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Sitzungsübersicht
Datum: Mittwoch, 20.03.2024
0:00 - 1:00Gesellschaftsabend
9:00 - 10:407-01: Beobachterratings als Königsweg zur Erfassung von Unterrichtsqualität?!
Ort: H05
 
Symposium

Beobachterratings als Königsweg zur Erfassung von Unterrichtsqualität?!

Chair(s): Anna-Katharina Praetorius (Universität Zürich), Anika Dreher (Pädagogische Hochschule Freiburg, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Wida Wemmer-Rogh (Universität Zürich)

Einschätzungen externer Beobachtender für die Erfassung von Unterrichtsqualität werden viele Vorteile beigemessen: Externe Beobachtende sind nicht in das Geschehen involviert, haben vielfältige Vergleichsmöglichkeiten und sollten durch ein durchlaufenes Training Unterrichtsqualität valide einschätzen können. Folglich werden Beobachterratings vielfach als Königsweg, Goldstandard oder vereinzelt sogar als objektive Messung bezeichnet und entsprechend in vielen Studien eingesetzt. Dennoch zeigen sich in vielen dieser Studien Befunde, die auf eine optimierungsbedürftige Validität von Beobachterratings zu Unterrichtsqualität hinweisen (für eine Übersicht siehe Praetorius & Charalambous, 2018). Eine mögliche Erklärung für diese Befundlage könnte darin liegen, dass die Bedingungen, unter denen diese potenziellen Vorteile von Beobachterratings gelten, aktuell noch nicht ausreichend geklärt sind.

Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die genannten Vorteile auf einer Reihe von Annahmen beruhen (für eine ähnliche Argumentation zu Fachspezifität siehe Dreher & Leuders, 2021): So muss unter anderem (a) das Beobachtungssetting so gewählt sein, dass eine Beobachtung der für eine Einschätzung von Unterrichtsqualität relevanten Aspekte überhaupt möglich ist, (b) die Rater:innen die nötigen Kompetenzen besitzen, um die Einschätzungen valide durchführen zu können und (c) die Instrumente so konstruiert sein, dass sie alle relevanten Aspekte zur Einschätzung der Unterrichtsqualitätsdimensionen beinhalten.

Bislang existieren nur wenige Untersuchungen, die sich vertieft damit auseinandersetzen, inwiefern die obigen Annahmen hinsichtlich Beobachtungssetting, Kompetenzen von Rater:innen und Instrumenten zutreffen. An diesem Desiderat setzt das Symposium an. Die Beiträge setzen sich vertieft mit je einer der Annahmen auseinander und nutzen zu deren Überprüfung ein experimentelles Design.

In Beitrag 1 wird in Bezug auf das oftmals videobasierte Beobachtungssetting kritisch in den Blick genommen, inwiefern die üblicherweise genutzten Kameraperspektiven (1 Klassenkamera, 1 Lehrpersonenkamera) dazu führen, dass relevante Aspekte zur Einschätzung von Unterrichtsqualität übersehen werden. Zur Überprüfung wurden traditionelle und 360°-Kameraperspektiven in einem within-person-Design eingesetzt und die erfassten Begründungen der Unterrichtsqualitätseinschätzungen miteinander verglichen. Die Befunde deuten darauf hin, dass das Erkennen qualitätsrelevanter Unterrichtsereignisse sowie die Validität der Begründungen der Einschätzungen im traditionellen Setting nicht schlechter gelingt als in der 360°-Bedingung.

Beitrag 2 fokussiert auf die Frage, ob die Dauer von Beobachtertrainings zu Unterrichtsqualität einen Unterschied macht für die Validität der Unterrichtseinschätzungen. Dazu wurden in einem experimentellen Prä-Post-Design dieselben Videos vor und nach einem kurzen (7.5h) bzw. langen (13h) Training hinsichtlich der Dimensionen Klassenführung, motivational-emotionale Unterstützung, kognitive Aktivierung sowie Auswahl und Thematisierung von Inhalten eingeschätzt und mittels Differenzscores mit Masterratings abgeglichen. Es zeigen sich lediglich für 2 der 12 möglichen Gruppenunterschiede Vorteile für ein längeres Training und dies in Bezug auf kognitive Aktivierung.

Der Fokus von Beitrag 3 schliesslich liegt auf der Frage, inwiefern Beobachtende mit Fachexpertise Qualitätsaspekte von Mathematikunterricht anhand von üblichen generischen Beobachtungskriterien valide einschätzen können oder dafür fachspezifische Beobachtungskriterien benötigen.

Dazu haben Mathematik-Seminarlehrkräfte geskriptete Mathematikunterrichtsvideos in einem within-person-Design jeweils anhand eines generischen und eines fachspezifischen Items zu einem Unterrichtsqualitätsaspekt geratet. Es zeigten sich in bestimmten Fällen systematische Unterschiede in den Ratings der beiden Items. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass einige übliche generische Beobachtungskriterien zentrale fachspezifische Aspekte der Unterrichtsqualitätsdimensionen nicht erfassen.

Zusammengenommen zeichnen die Beiträge ein gemischtes Bild hinsichtlich der Annahmen zu Beobachtungssettings, Kompetenzen von Rater:innen und eingesetzten Instrumenten. Sie deuten darauf hin, dass Beobachtereinschätzungen nicht per se als Königsweg zur Erfassung von Unterrichtsqualität bezeichnet werden können, sondern eine vertiefte Auseinandersetzung mit ebendiesen Annahmen notwendig erscheint, um ausreichende Validität zu gewährleisten.

 

Beiträge des Symposiums

 

Unterrichtsbeobachtung in traditionellen und immersiven Videoumgebungen und deren Ein-fluss auf offene Begründungen für Unterrichtsqualitätsratings

Tosca Daltoè1, Maximilian Irion2, Linn Hansen3, Julia Larissa Blank4, Benjamin Fauth1, Ulrich Trautwein2, Richard Göllner2
1Universität Tübingen, Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg, 2Universität Tübingen, 3Pädagogische Hochschule Freiburg, 4Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg

Die Unterrichtsbeobachtung durch externe Beobachtende ist eine zentrale Perspektive zur Erfassung von Unterrichtsqualität (z. B. Fauth et al., 2020). In der Unterrichtsforschung und Lehrkräftebildung werden Unterrichtsbeobachtungen meist anhand von Unterrichtsvideos durchgeführt, die eine systematische Unterrichtsanalyse ermöglichen (Krammer & Reusser, 2005; Syring et al., 2015). Neben dem großen Potenzial videobasierter Unterrichtsbeobachtungen haben traditionelle Unterrichtsvideos allerdings auch Limitationen bezüglich der Validität resultierender Beobachtungsratings. Verschiedene Forschungsarbeiten zeigen, dass die Kameraperspektive in Unterrichtsvideos die Wahrnehmung des Unterrichts sowie Unterrichtsqualitätsratings beeinflusst (Cortina et al., 2018; Mahler et al., 2023; Paulicke et al., 2019). Eine Möglichkeit, diesem Einfluss der Kameraperspektive entgegenzutreten, ist der Einsatz von 360-Grad-Unterrichtsvideos.

