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Sitzungsübersicht
Ort: H07
Hörsaal, 56 TN
Datum: Montag, 18.03.2024
10:30 - 12:101-14: Förderung diagnostischer Kompetenzen von Lehkräften
Ort: H07
 
Paper Session

Förderung von Diagnosekompetenz in der Politikdidaktik. Entwicklung und Qualitätsüberprüfung einer Matrix zur Analyse von politischen Schüler*innenurteilen

Martin Kenner1, Florian Weber-Stein2

1Universität Stuttgart; 2PH Ludwigsburg, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Diagnostische Kompetenz spielte in der Lehramtsausbildung lange Zeit eine untergeordnete Rolle, auch weil fälschlicher Weise ein automatischer Zusammenhang zwischen Diagnosekompetenz und langjähriger Berufserfahrung angenommen wurde (kritisch bereits Weinert & Schrader, 1986). Demgegenüber ist davon auszugehen, dass nicht Praxis per se, sondern gezielte Interventionen und eine theoriegeleitete Praxisreflexion im Rahmen der Lehrkräfteausbildung pädagogische Diagnosekompetenz schulen (Klug et al., 2013; Radkowitsch et al., 2023). In diesem Zusammenhang gewinnen Diagnoseinstrumente an Bedeutung, die die systematische Anbahnung diagnostischer Kompetenzen unterstützen.

Bislang existieren in der Politikdidaktik erst vereinzelte Ansätze zur Entwicklung domänenspezifischer Diagnoseinstrumente (Füchter, 2010, 2011; Mosch, 2013; Weber-Stein, 2018). Insbesondere im Bereich der Förderung politischer Urteilsfähigkeit – unbestritten ein zentraler Lernbereich in der Politikdidaktik (Klee, 2008; May, 2017) – ist die Diskrepanz zwischen der zugeschriebenen Bedeutung und der empirischen Evidenz zu wirksamen Diagnosen und Fördermechanismen frappierend (Weißeno & Weißeno, 2021). Wir gehen davon aus, dass die gezielte Förderung politischer Urteilsfähigkeit eine adäquate fachdidaktische Diagnose voraussetzt. Die differenzierte Einordnung eines Schüler*innenurteils erscheint für die Begründung fachdidaktischer Entscheidungen notwendig.

Fragestellung

Zur systematischen Analyse von politischen Urteilen haben wir in Anlehnung an den politikdidaktischen Forschungsstand zur politischen Urteilsfähigkeit (Massing, 2003; Manzel & Weißeno, 2017; May et al., 2020) eine 3x3-Felder-Matrix entwickelt. Sie erlaubt eine qualitative Einordnung von Schüler*innen-Urteilen auf drei Niveaustufen (basal, ansatzweise differenziert, elaboriert) hinsichtlich drei inhaltlich unterschiedlicher Dimensionen (Argumentationsstärke, Fachkonzepte, Perspektivendifferenzierung).

Damit die Analysematrix die ihr zugeschriebene Funktion erfüllt, zum Aufbau diagnostischer Kompetenzen beizutragen, muss sie gängigen wissenschaftlichen Gütekriterien (Inhalts-/ökologische Validität, Reliabilität) genügen. Unser Schwerpunkt im Vortrag wird dabei auf der Reliabilität liegen, d.h. der Frage, inwiefern die Matrix zu zuverlässigen Zuordnungen führt. Konkret wird untersucht, inwiefern Zuordnungen innerhalb der 3x3-Felder-Matrix personenübergreifend (Interrater-Reliabilität) und personenbezogen (Intrarater-Reliabilität) vergleichbar ausfallen.

Methode

Die Untersuchung der Zuverlässigkeit des Instruments ist Teil einer Interventionsstudie zur Anbahnung diagnostischer Kompetenzen von Lehramtsstudierenden im Masterstudiengang Politikwissenschaft (N=50). Die Studie ist als Zeitreihenexperiment mit drei Messzeitpunkten (to, t1, t2) konzipiert und für die Reliabilitätsanalyse liegen über 1.000 Kodierbeispiele vor. Im Rahmen eines moodle-basierten Lern-Moduls, das gemäß einem moderat konstruktivistischen Lernmodell (Van Merriënboer 2020) gezielte Instruktionen mit Übungsphasen verbindet, werden die Studierenden mit der Analysematrix vertraut gemacht. Im Anschluss raten sie in zwei iterativen Zyklen im Abstand von 4 Wochen (t1, t2) Schüler*innenurteile auf Grundlage der Matrix. Diese Phase wird durch Kollaborationen gestützt, in denen die Studierenden ausgewählte Diagnoseurteile vergleichen und sich argumentativ über Standards der Diagnostik austauschen. Für die Interrater-Reliabilität werden Querschnittsdaten der Messzeitpunkte t1 und t2 herangezogen, während die Intrarater-Reliabilität längsschnittlich mit den personenbezogenen Zuordnungen von t1 und t2 untersucht wird.

Ergebnisse

Die Inhaltsvalidität des Instruments nehmen wir durch die deduktive Entwicklung aus dem politikdidaktischen Diskussionsstand zur Urteilsbildung als gegeben an. Beispielsweise ist die Dimension „Fachkonzepte“ Teil des bestehenden Bildungsplans. Um die ökologische Validität der Matrix zu gewährleisten, wurde das Diagnoseinstrument mit fünf Expert*innen aus der Unterrichtspraxis (gymnasiales Lehramt) kommunikativ validiert. Im Ergebnis wurde die vorliegende 3x3-Felder Matrix für unterrichtende Lehrer*innen als adäquat betrachtet. Eine diesbezügliche, vertiefende Interview-Studie mit Lehrer*innen aus allen Schulformen ist derzeit in Vorbereitung.

Unsere bisherigen Daten lassen bezüglich der Reliabilität der Matrix zufriedenstellende bis gute Ergebnisse erkennen.

  • Die Konvergenz der Diagnosen (Interrater-Reliabilität t1, t2) ist nahezu durchgängig zufriedenstellend ausgeprägt: 8 von 10 Gruppen erreichen akzeptable Konkordanzwerte (Kendalls W > .6).
  • Die personeninterne Konsistenz der Ratings (Intrarater-Reliabilität t1-t2) ist über alle Dimensionen hinweg erkennbar ausgeprägt (Cohens κ > .7).

Die Daten führen aus unserer Sicht zu der Einschätzung, dass die Analysen mit der Matrix unter den vorgestellten Interventionsbedingungen zu zuverlässigen Zuordnungen führen. Die Matrix kann deshalb zur Entwicklung diagnostischer Kompetenz beitragen. Damit ist jedoch nicht geklärt, wie nachhaltig die Verankerung in den subjektiven Diagnosekonzepten ausfällt.



Paper Session

Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung durch geskriptete Unterrichtsvideos - Evaluation des Einflusses von beispielhaften Videoannotationen auf Unterrichtsreflexionen

Jana-Kristin von Wachter, Stephanie Moser, Doris Lewalter

Technische Universität München, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Das Konzept der professionellen Unterrichtswahrnehmung reicht in mehreren Facetten von noticing, über knowledge-based reasoning und interpreting, bis hin zum decision-making (König et al., 2022; Jahn et al., 2014, Kaiser et al., 2017). Zur Schulung der professionellen Unterrichtswahrnehmung kann die Beschäftigung mit Unterrichtsvideos einen wesentlichen Beitrag leisten, insbesondere wenn das Gesehene reflektiert wird. Oftmals werden bei einer Videoanalyse bedeutungstragenden Sequenzen in den gezeigten Videos nicht erkannt und die anschließenden Unterrichtsreflexionen bleiben eher auf einem oberflächlichen Niveau (noticing). Daher profitieren vor allem angehende Lehrende von instruktionaler Unterstützung beim Umgang mit Unterrichtsvideos (Nagro et al., 2016). Insbesondere der Übergang vom noticing zum reasoning und schließlich zum Treffen instruktionaler Entscheidungen ist ohne Hilfestellung schwierig zu bewältigen (Calandra, Gurvitch & Lund, 2008). Um die aktiv-produktive Auseinandersetzung mit Unterrichtsvideos instruktional zu unterstützen, können Videoannotationen als Reflexions- und Diskussionsanker dienen, die zur intensiveren Auseinandersetzung mit den Unterrichtsvideos anregen und deren Bearbeitung erleichtern sollen (Krüger et al, 2012).

Das Ziel dieser empirischen Vergleichsstudie ist es, die Effektivität von beispielhaften Annotationen als instruktionalem Unterstützungsansatz zur Qualitätsförderung der Unterrichtsreflexion am Beispiel des thematischen Schwerpunkts motivationale Aktivierung zu ermitteln. Alle Proband:innen können zu allen gezeigten Videos grundsätzlich selbstständig Videoannotationen erstellen. Die Treatmentgruppe (TG) erhielt im Vergleich zur Kontrollgruppe (KG) zusätzlich Lernhilfen in Form von vorgefertigten Beispielannotationen in den Videos. In der Studie wird untersucht, inwieweit (1) sich die Anzahl der selbst erstellten Annotationen in der Treatment- und Kontrollgruppe unterscheiden, (2) sich die Anzahl der selbst erstellten Annotationen auf die Qualität der Unterrichtsreflexionen auswirkt, (3) sich die Qualität der Unterrichtsreflexionen der beiden Vergleichsgruppen, gemessen an den Facetten der professionellen Unterrichtswahrnehmung, unterscheidet.

Methode

Teilnehmende Lehramts- und Psychologiestudierenden (N = 52, 1. - 7. Semester, gleichverteilt über beide Gruppen) betrachten drei Unterrichtsvideos aus der Lernplattform Toolbox Lehrerbildung. Der TG wird instruktionale Unterstützung in Form von Beispielannotationen als Lernhilfen in unterschiedlicher Anzahl (fading out) in Szene 1 und Szene 2 geboten. Die KG erhält keine Lernhilfen. Nach dem zweiten und dritten Video verfassen sie jeweils eine schriftliche Reflexion mit Hilfe aller Annotationen. Insgesamt sind 93 Reflexionen gesammelt worden (Szene 2: 28 in TG, 17 in KG; Szene 3: 31 in TG, 19 in KG). Diese wurden mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse entsprechend den Facetten der professionellen Unterrichtswahrnehmung kodiert und ausgewertet. Abgerundet wurde das Studiendesign durch einen Pretest, in welchem persönliche Eigenschaften wie Vorwissen zu motivationaler Aktivierung, die eigene Motivation und eine Selbsteinschätzung zum Umgang mit Unterrichtsvideos erfasst wurden. Im Posttest wurde die Selbsteinschätzung erneut abgefragt, um gegebenenfalls eine Änderung festzustellen.

Ergebnisse und ihre Bedeutung

Bezüglich der Anzahl der Annotationen konnte zwischen den beiden Vergleichsgruppen kein Unterschied festgestellt werden. Die Anzahl der erstellten Annotationen korreliert jedoch mit zwei der vier Facetten der professionellen Unterrichtswahrnehmung in den Reflexionen positiv (noticing: r(13) = 0.88, p < .001; reasoning: r(13)= 0.69, p = .009). Daraus lässt sich schließen, dass das Erstellen von Annotationen den Lernenden hilft, auch in den Unterrichtsreflexionen das Beobachtete und den Schritt zur Verknüpfung mit ihrem Theoriewissen auszuführen.

In den Reflexionen für Szene 2 findet sich in der KG signifikant mehr noticing (t(43) = 2.01; p = 0,026, d = 5.44). In dieser Szene hatte die TG die vorgefertigten Beispielannotationen, woraus sich vermuten lässt, dass sich die Proband:innen weniger mit der Facette des noticing beschäftigten, da dies bereits in den Beispielannotationen aufgeführt war. In Szene 3, die für beide Gruppen gleich gestaltet war, hat die TG signifikant mehr interpreting (t(46) = 2.53; p = 0,007, d = 0.68) durchgeführt. Die Lernhilfen unterstützen damit in Szene 3 das Fokussieren auf den zukünftigen Lernprozess der Lernenden, eine der schwierigeren Facetten der professionellen Unterrichtswahrnehmung, und sorgen für eine umfassendere Unterrichtsreflexion.

Im Vortrag werden die Befunde vorgestellt und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung durch Unterrichtsvideos diskutiert.



Paper Session

Simulationen mit adaptivem Feedback mittels künstlicher neuronaler Netze: Ein Feldexperiment zur Förderung von Diagnosekompetenzen in der Lehrerbildung

Elisabeth Bauer1, Michael Sailer2, Frank Niklas3, Samuel Greiff4, Sven Sarbu-Rothsching5, Jan Zottmann5, Jan Kiesewetter5, Matthias Stadler5, Martin R. Fischer5, Tina Seidel1, Detlef Urhahne6, Maximilian Sailer6, Frank Fischer3

1Technische Universität München; 2Universität Augsburg; 3Ludwig-Maximilians-Universität München; 4Université du Luxembourg; 5Klinikum der Universität München, LMU München; 6Universität Passau

Simulationen bieten die Möglichkeit, bereits während des Lehramtsstudiums Diagnosekompetenzen praxisorientiert zu fördern (Chernikova et al., 2020). Studierende benötigen beim Lernen mit Simulationen adaptives und elaboriertes Feedback (z.B. Narciss et al., 2014), was hohe Anforderungen an Lehrende stellt. Fortschritte in der künstlichen Intelligenz ermöglichen jedoch eine automatisierte Auswertung komplexer Daten wie Texteingaben als Basis für adaptives elaboriertes Feedback: Eine Laborstudie verglich bereits automatisiert-adaptives Feedback auf Basis von künstlichen neuronalen Netzen mit statischem Feedback in Form einer Expertenlösung (Sailer et al., 2023). Die Intervention mit sechs simulierten Fällen zu Lern- und Verhaltensauffälligkeiten bei Schüler:innen hatte keinen signifikanten Effekt auf die Genauigkeit diagnostischer Urteile; jedoch hatte das adaptive Feedback einen positiven Effekt auf die Qualität der diagnostischen Begründungen. Durch gezielte Hinweise zu den Argumentationsprozessen der Lernenden erhöhte das adaptive Feedback die Salienz relevanter Feedbackinformationen (Machts et al., 2023). Für die Förderung der Diagnosegenauigkeit könnte eine Einbettung in den Lehrbetrieb vorteilhaft sein, da Studierende in entsprechenden Lehrveranstaltungen mehr relevantes Vorwissen mitbringen. Daher untersuchte die vorliegende Studie die Effekte automatisiert-adaptiven Feedbacks im Vergleich zu statischem Feedback beim simulationsbasierten Lernen unter Feldbedingungen.

In dem Feldexperiment bearbeiteten N = 230 (nach Ausschluss Teilnehmender mit mehreren unvollständigen Antworten) Lehramtsstudierende fünf deutscher Universitäten in Online-Lehrveranstaltungen drei simulierte Fälle zu Lernauffälligkeiten bei Schüler:innen und erhielten adaptives (n = 118) oder statisches (n = 112) Feedback. Die Lehramtsstudierenden gaben zu jedem simulierten Fall ein Urteil in Form einer Diagnosestellung an (Einfachauswahlfrage) und schrieben eine diagnostische Begründung (Freitextfrage). In einem Posttest bearbeiteten sie einen weiteren simulierten Fall ohne Feedback. Der Effekt des adaptiven vs. statischen Feedbacks auf die Diagnosegenauigkeit (Übereinstimmung mit wahrscheinlichster Diagnose entsprechend des Falldesigns) und die Qualität der diagnostischen Begründung (Berücksichtigung der sechs relevantesten Fallinformationen) in der Lernphase und im Posttest wurde mit zwei multivariaten Kovarianzanalysen berechnet; als Kontrollvariable wurde die Leistung im ersten Lernfall berücksichtigt, da die erste Feedback-Intervention erst nach Absenden der Antwort erfolgte.

Es zeigte sich ein signifikanter positiver Effekt des adaptiven Feedbacks auf die Qualität der diagnostischen Begründung in der Lernphase, F(1,227) = 4.01, p = .047, ηp2 = 0.017, und im Posttest, F(1,227) = 6.78, p = .010, ηp2 = 0.029, mit jeweils kleiner Effektstärke. Die Diagnosegenauigkeit war sowohl in der Lernphase, F(1,228) = 1.42, p = .234, ηp2 = 0.006 , als auch im Posttest, F(1,228) = 1.12, p = .290, ηp2 = 0.005, nicht signifikant unterschiedlich zwischen den Feedback-Gruppen. Die Ergebnisse stützen das Befundmuster der vorangegangenen Laborstudie: Lernende scheinen durch das adaptive Feedback zunächst im diagnostischen Begründen gefördert zu werden. Die erhöhte Salienz relevanter Feedbackinformationen im adaptiven Feedback gibt möglicherweise kognitive und meta-kognitive Ressourcen für den Lernprozess frei. Um einen positiven Effekt des adaptiven Feedbacks auf die Diagnosegenauigkeit zu erzielen, könnten weitere Simulationslerneinheiten förderlich sein und relevantes professionelles Wissen vertiefen. Die Studie zeigt, dass auch unter Feldbedingungen in Online-Seminaren der Einsatz von automatisiert-adaptivem Feedback auf Basis von Sprachverarbeitung mittels künstlicher neuronaler Netze vorteilhaft sein kann.



Paper Session

Isoliert oder integriert? – Instruktionsformate für Videoanalysen zur Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Unterrichtsqualität

Jasmin Lilian Bauersfeld1, Patricia Calies2, Heike Hahn2, Bernadette Gold1

1TU Dortmund, Deutschland; 2Universität Erfurt

Theoretischer Hintergrund

Unterrichtsqualität umfasst die Basisdimensionen Klassenführung, kognitive Aktivierung und emotionale Unterstützung (Pianta & Hamre, 2009; Praetorius et al., 2018), die in Unterrichtssituationen sowohl miteinander verwoben als auch isoliert fokussiert werden können (Hörter et al., 2020). Um qualitätsvollen Unterricht umzusetzen benötigen Lehrkräfte professionelle Unterrichtswahrnehmung (PUW) (Blömeke et al., 2015; Blömeke et al., 2022). Die PUW besteht aus dem Beschreiben und Interpretieren von relevanten Unterrichtssituationen, um Handlungsalternativen zu generieren (Sherin & van Es, 2009). Dadurch, dass Expertenlehrkräfte nicht nur kompetent Unterrichtssituationen beschreiben, interpretieren und Handlungsalternativen generieren können, sondern dabei auch die drei Basisdimensionen der Unterrichtsqualität integrieren können (Berliner, 2001), umfasst die PUW ebenfalls die Integration der Basisdimensionen. Diese Prozesse der PUW können durch Videoanalysen erfolgreich gefördert werden (Gold et al., 2021). Jedoch müssen die Unterrichtsvideos sinnvoll instruktional eingebettet werden (Blomberg et al., 2013; Santagata et al., 2021).

Studien der Instruktionsforschung haben gezeigt, dass eine integrierte Vermittlung von Lerninhalten Lernprozesse fördern kann (Harr et al., 2014), indem Lerninhalte gleichzeitig fokussiert und dadurch das Abrufen und Aktivieren verschiedener Lerninhalte gefördert werden kann (spreading activation; Anderson, 1983). Dementsprechend könnte eine integrierte Vermittlung, bei welcher alle Basisdimensionen gleichzeitig in Videoanalysen fokussiert werden, deren Anwendbarkeit (Renkl et al., 1996) und Abrufbarkeit (Anderson, 1983) begünstigen und somit auch die PUW fördern.

Allerdings sind Lehramtsstudierende aufgrund geringer Unterrichtserfahrungen und geringem Wissen (Putnam & Borko, 2000) bei Videoanalysen stark kognitiv belastet (Syring et al., 2015). Somit könnte eine isolierte Vermittlung der Basisdimensionen in Videoanalysen die PUW möglicherweise besser fördern, da hierbei jede Basisdimension in einzelne Unteraufgaben dekonstruiert wird und dies die kognitive Belastung reduziert (van Merriënboer et al., 2002).

Fragestellung

Die Studie überprüft dementsprechend die konkurrierenden Annahmen, ob eine integrierte oder isolierte Vermittlung der Basisdimensionen bei Videoanalysen die PUW besser fördert.

Methode

In der quasi-experimentellen Studie nahmen N=144 Lehramtsstudierende (MAlter=22.76, SDAlter=2.27, 79.9% weiblich) an einem 3-wöchigen videobasierten Seminar teil. Eine Interventionsgruppe fokussierte in den Videoanalysen von Grundschulmathematikunterricht jeweils eine Basisdimension pro Sitzung isoliert, während eine zweite Interventionsgruppe die Basisdimensionen in jeder Sitzung integriert analysierte. Ein mathematikdidaktisches Seminar fungierte als Kontrollgruppe.

Prä-Post-Tests erfassten die PUW in schriftlichen Videoanalysen, in welchen die Anzahl der beschriebenen Ereignisse (Beschreibung), die mittlere Qualität der Interpretationen sowie die mittlere Qualität der genannten Handlungsalternativen (κ=.83; Gippert et al., 2022) anhand eines Masterratings kodiert wurden. In diesen schriftlichen Analysen wurde ebenfalls die Integration der Basisdimensionen für die Beschreibungen, Interpretationen und Handlungsalternativen ausgewertet (0-2) (κ=.77).

Ergebnisse

Die vorläufigen Ergebnisse von ANOVAs mit Messwiederholung zeigen keine Unterschiede zwischen den Gruppen im Beschreiben, Interpretieren und Generieren von Handlungsalternativen, sowie in der Integration der Basisdimensionen beim Beschreiben. Hingegen fanden wir bezüglich der Integration der Basisdimensionen signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen im Interpretieren, F(1,137)=8.06, p<.001, ηp²=.105. Die Bayessche ANOVA mit Messwiederholung wies auf einen starken Interaktionseffekt (Zeit × Gruppe) BF10 =26588.60. Geplante Kontraste zeigten Vorteile für die integrierte Gruppe gegenüber der isolierten Gruppe, t(1,95)=3.35, p=.001, und der Kontrollgruppe, t(1,90)=2.31, p=.022. Es gab keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen in der Integration der Basisdimensionen beim Handlungsalternativen Generieren, F(1,137)=2.48, p=.088, ηp²=.035, und anekdotische Evidenz für die Alternativhypothese, BF10=1.07. Geplante Kontrastanalysen wiesen signifikante Vorteile für die isolierte Gruppe gegenüber der integrierten Gruppe, F(1,95)=2.43, p=.016, sowie der Kontrollgruppe, F(1,90)=2.42, p=.017, auf.

Diskussion

Die vorläufigen Ergebnisse zeigen keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Instruktionsarten oder zwischen den beiden Videoanalysebedingungen und der Kontrollgruppe bezüglich der Förderung des Beschreibens, Interpretierens und Handlungsalternativen Generierens. Allerdings konnte im Gegensatz zur Kontrollgruppe durch Videoanalysen eine stärkere Integration der Basisdimensionen bewirkt werden (siehe auch Santagata & Guarino, 2011). Die integrierte Vermittlung der Basisdimensionen führte zu einer stärkeren Integration der Basisdimensionen beim Interpretieren, während die isolierte Vermittlung eine stärkere Integration beim Handlungsalternativen Generieren erwirkte. Mögliche Erklärungen und Limitationen werden diskutiert.

 
13:10 - 14:502-14: Von Vielfalt profitieren – Eine ganzheitliche Förderung von Schülerinnen und Schülern durch multiprofessionelle Kooperation gestalten
Ort: H07
 
Symposium

Von Vielfalt profitieren – Eine ganzheitliche Förderung von Schülerinnen und Schülern durch multiprofessionelle Kooperation gestalten

Chair(s): Monique Ratermann-Busse (Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen), Susanne Enssen (Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen), Philipp Hackstein (Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen)

Diskutant*in(nen): Nina Bremm (Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg)

Schulen in sozial deprivierter Lage liegen oft in Gebieten, die von „sozioökonomischen Polarisierungs- und Entmischungsprozessen“ (Bremm et al., 2016, 325) geprägt sind. Die Schulen kennzeichnen sich durch eine heterogene und sozial benachteiligte Schüler:innenschaft aus, deren Familien zumeist einen geringen sozioökonomischen Status haben. Gründe hierfür können bspw. ein niedriger Bildungsabschluss, Arbeitslosigkeit und der Empfang von Sozialhilfeleistungen sowie ein Migrationshintergrund und daraus resultierende Sprachbarrieren sein (Bremm et al., 2016; Enssen et al., i. V.).

