Schulen (PTS) in Oberösterreich online u.a. zu Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung (Bos et al., 2012), Peer-Beziehungen (Saldern & Littig, 1996), Einstellung zur Schule (Hascher, 2004) sowie ihrer Wahrnehmung der Klassenführung (Lenkse et al., 2013) (.71 ≥ α ≤ .85) befragt. Geschlecht, Migrationshintergrund und besuchter Fachbereich wurden kontrolliert. Nach der Gewichtung der Daten anhand von Angaben zu Geschlechterverteilung und Migrationsanteil an PTS in Oberösterreich von Statistik Austria wurde ein Mediationsmodell (RStudio, lavaan) gerechnet, dass sowohl direkte Zusammenhänge zwischen Klassenführung und Einstellung als auch indirekt über die sozialen Beziehungen mediierte Zusammenhänge dieser Variablen berücksichtigt. Aufgrund der genesteten Datenstruktur und hoher ICC1- und ICC2-Werte bei den Schüler:innenangaben zur Klassenführung (ICC1 = .14; ICC2 = .88) und zur Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung (ICC1 = .05; ICC2 = .68) wurden sowohl die Individual- als auch die Schulebene im Modell berücksichtigt.

Ergebnisse

Das Modell, das einen sehr guten Fit aufweist (χ2(19) = 62.45, p < .001; CFI = .97, TLI = .95, RMSEA = .07), deckt auf Individualebene folgende Zusammenhänge auf: Die Klassenführung hängt positiv mit der positiven Einstellung der Schüler:innen zur Schule zusammen (β = .29, p < .001). Es zeigen sich auch positive Zusammenhänge positiver Sozialbeziehungen mit der positiven Einstellung der Schüler:innen zur der Schule (Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung: β = .25, p < .001; Peer-Beziehung: β = .18, p < .001). Der Zusammenhang zwischen Klassenführung und positiver Einstellung wird über individuelle Einschätzung der Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung (β = .07, p < .001) und der Peer-Beziehungen (β = .05, p < .001) mediiert. Der totale Effekt liegt bei (β = .45, p < .001). Auf Schulebene bestehen keine signifikanten Zusammenhänge.

Damit zeigen die Analysen, dass nicht nur effektive Klassenführung allein dazu beiträgt, dass Schüler:innen eine positive Einstellung zur Schule haben, sondern dass positive soziale Beziehungen dies unterstützen können.



Paper Session

Wie fachspezifisch ist die professionelle Unterrichtswahrnehmung von Classroom Management bei Expertenlehrkräften aus den Fächern Biologie und Mathematik?

Rebekka Stahnke1, Marita Friesen2

1IPN - Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, Berlin; 2Pädagogische Hochschule Heidelberg

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung

Professionelle Unterrichtswahrnehmung beschreibt, wie Lehrkräfte Ereignisse im Unterricht wahrnehmen, wissensbasiert interpretieren und Entscheidungen für folgende Handlungen ableiten (Blömeke et al., 2015; Jacobs et al, 2010; Seidel & Stürmer, 2014). Sie gilt als bedeutsamer Aspekt von Lehrkräfteexpertise, der sich auf die fachlichen Leistungen von Schüler:innen auswirkt (Blömeke et al., 2022). Auch hinsichtlich des Klassenmanagements als zentraler Unterrichtsqualitätsdimension zeigen sich wesentliche Expertiseunterschiede bei der professionellen Wahrnehmung: Wenn Expert:innen Unterrichtsereignisse zum Klassenmanagement analysieren, fokussieren sie im Vergleich zu Noviz:innen mehr auf die Bedeutung der Ereignisse für das Lernen der Schüler:innen, berücksichtigen stärker relevante Kontexte, wie z.B. die Unterrichtsphase oder Sozialform und machen mehr Vorschläge für alternative Handlungsstrategien (Stahnke & Blömeke, 2021; Wolff et al., 2017). Während Expertise hinsichtlich der professionellen Wahrnehmung von Klassenmanagement bisher als eher fachunabhängig aufgefasst und untersucht wurde, legt die Unterrichtsqualitätsforschung zunehmend die Relevanz fachspezifischer Unterrichtsaktivitäten und Anforderungen auch für das Klassenmanagement nahe (Praetorius et al., 2020). Hieran anknüpfend untersucht dieser Beitrag explorativ, wie fachspezifisch die professionelle Unterrichtswahrnehmung von Klassenmanagement bei Expertenlehrkräften aus den Fächern Biologie und Mathematik ist.

Methode

Zur Untersuchung dieser Forschungsfrage wurden neun Biologielehrkräfte und elf Mathematiklehrkräfte untersucht. Alle Lehrkräfte hatten mindestens 5 Jahre Berufserfahrung (Mbio=16.33, SD=11.16; Mmath=19.91, SD=10.92) sowie Erfahrung in der Unterrichtsbeobachtung und in der Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte. Die teilnehmenden Expertenlehrkräfte betrachteten zwei Videosequenzen und markierten über Tastendruck für sie relevante Ereignisse zum Klassenmanagement. Anschließend wurden sie aufgefordert zu äußern, was sie über diese Ereignisse denken und was ihnen jeweils aufgefallen ist. Die Think-Aloud-Protokolle wurden transkribiert, in Kodiereinheiten unterteilt und hinsichtlich des Levels (wahrnehmen, interpretieren, entscheiden) und des Inhalts der Äußerungen (Schüler:innen, Lehrkraft, Kontext) mit zufriedenstellender Intercoderreliablität kodiert (Cohens Kappa > .77). Zunächst wurden die Codehäufigkeiten zwischen beiden Gruppen mit Hilfe non-parametrischer Mann-Whitney-U-Tests verglichen. Um mehr darüber zu erfahren, wie Lehrkräfte beider Fächer Klassenmanagementereignisse analysieren, wurden die kodierten Daten als Basis für Epistemische Netzwerkanalysen (ENA) genutzt, welche Zusammenhänge zwischen Codes quantifizieren und entsprechend Netzwerke visualisieren können (Shaffer et al., 2016; Shaffer & Ruis, 2017). Einheit der ENA waren die individuellen Lehrkräfte. Alle zu einem Tastendruck gehörenden Kodiereinheiten wurden als Stanza definiert, wobei die Whole-Conversation-Einstellung genutzt wurde.

Ergebnisse

Der Vergleich der Codehäufigkeiten zeigt tendenzielle Unterschiede zwischen den beiden Fächern: Biologielehrkräfte schlagen mehr Handlungsalternativen vor (U = 24.00, p = .056, d = 0.96) und thematisieren den Kontext von Klassenmanagementereignissen häufiger als Mathematiklehrkräfte (U = 23.50, p = .055, d = 0.99). Die epistemischen Netzwerke erreichen sehr gute Fitwerte (r > .98) und unterscheiden sich signifikant zwischen beiden Gruppen: Die Netzwerke der Biologielehrkräfte zeigen stärkere Verknüpfungen zwischen Aspekten des Kontexts und alternativer Klassenmanagementstrategien, sowie zu Äußerungen über unerwünschtes Schüler:innenverhalten. Bei den Mathematiklehrkräften hingegen zeigen sich stärkere Verknüpfungen zwischen Äußerungen zum konkreten Umgang der beobachteten Lehrkraft mit Störungen und positiven oder negativen Bewertungen dieses Störungsmanagements.