In 360-Grad-Videos wird die Blickrichtung auf den gefilmten Unterricht vom Standpunkt der Kamera aus frei gewählt, z. B. durch Kopfbewegungen in einer Virtual-Reality (VR)-Brille (Balzaretti et al., 2019). Beobachtende erleben Unterricht in 360-Grad-Videos immersiver (Daltoè et al., 2023; Ferdig & Kosko, 2020; Gold & Windscheid, 2020) und strengen sich bei der Unterrichtsbeobachtung mehr an als in traditionellen Videoumgebungen (Daltoè et al., 2023). Durch dieses veränderte Beobachtungserleben könnten Beobachtende relevante Unterrichtsereignisse in immersiven Videoumgebungen besser erkennen und Unterrichtsqualität dadurch treffender einschätzen. Gleichzeitig könnte es aber auch sein, dass Beobachtende relevante Unterrichtsereignisse übersehen, unter anderem dadurch, dass diese aktiv durch Kopfbewegungen angesteuert werden müssen. Es stellt sich daher die Frage, ob sich immersive Videoumgebungen zur Erfassung von Unterrichtsqualität unter Verwendung bisheriger Beobachtungsinstrumente eignen oder ob Beobachtungsratings anders ausfallen und begründet werden als in traditionellen Videoumgebungen.

In einer ersten Studie von Gold und Windscheid (2020) unterschieden sich Unterrichtsqualitätsratings zwischen traditionellen und 360-Grad-Videos nicht. Darauf aufbauend fanden wir in einer ersten Untersuchung Hinweise darauf, dass sich Unterrichtsqualitätsratings zwischen den Videoumgebungen nur dann unterscheiden, wenn die Wahrnehmung der Interaktion zwischen Lehrkraft und Lernenden im Mittelpunkt steht (Daltoè et al., 2023). Diese bisherigen Befunde basieren auf hoch-inferenten Unterrichtsqualitätsratings und sollten durch eine Analyse offener Begründungen für diese Ratings erweitert werden, um zu prüfen, welche Unterrichtsereignisse gesehen und zur Begründung der Ratings herangezogen werden. Aus diesem Grund untersucht der vorliegende Beitrag, ob sich offene Begründungen für Unterrichtsqualitätsratings je nach Videoumgebung (traditionell vs. immersiv) unterscheiden. Folgende Forschungsfragen stehen im Fokus:

1. Zeigen sich Unterschiede zwischen den Videoumgebungen bezüglich des Erkennens qualitätsrelevanter Unterrichtsereignisse?

2. Zeigen sich Unterschiede zwischen den Videoumgebungen bezüglich der Indikatoren, die für die Begründung der Unterrichtsqualitätsratings herangezogen werden?

In der vorliegenden Untersuchung betrachteten N = 75 Lehramtsstudierende jeweils zwei von insgesamt fünf geskripteten Unterrichtsvideos, davon eines in einer traditionellen Videoumgebung am PC und eines in einer immersiven Videoumgebung mit einer VR-Brille. Nach jedem Video schätzten die Lehramtsstudierenden die Unterrichtsqualität in den Videos mit dem Unterrichtsfeedbackbogen Tiefenstrukturen (UFB; Fauth et al., 2021) ein und gaben dabei offene Begründungen für das Unterrichtsqualitätsrating ab. Die insgesamt 368 offenen Begründungen wurden mithilfe eines Kodierleitfadens mit zwei übergeordneten Kategorien kodiert: 1. Erkennen die Lehramtsstudierenden die qualitätsrelevanten Unterrichtsereignisse? 2. Ist die Begründungen für das UFB-Rating im Sinne der Beobachtungsindikatoren valide? (vgl. Ansatz von Praetorius et al., 2012). Die Kodierung durch zwei geschulte Ratende ergab eine prozentuale Übereinstimmung von 83.7% sowie eine substanzielle Interrater-Reliabilität von κ = .64 (vgl. Landis & Koch, 1977). Voneinander abweichende Kodierungen wurden diskutiert und eine Konsenskodierung gebildet. Im nächsten Schritt wurden die Kodierungen zwischen den Videoumgebungen mittels t-Tests verglichen.

Die vorläufigen Befunde weisen darauf hin, dass sich weder das Erkennen qualitätsrelevanter Unterrichtsereignisse (Forschungsfrage 1; t(145) = 1.05, p = .294), noch die Validität der Begründungen für die Ratings (Forschungsfrage 2; t(145) = 0.25, p = .803) zwischen den Videoumgebungen unterscheidet.

Die vorliegende Untersuchung legt nahe, dass die untersuchten Indikatoren für das Erkennen und Beurteilen von Unterrichtsqualität gleichermaßen in den verschiedenen Videoumgebungen genutzt werden können. Limitationen der vorliegenden Untersuchung sowie Implikationen für Forschung und Praxis werden diskutiert.

 

Welche Rolle spielt die Dauer von Trainings für Beobachter:innen zur Einschätzung von Unterrichtsqualität für die Qualität der Ratings?

Valerie Gitzi1, Thilo Kleickmann2, Olga Lichtner2, Mirjam Steffensky3, Aiso Heinze3, Anna-Katharina Praetorius1
1Universität Zürich, 2Christian-Abrechts-Universität zu Kiel, 3Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik

Theoretischer Hintergrund

Einschätzungen von Beobachter:innen gelten oft als Königsweg zur Erfassung von Unterrichtsqualität (Helmke, 2022). Der Einsatz von Trainings für Rater:innen gilt dabei als Standard (Praetorius, 2013). Trotz deren häufiger Durchführung besteht nach wie vor erhebliche Unklarheit hinsichtlich der optimalen Ausgestaltung solcher Trainings (Lemay et al., 2021). Selbst bei der Frage nach der idealen Länge von Trainings finden sich extreme Unterschiede in der Literatur, die nicht weiter begründet werden (z.B. Nowińska et al., 2017; Lemay et al., 2021). Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Frage, ob eine Variation der Dauer mit Unterschieden in der Qualität der Unterrichtsbeobachtungen (d.h. Reliabilität und Validität) einhergeht. In der Unterrichtsqualitätsforschung gibt es dazu bislang keine theoretischen oder empirischen Auseinandersetzungen. Werden andere Forschungsgebiete herangezogen, können Argumente in verschiedene Richtungen abgeleitet werden: Je länger das Training dauert, desto valider sollten Ratings sein (z.B. Floden, 2002; Atkinson & Shiffrin, 1968) aber auch, dass sich keine Veränderung der Ratings aufgrund der Dauer identifizieren lassen (Craik & Lockhart,1972, Bhowmik et al., 2021). Da mehr Argumente für eine längere Dauer sprechen, vermuten wir, dass ein längeres Training mit einer höheren Validität der Unterrichtseinschätzungen einhergeht.

Methode

In einem prä-registrierten, experimentellen Forschungsdesign mit Prä-Post-Design haben wir die zuvor formulierte Forschungsfrage für hoch-inferente Ratings von Unterrichtsqualität untersucht. Dafür wurde ein 13-stündiges (n = 34 Teilnehmende ) mit einem 7.5-stündigen (n = 41 Teilnehmende) kontrastiert. Die beiden Trainingsbedingungen unterschieden sich hinsichtlich der Inhalte nicht, sondern lediglich in der Ausführlichkeit, mit der diese thematisiert wurden. Die Teilnehmenden beurteilten vor und nach dem Training dieselben zehn Unterrichtsvideos (fünf zum Thema «Verdunsten und Kondensieren» und fünf zum Thema «Pythagoras»). Die Teilnehmenden bewerteten diese Videos anhand von vier übergeordneten Dimensionen (Klassenführung, motivational-emotionale Unterstützung, kognitive Aktivierung und Auswahl & Thematisierung des Inhalts) (Rogh et al., 2020).

Die Reliabilität wird mittels Interrater-Übereinstimmungen bestimmt. Die Überprüfung der Validität der Ratings findet über Differenzwerte zu Masterratings statt. Die beiden Gruppen werden anhand von dimensionsweise durchgeführten Regressionsanalysen verglichen, bei denen die Präratings als Kovariate, die Gruppenzugehörigkeit als unabhängige Variable und die Differenzwerte als abhängige Variable eingingen. Beide Fächer werden sowohl getrennt als auch aggregiert betrachtet.