Studien verweisen auf multiprofessionelle Kooperation, die sowohl innerschulisch als auch durch die Kooperation mit außerschulischen Partnern geprägt sein kann, als wichtige Gelingensbedingung für Schulen in herausfordernden Lagen zur Unterstützung von Schüler:innen mit heterogenen Bedarfen (Serke, 2022; van Ackeren et al., 2021; Fussangel & Richter, 2017). Dabei erfolgen Kooperationen mit außerschulischen Partnern sehr zweckorientiert und sind beispielsweise bei der Gestaltung von Ganztagsangeboten häufig interinstitutionell (Kielblock & Rinck, 2021, 2022) oder insbesondere bei der beruflichen Orientierung zusätzlich durch die Zusammenarbeit mit betrieblichen Akteuren geprägt (Bigos, 2020; Ratermann-Busse et al., 2022). Gleichzeitig sind Qualität und Wirkung von multiprofessioneller Kooperation ein Forschungsdesiderat (Hochfeld & Rothland, 2022). Im Schulalltag zeigt sich, dass multiprofessionelle Kooperation eine Herausforderung darstellt, ihr Gelingen nicht garantiert ist (Gräsel et al., 2006; Speck et al., 2011) und von multiplen Einfluss- und Bedingungsfaktoren abhängt (Hochfeld & Rothland, 2022).

Im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“, an der bundesweit 200 Schulen in sozial deprivierter Lage teilnehmen, sollen Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozesse gefördert und Bildungschancen von sozial benachteiligten Schüler:innen verbessert werden. Im Fokus steht dabei auch die Identifikation und Nutzbarkeit von Potenzialen des Sozialraums für multiprofessionelle Kooperationen im Rahmen einer kontextsensiblen Schulentwicklung. Wissenschafter:innen greifen hier zum einen auf bestehendes Wissen aus vorausgegangen Studien zurück und arbeiten zum anderen in einem ko-konstruktiven Prozess mit Schulen zusammen, um diese anhand ihrer individuellen Bedarfslagen zu unterstützen und gleichzeitig transferierbares Praxiswissen zu generieren. Vorliegende Erkenntnisse, die auf einer engen Zusammenarbeit mit Schulen in verschiedenen Werkstattformaten beruhen, zeigen, dass eine gelingende multiprofessionelle Kooperation eine ganzheitliche Perspektive auf die bedarfsorientierte Förderung von Schüler:innen im Übergangsprozess ermöglicht. Dabei führen transparente Strukturen und Prozesse sowie Zuständigkeiten zu einer effektiven Gestaltung des Schulalltags, wobei personelle und zeitliche Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden können.

Im Symposium werden vier Beiträge (á 15 Minuten) vorgestellt, die gemeinsam die folgende übergeordnete Frage beantworten: Wie kann eine multiprofessionelle Kooperation gelingen, damit sie einen Mehrwert für eine bedarfsorientierte und kontextsensible Schulentwicklung mit dem Ziel der ganzheitlichen Förderung von Schüler:innen hat?

Beitrag 1 setzt sich mehrebenenanalytisch mit dem Zusammenhang von multiprofessioneller Kooperation, Angebotsqualität und benachteiligten Schüler:innen auseinander und fragt, welchen Einfluss diese auf das schulische Wohlbefinden hat.

Daran anknüpfend befasst sich Beitrag 2 mit multiprofessioneller Kooperation in Familienzentren im Primarbereich und der Frage, welche Strategien Grundschulen zur Gestaltung multiprofessioneller Kooperation nutzen, um ganzheitlich und ressourcenorientiert mit Familien zusammenzuarbeiten.

Das Bindeglied zwischen der Primar- und Sekundarstufe stellt Beitrag 3 dar, welcher den Blick auf Bedarfe, Chancen und Herausforderungen in der Kooperation zwischen Schule und außerschulischen Partnern richtet.

Abschließend behandelt Beitrag 4 die reflexiv und partizipative Gestaltung einer multiprofessionellen Kooperation für die Begleitung von Schüler:innen im Übergangsprozess von der Schule ins Erwachsenwerden, eine berufliche Ausbildung oder ein Studium.

Auf Basis qualitativer und quantitativer Forschung in den Projekten „StEG - Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“, „Familienzentren im Primarbereich“ und „Schule macht stark“ soll entlang der Bildungskette eine multiperspektivische Betrachtung auf die Förderung von Schüler:innen durch multiprofessionelle Kooperation erfolgen und der Transfer von Erkenntnissen zur bedarfsorientierter und kontextsensibler Schulentwicklung in den Blick genommen werden.

Im Anschluss an die Beiträge folgt eine themenübergreifende Diskussion (ca. 30-40 Minuten) mit Beteiligung von Prof. Dr. Nina Bremm (FAU Erlangen-Nürnberg) als Diskutantin. Dabei werden die Ergebnisse mit Blick auf die übergreifende Frage reflektiert und ihre Transferpotenziale diskutiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

Multiprofessionelle Kooperation, Angebotsqualität und das Wohlbefinden in der Schule. Mehrebenenanalysen zum Beitrag von multiprofessionellen Kooperationsstrukturen für Kinder in der Ganztagsschule

Amina Kielblock, Stephan Kielblock
DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation

Die Ergebnisse der PISA-Studie vor etwa zwei Jahrzehnten und deren Diskussion ebneten politisch den Weg, Ganztagsschulen flächendeckend in Deutschland einzuführen (Tillmann & Kuhn, 2015). Es wird angenommen Ganztagsschulen haben ein besonderes Potenzial, Schüler:innen – auch an Schulen in herausfordernden Lagen – individuell zu unterstützen (van Ackeren et al., 2021). Um dies umzusetzen, werden vielfältige multiprofessionelle und interinstitutionelle Kooperationen eingegangen (Kielblock, 2022). Auch mit Blick auf den ab 2026 gesetzlichen Anspruch auf ganztägige Förderung von Grundschulkindern ist die Qualität in der Grundschule wichtig (KMK, 2023). In diesem Beitrag wird der Blick auf die pädagogische Kooperation an Ganztagsgrundschulen gelenkt. Es wird untersucht, inwiefern diese mit der Angebotsqualität und mit dem Wohlbefinden der Schüler:innen zusammenhängt.

Das Wohlbefinden ist für ein positives Aufwachsen wichtig und ist zentrale Aufgabe der Schule (UNESCO, 2022), auch der Ganztagsschule (KMK, 2023). Forschungsbefunde zu Sekundarstufenschüler:innen I zeigen, dass eine hohe Angebotsqualität das Wohlbefinden stärkt (Fischer, Brümmer & Kuhn, 2011; Fischer & Theis, 2014). Eine Rolle bei der Angebotsqualität spielt u.a. die von den Schüler:innen eingeschätzte Beziehungsqualität. Hier ist bekannt, dass die Beziehungsqualität sich positiv auf das Sozialverhalten (Fischer, Kuhn & Züchner, 2011) sowie auf Schulerfolg-relevante Merkmale (Dohrmann, Brisson & Kielblock, 2021; Fischer, Brümmer & Kuhn, 2011; Kuhn & Fischer, 2011a) auswirkt. Dass die Qualität sich auf Schüler:innenmerkmale auswirkt, findet sich im Modell zur Schulwirksamkeit von Ganztagsschule (Holtappels, 2009). Diesem zufolge ist die Qualität der Ganztagsangebote von Merkmalen der Schulgestaltung abhängig, zu denen auch die multiprofessionelle Kooperation zählt. Von der Kooperation wird gemeinhin angenommen, dass sie vielfältige positive Effekte für die pädagogische Praxis bringen könnte (WHO, 2010). Diese Annahme ist theoretisch begründet, aber es fehlt an empirischer Evidenz (Hochfeld & Rothland, 2022; Kielblock & Rinck, 2021, 2022).

Deshalb wird im Vortrag untersucht, inwiefern die Angebotsqualität mit dem Wohlbefinden der Schüler:innen zusammenhängt (Frage 1a) und ob sich der Zusammenhang nach Schüler:innen- und Schul-Ebene unterscheidet (Frage 1b). Auf Schulebene wird der Zusammenhang der Kooperation mit der Angebotsqualität (Frage 2a) und dem Wohlbefinden (Frage 2b) analysiert. Ferner wird der Zusammenhang mit der zu Hause gesprochenen Sprache (als ein Teil-Indikator für soziale Benachteiligung, vgl. Schräpler & Forell, 2023) und dem Wohlbefinden untersucht (Frage 3a) und ob es Unterschiede zwischen der Schüler:innen- und Schul-Ebene gibt (Frage 3b). Dafür eine Sekundäranalyse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG; 2005–2011) vorgenommen. Ausgewertet wird der Primarschüler:innendatensatz von 2009 (3. Klasse, Substichprobe: Schüler:innen, mit Ganztagsteilnahme, n=1107) sowie der dazugehörige Schulleitungsdatensatz (n=75). Das Wohlbefinden wird mittels Schulzufriedenheit (5 Items) operationalisiert, die Angebotsqualität durch die Skala „Positive Wahrnehmung von Betreuerverhalten und Ganztagsangeboten“ (5 Items). Für die Einschätzung der multiprofessionellen Kooperation, werden die Antworten der Schulleitung herangezogen. Berechnet wird ein Mehrebenenpfadmodell, das auf Schüler:innenebene (Level 1) die Qualität und die zu Hause gesprochene Sprache auf das Wohlbefinden modelliert. Auf Schulebene (Level 2) wird zudem die Kooperation auf die Qualität sowie auf das schulische Wohlbefinden modelliert.

Die Mehrebenenanalysen ergeben ein kohärentes Bild: Zu Frage 1 zeigt die Analyse, dass die Qualität mit dem Wohlbefinden positiv zusammenhängt (Level 1: beta=.22***, Level 2: beta=.68***). Hinsichtlich Frage 2 zeigt sich: auf Schulebene hängt die Kooperation stärker mit der Qualität zusammen (beta=.34*) als mit dem Wohlbefinden (beta=.21*). Die zu Hause gesprochene Sprache hat auf Individualebene keinerlei Effekt, aber auf Schulebene: Schulen mit einem hohen Anteil an Schüler:innen, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, haben gleichzeitig einen hohen Anteil von Schüler:innen, die sich nicht in der Schule wohlfühlen (beta=-.47*, Frage 3).

Die vorliegenden Analysen erweitern das Wissen um die multiprofessionelle Kooperation in Ganztagsgrundschulen: hier wurde die Kooperation erstmals u.a. mit der Qualität und den Schüler:innenoutcomes in Verbindung gebracht. Weitere Analysen sind geplant (bspw. den Einbezug weiterer Benachteiligungsmerkmale).

 

Multiprofessionelle Kooperation in Familienzentren im Primarbereich: Zusammenarbeit zwischen Grundschule und Familien ganzheitlich gestalten

Philipp Hackstein
Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen

Die Anforderungen an Grundschulen gehen weit über die Gestaltung des Unterrichts hinaus und umfassen Schulentwicklungsaufgaben zur Schaffung eines ganzheitlichen Lern- und Lebensorts für Kinder. Dazu gehören bspw. die Gestaltung eines adäquaten Ganztagsangebotes, die Öffnung zum Sozialraum, die Implementierung digitaler Bildungsinfrastruktur oder die Umsetzung von Inklusion (Brinkmann et al., 2021, S. 3). Diese komplexen Aufgaben sind insbesondere für Schulen in herausfordernden Lagen, die durch einen hohen Anteil an sozial benachteiligten Schüler:innen gekennzeichnet sind (van Ackeren et al., 2021, S. 20), anspruchsvoll. Zur Unterstützung dieser Schulen und zur Gestaltung eines ganzheitlichen Blicks auf die Entwicklung von Kindern sind neben Lehrkräften vermehrt weitere pädagogische und nicht-pädagogische (Fach)Kräfte in Schule vorzufinden. Mit einer steigenden Anzahl an beteiligten Professionen und der zunehmenden Ausdifferenzierung der Personalstruktur an Schulen (Hochfeld & Rothland, 2022, S. 455) werden Kompetenzen zur Kooperation wichtiger, da multiprofessionelle Strukturen eine zentrale Gelingensbedingung für einen ganzheitlichen Blick auf die Lern- und Entwicklungsprozesse von Kindern darstellen (Brinkmann et al., 2021, S.3).

Für die Gestaltung von Grundschulen als Lern- und Lebensort ist auch eine ressourcenorientierte Zusammenarbeit mit Familien von Bedeutung. Die Kooperation zwischen Schule und Familien verbessert Vertrauen und Wertschätzung innerhalb der Schulgemeinde, wirkt sich positiv auf Schule und Lehrkräfte aus und verbessert die Sozialkompetenz und Lernmotivation von Schüler:innen, was langfristig auch auf die Leistungsentwicklung begünstigen kann (Sacher, 2022, S. 21).

Ein Konzept für die Zusammenarbeit von Grundschule und Familien ist das „Familienzentrum im Primarbereich“ (FaPri), das insbesondere in Nordrhein-Westfalen gefördert wird (bspw. MSB, 2023). Ziel der FaPri ist die Verbesserung von Bildungschancen von Kindern und der Abbau von Herkunftseffekten durch die Stärkung der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft (Born et al., 2019; Boudon, 1974). FaPri zeichnen sich durch Familien-, Sozialraum- und Kooperationsorientierung aus (Hackstein et al., 2023a, S. 106). Eine zentrale Gelingensbedingung für die Implementierung des Konzepts ist die Verknüpfung der schulischen Teilsysteme und die Etablierung multiprofessioneller Strukturen, um professionsübergreifend und „aus einer Hand“ mit Familien zusammenzuarbeiten (Hackstein et al., 2023b).

Im Rahmen des Beitrags wird deshalb folgende Fragestellung beantwortet: Welche Strategien zur Gestaltung multiprofessioneller Kooperation nutzen Grundschulen, um ganzheitlich und ressourcenorientiert mit Familien zusammenzuarbeiten?

Als Datengrundlage für den Beitrag dienen Fallstudien an elf FaPri in Nordrhein-Westfalen, die im Rahmen von zwei Projekten (ein regionales Fallstudienprojekt und „Schule macht stark“) durchgeführt wurden. Dabei werden zum einen leitfadengestützte Expert:inneninterviews (n=90) mit Schulleitungen (n=11), FaPri-Koordinator:innen (n=9), Schulsozialarbeiter:innen (n=9), Ganztagsleitungen (n=10), Ganztags-(Fach)Kräften (n=24) und Lehrkräften (n=27) auswertet. Zum anderen wurden an drei der elf Grundschulen ko-konstruktive Werkstätten durchgeführt. Hier haben Wissenschaft und Grundschulpraxis gemeinsam Strategien zur Gestaltung von multiprofessioneller Kooperation als Basis für die Zusammenarbeit mit Familien entwickelt, die in Form von transferierbaren Gestaltungsinstrumenten festgehalten wurden.

Im Symposiumsbeitrag werden Ergebnisse aus den Fallstudien sowie die ko-konstruktiv entwickelten Instrumente vorgestellt. Dabei werden Gelingensbedingungen und Herausforderungen identifiziert, die im Folgenden beispielhaft angeführt werden (siehe auch Hackstein, 2023b). Zur Etablierung von multiprofessioneller Kooperation ist die Gestaltung eines ganzheitlichen schulischen Selbstverständnisses und die Definition von Leitorientierungen (bspw. der „Blick auf’s Kind“ als gemeinsame Klammer) wichtig. Der Schulleitungsrolle kommt für diese Aufgabe als auch für die Initiierung und Steuerung von multiprofessionellen Teamstrukturen eine zentrale Bedeutung zu. Deutlich wird, dass Schulleitungen hier zum Teil im Kompetenzaufbau unterstützt werden müssen. Außerdem zeigt sich, dass der professionsübergreifende Austausch im schulischen Alltag gestaltet werden muss. Insbesondere bei additiven Ganztagskonzepten und vielen teilzeitbeschäftigten (Fach-)Kräften ist eine Institutionalisierung notwendig. Des weiteren sind eine Rollenklärung und -abgrenzung zwischen den (Fach)Kräften von Bedeutung, um bspw. niedrigschwellige Angebote und Zugänge für Familien gestalten zu können.

 

Bedarfe, Chancen und Herausforderungen außerschulischer Kooperationen bei Schulen in sozial deprivierten Lagen

Holger Bargel, Birgit Reißig
Deutsches Jugendinstitut

Die Kooperation von Schule mit außerschulischen Akteur:innen soll über ein breites Bildungsangebot dazu beitragen, Bildungs- und Lernprozesse zu verbessern. Dies trägt zugleich einem erweiterten Bildungsverständnis Rechnung, bei dem ein Zusammenwirken formaler, non-formaler und informeller Bildungsprozesse ermöglicht wird (StEG-Konsortium, 2019). Aus Forschungszusammenhängen gibt es Hinweise, dass Schüler:innen von Kooperationen profitieren, z.B. über eine bessere individuelle Förderung. Schulen können ihre Ressourcen effektiver nutzen und pädagogische Innovationen werden befördert (Jutzi, 2018). Gerade in benachteiligten Sozialräumen scheinen Kooperationen zwischen Schule und außerschulischen Partner:innen besonders relevant. Sozial herausfordernde Lagen stehen schon seit langem im Blickfeld von Forschung (u.a. Shaw & McKay, 1942; Häußermann & Siebel, 2004). Spätestens mit Beginn der PISA-Erhebungen ist der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und (schulischer) Bildung in das öffentliche Bewusstsein gerückt worden (Baumert, Stanat & Watermann, 2006; Prenzel et al., 2004). Als entscheidende Aspekte bei der Beschreibung herausfordernder Bedingungen werden ein niedriger ökonomischer Status, die ethnische Heterogenität sowie Mobilität identifiziert (Kunadt, 2010). Die betroffenen Schulen stehen vor dem Hintergrund der genannten Rahmenbedingungen vor großen Herausforderungen, denn sie müssen Kompensationsleistungen für Lerndefizite und fehlende außerschulische Unterstützungsleistungen ihrer Schüler:innen erbringen (Webs et al., 2018, S. 146).

Wir wollen im Beitrag der Frage nachgehen, welche Kooperationen bestehen und wie diese durch die Beteiligten an den Schulen eingeschätzt werden? Wo werden weitergehende Bedarfe bei der Ausgestaltung außerschulischer Kooperationen gesehen? Dabei sollen die Spezifika der Schulen aus sozial benachteiligten Gebieten herausgearbeitet werden. Mit welchen besonderen Bedarfen und Herausforderungen sind diese Schulen konfrontiert?

Die Daten dazu stammen aus einer Erhebung der 2021 gestarteten Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“. Zu Beginn des Projekts wurde an 200 beteiligten Schulen aus sozial deprivierten Lagen eine standardisierte Online-Ausgangserhebung durchgeführt, bei der die Schulleitungen, die Lehrkräfte und das weitere pädagogisch tätige Personal mit jeweils unterschiedlichen Fragebögen befragt wurde. An den Befragungen beteiligten sich 195 Schulleitungen, 2.923 Lehrkräfte und 787 Personen, die an den Schulen anderweitig pädagogisch tätig sind. Die aus den Befragungen generierten Daten wurden unter Nutzung der Methoden quantitativer Forschung ausgewertet. Darüber hinaus wurden an fünf Schulen Fallstudien erstellt. Dazu wurden standardisierte Interviews mit Schulleitungen sowie mit Lehrkräften und weiterem pädagogischen Personal geführt. Diese wurden anhand qualitativer Methoden untersucht.

Diese Ergebnisse der Erhebungen werden in Bezug zu Erkenntnissen der bisherigen Forschung gesetzt. Bestehende Forschungsergebnisse aus der Fachliteratur zeigen, dass die Kooperation von Schule mit außerschulischen Partner:innen fester Bestandteil an allen Schulformen ist. Rund drei Viertel kooperieren regelmäßig oder häufig mit Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Sportvereinen und anderen Grundschulen (Wendt et al., 2017).

Bei der Befragung der „SchuMaS-Schulen“ werden die Schulsozialarbeit, das Jugendamt/die Jugendpflege sowie die Polizei am häufigsten genannt. Die Verortung der Schulen in sozial schwierigen Lagen, wirkt sich offensichtlich auf die Wahl der Kooperationspartner:innen aus. Bei der Kooperation mit Jugendamt/Jugendpflege fällt auf, dass besonders viele Schulleitungen die Zusammenarbeit als nicht bedarfsgerecht beschreiben und eine Weiterentwicklung für nötig halten.

Aus den Interviews mit den Fallstudien wird zudem ersichtlich, mit welchen besonderen Herausforderungen Schulen in sozial benachteiligten Gebieten zu kämpfen haben. Die Schulen haben alle einen sehr hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Schulen leisten eine immense Integrationsarbeit und sind dabei auf Kooperationen angewiesen: von Migrant:innenvereinen über Sprachschulen bis zum Jugendamt (bspw. bei unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen).

Schulen in sozial deprivierten Lagen haben zudem häufig mit einem schlechten Image zu kämpfen und beschreiben ihre Schüler:innen als „schwierig zu nehmen“. Dies erschwert die Suche nach geeigneten Kooperationspartner:innen. Für Sekundarschulen stellt sich in der Phase der Berufsorientierung beispielsweise das Problem, Praktikumsplätze für die Schüler:innen zu finden.

Die Ergebnisse verweisen einmal auf die Herausforderungen, mit denen Schulen zu kämpfen haben, zeigen aber auch Ansatzpunkte für den zielgerichteten Aufbau außerschulischer Kooperationen.

 

Multiprofessionelle Kooperation für die Übergangsbegleitung von Schülerinnen und Schülern partizipativ und reflexiv gestalten – Wie geht das?

Monique Ratermann-Busse, Susanne Enssen
Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen

Die Heterogenität der Schülerschaft insbesondere an Schulen in sozial schwierigen Lagen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Schulen mit Sekundarstufe I etablieren vielfältige Angebote und Maßnahmen für Schüler:innen mit heterogenen Bildungsvoraussetzungen, um ihnen die Partizipation an gesellschaftlicher und beruflicher Teilhabe zu ermöglichen. Der Übergang von der Schule in eine Ausbildung ist aufgrund sich stetig wandelnder Kompetenzanforderungen in der Arbeitswelt mit zunehmenden Unsicherheiten verbunden (Mittermüller, 2020, S. 157f.). Die Übergangsbegleitung im Rahmen der Berufsorientierung wird damit zu einem Kernthema, wie auch verschiedene Programme von Bund und Ländern (z. B. BMBF et al., 2021) aufzeigen. Um dem damit verbundenen wachsenden Aufgabenspektrum im schulischen Alltag gerecht zu werden, setzen Schulen vermehrt auf die multiprofessionelle Zusammenarbeit von schulischen und außerschulischen Akteur:innen. Aktuelle Studien verdeutlichen, dass Schulleitungen ihre Schulen als „lokale Akteurin“ (Fichtner et al., 2022, S. 84) verstehen, wobei multiprofessionelle Kompetenzteams neue Ideen einbringen und durch ein geteiltes Bildungsverständnis eine an heterogenen Bedarfen orientierte Schulentwicklung mitgestalten. Mit Blick auf die Berufs- und Studienorientierung als definierte Querschnittsaufgabe von Schulen wird die Entwicklung und Etablierung multiprofessioneller Kompetenzteams zur umfassenden Koordinationsaufgabe, wobei Handlungspotenziale und Kompetenzen aller beteiligten schulischen und außerschulischen Akteur:innen mit unterschiedlichen Professionen zusammengeführt, zeitliche und materielle Ressourcen bereitgestellt, Strukturen für Abstimmungsprozesse geschaffen sowie Aufgaben und Funktionen der Beteiligten festgelegt werden müssen (Enssen & Ratermann-Busse, in Bearbeitung).

Fragen multiprofessioneller Kooperation werden aktuell in der Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“ behandelt. Im Projektkontext wurde ein Werkstattkonzept entwickelt, welches im ko-konstruktiven Austausch zwischen Wissenschaft und Bildungspraxis folgende Teilforschungsfragen in den Blick nimmt:

- Wie lassen sich auf der institutionellen Ebene Koordinations- und Kooperationsstrukturen für die multiprofessionelle Zusammenarbeit von schulischen und außerschulischen Akteur:innen im Rahmen der Übergangsbegleitung mit Schwerpunkt auf die Berufs- und Studienorientierung nachhaltig etablieren?

- Wie kann auf der interpersonellen Ebene eine multiprofessionell ausgerichtete Partizipations-, Feedback- und Kooperationskultur im Kollegium zur Stärkung der Berufs- und Studienorientierung von Schüler:innen mit heterogenen Bedarfen im Übergangsprozess als Querschnittsaufgabe gestärkt werden?

- Wie können mit Blick auf die individuelle Ebene schulische und außerschulische Akteur:innen Ihre eigene Rolle bei der Übergangsbegleitung identifizieren, transparent machen und reflektieren?

Zur Beantwortung der Fragen wurden in einem ersten Schritt unterschiedliche Perspektiven zu förderlichen sowie hinderlichen Strukturen und Prozessen für eine kooperative Übergangsbegleitung erfasst. In einem zweiten Schritt dienten die analysierten Ergebnisse dazu, im ko-konstruktiven Theorie-Praxis-Austausch bedarfs- und transferorientierte Instrumente und Arbeitshilfen für die Stärkung einer partizipativ und reflexiv angelegten multiprofessionellen Kooperation als Gelingensbedingung bei der Übergangsbegleitung zu entwickeln und diese im Rahmen von Workshops zu erproben.