Diskussion

Insgesamt deuten die Ergebnisse der explorativen Studie darauf hin, dass es fachspezifische Charakteristika von Expertise hinsichtlich der Professionellen Wahrnehmung von Klassenmanagement gibt. Die Epistemischen Netzwerkanalysen legen nahe, dass Biologieexpert:innen bei Klassenmanagement stärker auf (alternative) Strategien zur Planung und Strukturierung von Unterricht achten. Solche Strategien können insbesondere bei Schüler:innenexperimenten in Fachräumen bedeutsam sein (Kwok, 2021; Praetorius, 2020). Mathematikexpert:innen hingegen berücksichtigen eher Strategien zum Umgang mit oder der Prävention von akutem unerwünschten Schüler:innenverhalten wie Störungen oder Unaufmerksamkeit. Insbesondere im Mathematikunterricht mit stärker kontrollierbaren Sozialformen und der Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit und das Verständnis der Schüler:innen in kurzen Intervallen zu überprüfen, können solche Strategien besonders relevant sein. Trotz der kleinen Stichprobe legen die Ergebnisse nahe, die bisher angenommene Fachunabhängigkeit der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Klassenmanagement zu überdenken. Zukünftige Forschung zu Anforderungen durch typische fachspezifische Aktivitäten oder Sozialformen im Unterricht könnte in diesem Kontext wichtige Hinweise für die Aus- und Fortbildung von Fachlehrkräften generieren.



Paper Session

Entwicklung und Validierung eines Video-Instrumentes zur Erfassung von Noticing von Lehrkräften bei salienten und nicht-salienten Unterrichtsstörungen

Maxie Kilbury, Anja Böhnke, Felicitas Thiel

Freie Universität Berlin, Deutschland

Eine frühzeitige Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen ist essentiell für einen guten Unterrichtsfluss und damit für die Erhöhung der aktiven Lernzeit für Schüler*innen. Lehrkräfte können durch eine frühzeitige Wahrnehmung von störungskritischen Ereignissen präventiv agieren oder zu einem möglichst frühen Zeitpunkt das Ereignis angemessen adressieren. Um frühzeitig solche relevanten Ereignisse wahrzunehmen, bedarf es Noticing -Kompetenzen (König et al., 2022; Scholten et al., 2020; van Es & Sherin, 2002). Die folgende Studie lehnt sich an Barth (2017) Verständnis von Noticing an, das den Prozess des Erkennens relevanter Unterrichtsmerkmale detailliert beschreibt. Noticing findet nach Barth (2017) in zwei Schritten statt. 1. die visuelle Wahrnehmung: Gelenkt wird die visuelle Wahrnehmung von der Aufmerksamkeit Diese wird entweder durch Reize oder Ziele gesteuert (Chun et al., 2011). Die reizinduzierte Aufmerksamkeit wird von Objektmerkmalen gesteuert und ist unabhängig von den eigenen Zielen. Saliente Merkmale haben einen großen Reiz und ziehen dadurch viel reizinduzierte Aufmerksamkeit auf sich. Die zielgesteuerte Aufmerksamkeit beschreibt die aufgrund eigener Ziele gerichtete Aufmerksamkeit und wird gesteuert von Erfahrungen, Wissen und eigenen Motiven. Zur Wahrnehmung nicht-salienter Ereignisse ist daher vor allem die zielgerichtete Aufmerksamkeit von Bedeutung, weil diese einen geringen Reiz ausstrahlen. Daraufhin folgt 2. das „Erkennen“ der wahrgenommenen Ereignisse: Dieser Prozess beschreibt das Filtern und die Verarbeitung der aufgenommenen Informationen. Die Basis hierfür stellt vor allem professionelles Wissen dar, weil es darum geht, Merkmale und Muster von Ereignissen (wieder) zu erkennen.

Expert*innen verfügen über gute Noticing-Kompetenzen (Bastian et al., 2022; D. Berliner, 1988; Grub et al., 2022; Kosel et al., 2023), das bedeutet, sie haben einerseits die Fähigkeit auch zielgerichtet wahrzunehmen und verfügen andererseits über bereits verinnerlichte Muster von störungskritischen Ereignissen aufgrund ihres professionellen Wissens und gemachten Lehrerfahrungen. Für NovizInnen ist Noticing jedoch eine Herausforderung (Barth & Thiel, 2018; D. C. Berliner, 1983; Huang et al., 2020; Stahnke & Blömeke, 2021). Besonders nicht-saliente störungskritische Ereignisse werden von Ihnen häufig übersehen (Schulden et al., 2019).

Um Noticing-Kompetenzen bereits bei Lehramtsstudierenden fördern zu können, haben wir zunächst 15 theoriebasierte Unterrichts-Clips produziert (Ophardt & Thiel, 2013; Thiel, 2016), die typische saliente und nicht-saliente Unterrichtsstörungen zeigen. Des Weiteren entwickelten und implementierten wir in die produzierten Video-Clips spezielle Video-Tools zur Erfassung von Noticing sowie ein automatisches Auswertungsraster. Abschließend haben wir das Video-Instrument anhand einer Stichprobe von ca. 200 Lehramtsstudierenden und zehn Expert*innen validiert.

Im Rahmen der Validierungsstudie erhielten die Lehramtsstudierenden einen theoretischen Input zum Thema Klassenmanagement und dem Umgang mit Unterrichtsstörungen. Anschließend wurden die Video-Clips in einer randomisierten Reihenfolge von den Lehramtsstudierenden und Expert*innen bearbeitet.

Die Validierung erfolgte in zwei Schritten: 1. Inhaltlich wurden die Video-Clips anhand der Qualitätskriterien authenticity, engaging, challenging und relevant (Kilbury et al., 2023; Kim et al., 2006; Piwowar et al., 2017) validiert. 2. Die Erfassung von Noticing wurde mit einem Expert*innen-Noviz*innen-Vergleich anhand der Hypothese überprüft: Expert*innen erkennen mehr störungskritische Ereignisse als Studierende. Die Ergebnisse werden aktuell deskriptiv, mit t-Tests und Korrelations-Analysen untersucht und ausgewertet. Die Ergebnisse werden diskutiert.