Ergebnisse und Diskussion

Zunächst zeigte sich deskriptiv, dass sowohl für das kurze als auch das lange Training die Mittelwerte der Differenzwerte zum Prä-Messzeitpunkt höher lagen als jene des Post-Messzeitpunkts (Gruppe kurzes Training: Prä (0.63 ≤ x̄ ≤ 1.11) und Post (0.46 ≤ x̄ ≤ 0.68) und Gruppe langes Training: Prä (0.72 ≤ x̄ ≤ 1.12) und Post (0.48 ≤ x̄ ≤ 0.65)). Das bedeutet, dass die Rater:innen im Post-Rating näher an den Ratings der Master-Ratings lagen und damit als valider eingeschätzt werden können.

Von den 12 möglichen Gruppenunterschieden zwischen kurzem und langem Training (4 Dimensionen jeweils für Mathematik, Naturwissenschaften und zusammengenommen) zeigen sich lediglich bei zwei signifikante Unterschiede in der vermuteten Richtung: Bei der Dimension kognitive Aktivierung zeigen sich statistisch signifikante Gruppenunterschiede für die naturwissenschaftlichen Videos (ß = -.48**) sowie über alle Videos hinweg (ß = -.38*). Das bedeutet, dass die Validität in der Gruppe mit dem längeren Training nach dem Training höher ausgeprägt ist als in der Gruppe mit kürzerem Training – dies jedoch nur für die Dimension kognitive Aktivierung.

Die Befunde deuten darauf hin, dass sich die Hypothese, dass ein längeres Training für die Validität von Ratings vorteilhaft ist, lediglich für kognitive Aktivierung bestätigen lässt. Die Limitationen der vorliegenden Studie einbeziehend werden abschliessend Implikationen für zukünftige Studien abgeleitet, die Einschätzungen zur Unterrichtsqualität von Beobachter:innen einsetzen wollen.

 

Erfassung von Unterrichtsqualität durch Beobachterratings – Die Rolle der Fachspezifität von Beobachtungskriterien

Linn Hansen1, Marita Friesen2, Anika Dreher1
1Pädagogische Hochschule Freiburg, 2Pädagogische Hochschule Heidelberg

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung

Beobachterratings spielen in der Unterrichtsqualitätsforschung eine wichtige Rolle. Eine zentrale Herausforderung besteht jedoch darin, dass Beobachterratings von verschiedenen Faktoren (z.B. unterschiedlichen Iteminterpretationen) beeinflusst werden (Praetorius, 2013). So stellt sich beispielsweise die Frage, wie fachspezifisch Rater:innen und Beobachtungskriterien sein müssen, um Unterrichtsqualität valide zu erfassen (z.B. Lindmeier & Heinze, 2020). Um die Bedeutung von Fachspezifität für Beobachterratings genauer zu untersuchen, schlugen Dreher und Leuders (2021) vor, die Varianzquellen Unterrichtssituationen, Beobachtungskriterien und Rater:innen sowie deren Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Dabei wird erwartet, dass sich diese Varianzquellen durch verschiedene Grade an Fachspezifität systematisch auf die Einschätzung der Unterrichtsqualität auswirken können.

In unserem Forschungsprojekt wird folglich anhand von fachspezifischen Unterrichtssituationen untersucht, wie sich die systematische Variation der Fachspezifität von Rater:innen und Beobachtungskriterien (Items) auf die erfasste Unterrichtsqualität auswirkt. Insbesondere wird erwartet, dass fachspezifische Rater:innen Fachunterricht häufig auch anhand rein generischer Kriterien valide einschätzen können, manchmal jedoch übliche generische Items zentrale fachspezifische Aspekte nicht erfassen. Um diese erwartete Rolle der Fachspezifität von Beobachtungskriterien zu prüfen, werden zunächst Unterrichtsqualitätsratings von fachspezifischen Rater:innen betrachtet.

Methode

Es wurden sechs geskriptete Videos von Mathematikunterricht erstellt, in denen jeweils ein Unterrichtsqualitätsaspekt nach dem Unterrichtsfeedbackbogen (UFB) (Fauth et al., 2021) manipuliert wurde. Dabei wurden jeweils zwei Videoversionen erstellt: Eine Version enthält einen fachdidaktischen Normverstoß zum fokussierten Unterrichtsqualitätsaspekt, den die andere Version nicht enthält. Analog zum Beispiel aus Dreher und Leuders (2021) wurde für jedes Video neben dem generischen Item (UFB) auch ein fachspezifisches Item formuliert. Die Videos wurden so konzipiert, dass sich die Normverstöße in drei Videos nur auf das fachspezifische Item auswirken sollten. In den anderen drei Videos sollten beide Items den Normverstoß erfassen.

Ein Beispiel für den ersten Fall ist das Video zum Aspekt „Engagement der Schülerinnen und Schüler“: Der Normverstoß besteht darin, dass die Lernenden zwar engagiert am Unterrichtsgeschehen beteiligt sind, sich dieses Engagement aber nicht auf das fachliche Lernen bezieht. In diesem inkongruenten Fall erwarten wir Varianz durch die Fachspezifität der Beobachtungskriterien: Fachspezifische Rater:innen sollten das generische Item, das sich auf das allgemeine Engagement der Lernenden bezieht, positiv, das fachspezifische Item jedoch negativ raten. Ein Beispiel für den zweiten, kongruenten Fall ist das Video zum Unterrichtsqualitätsaspekt „Individuelle Unterstützung“. Hier wird für das fachspezifische Item keine grundsätzlich andere Einschätzung erwartet als für das generische, weil der Normverstoß bereits vom generischen Item erfasst wird.

Wie im illustrierenden Beispiel aus Dreher und Leuders (2021) wird für alle sechs Videos erwartet, dass die Normverstöße für generische Rater:innen kaum sichtbar sind, so dass in einer späteren Projektphase die Varianz durch die Fachspezifität der Rater:innen untersucht werden kann.

Beide Items werden jeweils auf vierstufigen Likert-Skalen geratet und die Einschätzung in offenen Antworten begründet. Erste Daten beziehen sich auf N=24 Mathematik-Seminarlehrkräfte (fachspezifische Rater:innen) ohne spezifisches Training. Die Teilnehmenden wurden zufällig in zwei Subgruppen eingeteilt und erhielten für jeden Unterrichtsqualitätsaspekt jeweils randomisiert eine der Videoversionen. Da dieser Beitrag auf die Videoversionen mit Normverstoß fokussiert, liegen pro Video Daten von n=12 Rater:innen vor.

Ergebnisse

Während sich die Ratings in den kongruenten Fällen nicht signifikant voneinander unterscheiden, wurden in den inkongruenten Fällen die fachspezifischen Items signifikant negativer geratet (MdnVideo1=2, MdnVideo2=3, MdnVideo3=2) als die generischen Items (MdnVideo1=4, MdnVideo2=3.5, MdnVideo3=4) (Video 1: Z=-2.70, p=<.05 r=-.60; Video 2: Z=-1.73, p=<0.5, r=-.39; Video 3: Z=-2.57, p=<.05, r=-.57). Die Effektstärken entsprechen mittleren bis starken Effekten. Die Kodierung der offenen Antworten bestätigt zudem einen Zusammenhang der negativen Ratings der fachspezifischen Items mit dem Erkennen der Normverstöße.

Diese vorläufigen Ergebnisse zeigen die Fachspezifität von Beobachtungskriterien als Varianzquelle für Beobachterratings in den angenommenen Fällen. Diese Ergebnisse können damit zu einem besseren Verständnis der Bedingungen beitragen, unter denen generisch formulierte Items für die Erfassung von Unterrichtsqualität selbst durch Rater:innen mit Fachexpertise nicht ausreichen.