Die Datengrundlage bilden leitfadengestützte Interviews an einer Oberschule und einer kooperativen Gesamtschule in Niedersachsen mit schulischen (n = 11) und außerschulischen Akteur:innen (n = 8) sowie teilnehmenden Beobachtungen an Berufs- und Studienorientierungsangeboten (n = 5) und ergänzende Schüler:innenbefragungen (n = 150).

Im Fallvergleich zeigt sich, dass schulische und außerschulische Akteur:innen als Promotor:innen auftreten (können), indem sie die Schüler:innen z. B. durch ihr Fachwissen oder ihre Netzwerkarbeit im Sozialraum im Übergangsprozess unterstützen (Niermann &Palmas, 2017). Allerdings benötigen die Schulen konzeptionelle Impulse für die Klärung von Aufgaben und Zuständigkeiten multiprofessioneller Akteur:innen, um Prozesse voranzutreiben und für das gesamte Kollegium transparent zu machen. Gleichzeitig zeigen sich konkrete Unterstützungsbedarfe der Schulen bei der Verankerung der Berufs- und Studienorientierung als Querschnittsaufgabe und dem damit verbundenen hohen Koordinationsaufwand, der nur durch eine optimale Ressourcenverteilung in multiprofessionellen Kompetenzteams bewältigt werden kann.

Der Beitrag beschäftigt sich damit, wie die gewonnenen Erkenntnisse mit der ko-konstruktiven Entwicklung von forschungsbasierten Gestaltungsmaterialien für die multiprofessionelle Kooperation im Kontext der Übergangsbegleitung sowie ihrer Implementation im Schulalltag verknüpft wurden. Darüber hinaus wird ein Lehrkonzept dargestellt, welches in Anlehnung an die Werkstatt entstanden ist, um den Wissenstransfer in die Lehre zu sichern und Lehramtsstudierende für die Relevanz einer kooperativen Übergangsbegleitung an Schulen in sozial deprivierter Lage zu sensibilisieren.

 
15:20 - 17:003-14: Empirische Untersuchungen im Kontext der Wissenschaftskommunikation
Ort: H07
 
Paper Session

“Das sieht für mich nach Wissenschaft aus!” - Über subjektive Wissenschaftlichkeitswahrnehmungen von Lai:innen beim Lesen psychologischer Kurzzusammenfassungen und deren Einfluss auf Vertrauen

Mark Jonas, Tom Rosman

Leibniz-Institut für Psychologie (ZPID), Deutschland

Theoretischer Hintergrund: Bisherige Forschung (Bromme et al., 2015; Thomm & Bromme, 2012) liefert Evidenz für den “Scientificness-Effekt”: Leser:innen schätzen wissenschaftlich geschriebene Texte im Vergleich zu Sachtexten als vertrauenswürdiger ein und stimmen deren Aussagen eher zu. Wissenschaftlichkeit wurde hierbei meist über Referenzen, detaillierte Methodenbeschreibungen und einen sprachlich neutralen Ton variiert. Der Effekt konnte wiederholt repliziert werden (Jonas et al., 2023; Zaboski & Therriault, 2020). Allerdings wurde bisher meist der direkte Zusammenhang zwischen Wissenschaftlichkeit und Vertrauen betrachtet, ohne gleichzeitig den Einfluss der subjektiven Wissenschaftlichkeitswahrnehmung von Leser:innen zu prüfen. Gerade dieser Aspekt könnte jedoch eine zentrale Größe für den Scientificness-Effekt und für ein übergeordnetes theoretisches Rahmenmodell darstellen. Zudem ist unklar, ob Merkmale von Wissenschaftlichkeit auf Autor:innenebene ebenfalls dazu beitragen, dass Leser:innen einen Text als wissenschaftlicher und vertrauenswürdiger wahrnehmen.

Fragestellung: Wird der Zusammenhang zwischen Merkmalen von Wissenschaftlichkeit auf Autor:innen- bzw. Textebene und Vertrauen durch wahrgenommene Wissenschaftlichkeit mediiert?

Methode: Auf Basis einer Präregistrierung wurden online eine Pilot- (N = 109, MAlter = 47,13, SDAlter = 15,76, range = 18 - 76 , w = 50,45%) und eine Hauptstudie (N = 838, MAlter = 47,97, SDAlter = 15,66, range = 18 - 77 , w = 50,12%) mit Proband:innen aus der deutschsprachigen Allgemeinbevölkerung durchgeführt. In einem 2*2 Design wurden zwei psychologische Kurzzusammenfassungen systematisch mit Blick auf die Wissenschaftlichkeit des Textes und der Autor:in variiert (hoch vs. niedrig). Auf Textebene wurde bei hoher Wissenschaftlichkeit per Referenzen der Bezug zu weiterer Forschung hergestellt, die Untersuchungsmethoden (verwendete Fragebögen, Messzeitpunkte, etc.) wurden geschildert und ein sprachlich neutraler Ton gewählt. Bei niedriger Textwissenschaftlichkeit wurden Referenzen und Methodenbeschreibungen ausgelassen, und es wurde ein umgangssprachlicher, wertender Ton genutzt. Autor:innenwissenschaftlichkeit wurde über die Expertise, Affiliation und Einschlägigkeit der Autor:in variiert. Bei hoher Wissenschaftlichkeit wurde die Autor:in als erfahrene Forscher:in an einer öffentlichen Einrichtung mit vielen veröffentlichten Publikationen in angesehenen Zeitschriften und einer sehr genauen Arbeitsweise dargestellt. Bei niedriger Wissenschaftlichkeit wurde hingegen auf einen Hintergrund als Bachelor-Student:in mit einer Tätigkeit in der privaten Wirtschaft, geringe Forschungserfahrung, wenig Publikationen in unbekannteren Zeitschriften und eine im Detail ungenaue Arbeitsweise verwiesen. Im Rahmen der Pilotstudie fand ein Manipulation Check und eine Überarbeitung der Texte statt.
Die Proband:innen bewerteten sowohl die Wissenschaftlichkeit der Autor:in bzw. des Textes und ihr Vertrauen in die Autor:in bzw. den Text. Wahrgenommene Wissenschaftlichkeit wurde per Likert-Item erfasst (1 = „sehr unwissenschaftlich”, 8= „sehr wissenschaftlich”), Vertrauen in die Autor:in über das Muenster Epistemic Trustworthiness Inventory (METI, Hendriks et al., 2015), und Vertrauen in den Text ebenfalls per Likert-Item (1 = „sehr unglaubwürdig”, 8 = „sehr glaubwürdig”). Die Auswertung der Mediationsmodelle erfolgte durch mixed models mit dem package mediation (Tingley et al., 2019) in R.

Ergebnisse: Autor:innenwissenschaflichkeit und Textwissenschaftlichkeit als unabhängige Variablen sagten Vertrauen in die Autor:in bzw. den Text signifikant positiv vorher (ꞵs = .142 -.312, SEs = .036 -.044, ps < .001, R² = .005 - .024). Ebenso sagte Wissenschaftlichkeit die Mediatoren wahrgenommene Wissenschaftlichkeit der Autor:in bzw. des Texts signifikant positiv vorher (ꞵs = .325 - .421 , SEs = .044 -.046, ps < .001, R² = .026 - .044). Die Mediatoren sagten Vertrauen ferner auch dann noch signifikant positiv vorher, wenn gleichzeitig die unabhängigen Variablen und weitere Kontrollvariablen berücksichtigt wurden (ꞵs = .381 - 615, SEs = .017, ps < .001, R² = .175 - .418). Der durchschnittliche kausale Mediationseffekt (ACME) erreichte für alle Modelle Signifikanz (ꞵs = .119 - .287, 95%CI[.084-.236|.150 - .340], ps < .001). Daher scheint subjektiv wahrgenommene Wissenschaftlichkeit eine zentrale, vermittelnde Einflussgröße für den Scientificness-Effekt darzustellen, was für die zukünftige Theoriebildung essentiell ist. Weitere Implikationen, z.B. mit Blick auf individuelle Merkmale, die die Wissenschaftlichkeitswahrnehmung beeinflussen könnten (epistemische Überzeugungen), werden diskutiert. Auch werden Implikationen für die Wissenschaftskommunikation gegenüber der Allgemeinbevölkerung aufgegriffen.



Paper Session

Wer sagt was? Der Effekt von Rollenzuschreibung und Message Framing auf die Wahrnehmung von Informationen

Hadjar Mohajerzad, Josephine Hennch, Martin Merkt

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e. V., Deutschland

Hintergrund und Fragestellung

In den letzten Jahren haben sich Videos zu einem attraktiven Format für die Wissenschaftskommunikation entwickelt (León & Bourk, 2018). In Videos kann mithilfe von narrativen Elementen die Kommunikation über Wissenschaft vereinfacht werden (Finkler & León-Anguiano, 2019). Die Forschung zeigt, dass die Einbindung von Narrativen in die Kommunikation zu einem besseren Verständnis und größerem Interesse an einem Thema führen kann (Graesser et al., 2002; Green, 2004, 2006), wobei insbesondere jene Informationen besser erinnert werden, die in einer engen Verbindung zur Narration stehen (Dahlstrom & Ho, 2012). Zusätzlich steigert eine narrative Einbettung die Akzeptanz und wahrgenommene Relevanz von Informationen (Bucher et al., 2022). In unserem Experiment untersuchen wir, ob die Art der narrativen Einbettung (Praxisrelevanz vs. Wissenschaftsfokus) in Videos, die wissenschaftlich fundierte Informationen über digitale Lernwerkzeuge bereitstellen, die Bewertung der bereitgestellten Informationen durch die Rezipient/innen beeinflusst und inwiefern sich dies in der Erinnerung an die Inhalte widerspiegelt.

Zudem können Rollenzuschreibungen Rollenerwartungen hervorrufen, die die Wahrnehmung von Informationen beeinflussen (Feuer, 2006). So können Rollenzuschreibungen unter anderem die wahrgenommene Glaubwürdigkeit und Relevanz der vermittelten Informationen beeinflussen (Bucher et al., 2022). Daher wird im vorliegenden Beitrag der mutmaßliche Beruf der vermittelnden Person (Bildungsforscherin vs. Workshopleiterin) systematisch variiert.

Methode

Insgesamt liegen vollständige Datensätze von 352 Teilnehmenden (141 weiblich, 209 männlich, 2 divers; MAlter = 32,30; SDAlter=10,77) vor, die über die Seite Prolific für unsere Online-Studie rekrutiert wurden. Dabei wurden die Teilnehmenden zufällig einer von vier Bedingungen zugewiesen, die sich aus einer vollständigen Kreuzung der beiden Faktoren Profession (Bildungsforscherin vs. Workshopleiterin) sowie narrative Einbettung (Alltagsbeispiel vs. Wissenschaftsfokus) ergaben. In dem ca. 5-minütigen Video stellte sich dieselbe weibliche Person (Mitte 20, weiß) entweder als Bildungsforscherin oder als Workshopleiterin vor, bevor sie das Thema entweder mit einem Fokus auf Praxisrelevanz oder mit dem Fokus auf Wissenschaft einleitete. Die folgenden Informationen über die digitalen Tools (z.B. Kahoot!) und wissenschaftlichen Befunde zur Wirksamkeit dieser Tools (Testing Effect und Gamification) waren in allen vier Bedingungen exakt identisch. Nachdem die Teilnehmenden die Videos sahen, bewerteten sie unter anderem die wahrgenommene Relevanz der Inhalte, die Vertrauenswürdigkeit der vermittelnden Person, die Wissenschaftlichkeit der Videos und das selbst eingeschätzte Wissen, bevor sie in einem Wissenstest Fragen zu den Inhalten des Videos beantworteten.

Ergebnisse und ihre Bedeutung

Während sich für die wahrgenommene Relevanz der Inhalte keine Haupteffekte oder Interaktionen der beiden Faktoren Narrative Einbettung und Profession zeigten, alle p > .091, ergaben sich für die abhängigen Variablen Vertrauenswürdigkeit der vermittelnden Person, wahrgenommene Wissenschaftlichkeit der Inhalte, wahrgenommenes Lernen und Lernergebnisse jeweils Haupteffekte des Faktors narrative Einbettung, alle p < .014, die allesamt auf eine Überlegenheit einer praxisnahen Einbettung des Videos hindeuten. Jedoch weisen Interaktionen für sämtliche genannte Variablen darauf hin, dass die praxisrelevante Einbettung nur dann positiv wirkt, wenn sich die Person als Wissenschaftlerin vorstellte, alle p < . 048. Der Haupteffekt für den Faktor Profession wurde nur für die Variable Wissenschaftlichkeit signifikant, bei der die Wissenschaftlerin als wissenschaftlicher wahrgenommen wurde als die Praktikerin, p = .039. Damit deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die praxisnahe Einbettung wissenschaftlicher und praxisnaher Informationen im Zusammenspiel mit der mutmaßlichen Profession der vermittelnden Person einen Einfluss auf die Wahrnehmung und die Erinnerung an diese Informationen haben kann, selbst wenn die vermittelten Informationen und die vermittelnde Person selbst exakt identisch sind. So lässt sich aus den vorliegenden Ergebnissen ableiten, dass insbesondere Wissenschaftler/innen bei der Vermittlung wissenschaftlicher und praxisnaher Informationen die Relevanz der Informationen für die Praxis betonen sollten, um Wissen effektiv und glaubwürdig zu kommunizieren. Jedoch ist weitere Forschung erforderlich, um die Generalisierbarkeit der Befunde auf andere Zielgruppen und andere Wissensvermittelnde (Geschlecht, Alter, Ethnizität) zu überprüfen.



Paper Session

Vertrauensbildende und vertrauenshemmende Faktoren bei der Bewertung von Forschenden durch Laien: Eine exploratorische Untersuchung

Tom Rosman, Nina Hackmann

Leibniz-Institut für Psychologie (ZPID), Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Der Transfer wissenschaftlicher Evidenz in die Bildungspraxis setzt eine positive Bewertung wissenschaftlicher Befunde voraus. Wissenschaftliche Laien bewerten die Evidenz dabei oftmals nicht direkt, sondern beurteilen die Vertrauenswürdigkeit der jeweiligen Quelle, also beispielsweise der Wissenschaftlerin, die über ihre Forschungsergebnisse berichtet (Bromme et al., 2010). Maßgeblich für solche Bewertungen „zweiter Hand“ sind die wahrgenommene Expertise, Integrität und Benevolenz von Wissenschaftler:innen (Hendriks et al., 2015). Zudem spielen konkretere forschungsbezogene Faktoren wie das Funding einer Studie, die Nutzung von Open Science-Praktiken, oder das Anwenden fragwürdiger Forschungspraktiken eine Rolle (Rosman et al., 2022; Song et al., 2022). Wenig bekannt hingegen ist über die relative Einflussstärke dieser Faktoren, da unseres Wissens keine Studien existieren, die unterschiedliche Faktoren in eine Datenerhebung integrieren und gegeneinander abwägen. Zudem können keine Schlüsse auf den tatsächlichen Einfluss der genannten Faktoren gezogen werden, da gegenwärtige Studien nicht zwischen den potenziellen und tatsächlichen Auswirkungen unterscheiden. Dies ist problematisch, da auch Faktoren mit einem potenziell großen Einfluss nur eine geringe Wirkung haben können, wenn Personen davon ausgehen, dass solche Praktiken wenig verbreitet sind.

Fragestellung

Der vorliegende Beitrag untersucht die potenzielle Einflussstärke der genannten Faktoren auf das Vertrauen in Forschende (Fragestellung 1). Zudem werden Einschätzungen zur potenziellen Einflussstärke mit Einschätzungen zur Verbreitung der jeweiligen Faktoren kombiniert, um eine genauere Übersicht über die tatsächlichen Determinanten von Vertrauen in Forschende in der Allgemeinbevölkerung zu gewinnen (Fragestellung 2).

Methode

Zur Untersuchung der Forschungsfragen wurde ein zweigestufter szenariobasierter Fragebogen entwickelt. In einem ersten Schritt wird die potenzielle Einflussstärke erfasst. Dazu beurteilen die Versuchspersonen insgesamt 14 Handlungen und Eigenschaften einer fiktiven Wissenschaftlerin dahingehend, ob sie eher vertrauenshemmend oder vertrauensfördernd sind (Beispielitem Benevolenz: „Dr. Schulze möchte mit ihrer Forschung anderen Menschen helfen“; siebenstufige Antwortskala von „sehr stark vertrauenshemmend“ über „weder/noch“ bis „sehr stark vertrauensfördernd“). Anschließend geben die Versuchspersonen eine Einschätzung zur Verbreitung der 14 Faktoren ab (Beispielitem Benevolenz: „Wissenschaftler/-innen möchten mit ihrer Forschung anderen Menschen helfen; siebenstufige Antwortskala von „sehr wenig verbreitet“ über „mittlere Verbreitung“ bis „sehr stark verbreitet“; Kodierung 1-7). Vor der Datenanalyse werden die Variablen zur potenziellen Einflussstärke auf Werte zwischen -3 und +3 rekodiert; somit indizieren negative Werte einen vertrauenshemmenden und positive Werte einen vertrauensfördernden Einfluss.

Die Forschungsdaten wurden an zwei separaten Stichproben im Altersrange zwischen 18 und 66 Jahren erhoben (Studie 1: N=504; Studie 2: N=588). Alters- und Geschlechtsverteilungen beider Stichproben entsprachen der deutschen Allgemeinbevölkerung. Die erste Fragestellung wurde im Rahmen einer deskriptivstatistischen Analyse der Daten zur potenziellen Einflussstärke geprüft; zur Untersuchung der zweiten Fragestellung wurde die potenzielle Einflussstärke mit der Verbreitung multipliziert, was den absoluten Wert der resultierenden Variable (tatsächlicher Einfluss) mit steigender Verbreitung ansteigen lässt.

Ergebnisse

Mit Blick auf potenziell vertrauensbildende Einflussfaktoren zeigten sich in Studie 1 bezüglich Expertise und Integrität die höchsten Mittelwerte (Expertise: „Dr. Schulze ist eine ausgewiesene Expertin auf ihrem Fachgebiet“, M=1.54, SD=1.16; Integrität: „Dr. Schulze befolgt wissenschaftliche Regeln und Standards sehr genau“, M=1.69, SD=1.24), während die Faktoren Externer Druck („Externe Personen [z. B. Politiker] setzen Dr. Schulze unter Druck, um Einfluss auf ihre Forschungsergebnisse zu nehmen“, M=-2.21, SD=1.46) sowie Datenfälschen („Dr. Schulze fälscht Daten und erfindet Forschungsergebnisse“, M=-1.63, SD=1.47) als am stärksten vertrauenshemmend einschätzt wurden. Bezüglich des tatsächlichen Einflusses (kombinierte Variable aus Verbreitung und Einflussstärke) bestätigte sich dieses Muster (Expertise: M=8.27, SD=6.76; Integrität: M=9.04, SD=7.07; Externer Druck: M=-5.99, SD=5.93; Datenfälschen: M=-5.10, SD=6.07). Vergleicht man die potenziellen Einflüsse mit den tatsächlichen Einflüssen, fällt auf, dass vertrauenshemmende Einflussfaktoren wie externer Druck auf Forschende zwar ein starkes Potenzial zur Vertrauensverringerung haben, deren tatsächlicher Einfluss aber aufgrund ihrer geringeren wahrgenommenen Verbreitung (im Vergleich zu vertrauensbildenden Einflussfaktoren) abgemildert wird. Alle Ergebnisse wurden in Studie 2 repliziert. Eine detailliertere Darstellung und Einordnung dieser Ergebnisse erfolgt während der Präsentation.



Paper Session

Das kann man gar nicht untersuchen! Abwertung der Fähigkeit und Zuständigkeit von Bildungswissenschaft in der Öffentlichkeit

Holger Futterleib, Eva Thomm, Johannes Bauer

Universität Erfurt, Deutschland

Um informierte Entscheidungen treffen zu können, müssen sich Bürger:innen zunehmend mit wissenschaftlicher Evidenz auseinandersetzen. Dies gilt auch für Bildungsfragen, die täglich Gegenstand medialer Berichterstattung sind und auf großes öffentliches Interesse stoßen. Bildungswissenschaftliche Evidenz kann dabei jedoch persönlichen Vorüberzeugungen widersprechen. Die Forschung zeigt, dass Personen in solchen Fällen häufig die vorliegende Evidenz ignorieren oder abwerten, anstatt ihre Vorannahmen zu korrigieren (z.B. Chinn & Brewer, 1998; Rothmund et al., 2017). Mögliche Reaktionen beinhalten sogar, dass Personen grundsätzlich die Fähigkeit von Wissenschaft anzweifeln, ein Bildungsthema untersuchen zu können („scientific impotence excuse“, SIE; Munro, 2010). Erste Studien konnten diese Abwertungsstrategie bereits bei Lehramtsstudierenden aufzeigen (z.B. Thomm et al., 2021). Unklar bleibt bisher, ob die SIE auch in einer Stichprobe der Allgemeinbevölkerung repliziert werden kann; und ob die wahrgenommene Zuständigkeit von Wissenschaft gleichermaßen abgewertet wird (Futterleib et al., 2022). Da Wissen zu Bildungsthemen häufig als subjektiv wahrgenommen wird (Pieschl & Glumann, 2022), mag es für Nicht-Expert:innen nicht zwingend ersichtlich sein, warum es überhaupt bildungswissenschaftlicher Evidenz bedarf. Sie stellen möglicherweise nicht die Fähigkeit, sondern gänzlich die Zuständigkeit von Wissenschaft für solche Themen in Frage.

Ziel der vorliegenden Studien war es, zu überprüfen, ob Personen aus der Allgemeinbevölkerung die Fähigkeit (Studie 1) bzw. die Zuständigkeit (Studie 2) von Wissenschaft anzweifeln, wenn wissenschaftliche Evidenz zu einem Bildungsthema ihren eigenen Vorüberzeugungen widerspricht. Zudem wurde untersucht, ob sie diese Abwertungstendenzen auf die Untersuchung weiterer Bildungsthemen sowie auf ihre Präferenz für wissenschaftliche Informationsquellen übertragen. Beide Studien sind als Replikationen angelegt, welche die vermuteten Effekte anhand des Untersuchungsparadigmas und -materials früherer Studien auf die Zielgruppe der deutschen Allgemeinbevölkerung anwendeten.

An beiden Experimenten nahmen Personen einer quotenrepräsentativen Stichprobe eines Online Access-Panels aus der deutschen Allgemeinbevölkerung teil (n1 = 317; n2 = 309). Die präsentierte Evidenz behandelte das Thema „Wirksamkeit von Klassenwiederholung“. Die Proband:innen schätzten vor und nach dem Lesen der Evidenz ihre Annahmen über die Wirksamkeit einer Klassenwiederholung ein. Als Evidenz dienten fünf kurze Zusammenfassungen von Studien, die entweder die Wirksamkeit belegten („pro“) oder widerlegten („contra“; Zwischensubjektfaktor). Nach dem Lesen der Evidenz schätzten die Proband:innen ein, inwiefern sich das Thema mit wissenschaftlichen Methoden untersuchen lässt (Fähigkeit der Wissenschaft; Studie 1) bzw. inwieweit die Wissenschaft überhaupt für die Untersuchung des Thema zuständig ist (Zuständigkeit der Wissenschaft; Studie 2). Die Proband:innen nahmen die gleiche Einschätzung für weitere Bildungsthemen vor (Generalisierung der Abwertung) und schätzten ein, welche wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Quellen sie für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema zu Rate ziehen würden (indirektes Maß der Abwertung).

Regressionsanalysen konnten in beiden Studien den erwarteten signifikanten Interaktionseffekt zwischen Vorüberzeugung und Evidenzbedingung nachweisen: Lasen Proband:innen vorüberzeugungskonträre wissenschaftliche Evidenz zeigten sie eine stärkere Abwertung der zugeschriebenen Fähigkeit (Studie 1) und Zuständigkeit (Studie 2) von Wissenschaft. Die systematische Abwertung entlang des Interaktionseffekts blieb in beiden Studien jedoch auf die themenspezifische Beurteilung begrenzt: Es zeigte sich keine Generalisierung der Abwertung auf weitere Bildungsthemen. Auch eine geringere Präferenz für wissenschaftlichen Quellen konnte nicht bestätigt werden.