 
Datum: Mittwoch, 20.03.2024
9:00 - 10:407-18: Methodische Entwicklungen in der empirischen Bildungsforschung
Ort: S22
 
Paper Session

Examining the Analytic Reproducibility of Secondary Data Analyses in Educational Research

Aishvarya Aravindan Rajagopal, Aleksander Kocaj, Malte Jansen

Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Humboldt-Universität zu Berlin

Theoretical background and research questions

Evaluating the reproducibility of research findings is an important step in ensuring sound, efficient, and trustworthy research. There are different approaches to assessing the reproducibility of published results (i.e., the numerical correctness and consistency), depending on whether the data and the analytic code are available (Hardwicke et al., 2018, 2021; Laurinavichyute et al., 2022; Stodden et al., 2018). We use the term analytic reproducibility to refer to re-analyzing published results by an independent research team using the same dataset and applying the same statistical analyses, but without the original code. Using a similar approach, Artner et al. (2021) examined the analytic reproducibility of 46 articles from three psychology journals published in 2012. Overall, they could reproduce 70% (n = 163) of the 232 key statistical claims in the articles. However, the authors described the reproduction process as laborious and time-consuming, involving a lot of trial and error, which was exacerbated by vague documentation of data processing and data analyses in the original manuscripts.

Our study aims to examine the reproducibility of research based on secondary data analysis in education. The project is part of the priority program "META-REP: A Meta-scientific Programme to Analyse and Optimise Replicability in the Behavioural, Social, and Cognitive Sciences," funded by the German Research Foundation (DFG). We aim to test the reproducibility of results from papers based on large-scale school assessment data that are available at the research data centre of the Institute for Educational Quality Improvement (e.g. the data from national and international large-scale assessments in Germany). Between 2012 and 2022, there were 82 publications in peer-reviewed journals based on these datasets.

Method

We selected a sample of 30 articles from those publications to reproduce. Sample selection was based on the reproduction teams’ expertise and familiarity with the research topics, datasets, and statistical methods, which might positively bias our reproduction estimates. Each of the 30 selected articles will be reproduced by a researcher who leads the reproduction (the reproducer). Based on previous research, we anticipate that at least 60% of the central claims should be reproducible (Artner et al., 2021; Hardwicke et al., 2018; Hardwicke et al., 2021).

In the first step of reproduction, key information from the paper will be identified and entered into a template developed for this study. Then, there will be a stepwise reproduction effort, which starts with a trial-and-error phase. Reproduction success will be determined based on the difference between the original and reproduction numerical values associated with the central claims (e.g., regression coefficients, standardized mean differences, correlation coefficients). We will differentiate three levels of reproduction: Precise reproduction (original values and reproduction values match), approximate reproduction (≤10% difference in the estimates between original study and reproduction effort), and non-reproduction (>10% difference between original and reproduction values). When initial results fall under non-reproduction, we will seek author assistance as a next step. The reproduction will be reiterated when the required information is made available to obtain the conclusive outcome.

In the proposed presentation, we will present our study design, template, and the first results of our reproduction efforts. Furthermore, we will discuss multiple error sources of our reproduction approach (e.g., deviations between the analysis code of the original researchers and our interpretation of this code based on the description in the paper). Our results might provide hints on improving the description of the research process (e.g., recommendations for reporting that aid the reproduction of results; Artner et al., 2021).



Paper Session

Heating Up! Using the MAGMA Algorithm to Balance out Complex Study Designs in Educational Field Research

Julian Urban1,2, Markus Daniel Feuchter1, Franzis Preckel1

1Universität Trier; 2GESIS - Leibniz Institut für Sozialwissenschaften

Theoretical background

Many studies in educational contexts are observational without the possibility to randomize study participants. To deal with the resulting lack of experimental control, propensity score matching (PSM; Rosenbaum & Rubin, 1985) has become a common procedure of post-hoc balance control in educational research. It allows accounting for systematic differences in baseline characteristics (i.e., covariates) between treated and untreated subjects by matching them individually, based on a distance measure (i.e., the propensity score; PS).

However, current PSM applications have several limitations. First, PSM is restricted to two-group designs. Secondly, within common matching packages (e.g., MatchIt, Ho et al., 2011), different matching solutions must be extracted and compared successively. Thirdly, beyond comparing pairwise standardized mean differences (i.e., Cohen’s d), a comprehensive framework for evaluating the post matching balance in covariates (i.e., the matching quality) is missing.

To address these limitations, we developed the Many-Group Matching (MAGMA) algorithm and the MAGMA R package (Urban et al., 2023a). MAGMA uses a systematic nearest neighbor matching approach leading to one unambiguous matching solution that can be produced for two or more groups. Furthermore, we developed a balance estimation framework using four balance criteria, namely Pillai’s Trace, d-ratio, mean g, and adjusted d-ratio (Feuchter et al., 2023, Urban et al., 2023b), embedded in the MAGMA package.

Research question

The aim of this study was to (1) validate MAGMA using a two- and a three-group example and to (2) compare matching solutions for the two-group example produced by MAGMA and MatchIt side-by-side.

Methods

We used two data sets taken from longitudinal educational studies conducted in German schools. Data Set 1 (N = 914 five graders, Mage = 10.53 years, SDage = 0.55 years, 41% female) was used as two-group example. The grouping variable coded the differentiation of regular classrooms (RC, n = 631) and gifted classrooms (GC, n = 283). We considered 13 covariates including demographics, achievement tests, IQ-scores, and questionnaire scales (e.g., need for cognition).

Data Set 2 (N = 1,238 five graders, Mage = 10.11 years, SDage = 0 .58 years, 46% female) was used as three-group example. We grouped the students using an IQ-range variable (1 = IQ ≤ 106, n = 453; 2 = 106 < IQ ≤ 115, n = 391; 3 = IQ > 115, n = 394). We considered 32 covariates covering similar constructs as for the two-group example.

We conducted all analyses using R (4.1.2; R Core Team, 2021) and matched the data based on PSs estimated in twang (Ridgeway et al., 2015) using either MatchIt (Ho et al., 2011) or MAGMA (Urban et al., 2023). We extracted respective matching solutions and examined their quality by our four balance criteria. Additionally, we compared the balance criteria for the MatchIt and MAGMA solutions of the two-group example.

Results and discussion

For the two-group example, both algorithms reduced the effects of covariates significantly (e.g., all pairwise effects smaller than |d| < 0.20; Pillai’s Trace reduced from V = .41 to V < .05). However, MAGMA achieved comparable or better balance and produced a higher post-matching sample size than MatchIt. Moreover, MAGMA was able to find a well-balanced solution in the three-group example (e.g., reduced Pillai’s Trace from V = .26 to V = .06). Thus, we found first evidence for the usefulness of MAGMA, which we plan to extend by presenting results with simulated data.

MAGMA does not only address drawbacks of PSM but expands current algorithms to three-groups, four-groups, and 22 designs. This enables applicants to approximate causal inference within more complex, non-randomized research designs in education.