 
9:00 - 10:407-02: Interpersonale Beziehungen von Lehrpersonen – Perspektiven auf unterschiedliche Akteur:innen im Schulalltag
Ort: H04
 
Symposium

Interpersonale Beziehungen von Lehrpersonen – Perspektiven auf unterschiedliche Akteur:innen im Schulalltag

Chair(s): Mathias Dehne (Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland), Alexander Gröschner (Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Thamar Voss (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland)

Zahlreiche Untersuchungen legen nahe, dass Schüler-Lehrer-Beziehungen als wesentliche Einflussfaktoren für das Wohlbefinden von Lehrpersonen und Schüler:innen gelten (Aldrup et al., 2018; Spilt et al., 2011, 2022). Gleichzeitig wird kontinuierlich auf die Rolle weiterer Akteur:innen (z.B. Eltern und Schulleiter:innen) verwiesen, wenn es um den Umgang mit den professionellen Anforderungen von Lehrpersonen geht (Van Droogenbroeck et al., 2014). Vor fast 25 Jahren konstatierten Maslach und Leiter (1999), dass der Lehrpersonenberuf durch eine einzigartige Charakteristik gekennzeichnet ist, da gleichzeitig zu unterschiedlichen Akteur:innen interpersonale Beziehungen aufrechtzuerhalten sind. Interpersonale Beziehungen bergen Ressourcen, aber auch Risiken wie emotionale Belastungen und Burnout (Maslach & Leiter, 1999).

Eine zentrale theoretische Grundlage für interpersonale Beziehungen stellt die Bindungstheorie dar (Bowlby, 1982). Sie wurde durch Untersuchungen im frühkindlichen Bereich entwickelt und später auf Arbeitsbeziehungen sowie Schüler-Lehrer-Beziehungen übertragen (Hazan & Shaver, 1990, 1994; Pianta et al., 2003). Diese erweiterte Bindungsperspektive postuliert, dass ein angeborenes Verhaltenssystem das menschliche Bindungsverhalten steuert. Hierunter lassen sich Auswahl, Aktivierung und Beendigung von Verhaltensweisen zusammenfassen, die auf Schutz und Unterstützung durch Bezugspersonen abzielen (Mikulincer & Shaver, 2009). Da im Wesentlichen nur Eltern die Rolle von Bezugspersonen zuteilwird, nehmen Lehrpersonen wie auch Schulleiter:innen die Rolle von ad hoc-Bezugspersonen ein (vgl. Verschueren & Koomen, 2012).

Alle beschriebenen Akteur:innen sammeln im Schulalltag kontinuierliche Beziehungserfahrungen und internalisieren sie auf Basis täglicher Interaktionen als mentale Repräsentationen der Beziehungen (Bowlby, 1982). Diese Repräsentationsmodelle von Beziehungen werden auf verschiedenen Generalisierungsebenen internalisiert (Sibley & Overall, 2008). Gemäß der Forschung zu Schüler-Lehrer-Beziehungen wird auch angenommen, dass Lehrpersonen mit einzelnen Schüler:innen Repräsentationsmodelle aufbauen, die positive und/oder negative Facetten der Beziehung widerspiegeln (Pianta et al., 2003). Folglich hat die bisherige Forschung zwei unterschiedliche Qualitäten von dyadischen (1-zu-1) Schüler-Lehrer-Beziehungen identifiziert. Positive, warmherzige und offene Beziehungen spiegeln den Grad der Nähe wider, während häufige negative, unvorhersehbare und unangenehme Interaktionen den wahrgenommenen Grad an Konflikt widerspiegeln (Koomen et al., 2012). Diese Dimensionen affektiver Beziehungsqualität wurden überdies in internationalen Studien sowohl für die Schüler:innenperspektive auf Lehrpersonen (Koomen & Jellesma, 2015) als auch für Schulleiter-Lehrer-Beziehungen (Zee et al., 2023) wiedergefunden.

Das Symposium zielt darauf, einen Beitrag zu einem verbesserten Verständnis von interpersonalen Beziehungen von Lehrpersonen zu Schüler:innen, Eltern und Schulleiter:innen zu leisten. Der erste Beitrag (Bolz, Leidig, et al.) fokussiert die Validierung einer deutschsprachigen Fassung der Student Perception of Affective Relationship with Teacher Scale (SPARTS; Koomen & Jellesma, 2015) mithilfe eines Multi-Informanten-Ansatzes (Schüler:innen und Lehrpersonen). Ergebnisse der noch laufenden Studie werden auf der GEBF-Tagung erstmalig der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie werden helfen, die Perspektive der Schüler:innen innerhalb affektiv-dyadischer Beziehung zu untersuchen und die Wirksamkeit beziehungsorientierter Maßnahmen in den Blick zu nehmen. Im zweiten Beitrag (Strasser et al.) wird die Beziehungsgestaltung durch schulische Elterngespräche untersucht. Mithilfe einer Befragung von Eltern konnten Elemente einer positiven Gesprächsführung durch Lehrpersonen identifiziert und überdies Zusammenhänge zur elterlichen Zufriedenheit festgestellt werden. Der Beitrag liefert neue Erkenntnisse, die elterliche Perspektive für die Beziehungsgestaltung durch Lehrpersonen besser in den Blick nehmen zu können. Der dritte Beitrag (Dehne et al.) präsentiert drei Studien, in denen die Rolle der affektiven Beziehungsqualität von Schulleiter-Lehrer-Beziehung als Mediator für den Zusammenhang zwischen Arbeitsdruck und Burnout untersucht wurde. Zwei Studien untersuchten Primar- und Sekundarstufenlehrkräften in den Niederlanden. In einer noch laufenden Studie werden die Befunde auf den deutschsprachigen Kontext übertragen. Die Studien zeigen, dass eine positive Beziehungsgestaltung als protektiver Faktor für Lehrpersonen angesichts gestiegener Anforderungen nach der Pandemie fungieren kann.

Zusammenfassend nutzen alle drei Beiträge zentrale Theoreme der erweiterten Bindungstheorie und operationalisieren diese im Kontext des Lehrpersonenhandelns mit unterschiedlichen Akteur:innen. Damit werden Ansätze und Befunde für die weitere Forschung zu interpersonalen Beziehungen und für das professionelle Handeln von Lehrpersonen herausgearbeitet und mit Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede von einer ausgewiesenen Expertin der Lehrerbildung diskutiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

Validierung eines Instruments zur Erfassung der dyadischen Schüler*in-Lehrkraft-Beziehung aus Perspektive der Schüler*innen

Tijs Bolz1, Tatjana Leidig2, Meike Vösgen-Nordloh2, Helma Koomen3, Thomas Hennemann2, Gino Casale4
1Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Deutschland, 2Universität zu Köln, Deutschland, 3Universität von Amsterdam, Niederlande, 4Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Die Beziehungsgestaltung zwischen Schüler*in und Lehrkraft beeinflusst zum einen die akademische, emotionale und soziale Entwicklung sowie das schulische Wohlbefinden von Schüler*innen (z. B. Curby et al., 2013; Roorda et al., 2017) sowie zum anderen die Berufszufriedenheit, das Stressempfinden im Beruf und somit die psychosoziale Gesundheit von Lehrkräften (z. B. Aldrup et al., 2018). Konfliktreiche Schüler*in-Lehrkraft-Beziehungen (SLB) korrelieren mit Lern- und Verhaltensproblemen sowie schulischem Dropout (z. B. Roorda et al., 2014; Roorda et al., 2017).