Die Studien deuten darauf hin, dass sich frühere Ergebnisse zur Abwertung von wissenschaftlichen Befunden der Bildungsforschung nach Evidenz-Überzeugungskonflikten auch in einer breiteren Öffentlichkeit replizieren lassen. Dabei zeigt sich, dass Wissenschaft nicht nur hinsichtlich ihrer wahrgenommenen Fähigkeit im Sinne der SIE, sondern auch hinsichtlich ihrer wahrgenommenen Zuständigkeit abgewertet werden kann. Letzteres stellt potenziell eine noch drastischere Abwertung von Wissenschaft dar. Die untersuchten Abwertungstendenzen scheinen sich jedoch nicht ohne Weiteres auf andere Themen zu übertragen. Unberührt davon bleibt jedoch die Frage, wie sich wiederholte Widersprüche zwischen Vorüberzeugungen und Evidenz langfristig auf die Einstellungen gegenüber Wissenschaft sowie auf die Rezeption von wissenschaftlicher Evidenz auswirken können. Neben der Bedeutung für ein besseres Verständnis von Problemen der Wissenschaftsrezeption, hat dieser Befund auch Konsequenzen für die Wissenschaftskommunikation und öffentliche Diskussion von Bildungsthemen.

 
Datum: Dienstag, 19.03.2024
10:30 - 12:104-14: Herausforderungen für Partizipation von jungen Menschen in formellen und informellen Bildungsprozessen
Ort: H07
 
Symposium

Herausforderungen für Partizipation von jungen Menschen in formellen und informellen Bildungsprozessen

Chair(s): Daniel Deimel (Universität Duisburg-Essen, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Hans-Peter Kuhn (Universität Kassel)

Die Einbeziehung von jungen Menschen in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse erscheint aus verschiedenartigen Gründen sinnvoll (Reisenauer, 2020). Zunächst kann die Beteiligung von Schüler*innen in sie betreffende Fragen als Gewährung grundlegender Rechte betrachtet werden, wie Rechte auf Berücksichtigung des Kindeswillens und des Rechts, gehört zu werden (Art. 12, United Nations, 1989). Aus pädagogischer Sicht erscheint die Einbindung von Schüler*innen in die Auswahl konkreter Lerninhalte und die zeitliche, räumliche und personelle Organisation von Lernaktivitäten sinnvoll, um Einsatzbereitschaft, Lernfreude und Selbstwirksamkeit zu fördern (Hauk & Gröschner, 2022). Zuletzt ist die Beteiligung von Schüler*innen in der Schule gesellschaftlich relevant. Partizipationserfahrungen fallen mit häufigerer späterer politischer Beteiligung zusammen (Keating & Janmaat, 2016; Kiess, 2022). Besonders in Anbetracht globaler Herausforderungen erscheint eine in die Zukunft gerichtete Stärkung demokratischer Gesellschaften, die somit durch die Einbindung der Perspektiven junger Menschen einhergeht, als unerlässlich.

Insgesamt ergeben sich im Symposium mehrere Herausforderungen für schulische Partizipationsprozesse: Welche organisatorischen und inhaltlichen Herausforderungen existieren bei der Implementierung von Partizipation in Schulen, und welche Rolle spielen hierbei Lehrkräfte? Wie kann die Partizipation von Schüler*innen in der Schule gestärkt werden, insbesondere in Bezug auf marginalisierte Gruppen? Und zuletzt, wie verändert sich die Rolle der Schule in einer Gesellschaft, die aktive Bürgerbeteiligung betont? Übergreifend werden Potenziale diskutiert, mit denen schulische Mitbestimmungsprozesse an diese aktuellen Herausforderungen angepasst werden können.

Beitrag 1 untersucht Schulen in Oberösterreich. Trotz gesetzlicher Verankerung in Österreich mangelt es an Daten zur tatsächlichen Praxis der Demokratiebildung in Schulen, die Schüler*innen darauf vorbereiten soll, demokratische Werte zu vertreten und sie gegen Manipulationen zu schützen. Die Studie basiert auf einer repräsentativen Befragung von 14- bis 16-jährigen Schüler*innen. Erste Ergebnisse zeigen, dass Schulen eher Wissen über Demokratie vermitteln, statt aktive Beteiligung zu fördern. Insbesondere die Rolle der Lehrkräfte hat einen starken Einfluss auf die Demokratiebildung, während individuelle Faktoren der Schüler*innen weniger relevant sind. Es zeichnet sich ein Spannungsverhältnis zwischen einem normativen Anspruch auf Demokratiebildung und ihrer praktischen Umsetzung in Schulen ab.

Beitrag 2 untersucht die Partizipation von Schüler*innen in Schulen in Nordrhein-Westfalen aus Perspektive von Lehrkräften. Genutzt wird der Teildatensatz Nordrhein-Westfalen der International Civic and Citizenship Education Study (ICCS 2022), welcher repräsentative Daten für 2.896 Lehrkräfte aller Schulformen bereitstellt. Die Daten beziehen sich darauf, in welchem Ausmaß Schülerinnen von Lehrkräften in Entscheidungen eingebunden werden, wie beispielsweise in die Planung von Unterricht oder die Aufstellung von Klassenregeln. Erste Ergebnisse zeigten schulform-spezifische Unterschiede, mit stärkerer Einbindung von Schüler*innen an Gymnasien. Weiter erweisen sich ein günstigerer Sozialindex und der Anteil von Schüler*innen mit Migrationshintergrund als relevant. Die abschließenden Analysen sollen weitere Einblicke in den Einfluss sozialer Faktoren auf die Partizipation liefern.

Beitrag 3 analysiert die wissenschaftliche Begleitung des Programms „Demokratie leben“. Auf Grundlage von Befragungen und Interviews von rund 75 Modellprojekten im Bereich Vielfaltgestaltung und Antidiskriminierung werden Herausforderungen und Möglichkeiten dargestellt, wie in Schulen die Partizipation von durch Diskriminierung Betroffene, sowohl Schüler*innen als auch Lehrende, erhöht werden kann. Insbesondere wird skizziert, welchen Beitrag zivilgesellschaftliche Initiativen zur Demokratisierung von Schulen und diversitätsorientierter Schulentwicklung leisten können.

Beitrag 4 wechselt den Fokus auf Beteiligungsprozesse außerhalb der Schule. Vor dem Hintergrund, dass Jugendliche maßgeblich vom Klimawandel betroffen sein werden und weltweit ihr Recht auf Mitbestimmung fordern, rückt „Jugend“ als Kategorie der Marginalisierung in den Vordergrund. Analysiert wird die Beteiligung junger Menschen in transnationalen Netzwerken und die Nutzung sozialer Medien zur Kommunikation ihrer Klimaforderungen. Methodisch werden Texte und Videos rund um die Klimarahmenkonvention sowie Twitterdaten von Klimakonferenzen analysiert. Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche sowohl formale institutionelle Angebote der Partizipation nutzen als auch Protestformen initiieren. Dies mündet in einer Notwendigkeit einer breiteren Palette von Beteiligungsmöglichkeiten in Schulen. Die Studie betont zudem, dass traditionelle Partizipationstheorien erweitert werden müssen, um die transnationale Dimension der Jugendbeteiligung zu berücksichtigen.

 

Beiträge des Symposiums

 

Demokratiebildung an oberösterreichischen Schulen zwischen Anspruch und Realität

Manuela Gamsjäger
Pädagogische Hochschule Oberösterreich

Hintergrund

Die gegenwärtigen globalen Herausforderungen wie die Klimakrise oder der Krieg in der Ukraine unterstreichen in eindringlicher Weise die unverzichtbare Rolle von mündigen Bürger*innen für die Stabilisation demokratischer Gesellschaften. Dabei erweisen sich Fähigkeiten zur Toleranz, Diskursfähigkeit, Mündigkeit und Partizipationskompetenz als entscheidend für die Bewältigung dieser Krisen. Da die Fähigkeit zum demokratischen Handeln uns Menschen nicht angeboren ist und in jeder Generation neu erworben werden muss (Baacke & Brücher, 1982, Betz et al., 2010), wird Demokratiebildung zu einer zentralen Aufgabe der Schule (Council of Europe, 2010). Durch Demokratiebildung als Querschnittsaufgabe von Schule sollen junge Menschen verstehen, wie Demokratie funktioniert und gegenüber populistischen Manipulationen widerstandsfähig werden sowie demokratische Werte und Normen wie die Gleichwertigkeit aller Menschen oder das Anerkennen von unterschiedlichen Interessen übernehmen und Vertrauen in die Insitutionen der Demokratie entwickeln.

Entsprechend wird Demokratiebildung lerntheoretisch als das erfahrungsbasierte Lernen von demokratischen Prinzipien bestimmt. Daher gilt es nicht nur allgemeine kognitive Fähigkeiten, sondern auch affektiv-moralische Einstellungen sowie praktisch-instrumentelle Fertigkeiten zu vermitteln (z.B. Himmelmann & Lange, 2005). Demokratiebildung ist daher nicht nur ein Lernen über Demokratie, sondern erfordert vor allem auch Partizipation und Mitbestimmung in der Schule. In dieser Perspektive wird Schule zur "embryonic society" (Dewey, 1907, S. 32), zu einem Ort für die reflektierte Entwicklung der Schüler*innen, um sie auf das Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Dieses Verständnis der Demokratiebildung als Förderung handlungsorientierter Kompetenzen über eine aktive Teilhabe ist in Österreich breit in Lehrplänen und Schulgesetzen verankert. Zusätzlich ist das Recht auf die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern an Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, durch die Kinderrechtskonvention rechtlich verankert (Welt & Lundy, 2013).

Fragestellung

Für Österreich liegen allerdings bislang kaum Daten darüber vor, inwieweit Schulen ein Ort der Demokratiebildung sind. Studien zur Mitbestimmung von Schüler*innen lassen aber auf eine marginale Mitbestimmung schließen (Gamsjäger & Wetzelhütter, 2020). Vor diesem Kontext stellt sich die Frage, inwieweit Schüler*innen in Österreich Demokratiebildung erfahren. Entsprechend geht der Beitrag zu Beginn der Frage nach, inwieweit Schulen Orte sind, an denen Schüler*innen Demokratiebildung erfahren und zeigt, inwiefern Schüler*innen demokratische Prinzipien einüben, in Entscheidungsprozesse einbezogen werden und ob die Beteiligung an Entscheidungsprozessen in der Schule mit diesem Lernen über Demokratie einhergeht. Daran anschließend werden Zusammenhänge zwischen der Umsetzung von Demokratiebildung mit der schulischen Ebene (positives Verhalten der Lehrkräfte) und der Schüler*innenebene (sozioökonomischer Hintergrund, Geschlecht, politisches Interesse und Schulleistungen) untersucht, um mögliche Einflussfaktoren bestimmen bzw. ausschließen zu können.

Methode

Die korrelative Studie basiert auf einer repräsentativen, quantitativen Befragung von Schüler*innen im Alter von 14 bis 16 Jahren aus Oberösterreich. Die Erhebung wurde als bundeslandspezifischer Teil der österreichweiten Studie " Lebenswelten 2020 – Werthaltungen junger Menschen in Österreich« (Jugendforschung Pädagogische Hochschulen Österreichs, 2021) generiert. Mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Schulen (hier wurde eine Vollerhebung angestrebt) wurde für Oberösterreich eine kombinierte, proportional geschichtete Zufallsauswahl getroffen (Meusburger et al., 2021). Die Daten wurden entlang der Verteilung relevanter Merkmale (z.B. Schultyp, Geschlecht) in der Grundgesamtheit gewichtet.

Ergebnisse

Die vorläufigen Ergebnisse dieser Untersuchung deuten darauf hin, dass Schulen in erster Linie Orte des Lernens über Demokratie sind, während die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler an Entscheidungsprozessen begrenzt ist. Als bedeutende Einflussfaktoren für die Umsetzung von Demokratiebildung erweist sich die schulische Ebene, während individuelle Faktoren kaum eine Rolle spielen. Ausgehend von den Ergebnissen diskutiert der Beitrag unter Einbeziehung von Studien aus anderen Ländern die zentrale Rolle der Lehrkräfte bei der Förderung von Demokratiebildung und die Notwendigkeit einer stärkeren Betonung von partizipativen Elementen. Damit wird für das Symposium das Spannungsverhältnis zwischen der gesetzlichen Forderung nach Demokratiebildung und der geringen praktischen Umsetzung sowie die daraus abzuleitende Forderung nach einer umfassenderen Umsetzung von Demokratiebildung im Schulalltag aufbereitet und zur Diskussion gestellt.

 

Beteiligung von Schüler*innen aus Perspektive der Lehrkräfte – Schulform- und Kompositionseffekte

Daniel Deimel
Universität Duisburg-Essen

Hintergrund

Partizipation von Schüler*innen in der Schule ist zentral zur Gewährung basaler Beteiligungsrechte junger Menschen sowie als Lerngelegenheit im Rahmen schulischer politischer Sozialisation (Hahn-Laudenberg et al., 2020). Das Ausmaß dieser Partizipation ist wesentlich davon abhängig, inwiefern sie von Seiten der Lehrenden gewährt wird (Feichter, 2020). Insbesondere strukturelle Aspekte wie Schulform und Schulgröße erweisen sich relevant für die Nutzung von Partizipationsangeboten (Hahn-Laudenberg & Deimel, 2022). Es muss anerkannt werden, dass Schulgesetze (exemplarisch: SchulG Nordrhein-Westfalen) Partizipationsformen für Schüler*innen vorsehen können, die direkt in das unterrichtliche Kerngeschehen der Schule eingreifen. Allerdings bedeutet eine institutionalisierte Mitbestimmung nicht zwangsläufig die Unabhängigkeit von informellen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen, die an individuelle Merkmale gekoppelt sein können (Gamsjäger et al., 2013).

Ein Kernaspekt zur institutionalisierten Mitbestimmung über Unterricht sind z. B. die Fachkonferenzen (§70 SchulG NRW). Dort beraten Lehrkräfte, Eltern und Schüler*innen über fachspezifische Lerninhalte, Methodik, Lernmittel und Grundsätze zur Leistungsbewertung. Zudem ist der individuelle pädagogische Gestaltungsrahmen der Lehrkräfte (§29 SchulG NRW) zur Auswahl konkreter Unterrichtsinhalte und Methoden relevant. Allerdings muss festgehalten werden, dass eine prinzipielle rechtliche Ermöglichung von Partizipation (auch) auf unterrichtlicher Ebene nicht zwangsläufig in realer Mitgestaltung mündet.

Eine weitere Möglichkeit zur Beteiligung von Schüler*innen besteht darin, sie in der Mitgestaltung von Regeln im Sinne einer effektiven Klassenführung zu beteiligen, die auf einen relativ störungsarmen Unterricht abzielt (Seidel, 2009). Diese Form der Mitgestaltung zeigt exemplarisch die Ambivalenz schulischer Partizipation: Klassenregeln werden oft nicht ergebnisoffen verhandelt, sondern beschränken sich zumeist auf internalisierte Verhaltenserwartungen im Sinne eines doing student (Budde et al., 2016). Unzureichende Reflexion des real eingeräumten Partizipationsspielraumes durch Lehrkräfte birgt somit auch die Gefahr einer Pseudopartizipation (Oser & Biedermann, 2006).

Zielsetzung

Dieser Beitrag untersucht, inwiefern schulstrukturelle Merkmale mit dem Ausmaß der Gewährung schulrechtlich verankerter Beteiligungsmöglichkeiten einhergehen. Aufgrund der hohen Bedeutsamkeit schulischer Partizipationsprozesse im Rahmen der politischen Sozialisation (Keating & Janmaat, 2016) ist die Beantwortung dieser Frage nicht zuletzt in Hinblick auf Chancengerechtigkeit politischer Teilhabe wichtig. Weiter trägt eine Einbindung vielfältiger Perspektiven dazu bei, gerade auch einzigartige Perspektive und Bedürfnisse marginalisierter Jugendlicher im schulischen Umfeld zu berücksichtigen. Eine Beteiligung unabhängig von demografischen Merkmalen ist somit entscheidend, um eine gerechtere und inklusivere Bildung für alle zu schaffen.

Methode

Mit dem aktuellen Datensatz der International Civic and Citizenship Education Study (ICCS 2022, Sperrfirst 28.11.2023) liegen repräsentative Daten für N = 2.896 Lehrkräfte an 143 Schulen aller Schulformen in Nordrhein-Westfalen vor, die im Schuljahr 2021/22 eine achte Klasse unterrichtet haben. Eine zentrale Frage bezog sich auf das Ausmaß, inwieweit Schüler*innen durch Lehrkräfte in verschiedene Partizipationsmöglichkeiten eingebunden werden. Diese nutzte ein vierstufiges Antwortformat („In großem Ausmaß“, „In mittlerem Ausmaß“, „In geringem Ausmaß“, „Gar nicht“) und bezog sich auf verschiedenen Aktivitäten, etwa Entscheidungen über Lerninhalte, Auswahl von Unterrichtsmaterialien oder der Aufstellung von Klassenregeln. Neben deskriptiven Analysen nutzt der Beitrag ein regressionsanalytisches Verfahren, um Zusammenhänge zu schulstrukturellen Merkmalen, wie der Schulform, der Trägerschaft (öffentlich / privat), dem Anteil der Schülerschaft mit Migrationsgeschichte sowie dem schulscharfen Sozialindex der Schulen (Schräpler & Jeworutzki, 2021) zu beschreiben.

Ergebnisse & Diskussion

Erste Ergebnisse auf Grundlage der ungewichteten Feldtest-Daten zeigen schulform-spezifische Unterschiede sowie übergreifende Gemeinsamkeiten. Während an allen Schulformen Schüler*innen gleichermaßen in die Aufstellung von Regeln eingebunden waren, wurde vor allem an Gymnasien beschrieben, dass Schüler*innen in der Auswahl von Materialien und Entscheidungen über Lerninhalte mitwirken konnten. Weiter zeigt sich unter Kontrolle der Schulform, dass eine stärkere Einbindung von Schüler*innen an Schulen mit günstigerem Sozialindex sowie einem geringeren Anteil von Schüler*innen mit Migrationshintergrund beobachtbar ist.

Dies greift erneut die Frage auf, inwieweit vor allem junge Menschen aus benachteiligenden Kontexten in der Mitgestaltung des unterrichtlichen Alltags eingebunden werden. Die Analysen mit den vollständigen und repräsentativen Daten der Hauptstudie werden es erlauben, Erfordernisse in der Lehrkräfte-Bildung für alle Schulformen zu formulieren.

 

Diskriminierungskritik und Partizipation: welchen Beitrag leisten zivilgesellschaftliche Initiativen zur Demokratisierung von Schulen und diversitätsorientierter Schulentwicklung?

Anja Schöll
Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)

Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Merkmalen wie Gender, Gesundheit und Befähigung, Klasse, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe, Migrationsgeschichte und weiterer Differenzmerkmale wirken sich negativ auf die Identitätsbildung, Leistung und Persönlichkeitsentwicklung von Schüler*innen aus und sind oft noch Jahre später wirksam (Fereidooni, 2011; Celeste et al., 2019; Griesing et al., 2022). Diese diskriminierenden Praktiken beruhen auf historisch gewachsenen Macht- und Ungleichverhältnissen, die sich in allen Gesellschaftsbereichen zeigen (Fathi & Sirin, 2019). Schulen sind Räume, die von asymmetrischen Machtdynamiken geprägt sind. Hierarchische Machtverhältnisse zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen verschränken sich mit Diskriminierungsmerkmalen und strukturelle als auch individuelle Diskriminierungsdynamiken tragen zu sozialer Ungleichheit, Chancenungleichheit und mithin erschwerter Partizipation für marginalisierte Schüler*innen bei (Gomolla & Radtke, 2002; Fereidooni, 2011). Dies macht eine intersektionale Perspektive auf Partizipation im Schulkontext notwendig (Vennemeyer, 2019).

Demokratisch sein heißt auch, diskriminierungskritisch und diversitätssensibel zu sein (DeGeDe, 2023). Demokratische Erfahrungen wie Selbstwirksamkeit, Teilhabe, Wertschätzungen von Lebensrealitäten, Mitbestimmung und Zugehörigkeit sind von großer Bedeutung, um Kinder und Jugendliche zu fördern, sich zu demokratisch orientierten Erwachsenen zu entwickeln (Foitzik, Holland-Cunz & Riecke, 2019; Achour & Gill, 2023). Eine demokratische Grundhaltung macht aber nicht automatisch diskriminierungskritisch, sondern Diskriminierungskritik ist eine aktive Praxis bestehend aus verlernen, erlernen und einüben – sowohl auf individueller und kollektiver als auch institutioneller und struktureller Ebene (Kourabas & Mecheril, 2022).

Es stellt sich die Frage, wie Schulen sich aufstellen können, um Chancen und Partizipation für alle Schüler*innen gleichermaßen zu ermöglichen und welchen Beitrag zivilgesellschaftliche Akteure dabei leisten können, Schule demokratischer und partizipativer zu machen und dabei Diversität und Diskriminierungskritik auf allen Ebenen mitzudenken.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte des Handlungsfeldes „Vielfaltgestaltung“ des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ (2020-2024) werden Fallstudien, leitfadengestützte Interviews, Fokusgruppen und quantitative Befragungen mit rund 75 zivilgesellschaftlichen Initiativen durchgeführt. Diese sind insbesondere in der schulischen und außerschulischen politischen Bildung tätig, um unter anderem demokratiebildende, diversitätsorientierte und diskriminierungskritische Veränderungsprozesse an und in Kooperation mit Schulen zu erreichen. Der Vortrag bezieht sich auf Daten und Ergebnisse von Erhebungen mit Schwerpunkten zu pädagogischen Ansätzen von 2022 (Weiberg et al., im Erscheinen), wofür narrative Interviews und teilnehmende Beobachtungen eingesetzt wurden, sowie zu Transfer und Organisationsentwicklung von 2023, wofür auch regelstrukturelle Institutionen befragt wurden.

Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass demokratiepädagogische und diskriminierungskritische Bildungsarbeit sich methodisch und inhaltlich mit diversitätssensibler Schulentwicklung ergänzt. Zivilgesellschaftliche Organisationen bringen pädagogische Formate an die Schulen, wo oft noch wenig Expertise in Anti-Diskriminierungsarbeit besteht. Es werden Materialien und Werkzeuge in den Themenfeldern Anti-muslimischer Rassismus, Antisemitismus, Homo- und Trans*feindlichkeit, Antiziganismus und Rassismus erarbeitet, die in Schulen transferiert werden sollen, um bei Schüler*innen als auch Lehrkräften für Diskriminierung und Diversität zu sensibilisieren und Empowerment zu ermöglichen. Insbesondere durch Empowermentansätze findet eine Erweiterung des Partizipationsverständnisses statt. Die oft neuen Ansätze der Modellprojekte setzen zunächst auf Ebene des Individuums an und sind charakterisiert durch Praxisnähe und affektivem Erfahrungslernen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Veränderungsbereitschaft der Schulen notwendig ist, um institutionell auf allen Hierarchieebenen sowohl Diversitätsorientierung und Diskriminierungskritik als auch aus dieser Ausrichtung hervorgehende Partizipationsmöglichkeiten und Lern- und Empowermenträume nachhaltig zu verankern. In Kooperationen mit Schulen werden mit zivilgesellschaftlicher Unterstützung diskriminierungskritische Standards, diversitätsorientiertes Personalmanagement und das Schaffen von Beschwerde- und Präventionsmechanismen angestrebt.

Demokratiebildung und diskriminierungskritische Bildungsarbeit muss gemeinsam gedacht, aber nicht gleichgesetzt werden: Anti-Diskriminierungsarbeit führt nicht per se zu demokratischer Beteiligung, aber ohne Anti-Diskriminierungsarbeit kann keine Chancengleichheit und Beteiligung für alle erreicht werden. Genauso führen Partizipationsmöglichkeiten und demokratische Beteiligungsformate nur zum Abbau von Chancenungleichheit, wenn strukturelle Diskriminierung mitgedacht wird. Zivilgesellschaftliche Akteure und außerschulische Bildungsarbeit können Schulen dabei unterstützen, die Themen Anti-Diskriminierung strukturell umzusetzen und zu institutionalisieren, um Partizipation für Schüler*innen zu ermöglichen und dabei auch Diskriminierungsschutz zu etablieren.

 

Transnationale Partizipation junger Menschen in der Klimapolitik

Nina Kolleck1, Johannes Schuster2
1Universität Potsdam, 2Universität Leipzig

Jugendliche gehören zu den am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffenen Gruppen. In jüngster Zeit organisieren sie sich weltweit und fordern aktiv ihr Recht auf Mitbestimmung in Bezug auf ihre Zukunft im Kampf gegen den Klimawandel ein (Thew et al. 2021). Gerade Schüler*innen scheinen darin neue Beteiligungsformen zu erproben. Dieser Artikel präsentiert die Ergebnisse einer empirischen Studie zur Beteiligung von Jugendlichen an transnationalen Netzwerken im Kontext des Klimawandels. In der vorliegenden Studie haben wir untersucht, wie Jugendliche soziale Medien nutzen, um ihre Klimaforderungen zu kommunizieren und wie sie in transnationalen politischen Netzwerken, bestehend aus verschiedenen institutionellen und individuellen Akteuren aktiv werden (Kolleck & Schuster 2022).