Paper Session

Intensive Longitudinal Methods in School Research: A Systematic Literature Review

Carina Schreiber1, Michael Becker1,2

1TU Dortmund, Deutschland; 2Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), Deutschland

Everyday school life is full of dynamic processes: Students’ emotional and cognitive experiences in the classroom, teacher-student and peer interactions, individual learning processes, changing contexts in different classes, and different teachers and their individual instructional behaviors, to name but a few. These dynamic processes have crucial effects on central factors in the school context such as students’ educational success (Blume et al., 2022), quality of instruction (Janna et al., 2019; Järvinen et al., 2022), or teachers’ well-being (Aldrup et al., 2017; Jõgi et al., 2023). To capture the dynamics of everyday school life, cross-sectional or longitudinal methods do not suffice; researchers have to zoom in on students’ and teachers’ experiences on a finer level. Intensive longitudinal methods such as the Experience Sampling Method, daily diaries, or ambulatory assessments allow researchers exactly that. Over the span of days or weeks, intensive longitudinal studies repeatedly inquire their subjects about their experiences, emotions, cognitions, and behavior as they occur in everyday life. As such, the method allows for innovative ways of data collection and can literally open researchers the door to the classroom and the dynamic processes behind it, opening new approaches for descriptive and causal analyses. With all their benefits and possibilities, it is no surprise that in recent years intensive longitudinal methods have vastly grown in popularity (Kirtley et al., 2021) and have become of interest to various research fields. The design and implementation of these studies, however, require special consideration as they differ from common, more established research methods and might confront researchers new to the method with unknown difficulties. Considering that school research rather recently became aware of the methods’ potential (Zirkel et al., 2015), it is unclear where and how the field is applying intensive longitudinal methods. Furthermore, other research fields, in which these methods have been long established, were still shown to report the method incompletely and to miss rationales for methodological choices (Trull & Ebner-Priemer, 2020) posing a substantial problem for the quality and replicability of research.

The aim of this contribution is to gain a systematic overview of the use of ESM in school research and to point out possibly existing shortcomings and threads in their (reporting of) methodological choices and rationales. We further aim to raise awareness of the central role of appropriate methodological choices and consistent, accurate, and transparent reporting of these choices for the quality and replicability of research and their implication for interpretation. Finally, the present review shall unify and guide the construction of future ESM studies and articles and support school research in making use of the method’s full potential.

This Systematic Literature Review was conducted in line with the Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses (PRISMA; Moher et al., 2009). Accordingly, the databases Web of Science, Scopus, ERIC, and PsychInfo were systematically searched for studies applying intensive longitudinal methods in school research. The literature search yielded 993 papers, of which 288 qualified for full-text screening. These remaining papers are currently examined for eligibility.

We expect the studies to show a wide variety in the application of intensive longitudinal methods with regard to both the constructs under investigation and methodology. Considering that even research fields in which these methods are long-established (Trull & Ebner-Priemer, 2020) methodological choices and their rationales are reported insufficiently, we expect that also in school research a significant number of intensive longitudinal studies will lack transparency in reporting methodological choices and rationales.



Paper Session

Idiografische und nomothetische Netzwerkanalysen zur Integration der Situierten Erwartungs-Wert-Theorie der Leistungsmotivation mit der Kontroll-Wert-Theorie akademischer Emotionen: Erste Ergebnisse aus dem ManyMoments-Projekt

Jessica Baars1, Miriam Francesca Jähne2, Julia Dietrich2, Jana Holtmann1, Martin Daumiller3, Julia Moeller1

1Universität Leipzig, Deutschland; 2Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland; 3Universität Augsburg, Deutschland

Kurzzusammenfassung:

Diese Präsentation stellt Ergebnisse aus einer kollaborativen Datenerhebung, dem ManyMoments-Projekt, vor. Mit der Experience Sampling Methode wurden in universitären Lehrveranstaltungen Daten zu situationsspezifischen akademischen Emotionen und Motivationen nach Pekruns (z.B. 2006) Kontroll-Wert-Theorie und Eccles und Wigfields (z.B. 2002; 2020) Situierter Wert-Erwartungs-Theorie erhoben. Damit wurde das neuentwickelte DYNAMICS-Rahmenmodell empirisch untersucht (Moeller et al., 2022), das methodische Innovationen für die Integration beider Theorien eröffnet (z.B. Einbezug von Netzwerkanalysen, Unterscheidung idiografischer und nomothetischer Modelle, Unterscheidung von State-und Trait-Systemen).

Theoretischer Hintergrund:

Diese Studie integriert zwei Theorien, die teilweise aufeinander aufbauen, erkenntnisreich füreinander sind, aber oft getrennt erforscht wurden: Die Situierte Wert-Erwartungstheorie der Leistungsmotivation („SEWT“; z.B. Eccles & Wigfield, 2002; 2020) und die Kontroll-Wert Theorie akademischer Emotionen („KWT“; z.B. Pekrun, 2006).

Kürzlich wurde zur theoretischen und methodischen Integration der Erkenntnisse aus beiden Theorien das DYNAMICS-Rahmenmodell vorgeschlagen (DYNamics of Achievement Motivation In Concrete Situations; Moeller et al., 2022). Es integriert beide Theorien der mit Konzepten und Methoden aus den dynamischen Systemtheorien und soll letztere fruchtbar machen für die Erforschung von lernrelevanten Motivationskomponenten und Emotionen. Das DYNAMICS-Rahmenmodell beschreibt die Veränderung von Motivationen und Emotionen als komplexes System, in dem zeit- und kontextabhängige Zustände (States) und stabile Personenmerkmale (Traits) miteinander wechselwirken. Zur besseren Beschreibung der Systeme auf Zustands- und Personenebene schlägt das Modell die Verwendung von Netzwerkanalysen vor. Das Rahmenmodell berücksichtigt aktuelle Methodendebatten (z.B. Molenaar, 2004), indem es zwischen personenspezifischen idiographischen Zustands-(„State“-)modellen und generalisierbaren nomothetischen Zustandsmodellen unterscheidet, um dem Problem mangelnder Ergodizität in intensiven Längsschnittdaten (Voelkle et al., 2014) zu begegnen. Dafür wird jeder Zusammenhangskoeffizient zunächst innerhalb jeder Person berechnet, für jede Person ein idiografisches Netzwerk von Zusammenhängen zwischen motivations- und Emotionsfacetten über die Zeit hinweg berechnet, und anschließend analysiert, welche dieser idiografischen Koeffizienten sich wie oft über Personen hinweg generalisieren lassen (siehe Asendorpf, 1993; 2000).

Daten:

Das Forschungsdesign folgt demjenigen von Moeller, Dietrich und Kollegen (2022; 2020; Dietrich et al., 2017; 2019). Hierbei kamen bewährte und etablierte Messinstrumente zum Einsatz. Das kollaborative ManyMoments-Projekt lieferte situationsspezifische Messungen (Experience Sampling Method) der Leistungsemotionen und Lernmotivation. Pro Vorlesung wurden Studierende drei Mal befragt. Daten aus den ersten vier Lehrveranstaltungen (Sommersemester 2022) sind bereits ausgewertet, bis zur Präsentation werden auch die Ergebnisse vorgestellt, die im aktuellen Wintersemester erhoben und bis Februar 2024 ausgewertet werden (Daten aus 11 Vorlesungen und 20 Seminaren an deutschen Hochschulen).