Das Konstrukt der SLB wird je nach theoretischer Perspektive unterschiedlich operationalisiert (Spilt et al. 2022). Grundsätzlich ist zwischen individuell-dyadischen Beziehungen (Schüler*in-Lehrkraft) und kollektiven Beziehungen (Schüler*innengruppe-Lehrkraft) zu unterscheiden, wobei der affektiven dyadischen Schüler*in-Lehrkraft-Beziehung insbesondere bei Schüler*innen mit Lern- und Verhaltensproblemen eine hohe Bedeutung zukommt (Leidig et al. 2021; Roorda et al., 2017). Obwohl die Schüler*in-Lehrkraft-Beziehung durch wechselseitige Interaktionsprozesse gebildet wird (Spilt et al., 2022) und die individuellen Charakteristika, Selbst- und Fremdwahrnehmungen sowie Hintergründe der beteiligten Akteur*innen zu je differenten Wahrnehmungen der Beziehung führen können (Van Bergen et al., 2020), wird in vielen Studien ausschließlich die Lehrkraftperspektive der Schüler*in-Lehrkraft-Beziehung erfasst (zur Kritik vgl. z. B. Van Bergen et al., 2020). Studienbefunde weisen jedoch auf keine oder nur schwache Zusammenhänge bzw. teilweise sogar auf starke Diskrepanzen zwischen der Schüler*in- und Lehrkraftperspektive hin (Gregoriadis et al., 2022; Vösgen et al., 2023).

Für eine zuverlässige Erfassung der affektiven dyadischen LSB für Schüler*innen mit Lern- und Verhaltensproblemen (Roorda et al., 2017) sind geeignete, psychometrisch überprüfte Verfahren erforderlich. Im deutschen Sprachraum liegen bislang zum einen kaum entsprechende Verfahren vor, die die Schüler*innen-Perspektive erfassen, zum anderen fehlen mehrperspektivische Verfahren, die einen Vergleich der Schüler*innen- und der Lehrkraftperspektive auf einer kongruenten theoretischen Basis ermöglichen (Leidig et al., 2021). Die Student Perception of Affective Relationship with Teacher Scale (SPARTS; Koomen & Jellesma, 2015) erfasst die affektive dyadische SLB aus Sicht der Schüler*innen. Kongruent zur Student-Teacher Relationship Scale (STRS; Pianta, 2001) aus Lehrkraftperspektive können mithilfe der SPARTS die Skalen Nähe und Konflikt erhoben werden. In der dritten Beziehungsdimension der SPARTS wird die Skala Negative Erwartungen abgebildet.

Fragestellung

Ziel der vorliegenden Studie war die Übersetzung und Validierung der SPARTS für die Verwendung in Stichproben mit Schüler*innen in der Allgemeinen Schule und in der Förderschule. Im Fokus des Beitrags steht die Überprüfung ausgewählter Kriterien der psychometrischen Qualität der Verfahrensadaption.

Methode

Die Items der ursprünglichen SPARTS wurden mittels eines Forward-Backward-Übersetzungsverfahrens vom Niederländischen ins Deutsche übersetzt. Die Beziehungswahrnehmung der Schüler*innen wurde mit SPARTS-G (dt. Übersetzung von Leidig et al., 2019), die Beziehungswahrnehmung der Lehrkräfte mit einer deutschen Version der Student-Teacher Relationship Scale (STRS-G; dt. Übersetzung von Bolz et al., 2017) erfasst. Zudem schätzten die Lehrkräfte problematische und prosoziale Verhaltensweisen der Schüler*innen mit dem Fragebogen zu Stärken und Schwächen (SDQ-G; Goodman, 1997) ein.

An der aktuell noch laufenden Studie nehmen insgesamt ca. 900 Schüler*innen und 60 Lehrkräfte aus Förder- und Regelschulen in der Primar- und Sekundarstufe teil. Mithilfe von Reliabilitäts-, Korrelations- und explorativen sowie konfirmatorischen Faktorenanalysen werden die Zuverlässigkeit, Kriteriumsvalidität und Faktorenstruktur des SPARTS-G überprüft.

Ergebnisse

Wir erwarten, dass die einzelnen Skalen des SPARTS-G eine akzeptable interne Konsistenz sowie eine ähnliche Item-Faktoren-Zuordnung wie in der ursprünglichen SPARTS-Version zeigen.

Diskussion

Die Verwendung des SPARTS-G könnte einen Beitrag dazu leisten, die Perspektive der Schüler*innen innerhalb der affektiven dyadischen Beziehung zu erheben, mit weiteren Perspektiven zu vergleichen und die Wirksamkeit beziehungsorientierter Maßnahmen zu überprüfen. Implikationen für die schulische Forschung und Praxis werden vor diesem Hintergrund diskutiert.

 

Alles unter Kontrolle? Beziehungsgestaltung von Lehrkräften in schulischen Elterngesprächen aus Sicht der Eltern

Josef Strasser, Kristina Ackel-Eisnach, Frank Behr
Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern Landau, Deutschland

Die Beziehung zwischen Schule und Eltern bildet ein zentrales Fundament für die pädagogische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Als positiv empfundene Beziehungen zwischen Eltern und Lehrkräften gehen mit verbesserten schulischen Leistungen einher (Santiago et al., 2016). Sie führen zu einer stärkeren Beteiligung der Eltern an schulischen Prozessen (Ankrum, 2016) und ein derartiges Engagement wiederum scheint davon abzuhängen, inwieweit das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrkräften auf einer vertrauensvollen Kommunikation beruht (Santiago et al., 2016). Positive Effekte zeigen sich dann, wenn aus dieser Kommunikation eine gemeinsame Verantwortlichkeit für die Entwicklung der Heranwachenden erwächst (Bilton, Jackson & Hymer, 2017). Damit eine derart konstruktive Beziehung entsteht, wird angenommen, dass es einer Kommunikation bedarf, die Merkmale erfolgreicher Beratungsgespräche realisiert, wie etwa Respekt, Akzeptanz, Empathie und Authentizität (Jensen, 2011). Bislang kann jedoch noch nicht als gesichert gelten, welche Merkmale schulischer Elterngespräche mit welchen Folgen einhergehen (Strasser & Behr, 2022). Forschung zur tatsächlichen Praxis schulischer Elterngespräche legt nahe, dass diese Gespräche die Kriterien einer offenen und gleichberechtigten zweiseitigen Kommunikation nicht erfüllen. Folgt man der vorliegenden Literatur, werden schulische Elterngespräche als überwiegend problematisch erlebt (Lemmer, 2012), sie bergen ein hohes Konfliktpotential (Attanucci, 2004) und können gar zu feindseligem Verhalten führen (Lawrence-Lightfoot, 2003). Die Gespräche werden von Lehrkräften oft als belastend, zeitraubend oder gar „traumatisch“ erlebt (Lemmer, 2012; Rabbit, 1978). Sie nehmen Defizite in den diesbezüglichen Kompetenzen wahr, insbesondere wenn es um das Führen schwieriger Gespräche geht (Conderman et al., 2010). Im Hinblick auf die tatsächliche Gesprächspraxis lässt sich eine Asymmetrie in der Gesprächsführung feststellen. So sind Gesprächsanteile ungleich verteilt (Cheatham & Ostrosky, 2013) und Lehrkräfte dominieren das Gespräch im Hinblick auf die Themensetzung (Bonanati, 2018; Walker & McLure, 1999) und die eingenommene Perspektive auf den/die Schüler:in (Walker & McLure, 1999).