Unsere Studie basiert auf einem theoretischen Rahmen, der Partizipationstheorien (Cahill & Dadvand 2018) um politiknetzwerktheoretische Ansätze erweitert (Rhodes 2008; Ball 2012). Dies erlaubt es uns, die relationale Dimension von Jugendpartizipation innerhalb der Klimabewegung zu erfassen. Methodisch nutzen wir ein Mixed-Methods-Design. Hierzu werden in einem ersten Schritt Texte und Videos rund um die Klimarahmenkonvention analysiert, um zentrale Akteure und Themen zu identifizieren. In einem zweiten Schritt werden Twitterdaten von drei Klimakonferenzen (2018, 2019 und 2021) mit Hilfe von sozialer Netzwerkanalyse (Borgatti et al. 2018) analysiert, um weitere zentrale Akteure und ihre Rollen herauszuarbeiten und die zuvor bereits identifizierten Akteure weiter beschreiben zu können.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Beteiligung von Jugendlichen an Klimapolitik auf verschiedene Weisen erfolgt. Einerseits unterstützen internationale Organisationen aktiv die Einbindung von Jugendlichen in globale politische Prozesse, um ihre Stimmen zu hören. Die Jugendlichen wiederum nutzen diese formal-institutionellen Angebote der Partizipation, zum Beispiel im Rahmen der von der Klimarahmenkonvention organisierten Konferenz für junge Menschen (YOUNGO). Hierbei beteiligen sich Jugendliche aktiv an den Diskussionen und Verhandlungen über Klimapolitik auf globaler Ebene, können darüber direkt auf politische Entscheidungsträger einwirken und ihre Standpunkte in internationalen Foren vertreten. Andererseits formen Jugendliche selbst transnationale soziale Bewegungen und stellen sich explizit (inter)nationalen Organisationen und formalen Institutionen entgegen (Schulschwänzen). Diese Protestformen sind Ausdruck ihres Drucks auf Bildungseinrichtungen, um den Klimawandel als dringendes Thema in den Lehrplänen zu verankern und den Ernst der Situation anzuerkennen.

Die Ergebnisse unserer Studie haben weitreichende Implikationen für die Schule und die Bildungspolitik. Sie deuten darauf hin, dass herkömmliche Ansätze zur Erforschung von Jugendbeteiligung ihre Grenzen haben, insbesondere wenn es um transnationale Formen der Partizipation geht. Die Tatsache, dass junge Menschen sowohl Protestformen gegen formale Institutionen wie die Schule als auch formale institutionelle Partizipationsangebote nutzen, zeigt die Komplexität und Vielfalt der heutigen Jugendbeteiligung. Für die Schule bedeutet dies, dass sie sich mit den sich verändernden Erwartungen und Bedürfnissen junger Menschen in Bezug auf ihre Beteiligung an gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen muss. Die traditionelle Vorstellung von Partizipation, die sich auf schulische Gremien und Projekte beschränkt, reicht nicht mehr aus. Schulen sollten sich stärker bemühen, eine breitere Palette von Beteiligungsmöglichkeiten anzubieten, die den vielfältigen Ansätzen junger Menschen gerecht werden.

Darüber hinaus zeigt unsere Studie, dass übliche Partizipationstheorien nicht mehr ausreichen, um die aktuellen Formen der Jugendbeteiligung zu erklären. Wir zeigen, wie neuere Ansätze aus der Politikwissenschaft integriert werden können, um solche Formen der Jugendbeteiligung angemessen zu verstehen und zu analysieren. Insgesamt sollten Schulen und Bildungseinrichtungen erkennen, dass die Partizipation junger Menschen nicht länger auf den Klassenzimmerkontext beschränkt ist, sondern sich auf transnationale Ebene erstreckt. Schließlich hebt die Studie die Bedeutung der Frage nach den "Zugängen zu Partizipationsmöglichkeiten" hervor. Jugendliche wählen alternative Partizipationsformen, weil sie ihre wichtigsten Anliegen in schulischen Prozessen unzureichend repräsentiert sehen. Die Studie weist zudem auf soziale (Selbst)selektion hin, die mit außerschulischen Partizipationsprozessen, insbesondere im Kontext internationaler Klimakonferenzen, einhergehen kann. Dies könnte bedeuten, dass die Präferenzen der Jugendlichen für außerschulische Partizipationsformen Rückschlüsse auf ihre Wünsche in institutionalisierten Bildungsprozessen ermöglichen, die eine breitere Zielgruppe erreichen könnten.

 
13:10 - 14:505-14: Berufliches Wohlbefinden (angehender) Lehrkräfte
Ort: H07
 
Paper Session

Partizipation, Motivation und emotionale Befindlichkeit im Verlauf des Referendariats: Ergebnisse einer 18-monatigen Längsschnittstudie

Matthias Bottling, Julia Katharina Weiß, Tobias Kärner

Universität Hohenheim, Deutschland

Angesichts des herausragenden Stellenwerts der selbstbestimmten Teilhabe sowohl für das Individuum als auch in der gesellschaftlichen Praxis, insbesondere in der Bildung zur Förderung autonomer Urteilsfähigkeit und Handlungskompetenz, ist es relevant, dass bereits angehende Lehrpersonen im Referendariat Möglichkeiten erhalten, an den für sie relevanten ausbildungsbezogenen Entscheidungen zu partizipieren. Um von Partizipation sprechen zu können, müssen Referendar:innen folgenreichen Einfluss auf die externalen Bedingungen ihres Lernens und Arbeitens ausüben können. Der Grad des Einflusses von angehenden Lehrkräften bewegt sich hierbei zwischen wahrgenommener Fremdbestimmung (ausbildungsrelevante Entscheidungen werden aus Sicht der Referendar:innen von anderen Personen getroffen) und Autonomie (ausbildungsrelevante Entscheidungen werden aus Sicht der Referendar:innen eigenständig getroffen) (Heid et al., 2023). Die Differenzierung zwischen den Kategorien „Autonomie“ und „Heteronomie“ spiegelt sich in der internen Perspektive des Lernens und Arbeitens in verschiedenen Motivationsarten bzw. -qualitäten wider. Mögliche Beweggründe der Initiierung, Ausführung und Aufrechterhaltung intentionalen Verhaltens lassen sich demnach auf einem Kontinuum zwischen intrinsischer und verschiedener Formen extrinsischer Regulation lokalisieren (Ryan & Deci, 2020).

Neben der Motivation ist die emotionale Befindlichkeit sowohl interne Bedingung als auch Ergebnis von Lehr-Lern-Prozessen. Die Kontroll-Wert-Theorie postuliert, dass das Auftreten von Lern- und Leistungsemotionen davon abhängt, ob eine Person das Empfinden hat, die Kontrolle über Aktivitäten und Ergebnisse (bspw. durch Partizipation) zu haben (oder nicht), insbesondere wenn diese einen zugeschriebenen Wert (extrinsischer und/oder intrinsischer Herkunft) besitzen, d.h. von persönlicher Bedeutung sind (Pekrun et al., 2011; Warwas & Helm, 2017). Emotionale Zustände integrieren affektive, motivationale und kognitive Aspekte und werden als wesentlich für die Regulation von Handlungen angesehen (Sembill, 2010). Pekrun (2021) weist darauf hin, dass sich bisherige Forschung zum prozessualen Zusammenspiel von emotionaler Befindlichkeit und Motivation bei Lehrkräften zu häufig auf interindividuelle Unterschiede im Erleben und Verhalten fokussiert habe und fordert für den Erhalt aussagekräftigere Forschungsergebnisse, die Perspektive um die Untersuchung intraindividueller Prozesse zu erweitern.

Vor diesem Hintergrund verfolgen wir mit unserer empirischen Studie das Ziel, den Zusammenhang wahrgenommener Einflussmöglichkeiten auf ausbildungsrelevante Aspekte mit Veränderungen der emotionalen Befindlichkeit von Referendar:innen zu untersuchen. Zudem stellt sich dabei die Frage, ob interne Regulationsbedingungen, wie die Art der Motivation und insbesondere die subjektiven Anreize zur Initiierung und Aufrechterhaltung von Handlungen, einen Einfluss auf die Beziehung zwischen wahrgenommenem Partizipationserleben und den daraus resultieren emotionalen Zuständen haben.

Auf Basis eines Längsschnittdesigns wurden wöchentlich zu insgesamt 58 Erhebungszeitpunkten Kurzfragebögen über den 18-monatigen Gesamtzeitraum des Referendariats erfasst. In Summe gingen 1870 Einzelmessungen von 75 Referendar:innen eines Ausbildungsstandortes in Baden-Württemberg in die Analysen ein. Zur Messung der wahrgenommenen Partizipationsmöglichkeiten wurden vier Items herangezogen, welche zu einem Faktor zusammengefasst wurden. Die internale sowie externale Regulation und die Variablen der emotionalen Befindlichkeit (Freude, Hoffnung, Angst, Ärger etc.) wurden anhand von Einzelitems erhoben. Zur Auswertung der Daten wurden lineare Mehrebenenmodelle herangezogen, welche es ermöglichen, Unterschiede in den abhängigen Variablen über die Zeit nicht nur auf Basis interindividueller Unterschiede zu erklären, sondern auch auf intraindividueller Ebene.

Die Ergebnisse unserer Mehrebenenmodelle weisen u.a. auf statistisch signifikante within-person Effekte der wahrgenommenen Partizipationsmöglichkeiten auf Freude, Hoffnung, Stolz sowie Ärger, Angst, Scham und Hoffnungslosigkeit hin. Referendar:innen berichten bspw. mehr Freude bzw. weniger Angst in den Wochen, in denen sie mehr Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungen, welche ihre Ausbildung betreffen, wahrnehmen. Des Weiteren zeigen sich signifikante Interaktionseffekte der erfassten Regulationsarten: In Wochen, in welchen Referendar:innen bspw. wenig Partizipationsmöglichkeiten wahrnehmen, kompensiert eine überdurchschnittliche intrinsische Motivation die Wahrnehmung von Angst und Hoffnungslosigkeit bzw. verstärkt das Erleben von Freude und Hoffnung.

Die Befunde legen nahe, dass sowohl die wahrgenommenen externalen Möglichkeiten der Einflussnahme auf ausbildungsrelevante Entscheidungen als auch die internalen Regulationsbedingungen eine wichtige Rolle hinsichtlich der emotionalen Befindlichkeit spielen. Insofern kann ein partizipationsfreundliches bzw. autonomieförderndes Umfeld bereits während der Lehrer:innenausbildung zu einem positiven Emotionserleben bei Referendar:innen beitragen (vgl. hierzu auch Weiß et al., 2023).



Paper Session

Zur Bedeutung affektiv-motivationaler Kompetenzen beginnender Lehrkräfte für Unterrichtsqualität und berufliches Beanspruchungserleben

Hannah Kirschning1, Andrea Bernholt2, Friederike Zimmermann1

1Institut für Pädagogisch-Psychologische Lehr- und Lernforschung (IPL), Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; 2Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) Kiel

Theoretischer Hintergrund

Kompetente Lehrkräfte sind essentiell für guten Unterricht (Hattie, 2009). Professionelle Kompetenz von Lehrkräften umfasst neben Professionswissen affektiv-motivationale Kompetenzen wie Überzeugungen, motivationale Orientierungen sowie Selbstregulationsfähigkeiten (Baumert & Kunter, 2006; Blömeke et al., 2015) und stellt einen Prädiktor für qualitativ hochwertiges Unterrichten dar (Fauth, et al., 2019; Kunter et al., 2013). Daneben ist einerseits für Lehrkräfte selbst sowie andererseits zur längerfristigen Aufrechterhaltung guten Unterrichts ein ausgewogenes Beanspruchungserleben relevant (Klusmann et al., 2022). Wenige Studien untersuchten die Bedeutung kognitiver und affektiv-motivationaler Kompetenzfacetten für die Unterrichtsqualität (Kunter et al., 2013). Erste Studien deuten z.B. auf Enthusiasmus als motivationalen Prädiktor von Klassenführung und konstruktiver Unterstützung hin (Baier et al., 2019), wohingegen bezüglich des Beanspruchungserlebens die berufliche Selbstwirksamkeit Burnout negativ vorherzusagen scheint (Lauermann & König, 2016). Daran anknüpfend untersucht die vorliegende Studie die Bedeutung umfassender affektiv-motivationaler Kompetenzfacetten von Lehrkräften am Ausbildungsende für deren Unterrichtsqualität und Beanspruchungserleben am Berufseinstieg.

Fragestellung

Welche Effekte zeigen die affektiv-motivationalen Kompetenzfacetten von Lehrkräften am Ausbildungsende (Ende Vorbereitungsdienst) auf a) die Unterrichtsqualität? b) das Beanspruchungserleben?

Methode

Datengrundlage sind Erhebungen des Panels zum Lehramtsstudium (PaLea). Die bundesweite Stichprobe umfasst N = 58 Lehrkräfte (47 weiblich) und ihre N = 2589 Schüler:innen (56% weiblich; Klassenstufe: M = 8.57; SD = 1.98; Range = 5-12). Die längsschnittliche Panel-Befragung der (angehenden) Lehrkräfte von Studienbeginn bis zur Berufstätigkeit wurde auf Personen mit erfolgter Teilnahme an der angeschlossenen Schülerbefragung (mit ihren Klassen) in ihrer Berufstätigkeit begrenzt. Pro Lehrkraft waren dies durchschnittlich 43 Schüler:innen, verteilt auf ein bis drei Klassen der Klassenstufen 5-12; insgesamt 158 Klassen aus 58 weiterführenden Schulen; davon 62% Gymnasien.

Variablen der Überzeugungen (z.B. die transmissive lehr- und lerntheoretische Überzeugung), motivationalen Orientierungen (z.B. Fach- und Unterrichtsenthusiasmus) und Selbstregulation (z.B. Unterrichtsreflexion) schätzten die Lehrkräfte zum Ausbildungsende ein (Baumert et al.,1997; Kunter et al., 2008; Kunter et al., 2009; Retelsdorf et al., 2014; Schwarzer & Jerusalem, 1999).

Basisdimensionen der Unterrichtsqualität (kognitive Aktivierung, Klassenführung, konstruktive Unterstützung) bewerteten die Schüler:innen (Roloff et al., 2016).

Für berufliches Beanspruchungserleben der tätigen Lehrkräfte wurden Burnout und Work-Engagement im ersten Berufsjahr erfasst (Maslach & Jackson, 1996; Schaufeli & Bakker, 2003).

Ergebnisse

Mehrebenenmodelle kontrolliert für Kovariaten zeigten wesentlich, dass das erzieherische Selbstkonzept als motivationale Kompetenzfacette kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung und Work-Engagement und Burnout prädizierte; die transmissive lehr- und lerntheoretische Überzeugung sagte Klassenführung, konstruktive Unterstützung und Work-Engagement negativ vorher, wohingegen die konstruktivistische lehr- und lerntheoretische Überzeugung Klassenführung positiv vorhersagte. Aber auch Unterrichtsenthusiasmus prädizierte positiv auf Klassenführung und konstruktive Unterstützung; βs = |.07 bis .69|, p .01.

Kompetenzfacetten am Ende des Vorbereitungsdienstes sagen Dimensionen von Unterrichtsqualität und Beanspruchungserleben vorher. Bedeutsame Prädiktoren sind dabei beispielsweise Fach- und Unterrichtsenthusiasmus, erzieherisches und fachliches Selbstkonzept sowie die transmissiven und konstruktivistischen lehr- und lerntheoretischen Überzeugungen, was im Einklang mit früheren Studienergebnissen steht.

Diese Arbeit leistet einen Beitrag zur Forschungsfrage, welche professionellen Kompetenzen frisch ausgebildeter Lehrkräfte für deren Unterrichtsqualität und Beanspruchungserleben am Berufseinstieg eine Rolle spielen. Die Ergebnisse unterstreichen die herausragende Rolle des Selbstkonzeptes und der Facetten der lehr- und lerntheoretischen Überzeugungen. Die Bedeutung von affektiv-motivationalen Kompetenzfacetten sollte einen Anstoß geben, diese in Lehrveranstaltungen und im Vorbereitungsdienst der Lehrkräftebildung neben dem Professionswissen zu berücksichtigen.



Paper Session

Täglicher positiver und negativer Affekt in Zusammenhang mit habituellen Emotionsregulationsstrategien und täglichem Arbeitsengegament bei Lehrpersonen im Teamteaching-Unterricht – Ergebnisse einer Tagebuchstudie

Franziska Mühlbacher1, Mathias Mejeh2, Melanie M. Keller3, Gerda Hagenauer1

1Paris Lodron Universität Salzburg, Österreich; 2Universität Bern, Schweiz; 3IPN - Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, Deutschland

Der Teamteaching-Unterricht, bei dem zwei Fachlehrpersonen für die Planung, Durchführung und Evaluation des Unterrichts in einer Klasse verantwortlich sind (Krammer et al., 2017), kann neben Vorteilen auch Herausforderungen für Lehrpersonen, besonders in sozial-emotionalen Bereichen, mit sich bringen (Do & Hascher, 2023). Lehrpersonen erleben im Teamteaching-Unterricht eine Vielzahl an Emotionen, die auch reguliert werden (müssen) (Muehlbacher et al., 2022). Obwohl die Relevanz von Lehrer*innenemotionen und deren Regulation für deren Unterrichtshandeln und Wohlbefinden bereits vielfach betont wurde (Frenzel, 2014), ist über das affektive Erleben von Lehrpersonen im herausfordernden Teamteaching-Setting, insbesondere auf situativer (= state) Ebene, wenig bekannt. Erkenntnisse in diesem Feld sind jedoch bedeutsam, da angenommen werden kann, dass das affektive Erleben von Lehrpersonen im Teamteaching-Setting ähnlich wie im Einzelunterricht mit relevanten Zielmerkmalen in Verbindung steht. Zudem wird davon ausgegangen, dass die Fähigkeit der Lehrpersonen zur adaptiven Emotionsregulation dieses Erleben mitbestimmt (Gross, 2015).

Dieses Forschungsdesidarat aufgreifend untersucht die vorliegende Studie

(1) inwieweit tägliches affektives Erleben (charakterisiert über positiven und negativen Affekt) und tägliches Wohlbefinden (charakterisiert über Arbeitsengagement, bestehend aus den Facetten Vitalität, Hingabe und Absorption, Schaufeli & Bakker, 2004) innerhalb und zwischen Teamteaching-Lehrpersonen variiert;

(2) inwieweit das tägliche affektive Erleben von Teamteaching-Lehrpersonen durch die habituellen, reaktionsfokussierten Emotionsregulationsstrategien der Emotionsunterdrückung und des authentischen Emotionsausdrucks erklärt werden kann und

(3) inwiefern tägliches affektives Erleben das tägliche berufliche Wohlbefinden erklären kann.

Basierend auf der bisherigen Forschungslage wird angenommen, dass sowohl das affektive Erleben als auch das Arbeitsengagement substantiell zwischen Situationen und zwischen Lehrpersonen variieren (Simbula, 2010; Stark et al., 2023), dass adaptive Formen der Emotionsregulation mit höherem positiven Affekt und niedrigerem negativen Affekt in Verbindung stehen (Chang & Taxer, 2021) und dass täglicher positiver und negativer Affekt eng mit täglichem Arbeitsengagement korreliert (Burić & Macuka, 2018) – auch unter Kontrolle der habituellen Emotionsregulationsstrategien.

Um diese Hypothesen zu prüfen, wurde eine quantitative längsschnittliche Tagebuchstudie mit 47 österreichischen Teamteaching-Lehrpersonen (MAlter = 40.45; 34 weiblich) durchgeführt. Vorerst beantworteten die Teilnehmenden in einem Präfragebogen Items zu ihren habituellen Emotionsregulationsstrategien der Emotionsunterdrückung (6 Items, ERQ nach Gross & John, 2003 bzw. nach Abler & Kessler, 2009) und dem authentischen Emotionsausdruck (6 Items, Yang et al., 2019) im Teamunterricht. Danach beantworteten die Lehrpersonen 15 Tagebucheinträge jeweils am Tag einer Teamteaching-Einheit hinsichtlich einer zuvor festgelegten Partnerlehrperson in einer ausgewählten Klasse. Die Tagebucheinträge bestanden aus Einzelitems zum täglichen positiven und negativen affektiven Erleben (22 Items, PANAS nach Breyer & Bluemke, 2016) und Arbeitsengagement (jeweils ein Item zu Vitalität, Hingabe und Absorption, UWES-9 Skala nach Schaufeli & Bakker, 2004). Aufgrund der genesteten Datenstruktur kamen in R (R Core Team, 2023) mehrebenenanalytische Regressionsmodelle zur Anwendung (N = 47 Lehrpersonen mit N = 652 Tagebucheinträgen).

Die Ergebnisse belegen, dass Teamteaching-Lehrpersonen ein hohes Ausmaß an täglichem positivem Affekt und ein geringes Ausmaß an negativem Affekt (M = 3.55pos / 1.10neg; SD = 0.88pos / 0.23neg; Skala 1–5) berichteten. Sowohl positiver und negativer Affekt als auch Vitalität, Hingabe und Absorption variierten substanziell innerhalb und zwischen den Personen (ICCs = .71 / .45 / .56 / .49 / .52). Zudem zeigte sich, dass lediglich der authentische Emotionsausdruck positiver Emotionen signifikant mit dem Erleben positiven Affekts in der Teamteachingsituation assoziiert war. Weiters stand täglicher positiver Affekt mit allen Facetten des täglichen Arbeitsengagements sowohl auf der within- als auch between-Ebene signifikant in Zusammenhang, während negativer Affekt auf der within-Ebene negativ mit Hingabe und Absorption und auf der between-Ebene negativ mit Absorption in Verbindung stand. Unter Hinzunahme der Emotionsregulationsstrategien blieben diese Zusammenhänge konstant.

Die Ergebnisse deuten auf die bedeutsame Rolle des täglichen positiven und negativen Affekts im Hinblick auf das tägliche Arbeitsengagement von Lehrpersonen im herausfordernden Unterrichtssetting des Teamteachings hin und werden im Hinblick auf die Förderung sozio-emotionaler Kompetenzen von Lehrpersonen diskutiert.



Paper Session

Das Potenzial transformationaler Führung und beruflicher Selbstregulation für das berufliche Wohlbefinden von Lehrkräften

Claudia Menge, Julia Gerick

TU Braunschweig, Deutschland

Lehrkräfte müssen in ihrem Berufsalltag zahlreiche Herausforderungen bewältigen. Gelingt ihnen dies nicht, sind belastungsbedingte Erkrankungen, Berufsausstiege und Frühpensionierungen (Skaalvik & Skaalvik 2011; Richter et al. 2013) sowie sinkende Unterrichtsqualität und schlechtere Schüler*innenleistungen (Arens & Morin 2016; Klusmann et al. 2016) mögliche Folgen. In diesem Zusammenhang untersucht der vorliegende Beitrag Faktoren, die das berufliche Wohlbefinden beeinflussen. Dabei werden sowohl die schulischen Kontextbedingungen als auch die individuellen Fähigkeiten der Lehrkräfte berücksichtigt. Im Fokus steht die Berufseingangsphase, die für eine besonders hohe Belastung bekannt ist (Richter et al. 2013; Dicke et al. 2016).

Die Untersuchung fußt auf Hobfolls (1988) Theorie der Ressourcenerhaltung zur Vorhersage menschlichen Verhaltens angesichts stressreicher Herausforderungen. Ein transformationaler Führungsstil, der auf Empowerment sowie geteilte Verantwortung setzt (Huber 2005), wird dabei als Bedingungsressource zur Bewältigung beruflicher Herausforderungen betrachtet. Die Fähigkeit zur beruflichen Selbstregulation bzw. des effektiven Haushaltens mit den eigenen Ressourcen im Zusammenspiel von beruflichem Engagement und Widerstandsfähigkeit gegenüber beruflichen Belastungen (Kunter et al. 2011) stellt eine personale Ressource dar. Sie umfasst zugleich wichtige Strategien der Ressourceninvestition (Arbeitsengagement) sowie der Ressourcenerhaltung (Widerstandsfähigkeit) (Hobfoll et al. 1997; Westman et al. 2005).

Die Forschungsfragen des Beitrags lauten: Welchen Einfluss haben 1) die transformationale Führung der Schulleitung und 2) die berufliche Selbstregulationsfähigkeit auf das Wohlbefinden und die Gesundheit von Lehrkräften am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn? Zeigen sich 3) unterschiedliche Effekte der Schulleitung in Abhängigkeit von den selbstregulativen Fähigkeiten der Lehrkräfte?