Analysen:

Diese Studie analysiert Assoziationen (Korrelationen, Ko-Okkurrenzen) zwischen Komponenten der SEVT und der KWT. Dazu werden sowohl die Kovarianzen (zero-order-Korrelationen und Partialkorrelationen) als auch die bivariat gemeinsamen Zustimmungen (Ko-Okkurrenzen) zwischen den Facetten der lernrelevanten Motivation und Emotion analysiert, in Netzwerken dargestellt und hinsichtlich ihrer Erkenntnisse verglichen (Abbildung 1: online https://speicherwolke.uni-leipzig.de/index.php/s/aZ4ssLjzsNwNP3C).

Die beiden korrelationsbasierten Netzwerke werden mit Mehrebenenanalysen jeweils auf der intra-individuellen Zustands-Ebene (Level 1) und der inter-individuellen Ebene (Level 2) berechnet, wobei Level 1 die Fluktuationen zwischen Messzeitpunkten repräsentiert und Level 2 die stabileren Unterschiede zwischen Personen. Auf Level 1 wurden für jede Person jeweils ein idiografisches Netzwerk der zero-order-Korrelationen, sowie ein idiografisches Netzwerk der Partialkorrelationen (kontrolliert für den Einfluss aller anderen Variablen im Netzwerk) berechnet. Anschließend wurde mit verschiedenen Methoden überprüft (orientiert an der GIMME-Methode, Beltz et al., 2016), welche der individuellen Pfade sich wie oft über Personen hinweg generalisieren ließen. Aus den generalisierbaren Pfaden wurde das nomothetische Netzwerk (jeweils getrennt für zero-order- und Partialkorrelationen) erstellt.

Die Erkenntnisse wurden jeweils zwischen den beiden kovarianz-basierten Methoden verglichen, da beide Methoden sich hinsichtlich ihrer Erkenntnisse oft unterscheiden (z.B. Jähne et al., in prep.; Kulakow et al., in prep.). Deren Ergebnisse wurden den Ko-Okkurrenz-Netzwerken gegenübergestellt, um herauszufinden, wie oft welche Motivations- und Emotionsfacetten gemeinsam bejaht wurden (siehe Moeller et al., 2018). Der Vergleich der drei Modelltypen liefert differenzielle Einsichten, untersucht das Modell empirisch und bekräftigt das Modell.

 
11:10 - 12:508-18: Erwachsenenbildung
Ort: S22
 
Paper Session

Nachweise für berufliche Fähigkeiten oder doch nur ein Motivationssignal? Zur Wirkung non-formaler Weiterbildung in der Personalauswahl

Benjamin Schimke

Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Viele Erwerbstätige in Deutschland nehmen regelmäßig an berufsbezogenen Kursen teil, um die eigenen beruflichen Fähigkeiten zu erweitern. Sie verknüpfen damit u.a. den Wunsch ihre berufliche Tätigkeit besser ausüben zu können und einige äußern die Hoffnung darüber ihre beruflichen Chancen zu verbessern (Bildungsberichterstattung 2022; Behringer und Schönfeld 2017). Ob non-formale Weiterbildungen diesen Nutzenerwartungen gerecht werden, ist eine weitestgehend offene Frage. Einerseits kommen bisherige Arbeiten zu gegenläufigen Befunden. Während Dieckhoff (2007) zeigt, dass non-formale Weiterbildung einen positiven Effekt auf den Übergang in eine Beschäftigung mit höheren Qualifikationsanforderungen hat, kommen Ebner und Ehlert (2018) zu dem Ergebnis, dass sie zur Stabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen beiträgt und beruflicher (Aufwärts-)Mobilität entgegensteht. Andererseits basieren die bisherigen Arbeiten in diesem Feld auf Beobachtungsdaten, können Endogenität nur schwer ausschließen und ermöglichen daher auch keine kausalen Schlüsse.

Für ein umfassendes Bild, ob und wie berufsbezogene Weiterbildungsmaßnahmen bei der Arbeitsplatzzuweisung wirken, muss beleuchtet werden, wie die Arbeitsnachfrageseite zu Einstellungsentscheidungen kommt. Der theoretische Zugang basiert auf Überlegungen der Humankapitaltheorie (Becker 1993), der Signaltheorie (Spence 1973) und dem Arbeitsplatzwettbewerbsmodell (Thurow 1975). Zentrale Prädiktoren für den Erfolg in Bewerbungssituationen sind berufliche Fähigkeiten der Bewerbenden, die üblicherweise über formale (Bildungs-)Abschlüsse und/oder Arbeits-/ Berufserfahrung signalisiert werden (z.B. DiStasio und van de Werfhorst 2016; Humburg und van der Velden 2015). Ob darüber hinaus Signale non-formaler Weiterbildung zum Bewerbungserfolg beitragen, ist die erste zu klärende Frage dieses Beitrags. Die Bearbeitung dieser Fragestellung wird mit der Öffnung einer bisherigen Blackbox in der Forschung zu Weiterbildungserträgen verbunden. Das zugrundeliegende Experiment ermöglicht es, die offene Frage zu beantworten, ob Weiterbildungsteilnahmen lediglich ein Proxy für non-kognitive Fähigkeiten (wie bspw. Motivation) darstellen oder Produktivitätssignale im Sinne zusätzlich erworbener beruflicher Fähigkeiten sind. Die Beantwortung dieser zweiten Frage wird über die simultane Berücksichtigung eines weiteren Zertifizierungskanals unternommen, mit dem Bewerbende berufliche Fähigkeiten in Einstellungssituationen nachweisen können: Arbeitszeugnissen. Im Vergleich zu Weiterbildungsnachweisen werden motivationale Faktoren in Arbeitszeugnissen jedoch explizit benannt (Weuster 2012, 1994; Huesmann 2008). Die geplante Variation dieser beiden Dimensionen, ermöglicht es abzuschätzen inwiefern Weiterbildungsnachweise von der Arbeitsnachfrageseite nur als Motivationssignal wahrgenommen werden oder ob das Absolvieren von Kursen mit dem Erwerb von beruflichen Fähigkeiten assoziiert ist.