Das vorliegende Bild der problematischen Beziehungsgestaltung in schulischen Elterngesprächen beruht überwiegend auf kleineren, meist qualitativ ausgerichteten Studien, die mit einer Reihe methodischer Schwierigkeiten behaftet sind (z.B. Erinnerungseffekte). Um ein vollständigeres Bild der Praxis schulischer Elterngespräche und ihrer Wirkungen zu erhalten, wurde eine deutschlandweite Fragebogenstudie mit Eltern schulpflichtiger Kinder (N = 1876) durchgeführt, mit der zunächst folgende Fragen geklärt werden sollten:

1. Durch welche Merkmale zeichnet sich das Gesprächsverhalten der Lehrkräfte aus Sicht der Eltern aus?

2. Inwieweit hängen bestimmte Muster des Gesprächsverhaltens mit der Zufriedenheit der Eltern zusammen?

Zur Bewertung des Gesprächsverhaltens der Lehrkräfte durch die Eltern wurden Items gebildet, die auf Erkenntnissen zu förderlichen Gesprächselementen (z.B. Aich & Behr, 2015) beruhen und sich nach Erkenntnissen der Beratungsforschung (Vossler, 2014) nach den folgenden Dimensionen strukturieren lassen: Wertschätzung, Autonomieunterstützung, Non-Direktivität und Transparenz. Die Eltern wurden gebeten, sich auf das zuletzt geführte Gespräch zu beziehen. Darüber hinaus umfasste das Befragungsinstrument Items zu Schüler- und Elternvariablen, zu Einstellungen und Haltungen der Eltern, zu Erwartungen und Wünschen, zu Gesprächsthemen und -zielen sowie der Zufriedenheit mit dem Gespräch. Cronbachs α lag für alle gebildeten Skalen in einem akzeptablen bis exzellenten Bereich. Erste Analysen weisen auf die Bedeutsamkeit der genannten Dimensionen des Gesprächsverhaltens der Lehrkräfte hin. Es zeigen sich Zusammenhänge zur Zufriedenheit der Eltern mit den Gesprächen. 24% der befragten Eltern waren kaum oder nicht zufrieden mit den erlebten Gesprächen. Sie bewerteten das Gesprächsverhalten der Lehrkräfte als wenig autonomieunterstützend, wertschätzend und transparent, dafür als eher kontrollierend bzw. direktiv.

Insgesamt zeichnen die Ergebnisse ein positiveres Bild als die vorliegenden qualitativen Studien, so gehen mehr als 75 % der befragten Eltern zufrieden aus einem Elterngespräch. Zugleich deutet sich an, dass die beschriebenen Probleme (z.B. Dominanz der Lehrkraft) v.a. im Zusammenhang mit schwierigeren Gesprächssituationen auftreten.

 

Wird der Zusammenhang zwischen Arbeitsdruck und Burnout durch die Schulleiter-Lehrer-Beziehung mediiert? Ergebnisse aus drei Studien in den Niederlanden und Deutschland

Mathias Dehne1, Alexander Gröschner1, Florentine Hickethier1, Debora Roorda2, Helma Koomen2, Marjolein Zee3
1Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland, 2Universität von Amsterdam, Niederlande, 3Erasmus Universität Rotterdam, Niederlande

Einleitung

Angesichts zunehmender Heterogenität in Schulklassen, des anhaltenden Lehrpersonenmangels und den Nachwirkungen der Pandemie ist die Arbeit von Lehrpersonen anspruchsvoller denn je (Kim et al., 2021). In Anbetracht dieser zunehmenden Komplexität ist es relevant, Faktoren innerhalb des schulischen Umfelds zu untersuchen, die verhindern können, dass Lehrpersonen Arbeitsdruck und damit verbundene Burnout-Beschwerden erleben (Van Droogenbroeck et al., 2014). Einen solchen protektiven Faktor kann die affektive Beziehungsqualität – das Maß an Nähe oder Konflikt in der dyadischen Schulleiter-Lehrer-Beziehung – darstellen (Zee et al., 2023). Tatsächlich unterstreicht eine wachsende Anzahl an Studien, dass unterstützende Verhaltensweisen von Schulleiter:innen zum Wohlbefinden von Lehrpersonen beitragen (Collie et al., 2016), jedoch existieren auch forschungsbasierte Wissenslücken. So stützt sich die Mehrheit der Studien auf Führungsstile und nicht auf emotionale Bindungen zwischen Lehrpersonen und Schulleiter:innen. Zudem ist unklar, ob die affektive Qualität der Schulleiter-Lehrer-Beziehung als ein Mechanismus fungiert, der dem Zusammenhang zwischen Arbeitsdruck und Burnout zugrunde liegt. In Anlehnung an ein Beziehungsmodell für das Wohlbefinden von Lehrpersonen (Spilt et al., 2011) wurde in drei querschnittlich angelegten Studien in den Niederlanden und Deutschland untersucht, inwieweit die affektive Beziehungsqualität zwischen Schulleiter:innen und Lehrpersonen als Mediator für den Zusammenhang zwischen Arbeitsdruck und Lehrpersonenburnout fungiert.

Methode

In Studie 1 (Niederlande) wurden 363 Lehrpersonen (MAlter = 37.50, SD = 11.30; 95% weiblich) der Primarstufe aufgenommen. An Studie 2 (Niederlande) nahmen 419 Lehrpersonen (MAlter = 40.60, SD = 10.07; 80.4% weiblich) der Sekundarstufe teil. An der laufenden Studie 3 (Deutschland) haben bislang 193 Lehrpersonen (MAlter = 43.64, SD = 11.27, 66.7% weiblich) der Primar- und Sekundarstufe teilgenommen.

Mithilfe eines Onlinefragebogens wurden Lehrpersonen zu ihrem Arbeitsdruck (1 Item; 5-stufige Antwortskala; Eigenentwicklung), zur Schulleiter-Lehrer-Beziehung mit den Subskalen Nähe und Konflikt (10 Items; 5-stufige Antwortskala; Zee et al., 2023) und zu ihrem Burnouterleben mit den Subskalen emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und Leistungsfähigkeit (22 Items; 7-stufige Antwortskala; Schaufeli & van Dierendonck, 2000) befragt. Die Reliabilität aller Subskalen lag bei α ≥ .72. Als Kovariaten dienten das Geschlecht sowie die Erfahrung der Lehrpersonen.

Zur Analyse der Daten wurden latente Strukturgleichungsmodelle (Studie 1 und 2) in Mplus 8.6 berechnet und die genestete Datenstruktur berücksichtigt. Demgegenüber wurden die Analysen zu Studie 3 mithilfe des PROCESS-Makros für SPSS berechnet. Aufgrund starker Zusammenhänge zwischen den Subskalen Nähe und Konflikt in allen drei Studien (–.89 < r < –.76) wurden separate Modelle für die Dimensionen berechnet, um Suppressoreffekte zu vermeiden.

Ergebnisse

Die Ergebnisse aus Studie 1 deuten auf eine vollständige Mediation des Zusammenhangs zwischen Arbeitsdruck und Leistungsfähigkeit durch Nähe hin (βindirekt = –.05, p = .019). Demgegenüber konnte in Studie 2 lediglich eine partielle Mediation des Zusammenhangs festgestellt werden (βindirekt = –.05, p = .029). In Studie 1 und 2 konnten signifikant indirekte Effekte und partielle Mediationen der Zusammenhänge zwischen Arbeitsdruck und emotionaler Erschöpfung (.03 < βindirekt < .08) sowie Depersonalisation (.05 < βindirekt < .12) durch das Maß an Nähe und Konflikt festgestellt werden. In Studie 3 resultierte lediglich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Arbeitsdruck und emotionaler Erschöpfung, der jedoch nicht signifikant durch das Maß an Nähe (βindirekt = .01, 95%-KI [–.01, .03]) und Konflikt (βindirekt = .02, 95%-KI [–.01, .05]) in der Schulleiter-Lehrer-Beziehung mediiert wurde.