Bisherige Befunde zum Schulleitungshandeln verweisen auf positive Assoziationen mit verschiedenen Aspekten des beruflichen Wohlbefindens und der Gesundheit (Pietsch et al. 2016, Cansoy 2019; Luo et al. 2022). Unklar ist jedoch, inwieweit sich diese Befunde auf Lehrkräfte in Deutschland am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn übertragen lassen. Auch für den Zusammenhang zwischen beruflicher Selbstregulation und dem Wohlbefinden von (Mathematik)Lehrkräften findet sich empirische Evidenz (Klusmann et al. 2008). Eine Verzahnung dieser personalen und Bedingungsressourcen, die in Form von „Ressourcenkaravanen“ zu einem verstärkten Schutz vor berufliche Belastung beitragen (Buchwald und Hobfoll 2013), ist bisher nicht bekannt. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, verlässliche empirische Ergebnisse zum Wohlbefinden von Lehrkräften aller Bundesländer und Unterrichtsfächer in den ersten Berufsjahren zu generieren und Ansatzpunkte für eine frühzeitige Prävention gesundheitlicher Risiken zu identifizieren.

Die Analysen basieren auf Daten der Startkohorte 5 des Nationalen Bildungspanels, die seit dem Wintersemester 2010/2011 eine bundesweite Zufallsstichprobe von Studienanfängerinnen und ‑anfängern an deutschen Hochschulen vom Studium bis in das Berufsleben begleitet (NEPS-Netzwerk 2022) und seit 2014 zusätzliche lehrkraftbezogene Befragungsinhalte des Lehramtsstudierendenpanels erhebt (Schaeper et al. 2023). Die Analysestichprobe von N=993 Lehrkräften enthält n=320 Befragte, die 2018 zu den Prädiktoren und 2019 zu den Outcomes befragt wurden sowie n=673 Befragte mit Angaben aus den Jahren 2020 (Prädiktoren) und 2021 (Outcomes).

Als Prädiktoren wurden 9 Items der transformationalen Führung (Ewen 2012; drei Subdimensionen: α=,85 bis α=,88) sowie 13 Items der beruflichen Selbstregulation (aus dem AVEM-Inventar von Schaarschmidt und Fischer, 2001; vier Subdimensionen: α=,85 bis α=,88) berücksichtigt. Für das Wohlbefinden wurde jeweils vier Items zur emotionalen Erschöpfung (Maslach et al. 1986; α =,80) und zur Berufszufriedenheit eingesetzt (Kunter et al. 2011; α =,84). Das dritte Outcome ist ein Einzelitem zum selbsteingeschätzten Gesundheitszustand.

Mittels latenter Profilanalyse wurden vier aus früherer Forschung bekannte Typen beruflicher Selbstregulation unterschieden (z. B. Klusmann et al. 2008; Menge und Schaeper 2019). Ein Strukturgleichungsmodell (Modellfit: RMSEA=,046; CFI=,968; TLI=,961; SRMR=,029) zeigte signifikante Effekte der transformationalen Führung und Selbstregulationstypen auf die Berufszufriedenheit und emotionale Erschöpfung. Die Selbstregulationsfähigkeit der Lehrkräfte hatte zudem einen signifikanten Einfluss auf ihren Gesundheitszustand. In nachfolgenden Analysen zeigte sich keine signifikante Interaktion zwischen den Prädiktoren. Dies bekräftigt die besondere Bedeutung der Schulleitung für das Wohlergehen ihrer Lehrkräfte unabhängig von deren individuellen Voraussetzungen. Im Beitrag werden die Ergebnisse dargestellt und Implikationen für Forschung und Praxis diskutiert.

 
15:20 - 17:006-14: Mathematische Bildung II
Ort: H07
 
Paper Session

Digitale Mathematikschulbücher im Fokus: Eine systematische Analyse empirischer Studien

Ann-Katrin van den Ham, Constanze Koschwitz

Universität Hamburg, Deutschland

Einleitung und Forschungsfrage

Die Entwicklung und der Einsatz von digitalen Schulbüchern wird als ein aufstrebendes und wichtiges Feld für die zukünftige Ausrichtung der Mathematikschulbuchforschung genannt (Fan et al., 2013). Hier besteht dringender Forschungsbedarf, da die relativen Stärken und Schwächen digitaler Mathematikschulbücher noch nicht vollständig verstanden sind. Dies hat Kilpatrick 2014 in einem Überblick über die Entwicklungsgeschichte von Mathematikschulbüchern festgestellt. Beispielsweise werden interaktive digitale Schulbücher als neue Möglichkeiten für Partizipation, Flexibilität und Personalisierung gesehen, die in scharfem Kontrast zur autoritären Haltung traditioneller Textbücher stehen (Yerushalmy, 2014). Jedoch sind Studien zur Nutzung von Schulbüchern durch SchülerInnen selten (Yerushalmy, 2014) und es ist wenig darüber bekannt, wie LehrerInnen und SchülerInnen die neuen Möglichkeiten interaktiver digitaler Formate nutzen (Rezat, 2013). Nach unserem Kenntnisstand gibt es trotz dieser Forderungen bisher keine systematische Übersicht der Forschung zu digitalen Mathematikschulbüchern. Die letzte systematische Übersicht über den Stand der Forschung zu Schulbüchern im Fach Mathematik stammt von Fan (2013), welcher die Forschung zu digitalen Schulbüchern in der Kategorie „sonstiges“ beschrieb. Aus diesem Grund ist das Ziel dieses Beitrages ein systematisches Review zum Stand der empirischen Forschung bezüglich digitaler Mathematikschulbücher.

Methode

In drei Datenbanken (ERIC, Web of Science, PsycInfo) wurden englischsprachige Studien in Peer-Review-Zeitschriften im Bereich „Education“ zu Mathematikschulbüchern gesucht (2013-heute). Die Suchworte umfassten Mathematik oder mathematikspezifische Terme (wie z.B. Algebra) sowie Schulbuch. Nach Ausschluss von Duplikaten ergab die Suche 493 Ergebnisse. Von diesen Studien konnten weitere 214 Studien ausgeschlossen werden, da das Schulbuch nicht zentraler Untersuchungsgegenstand war, die Bücher nicht für SchülerInnen konzipiert waren (sondern für z.B. Studierende oder Auszubildende) oder es sich nicht um empirische Studien zu Mathematikschulbüchern handelte. Von diesen 279 Studien wurden im nächsten Schritt nur die Studien ausgewählt, die tatsächlich digitale Schulbücher fokussierten (19 Studien).

Ergebnisse

Die insgesamt 19 Studien, können in 6 Kategorien beschrieben werden. Zu jeder Kategorie werden die Ergebnisse kurz zusammengefasst:

(1) Lehrerkräftebildung und Einstellungen: Die Ergebnisse (Studien 1 und 2) zeigen, dass eine gründliche Vorbereitung und Schulung der Lehrkräfte für die effektive Implementierung digitaler Lehrbücher unerlässlich sind. Insbesondere in den USA besteht eine Präferenz für digitale Formate, was eine differenzierte Herangehensweise an die Lehrmittelbereitstellung erforderlich macht. (2) Technologische Umsetzung und Design: Die Studien in dieser Kategorie (Studien 3, 4, 5 und 14) betonen die Bedeutung des Designs und der Multimodalität in digitalen Lehrbüchern. Insbesondere die Integration interaktiver Bausteine könnte die Schülerleistung positiv beeinflussen. (3) Schülerengagement und Lernergebnisse: Die Studien 6 und 16 zeigen, dass die wahrgenommene Nützlichkeit und das Engagement der Schüler wichtige Faktoren für die tatsächliche Nutzung und den Erfolg von digitalen Lehrbüchern sind. (4) Zugänglichkeit und Inklusivität: Die Studien 7 und 13 legen nahe, dass digitale Lehrbücher das Potenzial haben, den Zugang für Schüler mit besonderen Bedürfnissen zu verbessern, jedoch ist eine sorgfältige Implementierung erforderlich. (5) Pädagogische Implikationen: Die Studien 10, 11, 15, 17 und 18 untersuchen verschiedene Aspekte wie die didaktischen Auswirkungen computergestützter Beweise, die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Schüler, pädagogische Widersprüche, die sich aus der Verwendung digitaler Lehrbücher ergeben, und den Einfluss externer Variablen wie Selbstwirksamkeit und Bildungsniveau der Eltern auf die Technologieakzeptanz. Sie unterstreichen die Notwendigkeit eines differenzierten Verständnisses der Wechselwirkungen zwischen digitalen Schulbüchern und Lehrmethoden, dem Engagement der Schüler und den Lernergebnissen. (6) Vergleichende Analysen: Die Studien 8, 9 und 19 zeigen, dass digitale Lehrbücher nicht automatisch zu einer verbesserten Lernqualität führen und dass die Aufgabenanforderungen in beiden Formaten ähnlich sein können.

Dieser Beitrag bietet eine fundierte Grundlage der Forschung im Bereich digitaler Mathematikschulbücher. Die verhältnismäßig geringe Anzahl an Studien zu digitalen Mathematikschulbüchern unterstreicht den Bedarf an weiterer Forschung in diesem sich rasch entwickelnden Feld. Die Ergebnisse unterstreichen zudem die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung von digitalen Mathematikschulbüchern, die sowohl technologische als auch pädagogische Aspekte berücksichtigt.



Paper Session

Überträgt sich mathematikbezogene Angst der Lehrkraft auf das Grundschulkind? Agency und Communion des dyadischen Lehrkraftverhaltens als Mediator

Madita Frühauf, Bettina Hannover

Freie Universität Berlin, Deutschland

Mathematikbezogene Angst (MA; Ashcraft, 2002; Hembree, 1990) kann die Leistungsfähigkeit von Schüler:innen beeinträchtigen (Barroso et al., 2021; Caviola et al., 2022). Zudem können auch Mathematik-Lehrkräfte von Angst im Fach Mathematik betroffen sein (Ganley et al., 2019; Porsch, 2017). Auch liegen Belege vor, dass MA der Lehrkraft zu geringeren Mathematikleistungen der Schüler:innen führt (Beilock et al., 2010; Ramirez et al., 2018; Schaeffer et al., 2021). Mögliche Erklärungen für dieses Phänomen sind emotionale Ansteckung, Feedbackverhalten oder Aspekte von Beziehungsqualität (Burić & Frenzel, 2023; Frenzel et al., 2009, 2021). In unserer Forschung haben wir auf das interpersonale Verhalten der Lehrkraft in Lehrkraft-Schüler:in-Dyaden als potentiellen Mediator zwischen MA der Lehrkraft und MA der Schüler:in fokussiert.

Der Interpersonal Theory (Leary, 1957) folgend kann das Verhalten von Lehrkräften auf den Dimensionen Communion (Wärme, Zugewandtheit) und Agency (Lenkung, Kontrolle) beschrieben werden. Günstiges Lehrkraftverhalten ist dadurch charakterisiert, dass die Lehrkraft adaptive Agency zeigt, also das Ausmaß der Steuerung von den Kompetenzen des Kindes abhängig macht, und dies in jedem Fall mit hoher Communion kombiniert ist (Hannover et al., 2022; Roorda et al., 2017).

Wir erwarten, dass eine Lehrkraft mit hoher MA im Mathematikunterricht Stress und Unsicherheit erlebt und entsprechend wenig kommunales Verhalten gegenüber den Schüler:innen zeigt und versucht, durch hohe Agency das Unterrichtsgeschehen unter Kontrolle zu halten. Durch dieses Verhaltensmuster sollte MA beim Lernenden gefördert werden: denn das Kind fühlt sich nicht emotional unterstützt und erlebt die starke Steuerung als Ausdruck eines geringen Zutrauens der Lehrkraft in seine mathematischen Kompetenzen. Da Mädchen und Frauen im besonderen Maße von MA betroffen sind (Vos et al., 2023) berücksichtigen wir zudem das Geschlecht der Lehrkraft und des Kindes.

In einer Feldstudie beschrieben 42 Mathematik-Grundschullehrkräfte (32 Frauen) ihr dyadisches Interaktionsverhalten gegenüber n = 949 Berliner Grundschüler:innen (373 Mädchen) mithilfe eines Circumplex-Instrumentes (Hannover et al., 2022). Lehrkräfte (Ganley et al., 2019) und Schüler:innen (Henschel & Roick, 2020) machten Angaben zu ihrer MA. Als Analysestrategie verwendeten wir die Structural Summary Method (SSM; Gurtman, 1992) mithilfe des R-Paketes "Circumplex" (Zimmermann & Wright, 2017) und berechneten Pfadmodelle mit dem R-Paket „lavaan“ (Rosseel, 2012).

Die SSM-Analysen zeigten erwartungsgemäß, dass die MA der Lehrkraft mit geringer Communion zusammenhing, entgegen unserer Erwartung aber unabhängig von der Agency war (Displacement = 152.1°, R2 = .75). Die MA des Kindes hing anders als erwartet mit der Communion des Lehrkraftverhaltens nicht zusammen, nahm aber mit der Agency zu (Displacement = 94.6°, R2 = .98). Der über die Agency (β = 0.00, p = .427) und Communion (β = 0.01, p = .185) vermittelte indirekte Effekt der MA der Lehrkraft auf die MA des Kindes war nicht signifikant.

Geschlechtsspezifische Analysen zeigten hingegen den erwarteten Zusammenhang, wenn Lehrkraft und Kind weiblich waren (Gender Match): Die MA der weiblichen Lehrkraft hing erwartungsgemäß mit der Kombination von geringer Communion und hoher Agency in ihrem Verhalten zusammen (Displacement = 119.8°, R2 = .90). Die MA des jeweiligen Mädchens war wie erwartet umso höher, je weniger kommunal und stärker agentisch das Verhalten der Lehrkraft war (Displacement = 112.6°, R2 = .98). Die Pfadanalyse ergab allerdings, dass nur Agency den Zusammenhang zwischen MA der Lehrkraft und des Kindes mediierte (β = 0.04, p = .044; für Communion: β = 0.02, p = .128).

Als eine Erklärung, warum sich MA nur bei einer weiblichen Lehrkraft auf ihre weiblichen Schüler überträgt, diskutieren wir den Einfluss von Geschlechtsstereotypen (Eagly, 1987). Mathematiklehrerinnen und Mädchen kennen das Stereotyp über die geringere Mathematikkompetenz ihres Geschlechts. Möglicherweise versuchen deshalb nur Frauen ihre MA durch niedrig kommunales und stark agentisches Verhalten zu regulieren und sind nur Mädchen vulnerabel, sich von der durch das Lehrkraftverhalten vermittelten MA der Lehrkraft beeinträchtigen zu lassen.



Paper Session

Personenmerkmale und Mathematikleistungen – Ein systematisches Review metaanalytischer Befunde

Moritz Breit, Michael Schneider, Franzis Preckel

Universität Trier, Deutschland

Mathematikleistungen von Schüler*innen haben weitreichende Folgen, sowohl auf individueller Ebene für Arbeitsmarktchancen oder Gesundheitsentscheidungen (Geary, 2011, Reyna & Brainerd, 2007), als auch auf gesellschaftlicher Ebene für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft (Halpern et al., 2007). Ein tiefgreifendes Verständnis der Personenmerkmale, die zu Mathematikleistungen beitragen, ist hilfreich, um die frühzeitige Identifizierung von Schüler*innen mit einem Risiko für schwache Leistungen und auch die Talentsuche und Förderung von Mathematik-Talenten zu unterstützen. Es gibt eine umfangreiche Literatur zu Prädiktoren von Mathematikleistungen sowie verschiedene Modelle der Begabung und Talententwicklung in Mathematik (e.g., Phillipson & Callingham, 2009; Pitta-Pantazi et al., 2011; Preckel et al., 2020), welche die Bedeutung verschiedener Fähigkeiten, Fertigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale für die Mathematik betonen. In den letzten Jahren wurden in einer Vielzahl von Metaanalysen die Ergebnisse aus verschiedenen Teilen der empirischen Literatur zusammengefasst, um die Auswirkungen von Personenmerkmalen genauer zu quantifizieren (e.g., Atit et al., 2022; Bicer et al., 2021; Emslander & Scherer, 2022; Muncer et al., 2022). Allerdings ist diese Fülle an neuen Erkenntnissen derzeit nur schwer zu überblicken. In der vorliegenden Studie bieten wir daher ein systematisches Review von Metaanalysen personenbezogener psychologischer Variablen, die mit mathematischen Leistungen in Verbindung stehen. Dies ermöglicht einen Vergleich der relativen Bedeutung einer großen Bandbreite von Variablen, der als Grundlage für Talentmodelle, Talentsuchen und Förderung im Bereich der Mathematik dienen kann.

Fragestellung

Welche personenbezogenen psychologischen Variablen stehen in einem systematischen Zusammenhang mit Mathematikleistung? Wie hoch sind die Zusammenhänge und Unterschiede zwischen ihnen?

Methode

Durch systematische Suchstrategien wurden 383 Artikel identifiziert und auf Eignung geprüft (u.a. Metaanalyse, Korrelation von Mathematikleistung mit einem Personenmerkmal, keine Kontrolle von Drittvariablen, kein Fokus auf klinische Stichproben). Von diesen wurden 31 Metaanalysen mit insgesamt 86 Variablen in das Review aufgenommen. Die interessierende Effektgröße war die metaanalytische Korrelation zwischen der Variable und der Mathematikleistung. Die Variablen wurden in die Überkategorien a) Wissen und Fertigkeiten, b) (kognitive) Fähigkeiten und c) Persönlichkeit und Motivation unterteilt. Alle Effektgrößen wurden nach ihrer Größe geordnet und die resultierenden Ergebnismuster beschrieben. Effekte wurden in Anlehnung an Empfehlungen von Cohen (1988) und Gignac and Szodorai (2016) in vernachlässigbare (r = .00 - .09), kleine (r = .10 - .19), moderate (r = .20 - .29), große (r = .30 - .49) und sehr große (r ≥ .50) Effekte unterteilt.

Ergebnisse

Die stärksten Zusammenhänge mit Mathematikleistungen zeigten sich für verbale akademische Leistung (r = .59 bis .67) und verbale Fähigkeiten (r = .27 bis .51), mathematisches Vorwissen und Vokabular (r = .63 und .49), Intelligenz (r = .41 bis .62) und Kreativität (r = .47). Variablen der Kategorie „Wissen und Fertigkeiten“ zeigten durchweg große bis sehr große Zusammenhänge. Fähigkeitsvariablen zeigten vor allem moderate oder große Zusammenhänge. Im Vergleich zu anderen Variablen waren die Effektgrößen der Verarbeitung numerischer Größenordnungen (r = .24 bis .30) und der räumlichen Fähigkeiten (r = .21 bis .35), die oft als wichtige Prädiktoren mathematischer Leistung und als Indikatoren mathematischen Talents beschrieben werden, eher gering. Persönlichkeits- und Motivationsvariablen zeigten vernachlässigbare bis moderate Zusammenhänge, mit Ausnahme des mathematischen Selbstkonzepts (r = .43) und der akademischen Emotion Ärger (r = -.35). Die Ergebnisse zeigen, dass auch viele Variablen stark mit Mathematikleistungen zusammenhängen, die gut durch gezielte Interventionen veränderbar sind (z.B. Lesefertigkeit, mathematisches Selbstkonzept, Selbstregulation).



Paper Session

Effekte eines (verzerrten) Fähigkeitsselbstkonzepts auf Schulnoten und deren Mediation durch Erfolgserwartung und subjektive Werte nach dem Erwartungs-Wert-Modell

Patrick Paschke, Ricarda Steinmayr

Technische Universität Dortmund, Deutschland

[Theoretischer Hintergrund, Fragestellung]

Aus einer großen Zahl von Einzelstudien und Metaanalysen (z.B. Valentine et al., 2004; Wu et al., 2021) ist bekannt, dass ein hohes Fähigkeitsselbstkonzept sich positiv auf zukünftige Schulleistungen (Noten, standardisierte Schulleistungstests, erreichter Abschluss) in derselben Domäne, z.B. Mathematik, auswirkt. Über zwei unmittelbar daraus ableitbare Fragestellungen ist hingegen weitaus weniger bekannt. Erstens stellt sich die Frage, ob die Diskrepanz zwischen dem Fähigkeitsselbstkonzept und der tatsächlichen Kompetenz einer Person (der sogenannte Selbsteinschätzungsbias; SE Bias) ebenfalls eine Auswirkung auf schulische Leistungen hat. Hierzu gibt es in der Literatur unterschiedliche Hypothesen. Einige Autor*innen gehen davon aus, dass ein (moderat) positiver SE Bias aufgrund einer angenommenen motivationsförderlichen Wirkung zu besseren Schulleistungen führen sollte (z.B. Bonneville-Roussy et al., 2017; Lee, 2021), während andere die Bedeutung akkurater Selbsteinschätzungen betonen (z.B. Dunlosky & Rawson, 2012; Hacker & Bol, 2019) und einige gar Vorteile von Selbstunterschätzungen identifizieren (z.B. Talsma et al., 2019). Bisherige Studien zu diesem Thema sind aufgrund theoretischer und methodischer Mängel jedoch oft wenig aussagekräftig (siehe z.B. Humberg et al., 2018 für eine Diskussion). Zweitens ergibt sich die Frage, welche Mechanismen für den positiven Effekt des Fähigkeitsselbstkonzepts auf Schulleistung verantwortlich sind. Nach dem Erwartungs-Wert-Modell (Eccles & Wigfield, 2020; 2023) wird dieser Effekt durch subjektive Werte (intrinsische Werte, Wichtigkeitswerte, Nützlichkeitswerte sowie die in dieser Arbeit nicht untersuchten Kosten) und Erfolgserwartung mediiert. Diese angenommenen Mediationen wurden bisher allerdings nicht längsschnittlich überprüft. Daher untersuchten wir in der vorliegenden Arbeit, ob neben der absoluten Ausprägung des Fähigkeitsselbstkonzepts auch der SE Bias einen Einfluss auf Schulleistung ausübt (Fragestellung 1) und, ob der Effekt des Fähigkeitsselbstkonzepts (wie auch der potentielle Effekt des SE Bias) durch subjektive Werte und Erfolgserwartungen mediiert wird (Fragestellung 2).

[Methode]

Wir untersuchten 504 Gymnasiast*innen zu Beginn der zehnten Klassenstufe (Alter: M = 15.28 Jahre; SD = 0.60; 264 weiblich, 240 männlich) und erfassten ihr mathematisches Fähigkeitsselbstkonzept sowie ihre mathematische Kompetenz mit einem standardisierten Mathematikkompetenztest. Zu einem zweiten Messzeitpunkt (t2) zu Beginn der elften Klassenstufe erfassten wir die subjektiven Werte sowie die Erfolgserwartung in Mathematik und zu einem dritten Messzeitpunkt (t3) am Ende der elften Klassenstufe die Mathematikzeugnisnoten. Weiterhin wurden Kontrollvariablen (Ausgangswert der Noten, Ausgangswert der subjektiven Werte und Erfolgserwartung, Geschlecht, sozioökonomischer Status) erfasst. Wir verwendeten Response Surface Analysen (Edwards, 2002; Edwards & Parry, 1993; Humberg et al., 2019) zur Datenauswertung. Dabei wurden das Fähigkeitsselbstkonzept, das Ergebnis des Kompetenztests und die Kontrollvariablen als unabhängige Variablen, die subjektiven Werte und die Erfolgserwartung als Mediatoren und die Zeugnisnoten am Ende der 11. Klassenstufe als abhängige Variable modelliert. Weiterhin stellten wir durch Parameterrestriktionen verschiedene Modelle auf, die die unterschiedlichen theoretischen Annahmen über SE Bias Effekte (z.B. positiver Effekt einer Selbstüberschätzung, positiver Effekt einer akkuarten Selbsteinschätzung, positiver Effekt einer Selbstunterschätzung) repräsentieren. Wir untersuchten Fragestellung 1, indem wir die entsprechenden Modelle gegeneinander testeten und anhand von Akaike-Gewichten verglichen (Burnham & Anderson, 2002; Humberg et al., 2019). Wir untersuchten Fragestellung 2, indem wir das oder die Modelle, welche in den Analysen zu Fragestellung 1 die besten Akaike-Gewichte aufwiesen, auf signifikante indirekte Effekte vermittelt über subjektive Werte und Erfolgserwartung überprüften.

[Ergebnisse]

Analysen der Akaike-Gewichte ergaben, dass jenes Modell die Daten am besten abbildete, welches lediglich positive lineare Effekte des mathematischen Fähigkeitsselbstkonzepts und der Kompetenz auf die Zeugnisnoten, aber keine SE Bias Effekte, beinhaltete. Mit anderen Worten, während die absolute Höhe sowohl des Fähigkeitsselbstkonzepts als auch der Kompetenz einen Einfluss auf die Noten hatte, spielte die Diskrepanz zwischen ihnen keine Rolle. Mediationsanalysen dieses Modells ergaben, dass der Effekt des Fähigkeitsselbstkonzepts durch intrinsische Werte und Wichtigkeitswerte, nicht aber durch Nützlichkeitswerte und Erfolgserwartung mediiert wurde. Die Annahmen des Erwartungs-Wert-Modells wurden somit partiell bestätigt.