Die Studie basiert auf einem faktoriellen Survey (Auspurg und Hinz 2015), welches im Januar 2022 mit Personalrekrutierenden (N=717) durchgeführt wurde, die Bewerbende in einem von 15 Berufen rekrutieren. Zu Beginn des Experiments wurde jedem Probanden eine fiktive Stellenausschreibung aus jenem Beruf präsentiert, in dem sie selbst Einstellungsexpertise besitzen. Im Anschluss sollten sie nacheinander insgesamt acht tabellarische Lebensläufe auf einer 11-stufigen Skala hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer Vorstellungsgesprächseinladung bewerten. Die experimentell variierten Faktoren umfassten u.a. das Geschlecht, Abschlussnoten sowie ein Faktor mit Weiterbildungsnachweisen und einer mit zusammengefassten Hinweisen aus dem Arbeitszeugnis der letzten Tätigkeit. Das Design umfasst insgesamt 10 Faktoren, ist strukturell identisch für alle 15 Berufe und basiert auf 192 Lebensläufen, die experimentell aus dem Vignettenuniversum (2634) (d-Effizienz: 92,8%) ausgewählt und anschließend experimentell 24 Vignettensets zugewiesen wurden, um die Konfundierung aller Haupteffekte und aller 2-fach Interaktionen zu verhindern. Die Analyse der bewerteten Vignetten (N*V=5.443) erfolgt mittels hierarchisch-linearer Mehrebenenregression mit ‚random intercepts‘.

Die Analysen zeigen, dass der Nachweis von Kursen in schriftlichen Lebensläufen (im Vergleich zu keiner Weiterbildung) mit einer signifikant erhöhten Einladungswahrscheinlichkeit von 3,3 Prozentpunkten (%P) verbunden ist. Während Kurse, die berufsspezifische Fähigkeiten vermitteln, bei fehlendem Kompetenzhinweis im Arbeitszeugnis die Einladungswahrscheinlichkeit um rund 4,6%P erhöhen, verringert sich der Einfluss auf 2,0%P (beide p<0,05), wenn identische Fähigkeiten gleichzeitig über ein Arbeitszeugnis nachgewiesen werden. Die Reduktion ist ebenfalls statistisch bedeutsam und legt nahe, dass Fähigkeitsnachweise aus Weiterbildungen nicht vollständig durch analoge Arbeitszeugnishinweise substituierbar sind. Die Ergebnisse sind bemerkenswert, da rund 57% des Weiterbildungseffekts auf die Fähigkeiten zurückzuführen sind und die restlichen etwa 43% auf das Motivationssignal, welches von der Kursteilnahme ausgeht.



Paper Session

Weiterbildungsdatenbanken als vermittelnde Instanz zwischen Lernenden und Weiterbildungsanbietern zur Förderung von Partizipation: eine Vignettenstudie zu Datenbankmerkmalen aus der Perspektive von Weiterbildungsanbietern

Elisabeth Reichart, Kanis Stefan, Kaufmann-Kuchta Katrin

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung - Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen, Deutschland

Die Partizipation Erwachsener an Weiterbildung ist ein wichtiger Schlüssel zur nachhaltigen Teilhabe an einer Gesellschaft im Strukturwandel (OECD 2021). Weiterbildung ist der größte und heterogenste aller Bildungsbereiche (Schrader 2019), wobei es kaum festgelegte Bildungswege gibt. Individuelle Weiterbildungsinteressierte müssen sich selbst orientieren; jedoch sind Informationen teilweise schlecht auffindbar (BMBF 2022).

Theoretische Bezüge & Fragestellung

Eine grundlegende Heuristik zur theoretischen Modellierung von Weiterbildungsteilnahme bietet das Supply-Demand-Modell (Boeren et al. 2010): Voraussetzung für die Partizipation ist die Passung von individuellem Weiterbildungsbedarf und Weiterbildungsangebot, offeriert durch Weiterbildungsanbieter als relevante Akteure. Ein verbreitetes Vermittlungsinstrument zwischen Suchenden und Anbietern sind datenbankbasierte Online-Suchportale, in die Anbieter Angebote einstellen. Auch hier herrscht große Vielfalt: Datenbanken unterscheiden sich nach regionaler Reichweite, Spezialisierung auf bestimmte Bereiche und ob sie ihre Dienste kostenlos oder kostenpflichtig anbieten (Reichart 2021).

Vor diesem Hintergrund ist die Frage offen, nach welchen Kriterien Weiterbildungsanbieter entscheiden, ob und welche Datenbank(en) sie nutzen. Hier besteht eine Forschungslücke, der sich dieser Beitrag explorativ mit Hilfe eines faktoriellen Survey-Experiments (Auspurg & Hinz 2015) nähert. Das Experiment untersucht, welche Rolle verschiedene Datenbankmerkmale im Verhältnis zueinander spielen und ob es systematische Unterschiede zwischen Anbieter(type)n gibt, wenn Anbieter Datenbanken als potenzielles Marketinginstrument bewerten.

Aufgrund der dünnen empirischen Befundlage basiert die Merkmalsauswahl auf Charakteristika vorhandener Datenbanken und auf Überlegungen mithilfe folgender Theorien. Wir gehen vom Supply-Demand-Modell aus, das wir für die Anbieterseite weiter ausdifferenzieren. Zur Berücksichtigung von verschiedenen Anbietertypen nutzen wir die Reproduktionskontexte nach Schrader (2010). Demnach unterscheiden sich Weiterbildungsanbieter danach, wie sie ihre Ressourcen beschaffen und sich legitimieren. Insgesamt ist der Weiterbildungsbereich als Markt bzw. Quasi-Markt (Höhne 2015) organisiert. Die Einstellung des eigenen Angebots in Datenbanken kann als Teil des Marketingmixes von Anbietern begriffen werden, um sich auf dem komplexen Markt zu präsentieren (Sarges & Häberlin 1980; Müller & Rehder 2018). Aus institutionenökonomischer Perspektive zielen Anbieter als Marktakteure auf eine ausgewogene Kosten-Nutzen-Bilanz bei der Entscheidung über Transaktionen (Ebers & Gotsch 2019); als einen wichtigen Nutzenaspekt aus Anbietersicht nehmen wir an, dass diese das Interesse verfolgen, dass ihre Angebote von Weiterbildungsinteressierten gut gefunden werden.

Daten und Methoden

Das faktorielle Survey-Experiment (Auspurg & Hinz 2015) wurde 2022 im Rahmen der repräsentativen Anbieterbefragung wbmonitor (Koscheck et al. 2022) durchgeführt. Im Szenario des Experiments wurden die Befragten (leitende Mitarbeitende von Weiterbildungseinrichtungen) gebeten, auf einer 7-stufigen Likert-Skala die Nutzungswahrscheinlichkeit von vier hypothetischen Datenbanken mit jeweils sechs Merkmalsausprägungen für die Einstellung ihres eigenen Angebots einzuschätzen.

Es wurden drei Merkmalsbereiche mit jeweils zwei Merkmalen getestet, wobei außer den Kosten (3-stufig) alle Merkmale mit ja/nein kodiert waren. Der Aufwand aus Anbietersicht wurde über die Kosten und ein (nicht) vorhandenes Serviceangebot für Anbieter abgebildet. Die Unterstützung für Suchende wurde über die Auffindbarkeit mit bekannten Suchmaschinen und KI-gestützte Suchfunktionen operationalisiert. Die Passung zu den Anbieterzielen wurde über Variablen zur regionalen Ausrichtung der Datenbank und ihre Spezialisierung auf einen relevanten Angebotsbereich erfasst. Das Vignettenuniversum umfasste 96 Kombinationsmöglichkeiten der Merkmale in 24 Vignettendecks.