Diskussion

Mithilfe von drei Studien wurde untersucht, ob die affektive Beziehungsqualität in dyadischen Schulleiter-Lehrer-Beziehungen als Mediator für den Zusammenhang zwischen Arbeitsdruck und Facetten des Lehrpersonenburnout fungiert. In Anlehnung an ein Beziehungsmodell zum Lehrpersonenwohlbefinden (Spilt et al., 2011) liefern Studie 1 und 2 hierzu erste empirische Hinweise für den Primar- und Sekundarbereich. Aufgrund der querschnittlichen Datenstruktur können jedoch keine kausalen Schlussfolgerungen getroffen werden. Überdies gilt die statistische Power in Studie 3 als ein limitierender Faktor, der bis zur Konferenz aufgrund weiterer Erhebungen behoben sein wird. Der Vortrag wird Unterschiede zwischen beiden Nationen und Möglichkeiten zur Förderung der Beziehungsqualität in den Blick nehmen.

 
9:00 - 10:407-03: Emotionale und motivationale Effekte des computerisierten adaptiven Testens
Ort: H03
 
Symposium

Emotionale und motivationale Effekte des computerisierten adaptiven Testens

Chair(s): Anne Frenzel (Ludwig-Maximilians-Universität München), Andreas Frey (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Diskutant*in(nen): Reinhard Pekrun (University of Essex)

Computerisiertes adaptives Testen (CAT; z.B. Frey, 2020) ist eine spezielle Art der Messung individueller Merkmale, bei der sich die Auswahl der einer Testperson zur Bearbeitung vorgelegten Items an deren Antwortverhalten orientiert. Bei der Messung von Leistungsmerkmalen resultiert dies darin, dass leistungsfähige Testpersonen systematisch schwierigere Items vorgelegt bekommen als weniger leistungsfähige Testpersonen. Die Wahrscheinlichkeit, mit der die adaptiv vorgelegten Items korrekt beantwortet werden können, ist hierbei über Testpersonen hinweg vergleichbar (meistens » 50%). Dieses Vorgehen ist statistisch begründet und führt dazu, dass CAT dem nicht adaptiven Testen (NCAT) im Hinblick auf die Messeffizienz klar überlegen ist. Die empirischen Befunde zu den emotionalen und motivationalen Auswirkungen dieser speziellen Art des Testens sind jedoch deutlich weniger eindeutig. Die bis heute häufig wiederholte Annahme bezüglich positiver Haupteffekte von CAT auf das emotionale und motivationale Testerleben wurde zunehmend durch Studien in Frage gestellt, die entweder keine emotionalen oder motivationalen Unterschiede zwischen CAT und NCAT fanden (z.B. Akhtar et al., 2022) oder sogar negative Auswirkungen der Verwendung CAT feststellen konnten (z.B. Ortner et al., 2014). Die hohe Heterogenität der Befunde weist darauf hin, dass die Annahme einfacher Haupteffekte von CAT auf Emotionen und Motivation zu kurz greift und dass das emotional-motivationale Erleben von Testsituationen vielmehr aus der differenzierten Zusammenwirkung verschiedener Test-, Personen- und Situationsmerkmale hervorgeht.

Dieses Symposium integriert existierende empirische Befunde zu den emotionalen und motivationalen Effekten von CAT und trägt neue Evidenz zu diesen zusammen.

Der erste Beitrag des Symposiums von Frey, Liu, Fink und König präsentiert ein konzeptionelles Framework zum Testerleben und präsentiert Ergebnisse einer Metaanalyse zu den Effekten von CAT im Vergleich zu NCAT hinsichtlich selbstberichteter Motivation, positiven Emotionen und negativen Emotionen. Dabei zeigten sich keine signifikanten Haupteffekte (d ≤ 0.13; p ≥ .119) aber signifikante Moderatoreffekte verschiedener Testmerkmale auf die abhängigen Variablen. Die Relevanz der Befunde für die Testgestaltung wird im Beitrag diskutiert.

Während sich die bisherige Forschung, und damit die in die Metaanalyse eingehenden Ergebnisse, auf die Verwendung von Selbstbericht zur Erfassung von Emotionen während der Testbearbeitung beschränkt, verwendeten Wünsch, Frenzel und Sun zusätzlich Hautleitfähigkeit als Maß der physiologischen Stressreaktion auf CAT. Die Ergebnisse der Laborstudie (N = 87), welche im zweiten Beitrag des Symposiums vorgestellt werden, zeigen ein höheres physiologisches Stresslevel von Testpersonen während der Bearbeitung eines adaptiven, verglichen mit einem nicht-adaptiven Test am Computer (p = .029), jedoch keine signifikanten Unterschiede im Selbstbericht von Aufregung (p = .108) und Stress/Angst (p = .065).

Im dritten Beitrag von Brüggemann, Ludewig, Lorenz und McElvany wurden die Effekte eines CAT zur Erfassung der Lesekompetenz auf Testängstlichkeit und Motivation von Grundschülerinnen und Grundschüler (N = 387) im Vergleich mit papierbasierten und computerbasierten NCATs untersucht. Es ließen sich keine direkten Auswirkungen der Adaptivität auf die Motivation oder Testängstlichkeit feststellen. Motivationsunterschiede wurden zwischen den Testformaten gefunden, ließen sich jedoch nicht auf die Adaptivität zurückführen. Jedoch zeigte sich ein Geschlechtsunterschied beim Verlauf der Testangst über den Testverlauf bei CAT (Anstieg bei den Mädchen, p = .002, Absinken bei den Jungen, p = .007)

Im vierten Beitrag von Schenk, Naumann und Frey wurde das emotionale Erleben in acht unterschiedlich konfigurierten adaptiven und nicht-adaptiven Hochschulprüfungen im Rahmen einer Vignettenstudie (N = 2566) untersucht. Bei den Prüfungsszenarien handelte es sich u.a. um papierbasierte Klausuren, CAT-Klausuren ohne Item-Review sowie CAT mit verschiedenen Item-Review-Verfahren. Es zeigte sich, dass bezogen auf alle untersuchten Leistungsemotionen sowie auf das subjektive Kontrollerleben, ein signifikanter Haupteffekt der Prüfungsszenarien vorlag (p .002). In der Regel gingen CAT-Klausuren (mit oder ohne Item-Review) mit stärkeren positiven Emotionen und schwächeren negativen Emotionen einher als NCAT-Klausuren.

Die Einzelbeiträge des Symposiums werden abschließend von Reinhard Pekrun auch im Hinblick auf die Verwendung von CAT im Bildungsbereich diskutiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

Metaanalyse zu den Effekten computerisierten adaptiven Testens auf Motivation und Emotion von Testpersonen

Andreas Frey, Tuo Liu, Aron Fink, Christoph König
Goethe-Universität Frankfurt am Main

Theoretischer Hintergrund

Computerisiertes adaptives Testen (CAT; z. B. Frey, 2023) ist eine dynamische Art zur Messung individueller Merkmale bei der sich die Auswahl der einer Person vorgelegten Items an der Beantwortung zuvor präsentierter Items orientiert. Bei der adaptiven Messung eines Leistungsmerkmals, bekommen leistungsfähige Personen schwierigere Items vorgelegt als weniger leistungsfähige Personen. Die interindividuelle Vergleichbarkeit der so ermittelten Testresultate wird durch die Verwendung eines mit der Item Response Theory (z. B. van der Linden, 2016) kalibrierten Itempools sichergestellt. Auf diese Weise kann die Messung ausgesprochen effizient erfolgen. In der Regel werden beim adaptiven Testen nur circa halb so viele Items benötigt, um die gleiche Messpräzision zu erreichen, wie bei linearer Itemvorgabe, bei der alle Personen die gleichen Items in gleicher Reihenfolge vorgelegt bekommen. Seit Beginn der Forschung zu CAT in den 1970er Jahren wurde wiederholt proklamiert, dass CAT wünschenswerte Effekte auf die Motivation zur Testbearbeitung und auf das emotionale Erleben der Testsituation hat (z. B. Betz & Weiss, 1977). Eine belastbare empirische Grundlage für diese Aussage liegt jedoch bislang nicht vor. Die betreffende Literatur ist heterogen. Dies weist darauf hin, dass die Annahme einfacher Haupteffekte von CAT auf Motivation und auf Emotion wahrscheinlich zu kurz greift und von Moderatoreffekten auszugehen ist.