 
Datum: Mittwoch, 20.03.2024
9:00 - 10:407-14: Digital und analoge Diagnostik und Unterstützung von selbstreguliertem Lernen im Hochschulkontext
Ort: H07
 
Symposium

Digital und analoge Diagnostik und Unterstützung von selbstreguliertem Lernen im Hochschulkontext

Chair(s): Benedict C. O. F. Fehringer (Universität Mannheim, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Laura Dörrenbächer-Ulrich (Universität des Saarlandes)

Selbstreguliertes Lernen (SRL) umfasst von Personen selbstgenerierte Gedanken, Gefühle und Handlungen, um bestimmte Lernziele zu erreichen (Zimmerman & Moylan, 2009). Bei SRL geht es insbesondere um einen aktiven und konstruktiven Prozess, bei dem sich Lernende Lernziele setzen und die eigenen Kognitionen, Motivation, das eigene Verhalten, sowie meta-kognitive Strategien in Abhängigkeit dieser Ziele und den gegebenen äußeren Umständen beobachten, regulieren und kontrollieren (Pintrich, 2000). Bei der Feststellung von Diskrepanzen zwischen dem angestrebten Lernziel und dem aktuellen Lernstand können beispielsweise einzelne Lerntechniken aber auch Lernstrategien (Sequenz einzelner Lerntechniken, Schiefele & Pekrun, 1996) angepasst werden. Lernstrategien können in drei Kategorien untergliedert werden: die kognitiven Strategien, die metakognitiven Strategien und die ressourcenbezogenen Strategien (Leopold & Leutner, 2002). Weinstein and Mayer (1986) unterteilen die kognitiven Strategien in Elaboration, Organisation und Wiederholung. Die metakognitiven Strategien beziehen sich auf das Wissen über verschiedene Lernstrategien und deren Anwendung, sowie auf die Kontrolle kognitiver Prozesse (Flavell, 1979), wobei die Kontrolle kognitiver Prozesse dabei in Planung, Überwachung und Regulation unterteilt werden kann. Die ressourcenbezogene Strategien beziehen sich auf die Regulation externer Ressourcen (z. B. Gestaltung der Lernumgebung, Nutzung zusätzlicher Literatur) und interner Ressourcen (z. B. investierte Anstrengung, Gestaltung der Lernzeit, Schiefele & Pekrun, 1996) zur Unterstützung von Lernprozessen.

Die Beiträge des Symposiums untersuchen, wie SRL valide im Hochschulkontext diagnostiziert werden kann und wie, basierend auf einer solchen Diagnostik, das SRL der Studierenden unterstützt werden kann. Dabei fokussiert ein Beitrag auf umfassende SRL-Profile basierend auf SRL-Aspekten aus dem LIST-K (Klingsieck, 2018), wohingegen die anderen drei Beiträge auf eine Unterstützung des Lernverhaltens der Studierenden, bzw. auf eine Änderung der Lernstrategien abzielen. Die untersuchten Interventionen fokussieren dabei auf kognitive oder ressourcenbezogene Strategien. Alle Beiträge beziehen sich auf reale Lernkontexte im Feld und nicht auf Laborsituationen.

Die ersten beiden Beiträge nutzen die Daten aus einer mehrjährigen Kohortenstudie, bei der Lehramtsstudierende des ersten Semesters eine Einführungsveranstaltung besucht haben und dazu angehalten wurden, ein digitales Lernsystem zur Lernunterstützung zu nutzen. Ausgehend von den Erfahrungen der ersten Kohorten wurde im Herbst-Winter-Semester 2022 den Studierenden angeboten, an einer Intervention teilzunehmen, die den Einsatz und die Nutzung von elaborierten Lernstrategien stärken sollte. Der erste Beitrag untersucht, welche Auswirkungen diese Intervention hat, sowohl auf das Lernverhalten innerhalb des digitalen Lernsystems als auch im Hinblick auf den Klausurerfolg. Der zweite Beitrag nutzt die Daten derselben Kohorte, hat aber zum Ziel, Studierende basierend auf selbstberichteten SRL-Aspekten zu bestimmten SRL-Profilen zu gruppieren. Die gefundenen Profile wurden bezüglich der Nutzung des digitalen Lernsystems und der erzielten Klausurpunkzahl analysiert.

Der dritte Beitrag evaluiert ein Training zur Unterstützung des Zeitmanagements als ressourcenbezogene SRL-Strategie von Studierenden. Dabei untersucht die Studie, wie sich dieses begleitend zu einem Online-Seminar durchgeführte Training auf das Prokrastinationsverhalten der Studierenden auswirkt. Vorher-Nachher-Vergleiche zwischen dem Prokrastinationsverhalten zu Beginn und am Ende des Seminars zeigen eine positive Wirkung des Trainings, welche sich auch in besseren Klausurergebnissen der Trainingsgruppe zeigt.

Der vierte Beitrag untersucht den Nutzen eines digitalen Feedbacksystems auf das Prokrastinationsverhalten und die Klausurnoten von Studierenden. Dabei wird Prokrastination multimodal betrachtet (Selbstbericht und digitale Verhaltensdaten). Das Feedbacksystem wurde in zwei Kursen der Wirtschaftsinformatik evaluiert. Das System ist innerhalb eines digitalen Lernsystems integriert und gibt Studierenden individuelle Handlungsvorschläge bezüglich ihres Lernverhaltens (z. B. bestimmte Inhalte zu wiederholen oder bestimmte Fragen zu bearbeiten). Die gegebene Rückmeldung basiert auf der Auswertung der individuellen digitalen Lerndaten (u.a. Lernzeit) der Studierenden.

Die Beiträge des Symposiums zeigen die Bedeutsamkeit der verschiedenen Aspekte von SRL, insbesondere der kognitiven Strategien und des Zeitmanagements als ressourcenbezogene Strategie. Obwohl sich Unterschiede zwischen den Studierenden in ihren Fähigkeiten zum SRL feststellen lassen, zeigen die Befunde auch, dass Studierende in ihrem SRL unterstützt und angeleitet werden können und, dass sich dies auch in besseren Klausurergebnissen zeigt.

 

Beiträge des Symposiums

 

Förderung der kognitiven Strategie der Elaboration bei Studienanfängern - eine Interventionsstudie im Feld

Benedict C. O. F. Fehringer, Stefan Münzer, Samuel Wissel, Marc Philipp Janson
Universität Mannheim

Fragestellung: Kognitive Lernstrategien, die Lerninhalte mit Vorwissen, Begründungen und Anreicherungen verknüpfen, gelten als förderlich für akademisches Lernen. Solche Strategien werden hier als „Elaborationsstrategien“ bezeichnet. Einzelstrategien wie „Warum?“-Fragen (Pressley et al., 1987; Woloshyn et al., 1992) und Selbsterklärungen (Berry, 1983; mit ausgearbeiteten Lösungsbeispielen z.B. Renkl, 2002; Atkinson et al., 2003) zeigen empirisch Lernwirksamkeit (Überblick s. Dunlowksy et al., 2013). In der vorliegenden Feldstudie wurde im ersten Semester des Lehramtsstudiums in einer bildungswissenschaftlichen Vorlesung eine Trainingsintervention für elaborative Strategieelemente durchgeführt. Untersucht wurde die Wirksamkeit in Bezug auf die Klausurleistung.

Methode: Von anfänglich N = 198 Studierenden wurden zu Beginn des Semesters demografische Daten, Abiturnote und selbstberichtete Lernstrategien (LIST-K, Klingsieck, 2018) erfasst. Während des Semesters konnten die Studierenden ein digitales Lernsystem mit verständnisfördernden MC-Lernfragen und elaborativem Feedback nutzen. Das Lernsystem errechnet einen Lernindex, der ansteigt, wenn MC-Fragen wiederholt richtig beantwortet werden (Retrieval Practice). Der Lernindex wurde am Abend vor der Klausur ausgelesen. Zeitlich etwa in der Mitte des Semesters wurde das Elaborationstraining als 90-minütiges Präsenztraining in Kleingruppen angeboten. Die Teilnahme war freiwillig. Das Training übte Elaborationsstrategien wie Vorwissensaktivierung, Beispiele finden, Fragen stellen / beantworten an Lerninhalten der Vorlesung.

Für die Analysen wurden diejenigen Studierenden einbezogen, die die Klausur zum Ersttermin am Ende des Semesters schrieben (N = 97), das digitale Lernsystem verwendet hatten (Ausschluss N = 16 ohne Nutzung) und die Abiturnote angegeben hatten (Ausschluss weiterer N = 15 ohne Angabe). Die resultierende Stichprobe umfasste N = 66 Teilnehmende (52 w, 14 m) mit einem mittleren Alter von M = 20.08 Jahren (SD = 1.99 Jahren). Hinsichtlich der freiwilligen Teilnahmeergaben sich annährend gleich große Gruppen (N_Teilnehmende = 34; N_Nicht-Teilnehmende = 32) , die sich in der Abiturnote nicht unterschieden, t(64) = 1.56, p = .123. Die ursprüngliche Klausurpunktzahl (theoretisches Maximum = 92) wurde um Fragen zu selbstreguliertem Lernen sowie um Fragen zu Inhalten aus dem Elaborationstraining bereinigt (theoretisches Maximum = 80, empirisches Maximum = 77).

Ergebnisse: Die Studierenden, die am Training teilgenommen hatten, erzielten tendenziell eine höhere Klausurpunktzahl (M = 59.0, SD = 9.0) im Vergleich zu denen, die nicht teilgenommen hatten (M = 55.4, SD = 9.8), t(64) = 1.46, p = .073 (einseitig). Hinsichtlich des Lernindex des digitalen Lernsystems fand sich kein Unterschied zwischen den Gruppen, t(64) = 1.31, p = .196. In einem multiplen Regressionsmodell, in welchem Abiturnote, die Teilnahme am Elaborationsstrategietraining (Intervention) als Prädiktoren sowie der Interaktionsterm zwischen Abiturnote und Teilnahme aufgenommen wurden, zeigten sich beide Haupteffekte signifikant, b_Intervention = 14.95, p = .042, b_Abiturnote = -6.67, p = .003. Darüber hinaus war der negative Interaktionseffekt marginal signifikant, b_Interaktion = -6.25, p = .054. Dieser zeigt einen tendenziell stärken Zusammenhang zwischen Abiturnote und Klausurpunktzahl für die Teilnehmenden am Strategietraining an. Eine Aufnahme des digitalen Lernindex als zusätzlichen Prädiktor in das Modell veränderte das Ergebnismuster nicht.

Diskussion: Die Ergebnisse zeigen, dass das Training unter Berücksichtigung der Abiturnote einen Effekt auf die Klausurleistung hatte. Allerdings trat eine Art „Matthäus“-Effekt auf: Die Abiturnote wirkte sich mit Training tendenziell stärker auf die Klausurleistung aus als ohne Training. Studierende mit besserer Abiturnote konnten also besonders vom Training profitieren. Studierende der Trainingsgruppe unterschieden sich nicht im Lernindex des digitalen Lernsystems von den anderen Studierenden. Sie müssen ihren Vorteil also aus qualitativ unterschiedlichem Lernverhalten gezogen haben, der mit dem Lernindex nicht erfasst wird. Künftige Entwicklungen richten sich auf die Integration von Elaborationstechniken in das digitale Lernsystem, womit auch darauf bezogenes Lernverhalten durch digitale Lernprozessdaten erfasst werden soll.

 

Heterogenität in Selbstberichtsdaten zu Selbstreguliertem Lernen: Latente Pro-filanalyse an Selbstberichteten selbstreguliertem Lernverhalten

Samuel Wissel, Benedict C. O. F. Fehringer, Stefan Münzer, Marc Philipp Janson
Universität Mannheim

Die Hochschule erfordert von Studierenden neue Herangehensweisen, die vor allem die Investition in ihre eigenen Lernfähigkeiten betreffen (Pfost et al., 2020). Studierende neigen jedoch zu kognitiven Illusionen, präferieren ineffektive Lernstrategien und schätzen die Nützlichkeit verschiedener Lernstrategien falsch ein (Cervin-Ellqvist et al., 2021; Blasiman et al., 2017). Im Rahmen einer Pflichtveranstaltung für Lehramtserstsemesterstudierende erheben wir Lernprozessdaten mittels eines digitalen Lernsystems (DLS) und Fähigkeiten zu selbstreguliertem Lernen (SRL) mittels Selbstbericht. Obwohl SRL-Selbstberichte in Frage gestellt wurden (Artelt, 2000), bieten sie auch eine ökologische Möglichkeit, die grundlegenden SRL-Kenntnisse von Studierenden zu bewerten und Einblick in die Wahrnehmung ihres Lernverhaltens zu erhalten (Rovers et al., 2019). Wir untersuchen in der vorliegenden Studie, ob qualitativ unterschiedliche Subgruppen innerhalb von SRL-Selbstberichten (Dörrenbächer & Perels, 2016; Muwonge et al., 2020; Mindrila & Cao, 2022) zu Beginn des Semesters vorzufinden sind und ob diese Subgruppen Studierende mit Schwierigkeiten beim SRL identifizieren helfen.

Diese Studie ist Teil eines Kohorten-Projektes, in dem jährlich seit 2019 Lernprozessdaten und SRL-Selbstberichte erhoben werden. Aufgrund erster explorativer Analysen präregistrierten wir, dass drei distinkte Subgruppen in den Subskalen des LIST-K (Klingsieck, 2018) Unterschiede in der Anzahl der insgesamt bearbeiteten Aufgaben im DLS, der Anzahl der gelernten Tage im DLS, dem Lernindex des DLS und der Klausurleistung, jedoch keine Unterschiede in der Abiturnote als Kontrollvariable zeigen würden. Spezifischer sagten wir vorher, dass sich die Gruppe mit generell hohen Werten im LIST-K (H) von den Gruppen mit generell niedrigeren und generell mittleren Werten im LIST-K (L & M) unterscheiden, jedoch kein Unterschied zwischen der mittleren und niedrigen Gruppe bestehen würde.

Wir erfassten N = 198 Lehramtsstudierende im Herbst-Winter-Semester 2022 innerhalb einer vorlesungsbegleitenden Erhebung, wobei nur Studierende betrachtet wurden, die die Klausur zum Ersttermin geschrieben haben. Zu Beginn des Semesters wurde der LIST-K (Klingsieck, 2018) zusammen mit demographischen Variablen erhoben. Im Verlauf des Semesters loggte das DLS jede Lernhandlung der Studierende in Form digitaler Lernprozessdaten.

In einem ersten Schritt replizierten wir die latente Profilanalyse (LPA) mit drei Profilen (ICL = -15110; BIC = 15033; Entropy = .884, BLRTp =.009). Die drei Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer selbstberichteten SRL-Ausprägungen (niedrig: N = 19, mittel: N = 133, hoch; N = 46). Alle drei Gruppen unterschieden sich nicht be-deutsam hinsichtlich der durchschnittlichen Abiturnote. Mittels des R-Pakets bain (Gu et al., 2023) testeten wir die folgenden informativen Hypothesen innerhalb einer Vari-anzanalyse für diese drei Gruppen für die abhängigen Variablen „Anzahl gelernter Fragen“, „Anzahl an Lerntagen“, „Lernindex des DLS“ und „Klausurerfolg“. (Die Hypothesen- und Ergebnisdarstellung entspricht der Empfehlung von Hoijtink et al., 2019):

H0 : μ_hohesSRL = μ_mittleresSRL = μ_niedrigesSRL

H1 : μ_hohesSRL > μ_mittleresSRL = μ_niedrigesSRL

Hu : μ_hohesSRL, μ_mittleresSRL, μ_niedrigesSRL

Die Auswertung der Daten mittels bayesianischer Statistik zeigt anekdotische bis moderate Evidenz für die aufgestellte Hypothese H1 (gleiche Werte in den Gruppen mit niedrigem und mittlerem SRL und größere Werte in der Gruppe mit hohem SRL) für die abhängigen Variablen „Anzahl der Lerntage“ (BF_10 = 2.49; Bayesian error probabi-lity (BEP) = .32), „Anzahl der gelernten Items“ (BF_10 = 4.63; BEP = .24) und „Lernin-dex des DLS“ (BF_10 = 4.55; BEP = .25). Bezüglich der Klausurleistung (BF_01 = 2.34; BEP = .33) zeigt sich anekdotische Evidenz für die informative Hypothese H0 (keine Unterschiede zwischen allen drei SRL-Gruppen). Explorative Analysen deuten zudem darauf hin, dass selbstberichtete SRL-Fähigkeiten mehr mit dem Lernverhalten zu-sammenhängen, wenn sie zum Ende des Semesters erfasst werden.

Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass mittels eines ökonomischen Fragebogens zu Beginn des Semesters, Subgruppen von Studierenden identifiziert werden können, die sich bezüglich ihres Lernverhaltens innerhalb des DLS unterscheiden, jedoch nicht hinsichtlich ihrer Lernleistung.

 

Effekte eines digitalen Zeitmanagement-Trainings auf das Prokrastinationsverhalten von Erstsemesterstudierenden

Sebastian Trentepohl1, Julia Waldeyer1, Jens Fleischer1, Julian Roelle1, Detlev Leutner2, Joachim Wirth1
1Ruhr-Universität Bochum, 2Universität Duisburg-Essen

Effektives Zeitmanagement ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Studienverlauf (van der Meer et al., 2010; Wolters & Brady, 2020). Es gilt als integraler Bestandteil selbstregulierten Lernens und zeigt bedeutsame Zusammenhänge mit verschiedenen Studienerfolgsindikatoren (Aeon et al., 2021; Zimmerman & Moylan, 2009). Im Gegensatz dazu stellt Prokrastinationsverhalten, d.h. das bewusste Aufschieben geplanter Aufgaben trotz absehbarer negativer Konsequenzen, ein Merkmal mangelhafter Selbstregulation mit entsprechend negativen Konsequenzen für Studienleistungen dar (Kim & Seo, 2015; Steel, 2007). Prokrastination gilt unter Universitätsstudierenden als besonders verbreitetes Problem. Während in Umfragen 15–20% der Allgemeinbevölkerung regelmäßiges Prokrastinationsverhalten berichten, sind es unter Studierenden 80–95% (Steel, 2007). Ein Großteil der Betroffenen gibt dabei an in problematischem Ausmaß zu prokrastinieren und äußert den Wunsch, das Prokrastinationsverhalten zu reduzieren (Grunschel & Schopenhauer, 2015). Zeitmanagement-Trainings können Studierenden dabei helfen, ihr Prokrastinationsverhalten zu reduzieren (van Eerde, 2015). Die bisherige Befundlage zu Trainingseffekten auf Studienleistungen ist jedoch unklar. Eine mögliche Ursache hierfür ist die häufig inkonsistente Konzeptualisierung von Zeitmanagement in unterschiedlichen Trainingsstudien (Claessens et al., 2007). Diese weisen häufig keinen hinreichenden Bezug zu zugrundeliegenden Prozessmodellen selbstregulierten Lernens auf (Wolters & Brady, 2020). Demnach sollte ein effektives Training neben der Vermittlung von Strategiewissen auch praktische Übung in der Anwendung der Strategien sowie Anregung zur Reflexion der Strategieanwendung enthalten (Foerst et al., 2017; Wolters & Brady, 2020), wobei sich im Zusammenhang mit Studienleistungen insbesondere effektives Planungsverhalten als relevant erwiesen hat (Claessens et al., 2007).

Das Ziel der Studie war es zu untersuchen, ob ein konzeptuell an die Phasen des selbstregulierten Lernprozesses angelehntes Zeitmanagement-Training Studierenden dabei helfen kann, ihr Prokrastinationsverhalten zu reduzieren und dadurch ihre akademischen Leistungen zu verbessern. Zu diesem Zweck sollte den Studierenden zunächst deklaratives und prozedurales Wissen über Zeitmanagementstrategien vermittelt werden, um damit die Voraussetzungen für die Anwendung der Strategien zu schaffen. Daraufhin sollten die Studierenden im Verlauf des Semesters durch praktische Übungen lernen, ihr Lernverhalten selbstständig zu planen und ihr Planungsverhalten zu reflektieren. Dafür nahmen N = 57 Erstsemesterstudierende über den Verlauf eines Semesters an einem Online-Seminar zum Thema multimediale Präsentationen teil. Die Studierenden wurden zu Semesterbeginn zufällig in eine Trainingsgruppe und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. Die Trainingsgruppe erhielt eine Einführung zu zentralen Zeitmanagementstrategien, deren Anwendung sie anschließend in wöchentlichen Übungen mit Fokus auf ihr Planungsverhalten übten. Teil der wöchentlichen Übungen waren zudem Leitfragen, die die Studierenden dazu anregen sollten, ihr Planungsverhalten zu reflektieren. Die Kontrollgruppe erhielt eine Einführung in wissenschaftliches Schreiben, welche ebenfalls wöchentliche Übungen von vergleichbarem zeitlichen Umfang enthielt. Alle Interventionsmaßnahmen wurden digital über die Kursoberfläche des Online-Seminars durchgeführt. Das Prokrastinationsverhalten der Studierenden wurde zu Beginn und zum Ende des Semesters mit der deutschen Version der Behavioral and Emotional Academic Procrastination Scale (BEPS; Bobe et al., 2022) erfasst. Der Studienerfolg der Studierenden wurde anhand einer Klausur am Ende des Semesters bestimmt.

Während die Interventionsgruppen sich zu Beginn des Semesters nicht signifikant in ihrem Prokrastinationsverhalten unterschieden, t(55) = 0.38, p = .703, berichtete die Trainingsgruppe (M = 2.78, SD = 0.72) zu Semesterende signifikant weniger Prokrastinationsverhalten als die Kontrollgruppe (M = 3.20, SD = 0.65), t(55) = 2.30, p = .026, d = 0.61. Die Trainingsgruppe zeigte zudem bessere Klausurleistungen am Ende des Semesters, t(55) = 2.82, p = .007, d = 0.77. Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass ein Zeitmanagement-Training Erstsemesterstudierenden dabei helfen kann, Prokrastinationsverhalten einzugrenzen und ihren Studienerfolg zu verbessern.

 

Das Zusammenspiel von Selbsteinschätzung und Verhaltensdaten – ein Beispiel im Kontext von Prokrastination und der Nutzung eines digitalen Feedbacks

Philipp Handschuh1, Maria Klose1, Felix Haag2, Sebastian Günther2, Konstantin Hopf2, Thorsten Staake2
1Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, 2Universität Bamberg

Die zunehmende Bedeutung von digitalen Lernumgebungen, v.a. in der Hochschulbildung, geht mit vermehrten Anforderungen an das selbstregulierte Lernen (SRL) der Studierenden einher (Kizilcec et al., 2017; Vosniadou, 2020). Jedoch bieten digitale Technologien auch Chancen, da sie es erlauben mit Log-Daten zum Lernverhalten zu arbeiten und somit Prozesse des SRL auf individuelle und adaptive Art zu unterstützen. Dabei gilt es, diese neuen Daten richtig zu interpretieren und gewinnbringend mit bestehenden Konstrukten zu kombinieren (Akbulut et al., 2023; Ellis et al., 2017). Ein für das Lernergebnis einflussreiches Verhalten ist die Prokrastination, deren zentraler Aspekt das Aufschieben einer Aufgabe ist (Schraw et al., 2007; Wolters, 2003). Auch wenn dieses Aufschieben durch Verhaltensdaten erfassbar ist, kann das Aufschieben von Aufgaben auch ein aktives, bewusst erwünschtes Verhalten des Lernenden sein (vgl. aktive Prokrastination, Chun Chu & Choi, 2005), oder mit motivationalen Aspekten zusammenhängen (Bäulke, 2021). Solche zugrundeliegenden Eigenschaften sind wiederum besser mit Selbstberichten abbildbar. In einem multimodalen Ansatz soll das Zusammenspiel und der gegenseitige Erkenntnisgewinn von selbstberichteter akademischer Prokrastination mit den Verhaltensweisen in einer digitalen Lernumgebung analysiert werden.

Die Anwendbarkeit dieses multimodalen Ansatzes wird zusätzlich bei der Untersuchung der Effektivität eines individuellen Feedbacks überprüft. In den beiden Kursen wurde jeweils ein der Rahmen der beiden Kurse. Hier wurde jeweils digitales Feedback eingeführt, das selbstreguliertes Lernen unterstützt und dabei auch die Effekte von Prokrastination mindern soll. Auf Basis von maschinellen Lernen und kontrafaktischer Erklärungen werden den Lernenden Vorschläge gemacht (Haag et al., 2023), wie sie sich in der Lernumgebung verhalten sollten (bspw. welche Videos sie anschauen oder welche Frageblöcke wiederholt bearbeitet werden sollten, um das bisherige Lernverhalten zu optimieren). Das Feedback soll Prokrastinationsverhalten beeinflussen, indem es einen Lerndruck erzeugt (McCloskey, 2011), sowie Anhaltspunkte zur Bearbeitung liefert.