Die Analysestichprobe beinhaltet 1.768 Weiterbildungsanbieter mit 6.931 beantworteten Vignetten; Orthogonalität der Merkmale ist gegeben. Die Analysen wurden mittels Random-Intercept-Modellen mit Maximum-Likelihood-Schätzung und Cluster-robusten Standardfehlern durchgeführt (Rabe-Hesketh & Skrondal 2022). Zusätzlich wurden separate Modelle für die Reproduktionskontexte berechnet und nach Nutzungserfahrung mit Datenbanken differenziert.

Ergebnisse

Vorläufige Ergebnisse zeigen insgesamt hochsignifikante Effekte aller Datenbankmerkmale mit Ausnahme der regionalen Reichweite auf die Bewertung der Nutzungswahrscheinlichkeit. Nach Reproduktionskontexten getrennte Modelle erzeugen spezifische Effektmuster.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass vor dem Hintergrund einer allgemeinen Kosten-Nutzen-Abwägung für alle Weiterbildungsanbieter höhere Kosten und höherer Aufwand die Nutzungswahrscheinlichkeit senken; die gezielte Unterstützung der Suchenden und eine gute Passung mit den Anbieterzielen erhöhen hingegen tendenziell die Nutzungswahrscheinlichkeit der präsentierten Datenbanken. Vor dem Hintergrund der theoretischen Bezüge werden die Ergebnisse differenziert und diskutiert.



Paper Session

Sozial(räumlich)e Ungleichheiten in der Beschäftigung mit nachhaltigkeitsbezogenen Themen im Erwachsenenalter

Jana Costa1, Claudia Kühn2

1Leibniz Institut für Bildungsverläufe, Deutschland; 2Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Theoretischer Hintergrund

Vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen und Krisenphänomene gewinnt die Auseinandersetzung mit Bildungsfragen im Kontext von Nachhaltigkeit zunehmend an Bedeutung. Für eine transformative Wende in Richtung Nachhaltigkeit, so wird argumentiert, ist es notwendig auch Erwachsene als wichtige Akteure einzubeziehen (z.B. Apel 2016; Adoßment 2015).

Empirische Studien deuten dabei an, dass nachhaltigkeitsbezogene Verhaltensweisen (wie z.B. Konsumentscheidungen) eng mit soziodemografischen Merkmalen sowie mileuspezifischer Grundhaltungen in Zusammenhang stehen (z.B. Masson & Leßmann 2016) und von räumlichen bzw. infrastrukturellen Rahmenbedingungen geprägt sind (z.B. Dangschaf & Segert 2011). Während Fragen sozialer Ungleichheiten im Kontext von Nachhaltigkeit bislang vorwiegend in der Konsumforschung und der Umweltsoziologie (vgl. z.B. Sonnberger, Bleicher & Groß 2023) diskutiert werden, mangelt es in der Bildungsforschung derzeit an empirischen Beiträgen, die sich mit Lernen nachhaltigkeitsbezogener Themen im Erwachsenenalter aus einer Ungleichheitsperspektive beschäftigen. Die Frage, mit welchen nachhaltigkeitsbezogenen Themen sich erwachsene Lernende selbstgesteuert und informell auseinandersetzen und welche Rolle dabei soziodemografische Merkmale und verschiedene Kontextes des informellen Lernens spielen, stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar (vgl. z.B. Diekmann & Loewenfeld 2020).

Fragestellungen

Dieses Desiderat aufgreifend wird in dem Beitrag (1) danach gefragt, mit welchen nachhaltigkeitsbezogenen Themen sich Erwachsene in verschiedenen informellen Kontexten auseinandersetzen. Darauf aufbauend wird (2) empirisch untersucht, welche individuellen Merkmale (u.a. soziodemografische, sozioökonomische und einstellungsbezogene Variablen) mit der Auseinandersetzung nachhaltigkeitsbezogener Lerninhalte in Zusammenhang stehen und (3) welche Bedeutung dabei räumlichen Strukturen (wie z.B. Größe des Wohnortes) als Bedingungsfaktoren zukommt.

Methodisches Design

Den Ausgangspunkt bildet ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, in welchem die Untersuchung des informelle Lernens Erwachsener im Kontext von Nachhaltigkeit unter Rückbezug auf vorliegende Datensätze des Nationalen Bildungspanels (NEPS) im Mittelpunkt steht. Die Daten der Erwachsenenkohorte des NEPS werden dabei reanalysiert, indem die erfassten offenen Angaben zu Lernthemen in verschiedenen informellen Kontexten in einem ersten Schritt inhaltsanalytisch ausgewertet werden. Auf Basis der offenen Angaben zu Lernthemen der Erwachsenen im Jahr 2020/21 (n=6.674; ca. 3.000 offene Angaben) in verschiedenen informellen Kontexten (Fachmessen und -kongresse, Fachvorträge & Internet) wurde mithilfe einer induktiv-deduktiven Inhaltsanalyse (Mayring 2015) ein Kategoriensystem entwickelt, das Aufschluss über explizite nachhaltigkeitsbezogene Lernthemen gibt. Dieses Kategoriensystem wird in einem zweiten Schritt wieder an den Datensatz rückgespielt. Dies ermöglicht es, die Beschäftigung mit nachhaltigkeitsbezogenen Lernthemen an die erfassten individuellen Merkmale und Kontextbedingungen rückzubinden. Hierfür werden ökologische soziale sowie ökonomische Themenfelder differenziert in den Blick genommen und zur Aufdeckung systematischer Zusammenhänge Cluster- sowie logistische Regressionsanalysen angewendet.

Ergebnisse

Die ersten Befunde der induktiv-deduktiven inhaltsanalytischen Auswertung zeigen, dass Nachhaltigkeit beim informelles Lernen im Erwachsenenalter eine Rolle spielt: Die Befragten setzen vielseitig sich mit ökologischen, sozialen und wirtschaftliche Themen in den erfragten Kontexten auseinander. In der inhaltsanalytischen Ausdifferenzierung zeigt sich, dass die ökologische Dimension am stärksten ausdifferenziert ist und vielfältige Bezüge zu den Themen „Umwelt und Natur“, „Energie“, „Mobilität“ und „Ernährung“ und „ökologischer (An-) Bau“ hergestellt werden. Für die soziale Dimension wurden „Gerechtigkeit und Gleichheit“, „Teilhabe und Partizipation“ sowie „Migration“ als Themenschwerpunkte identifiziert, wobei kaum explizite Bezüge sichtbar werden, womit diese eher ein unbestimmtes Querschnittsthema bleibt. Auffällig ist weiterhin, dass wirtschaftliche Aspekte kaum ausdifferenziert werden, d.h. es werden lediglich Themen im Kontext einer nachhaltigen Produktion und Arbeitswelt genannt, die sich aber vor allem auf das Lernen in Fachvorträgen oder auf Messen beziehen. Aktuell wird das entwickelte Kategoriensystem in den NEPS-Datensatz eingebunden, um die Zusammenhänge mit individuellen und kontextbezogenen Merkmalen zu überprüfen. Die damit verbundenen Erkenntnisse werden im Beitrag vorgestellt und diskutiert.