Daher ist es Ziel unserer Studie die Effektivität des Feedbacks zu untersuchen und dessen Einfluss auf den Zusammenhang von Prokrastination mit Klausurnote. Darüber hinaus sollen multimodale Aspekte der Prokrastination (Selbstberichtet: akademische Prokrastination, Log-Daten: regelmäßiges Lernen, aufgeschobenes Lernen) in Zusammenhang gebracht werden um die jeweiligen Stärken bei der Vorhersage des Lernerfolgs herauszuarbeiten. Dies wird zusätzlich in einer Intervention zum SRL, welche auch einen Einfluss auf Prokrastination haben sollte, untersucht. Dabei nehmen wir an, dass die selbstberichtete Prokrastination sowie das Aufschieben negativ mit der Klausurnote zusammenhängt, das regelmäßige Lernen jedoch positiv. Dabei kann letzteres auch die Effekte der selbstberichteten Prokrastination ausgleichen.

Das Feedback wurde in einem Wirtschaftsinformatik Kurs im Bachelor (84 Studierende), sowie einem im Master (85 Studierende) implementiert. Nach einer sechswöchigen Baseline-Phase wurden in der Experimentalgruppe wöchentlich drei adaptive Handlungsvorschläge präsentiert, welche auf kontrafaktischer Erklärungen basieren (Bachelor: 41 Studierende; Master: 41 Studierende). Die Kontrollgruppe hat den Kurs ohne Feedback bearbeitet. Zu Beginn der Kurse wurden metakognitive Strategien (MSLQ; Pintrich et al., 1991) und Prokrastination erhoben (APS-S: McCloskey, 2011; Yockey, 2016). Aus dem wöchentlichen Lernverhalten (i.e., investierte Lernzeit pro Woche) wird ein Index für das Aufschieben von Lernaktivitäten erstellt. Die Anzahl der Wochen in denen der digitale Kurs bearbeitet wurde, wird als Maß für die Regelmäßigkeit hergenommen.

Vorläufige Ergebnisse der Bachelorstudierenden mit Regressionsanalysen zeigen zwar einen positiven Effekt der Komponente auf die Note (β = -.17, sig.; unter der Kontrolle der Regelmäßigkeit) – diesen Effekt beobachten wir jedoch nicht für Masterstudierende. Ob Lernende das Feedback umsetzen, hängt in beiden Kursen mit akademischer Prokrastination zusammen (multiple linearen Regression: β = -.39, sig.). Allerdings zeigt sich kein statistisch signifikanter moderierender Einfluss des Feedbacks für den Effekt der Prokrastination auf die Note. Wobei es in einer linearen Regression vor allem die Verhaltensdaten zur Regelmäßigkeit und zum Aufschieben sind, die statistisch signifikant zur Varianzaufklärung der Note beitragen (R² = .14). Im Beitrag wird des Weiteren auf das Zusammenspiel von berichteter Prokrastination und Regelmäßigkeit eingegangen.

 
11:10 - 12:508-14: Inklusion
Ort: H07
 
Paper Session

Sitzordnung und soziales Netzwerk: Zur Rolle der Sitzordnung im Intergruppenkontakt

Corinna Hank, Philipp Nicolay, Christian Huber

Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Soziale Eingebundenheit gilt als psychologisches Grundbedürfnis (Deci & Ryan, 2000). Der schulische Kontext als formbarer sozialer Schutzraum steht vor der Herausforderung, soziale Integration für alle Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten. Zur schulischen Förderung sozialer Integration werden dabei verschiedene Ansätze diskutiert (Garrote, Sermier Dessemontet & Moser Opitz, 2017; Huber, 2019). Huber (2019) führt dabei drei zentrale Akteure und Mechanismen auf. Zum einen werden Schülerinnen und Schüler als Akteure diskutiert, die über eine Steigerung der eigenen sozialen Kompetenzen die eigene soziale Integration fördern können (Asher, Renshaw & Hymel, 1982). Zum anderen könnten Lehrkräfte über ihr Feedbackverhalten die soziale Integration ausgegrenzter Schülerinnen und Schüler begünstigen (Spilles, Huber, Nicolay, König & Hennemann, 2023).

Die Peers, bzw. die Klassengemeinschaft, spielen dabei eine gesonderte Rolle, da sie integrationsfördernd agieren können, aber auch die integrationsgebende Instanz darstellen. Ausgehend von der Intergroup-Contact Theory (Allport, 1954; Pettigrew & Tropp, 2006) können Kontakterfahrungen zwischen Schülerinnen und Schülern dazu führen, dass ausgrenzungsüberwindende Beziehungen entstehen. Engmaschig strukturierte Kontakte, wie sie im Kooperativen Lernen bestehen, konnten entsprechende Effekte aufzeigen (Hank, Weber & Huber, 2023). Studien, die über die die integrationsfördernden Effekte von Unterrichtsmethoden fokussieren, schaffen häufig auch über die Zusammensetzung neuer Gruppen und Teamkonstellation neue Kontakterfahrungen. Ob erste Effekte bereits durch die Veränderung der Sitzordnung hervorgerufen werden, ist bis dato wenig untersucht worden.

Diese Studie hat es sich zum Ziel gemacht, die Sitzordnung als kontaktstiftendes und netzwerkförderliches Element zu untersuchen, das von der Lehrkraft legitimiert und gesteuert werden kann (Farmer, McAuliffe Lines & Hamm, 2011). Rohrer, Keller und Elwert (2021) konnten die Rolle der Sitznachbarschaft für die Entwicklung von Freundschaften aufzeigen. Diese Studie möchte diesen Befund ergänzen, indem sie überprüft, inwiefern das soziale Netz der Klasse bei einer randomisierten Veränderung der Sitzordnung beeinflusst wird.

Die Forschungsfrage lautet wie folgt:

Inwiefern nimmt eine randomisierte Veränderung der Sitzordnung Einfluss auf das soziale Gefüge einer Klasse?

  • Hypothese 1: Klassen, in denen eine randomisierte Veränderung der Sitzordnung vorgenommen wurde, entwickeln eine höhere soziometrische Dichte.
  • Hypothese 2: Schülerinnen und Schüler, die sozial ausgegrenzt werden, weisen nach einer randomisierten Sitzordnungsveränderung eine verbesserte soziale Integration auf.

Methode:

Mithilfe von zunächst N = 440 Schülerinnen und Schülern (49 % weiblich) aus 24 Klassen der 3. bis 6. Jahrgangstufe (MAlter = 9.46; SDAlter = 1.29) wurde eine Interventionsstudie (12 Interventionsklassen) im Prä-/Postdesign durchgeführt. Nach dem ersten Messzeitpunkt wurde in den Interventionsklassen eine zufällige neue Sitzordnung umgesetzt, bei denen Sitznachbarschaften nicht den zuvor bestandenen entsprechen sollten. Nach vier Wochen wurde die Post-Erhebung durchgeführt. Die Datenerhebung erfolgte im Klassenkontext durch geschulte Versuchsleitungen.

Das soziale Netzwerk der Klasse wurde soziometrisch erfasst (Moreno, 1974). Für die Auswertung von Hypothese 1 wurde eine mixed ANOVA berechnet, für Hypothese 2 wurde eine längsschnittliche Mehrebenenregressionsanalyse mittels des R-Pakets lme4 (Bates, Mächler, Bolker & Walker, 2015) durchgeführt.

Ergebnisse:

Die Analyse der ersten Daten ergab in Bezug auf Hypothese 1 einen nicht signifikanten Interaktionseffekt aus Zeit und Gruppenzugehörigkeit (F = 1.50; p = .233), der auf deskriptiver Ebene zugunsten der Interventionsgruppe verläuft.

Für Hypothese 2 erreichte die Dreifachinteraktion aus Zeit, Gruppe und Ausgangsniveau sozialer Integration keine Signifikanz (β = -.12; p = .073). Eine Ergänzung der Stichprobe um weitere Klassen steht an.

Diskussion:

Die Hypothesen konnten anhand der vorliegenden Stichprobe nicht bestätigt werden. Die Veränderung der Sitzordnung scheint somit keine bedeutsamen Auswirkungen auf das Netzwerk der Klassengemeinschaft zu haben. Die Ergebnisse werden vor dem Hintergrund der Intergroup-Contact-Theory diskutiert.



Paper Session

Die Rolle von Empathie für die Einstellungen von Grundschulkindern gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten im inklusiven Unterricht

Marwin Felix Löper, Frank Hellmich

Universität Paderborn, Deutschland

Die soziale Partizipation aller Kinder gilt als ein zentrales Qualitätsmerkmal inklusiven Unterrichts. Lehrkräfte stehen demzufolge vor der großen Herausforderung, ihren inklusiven Unterricht so zu gestalten und umzusetzen, dass allen Kindern die Möglichkeit geboten wird, positive soziale Kontakte, Freundschaften und Beziehungen aufzubauen und sich in der Klassengemeinschaft wohl und akzeptiert zu fühlen (Koster, Nakken, Pijl & van Houten, 2009). Allerdings weisen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) im Vergleich zu ihren Peers ohne SPF meist eine niedrigere soziale Partizipation im inklusiven Klassenzimmer auf: Sie verfügen über weniger Freundschaften, fühlen sich seltener in der Klassengemeinschaft angenommen und werden von ihren Mitschüler*innen weniger sozial akzeptiert (z. B. Avramidis, Avgeri & Strogilos, 2018). Dies trifft in besonderer Weise auf Kinder mit emotional-sozialen Schwierigkeiten zu (Krull, Wilbert & Hennemann, 2018), die vermehrt von sozialer Ausgrenzung und Viktimisierung im inklusiven Klassenzimmer betroffen sind (Leeuw, Boer & Minnaert, 2018).

Den Einstellungen von Grundschulkindern – als zentraler Indikator für die Akzeptanz von Kindern mit SPF in der Klassengemeinschaft – wird in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle für die erfolgreiche soziale Partizipation von Kindern mit SPF im inklusiven Unterricht zugesprochen. Die Einstellungen von Grundschulkindern geben Aufschluss darüber, ob und inwiefern sie ihren Peers mit SPF im inklusiven Unterricht annehmend oder ablehnend begegnen (Eagyl & Chaiken, 1993). Empirische Studien (z. B. Freer, 2021) konnten hierzu bereits belegen, dass Grundschulkinder im Allgemeinen neutral bis moderat positiv gegenüber Peers mit SPF eingestellt sind, ihre Einstellungen gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten allerdings signifikant niedriger ausgeprägt sind als gegenüber Peers mit anderen Schwierigkeiten (z. B. körperlich-motorischen). Als ein wichtiger Erklärungsfaktor für die Einstellungen von Grundschulkindern haben sich (positive und negative) Kontakterfahrungen mit Peers mit SPF erwiesen (Schwab, 2017). Folgt man dem theoretischen Modell von Davis (2018) ist darüber hinaus anzunehmen, dass die Empathie (Fürsorglichkeit/Perspektivenübernahme) und das soziale Selbstkonzept von Kindern eine entscheidende Rolle in der Vorhersage von Einstellungen gegenüber Peers mit SPF spielen. Studien (z. B. Armstrong et al., 2016) konnten diese Annahme bereits für Schüler*innen im Jugendalter bestätigen. Für Grundschulkinder stehen entsprechende Untersuchungen derzeit noch aus. In unserer Studie gehen wir daher der Frage nach, ob und inwiefern sich die Einstellungen von Grundschulkindern gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten durch ihre Empathie (Fürsorglichkeit/Perspektivenübernahme), ihre Kontakterfahrungen zu Peers mit SPF und ihr soziales Selbstkonzept erklären lassen. Basierend auf dem dargestellten theoretischen und empirischen Hintergrund nehmen wir folgende Forschungshypothese an:

  • Die Einstellungen von Grundschulkindern gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten können signifikant durch ihre Empathie (Fürsorglichkeit/Perspektivenübernahme), ihre Kontakterfahrungen und ihr soziales Selbstkonzept erklärt werden.

An unserer Studie haben N=512 Kinder der dritten und vierten Jahrgangsstufe teilgenommen und einen Fragebogen zu ihren Einstellungen gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten (10 Items; M=3,30; SD=0,99; a=.93), ihren Kontakterfahrungen (7 Items; M=2,45; SD=1,16; a=.90), ihrer Empathie (Fürsorglichkeit: 5 Items; M=4,22; SD=0,66; a=.75/Perspektivenübernahme: 4 Items; M=3,45; SD=0,86; a=.74) und ihrem sozialen Selbstkonzept (4 Items; M=3,73; SD=0,75; a=.72) beantwortet. Die Antwortskala reichte jeweils von 1 „stimmt überhaupt nicht“ bis 5 „stimmt genau“. Die Ergebnisse aus einem Strukturgleichungsmodell (χ2=1921,59; df=1181; χ2/df=1,63, p≤.001; RMSEA=.04, CI [.032–.038]; pclose=1,00; CFI=.95; TLI=.94; SRMR=.05) belegen, dass die Einstellungen der Kinder gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten (R2=.32; p≤.001) zwar durch ihren bisherigen Kontakt zu Kindern mit SPF (β=.38; p≤.001) und ihre Fürsorglichkeit (β=.32; p≤.001) erklärt werden können, jedoch nicht durch ihre Perspektivenübernahme oder ihr soziales Selbstkonzept.

Insgesamt geben die Ergebnisse unserer Untersuchung wichtige Hinweise darauf, dass sowohl das Fürsorglichkeitsempfinden als auch die Kontakterfahrungen von Grundschulkindern eine zentrale Rolle bei der Ausbildung von Einstellungen gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten spielen und ermöglichen somit die Identifikation von Ansatzpunkten für die gezielte Förderung der sozialen Partizipation von Kindern mit SPF im inklusiven Unterricht beispielsweise mithilfe von SEL-Interventionen (sozial-emotionales Lernen).



Paper Session

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) aus Sicht von Schulen – Häufigkeiten, negative und positive Aspekte und spezifische Förderung

Timo Hennig1, Marie-Luise Schütt2, Gabi Ricken2

1Universität Potsdam, Deutschland; 2Universität Hamburg, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Kinder, die eine Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erfüllen, zeigen dauerhafte und im Altersvergleich übermäßig starke Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität (Falkai et al., 2020). ADHS ist mit einer Prävalenz von ca. 5-7 % sehr häufig (Thomas et al., 2015). ADHS-Symptome korrelieren häufig mit Schulschwierigkeiten (Arnold et al., 2020) und weiteren Problemen wie Depressivität und niedriger Lebenszufriedenheit (Hennig et al., 2017). Lehrkräfte erleben Schüler:innen mit ADHS-Symptomen als weniger sympathisch (Abelein & Holtmann, 2021), häufiger störend (Lauth & Mackowiak, 2004) und den Unterricht als stressreicher (Anderson et al., 2017).

Obwohl evidenzbasierte Empfehlungen und Förderprogramme vorliegen, ist fraglich, ob diese in der Schulpraxis umgesetzt werden (Ruhmland & Christiansen, 2017), also der erwünschte Transfer gelingt. Die vorliegende Studie soll passend zum Motto des GEBF-Kongresses 2024 dazu beitragen, Bildungsprozesse besser zu verstehen, Partizipation zu verbessern (hier speziell für Schüler:innen mit ADHS) und Transfer zu gestalten.

Fragestellung

Angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten ist davon auszugehen, dass ADHS die Schulen vor einige Herausforderungen stellt. Was in der schulischen Praxis aktuell mit der Diagnose assoziiert wird – ob bzw. welche Probleme wahrgenommen werden oder ob eine positive Sichtweise vorherrscht – soll genauer und aktuell von Schulen erhoben werden. Die Fragestellung des vorliegenden Beitrags ist daher: „Wie präsent ist ADHS an Schulen, welche negativen und positiven Aspekte werden im Zusammenhang damit gesehen und welche spezifische Förderung wird umgesetzt bzw. als hilfreich eingeschätzt?“

Methode

Es wurde eine anonyme Online-Umfrage durchgeführt, zu deren Teilnahme alle 411 allgemeinbildenden Hamburger Schulen eingeladen wurden. Pro Schule sollte nur eine Person an der Umfrage teilnehmen, die eine Aussage über das Thema ADHS an der betreffenden Schule treffen konnte. Die Umfrage bestand aus vier Fragen mit geschlossenem Antwortformat zum Auftreten von ADHS an der eigenen Schule (u.a. geschätzte Häufigkeit), vier Fragen mit offenem Antwortformat (um die Antworten in keine Richtung zu lenken) zu Einschätzungen über die Beschulung von Schüler*innen mit ADHS (u.a. Schwierigkeiten und positive Aspekte) und drei Fragen zu allgemeinen Angaben. Die Fragen mit geschlossenem Antwortformat wurden deskriptiv ausgewertet, die Fragen mit offenem Antwortformat inhaltsanalytisch. Dazu wurden alle Antworten zu jeweils einer Frage zusammengefügt und datengesteuert zusammenfassende Kategorien gebildet, das nach einigen Überarbeitungsschritten eine gute Interkoderreliabilität erreichte (Kappa = 0.87).

Ergebnisse

Antworten von 111 Schulen wurden erfasst. Die Schulen schätzen, dass bei 4,36 % Schüler*innen eine ADHS-Diagnose gestellt wurde, tatsächlich aber 8,74 % betroffen seien. Während die Diagnosehäufigkeit an Förderschulen/ReBBZ auf 18.00 % geschätzt wird, liegt die Schätzung an Gymnasien nur bei 2,44 %. Die Schule erfahre von einer ADHS-Diagnose fast immer durch ein ärztliches/psychologisches Gutachten (in 96,4 % der Fälle) und/oder von den Eltern (in 85,6 % der Fälle). In der offenen Frage nach Schwierigkeiten wurden am häufigsten fehlende Ressourcen genannt, die Unterrichtsgestaltung sowie Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Fachkräften. Die offene Frage nach positiven Aspekten ergab weniger Antworten als nach Schwierigkeiten, 28 % der Befragten nannten keinen positiven Aspekt. Die Antworten bezogen sich auf positive Eigenschaften (z.B. schnelle Auffassungsgabe und Kreativität) sowie das Verständnis von Diversität als Herausforderung und Chance. Bei den offenen Fragen nach ADHS-spezifischer Förderung und förderlichen Bedingungen wurden u. a. Trainingsansätze genannt (insbesondere allgemeine Ansätze wie Lerntraining, nur dreimal speziell für ADHS entwickelte Programme) sowie Aspekte der Gestaltung von Unterricht (z.B. Strukturierung) und der Lernumgebung (z.B. spezieller Sitzplatz).

Es zeigt sich in dieser Umfrage, dass Schulen mit dem Thema ADHS einige Schwierigkeiten in Verbindung bringen. Positive Aspekte werden deutlich weniger, teilweise gar nicht benannt. Wissenschaftlich speziell für ADHS entwickelte Interventionen werden in der Schulpraxis kaum eingesetzt. Insgesamt zeigt sich weiterer Forschungs- und Handlungsbedarf zur Verbesserung des Transfers und der Kooperation zwischen Wissenschaft und (Schul-)Praxis.



Paper Session

Binnendifferenzierung als Schlüssel für die Leistungsentwicklung im inklusiven Grundschulunterricht?

Jenny Lenkeit, Nadine Spörer, Anne Hartmann, Michel Knigge, Antje Ehlert

Universität Potsdam, Deutschland

Die schulische Leistungsentwicklung von Schüler*innen wird von einer Vielzahl von Faktoren wie z.B. ihren individuellen motivationalen und kognitiven Lernvoraussetzungen und ihrem sozialen Hintergrund (SES) beeinflusst (Baumert et al., 2006; Maaz et al., 2014). In inklusiven Lehr- und Lernsettings wurden weiter negative Effekte des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) auf die Leistung dokumentiert (Kocaj et al., 2020). Um der leistungsbezogenen Heterogenität in inklusiven Lehr- und Lernsettings zu begegnen, wird insbesondere die Binnendifferenzierung im Unterricht als bedeutsam betrachtet (Gehrer & Nusser, 2020; Lindner et al., 2021). Damit verbunden, ist die Annahme, dass ein differenziertes Lernangebot an den unterschiedlichen Lernausgangslagen der Schüler*innen anknüpft und so besser die individuelle Entwicklung der Leistung stützen kann (Helmke, 2017).

Für die postulierten positiven Effekte von Binnendifferenzierung auf die fachspezifische Leistungsentwicklung im inklusiven Grundschulunterricht gibt es bislang insbesondere für Deutschland nur wenige und divergierende Befunde (Deunk et al., 2018; Förster et al., 2018; Pozas et al., 2021). Nicht untersucht bleibt bislang ebenfalls, ob Binnendifferenzierung zentrale Zusammenhänge zwischen individuellen Schüler*innenmerkmalen (SES, SPF) und Leistungsentwicklung moderiert und so Schereneffekte in inklusiven Settings verringert.

Vor diesem Hintergrund überprüft der Beitrag zwei Hypothesen:

  1. Je häufiger im Mathematik- (a) oder Deutschunterricht (b) differenziert wird, desto höher ist die Leistungsentwicklung von Schüler*innen.
  2. Je häufiger im Mathematik- (a) oder Deutschunterricht (b) differenziert wird, desto schwächer ist der Zusammenhang des individuellen SPF und SES mit der Leistungsentwicklung.

Daten entstammen einer längsschnittlichen Untersuchung zu den Herausforderungen und Gelingensbedingungen inklusiv arbeitender Schulen aus den Jahren 2018-2020. Folgende Variablen und Skalen wurden operationalisiert:

Leistungsentwicklung von Schüler*innen der 2. und 3. Jahrgangsstufe in Mathematik (Heidelberger Rechentest (HRT 1-4; Haffner et al., 2005) und im Leseverständnis (ELFE; Lenhard & Schneider, 2006): Erfasst über drei Messzeitpunkte in zwei Schuljahren.

SES: Angaben der Eltern zum Bildungsabschluss und beruflichen Status, operationalisiert als höchster ISEI beider Elternteile (Ganzeboom 2010).

SPF: Angaben der Klassenleitungen zu jedem Lernenden, ob ein festgestellter oder vermuteter SPF vorliegt.

Binnendifferenzierung: Informationen von 33 Mathematik- und 34 Deutschlehrkräften zur differenzierenden Unterrichtsgestaltung in 267 Deutsch- und 281 Mathematikstunden, erfasst über ein standardisiertes Logbuch (Eigenentwicklung) im ersten Schulhalbjahr. Lehrkräfte machten über einen Zeitraum von vier Wochen Angaben zu je 2 Unterrichtsstunden pro Woche zu quantitativen (3 Items, Bsp. „Schüler*innen erhielten unterschiedliche Zeitvorgaben.“) und qualitativen (4 Items, Bsp.: „Schüler*innen bearbeiteten Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad.“) Differenzierungen je in Einzel- (EA) oder Gruppenarbeitsphasen (GA). Die Angaben wurden über vier Skalen operationalisiert: EAQuantitativ α = 0.50 , EAQualitativ α = 0.57, GAQuantitativ α = 0.60, GAQualitativ α = 0.74 und pro Lehrkraft über die Unterrichtsstunden gemittelt.

Zusammenhänge wurden mithilfe von hierarchisch linearen Regressionsmodellen in MPlus geprüft. Aufgrund der Gerichtetheit der Hypothesen werden Ergebnisse mit p < 0.10 als signifikant bewertet. Messzeitpunkte wurden in Schüler*innen und diese in Lehrkräfte geschachtelt. Die Leistungsentwicklung wurde durch die individuellen Schüler*innenmerkmale und die vier Formen der Differenzierung vorhergesagt. Letztere wurden ebenfalls auf die Zusammenhänge zwischen SES und SPF mit der Leistungsentwicklung regressiert (Interaktionseffekt). Modelle wurden separat für Mathematik und Deutsch berechnet.

Die Leistungsentwicklung in Mathematik und im Leseverständnis wird jeweils signifikant durch den SPF und den SES der Schüler*innen vorhergesagt (je p < 0.05).

Hypothese 1a wird bestätigt: Je häufiger in EA quantitativ differenziert wird, desto stärker die Leistungsentwicklung in Mathematik (p = 0.056).

Hypothese 2b wird für SPF bestätigt: Je häufiger in GA qualitativ differenziert wird, desto schwächer ist der Zusammenhang zwischen SPF und Leistungsentwicklung im Leseverständnis (p = 0.069).

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass verschiedene Formen von Binnendifferenzierung unterschiedlich auf Leistungsentwicklung wirken können und dass qualitative Differenzierung prinzipiell SPF-bedingte differenzielle Leistungsentwicklung abmindern kann.

 

 
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