Diskussion

In dem Beitrag wird das Potential bereits vorliegender Daten aufgegriffen, indem verschiedene Forschungsparadigmen sowie deren Stärken und Potenziale zusammengebracht werden. Dies eröffnet sowohl inhaltliche als auch methodische Diskussionsperspektiven, die im Beitrag abschließend aufgegriffen und weiterführend diskutiert werden.



Paper Session

Förderung der digitalen Teilhabe von Senior:innen im Rahmen partizipativer Wissenschaftskommunikation

Mandy Hommel

OTH Amberg-Weiden, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Bildungsprozesse von Senior:innen im Kontext digitalisierungsbezogener Inhalte dienen einerseits der gesellschaftlichen Teilhabe an der fortschreitenden Digitalisierung. Anderseits kann eine Mitwirkung der Senior:innen an der wissenschaftlich fundierten Konzeption von Bildungsangeboten auch als Form partizipativer Wissenschaftskommunikation verstanden werden, mithilfe derer die Akzeptanz wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse in der Bevölkerung positiv beeinflusst werden kann (Fähnrich & Schäfer, 2019).

Gerade in der Bevölkerungsgruppe der Senior:innen zeigt sich die Ambivalenz zwischen den Potentialen positiver Effekte im Zusammenhang mit der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) einerseits und ihrer Ablehnung andererseits (Niehaves & Plattfaut, 2014; Guner & Acarturk, 2020). Als Faktoren der Technologieakzeptanz sind dabei die wahrgenommene Nützlichkeit, die wahrgenommene Einfachheit der Nutzung, die Einstellung zur Nutzung und die Nutzungsintention zu berücksichtigen (Venkatesh & Davis, 2000). Mit der voranschreitenden Digitalisierung wächst die Gefahr, dass die „Generation 65+“ nicht Schritt halten kann und eine geringe Technologieakzeptanz zeigt. Allerdings ist es gerade diese Bevölkerungsgruppe - insbesondere abseits der Metropolregionen - die durch das Nutzen digitaler Angebote (u. a. Gesundheitsinformationen/-leistungen, Lieferdienste und den Möglichkeiten, mit anderen Menschen digital in Kontakt zu bleiben) von positiven Effekten besonders profitieren und so länger unabhängig bleiben könnte (Niehaves & Plattfaut, 2014). Fühlen sich Ältere allerdings im Umgang mit digitalen Medien nicht unterstützt, besteht die Gefahr, dass sie deren Nutzung ablehnen (Guner & Acarturk, 2020).

Fragestellung

Gemeinsam mit (ehrenamtlich engagierten) Senior:innen wurden die Technologieakzeptanz, die Nutzung von IKT sowie die Ausstattung mit IKT von Senior:innen in einer ländlichen Region (Gemeinde) untersucht.

Folgende Forschungsfragen waren dabei handlungsleitend:

(1) Über welche IKT-Ausstattung verfügen Senior:innen?

(2) Wie nutzen Senior:innen IKT?

(3) Welche Akzeptanz von IKT zeigen Senior:innen?

(4) Welche Unterstützungsangebote wünschen sich Senior:innen?

Die Erkenntnisse zu den Forschungsfragen dienen als Ausgangspunkt für die Konzeption von Bildungsangeboten für Senior:innen der Region.

Methode

Für die schriftliche Befragung wurde das Technologieakzeptanzmodell (TAM: Venkatesh & Davis, 2000) mit den Faktoren wahrgenommene Nützlichkeit, wahrgenommene Einfachheit der Nutzung, Einstellung zur Nutzung und Nutzungsintention, die auf die tatsächliche Nutzung wirken, adaptiert und um externe Faktoren wie bisherige Erfahrungen mit IKT, subjektive Normen, Freude, Computerängstlichkeit und Selbstwirksamkeit (Jiang et al., 2021) sowie die vorhandene Infrastruktur (im Sinne der Ausstattung mit IKT) ergänzt. Die Fragebögen wurden den Senior:innen durch die Gemeinde postalisch zur Verfügung gestellt. An der schriftlichen Befragung (Zeitraum vom 20.12.2021 bis zum 10.01.2022) nahmen 250 SeniorInnen (137 m, 112 w, 1 o. A.) teil.

Ergebnisse

Hinsichtlich der vorhandenen Ausstattung mit IKT (1) wird u. a. deutlich, dass 214 der Befragten (89,2 %) über einen Internetanschluss und 211 (87,2 %) über ein Smartphone verfügen. Hinsichtlich der Nutzung (2) sind signifikante Unterschiede, z. B. hinsichtlich der täglichen Nutzungszeit des Internets, zwischen den Altersgruppen zu verzeichnen. Für die Akzeptanz von IKT (3) ergibt eine Explorative Faktorenanalyse (KMO = .812; Bartlett p =< .001) eine 3-Faktorenlösung, die 65,7% der Varianz erklärt: wahrgenommene Nützlichkeit (Eigenwert 5,2, Varianzaufklärung 34,6%), Offenheit gegenüber IKT (Eigenwert 3,3, Varianzaufklärung 22,1%) und Computerängstlichkeit (Eigenwert 1,4, Varianzaufklärung 9,0%). Die Computerängstlichkeit nimmt dabei mit steigendem Alter zu. Vergleichbar zu Guner und Acaturk (2020) sowie Dogruel, Joeckel und Bowman (2015) zeigt sich die individuell wahrgenommene Nützlichkeit als zentral. Für die Konzeption der Unterstützungsangebote stellen daher insbesondere die Nützlichkeit von IKT und die individuellen Bedürfnisse (4) der SeniorInnen Ausgangspunkte dar.

Ausblick

In einem nächsten Schritt soll das Vorgehen auf weitere ländliche Regionen übertragen und um eine Längsschnittstudie zur Akzeptanz von Wissenschaft ergänzt werden. Dabei ist u. a. die Annahme zu prüfen, dass die Einbindung der Senior:innen in einen forschungssystematischen Prozess einerseits die Bereitschaft, die konzipierten Unterstützungsangebote wahrzunehmen, und andererseits die Akzeptanz und das Verständnis wissenschaftlichen Vorgehens positiv beeinflussen.

 
Datum: Donnerstag, 21.03.2024
10:00 - 12:30NWT - 10: Submission, Review und Actions-letter: Erfolgreich durch den Publikationsprozess
Ort: S22

 
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