Fragestellungen

Die vorgestellte Studie beantwortet zwei zentrale Fragestellungen:

1. Welche Effekte hat CAT im Vergleich zum nicht-adaptiven Testen (NCAT) auf die Motivation zur Testbearbeitung, auf negative Emotion und auf positive Emotion?

2. Gibt es Variablen, die diese Effekte moderieren?

Die Moderatoren werden danach unterschieden, ob sie sich auf Merkmale (a) des Tests, (b) der Testperson oder (c) der Testsituation beziehen.

Methode

Zur Beantwortung der Fragestellungen wurde eine Metaanalyse durchgeführt. Berücksichtigt wurden Originalarbeiten, die CAT mit NCAT bezüglich motivationaler und/oder emotionaler Zustände verglichen, mindestens eine Effektgröße mit Standardfehler angaben oder Informationen zu deren Berechnung lieferten und in Englisch, Deutsch oder Chinesisch verfasst waren. Aus dem mehrschrittigen Selektionsprozedere resultierten 27 Studien mit insgesamt 190 Effektstärken. Diese Studien wurden kodiert und anschließend statistisch analysiert. Als metaanalytisches Modell wurden ein Drei-Ebenen-Modell mit Zufallseffekten, CAT vs. NCAT als unabhängige Variable und Motivation, positive Emotion und negative Emotion als abhängige Variablen genutzt. Als gemeinsame Effektstärke kam Cohen’s d zum Einsatz. Ein Cochrane Risk of Bias Assessment wurde durchgeführt und Publikations-Bias mit Funnel Plot und Egger-Test untersucht und insofern notwendig mit PET-PEESE (Stanley & Doucouliagos, 2014) korrigiert.

Ergebnisse

Der mittlere Effekt von CAT wurde für keine der drei AVs signifikant (d ≤ 0.13; p ≥ .119). Die Homogenitätsanalyse zeigte substantielle Heterogenität der Effektstärken für alle drei AVs. Bei der Moderatoranalyse ergaben sich signifikante Moderatoreffekte auf erlebte Motivation von „Test-Speededness“ (p = .046), auf positive Emotion von „sofortigem Antwort-Feedback“ (p = .003), „Möglichkeit zur Antwortkorrektur“ (p = .028) und Test-Speededness“ (p = .029) und auf negative Emotion von „Aufgabenschwierigkeit“ (p = .022).

Diskussion

Die präsentierte Metaanalyse ist die bislang umfassendste Arbeit zu den motivational-emotionalen Effekten von CAT. Sie unterstreicht, dass Aussagen im Sinne einfacher Haupteffekte von CAT zu kurz greifen und dass das motivational-emotionalen Erleben von Testungen aus dem Zusammenspiel verschiedener Test-, Person- und Situationsvariablen resultiert. Im Vortrag werden auf Basis der Befunde Ansatzpunkte diskutiert, um das emotionale Erleben bei adaptiven Testungen zu optimieren.

 

Physiologische und subjektive Stressreaktionen in adaptiven vs. nicht-adaptiven Tests

Miriam Wünsch1, Anne Frenzel1, Luning Sun2
1Ludwig-Maximilians-Universität München, 2University of Cambridge

Theoretischer Hintergrund

Während im klassischen, nicht-adaptiven Testen jede Testperson dieselben Items bearbeiten, welche typischerweise in ansteigender Schwierigkeit präsentiert werden, erfolgt im adaptiven Testen die Präsentation des nächsten Items basierend auf der fortlaufenden Leistung der Testperson (Thompson & Weiss, 2011). Dadurch werden in adaptiven Tests weniger Items benötigt, um eine genauere Einschätzung der tatsächlichen Fähigkeiten einer Person vorzunehmen (Weiss, 2004, 2011). Diese herausragende Effizienz erreicht ein Maximum bei einer Schwierigkeit von 50% (Wise, 2014), was zur Folge hat, dass jede Testperson mit für sie relativ schwierigen Items konfrontiert wird und im gesamten Test (nur) eine 50% Lösungsrate erreichen kann. Zentrale Hypothese des vorliegenden Beitrags ist, dass diese Vorgehensweise möglicherweise negative affektive Konsequenzen für die Testpersonen mit sich bringen. Die bisherige Studienlage ist uneinheitlich, mit sowohl Befunden, die auf vermehrte (z.B. Ling et al., 2017; Martin & Lazendic, 2018) als auch auf verringerte Angst (z.B. Fritts & Marszalek, 2010) während der Bearbeitung adaptiver Tests hindeuten.

Fragestellungen

Die vorliegende Studie leistet einen Beitrag zum besseren Verständnis der emotionalen Auswirkungen von adaptiven Leistungstests, indem neben selbstberichteten Emotionen auch zum ersten Mal das physiologische Stresserleben der Testpersonen betrachtet wird.

Es wurde untersucht, ob Personen während der Bearbeitung eines adaptiven im Vergleich zu einem nicht-adaptiven Test mehr a) Physiologischen Stress, b) Subjektive Aufregung, c) Subjektive/n Angst und Stress erleben.

Methode

In einem within-subject Design bearbeiteten die Testpersonen am Computer einen adaptiven und einen nicht-adaptiven Tests zur Erfassung von Numerischem Denkvermögen, wobei der einen Hälfte der Personen zuerst der adaptive und der anderen Hälfte zuerst der nicht-adaptive Test präsentiert wurde. Aus den 49 von Loe et al. (2018) entwickelten Items wurden zwölf für den nicht-adaptiven Test ausgewählt und mit aufsteigender Schwierigkeit präsentiert, wobei die Hälfte der Items einen Schwierigkeitsparameter unter bzw. über Null hatte. Die übrigen 37 Items bildeten die Basis für den adaptiven Test, der ebenfalls aus zwölf Items bestand.

Zur Erfassung der physiologischen Stressreaktion wurde die Hautleitfähigkeit während der Testbearbeitung mithilfe von Elektroden auf der Handfläche gemessen und über ein BioNomadix Armband und den M160 Empfänger von BIOPAC an die Software iMotions übermittelt (iMotions, 2022). Als Maß für physiologischen Stress der Testperson wurden die Anzahl der Peaks pro Minute (PPM) in der Hautleitfähigkeit pro Test-Art ermittelt.

Zudem füllten die Testpersonen jeweils nach vier Items, d.h. dreimal pro Test, einen Selbstberichts-Fragebogen zu ihrem aktuellen subjektiven Erleben aus, in welchem die allgemeine Aufregung sowie Stress/Angst erfasst wurden. Aus diesen Antworten wurde der Mittelwert über die drei Messzeitpunkte pro Test gebildet.

Die finale Stichprobe für die Analyse der Selbstberichtsdaten bestand aus N=87 Personen (26/58/2/1 männlich/weiblich/divers/keine Angabe), während in die Analyse der Hautleitfähigkeit 68 Personen eingingen.

Ergebnisse

Für die drei abhängigen Variablen PPM, Aufregung und Stress/Angst wurde jeweils ein Mixed Linear Model berechnet, mit Random Intercepts für Person und Reihenfolge, sowie Test-Art (adaptiv vs. nicht-adaptiv) und Zeit (erster vs. zweiter Test) als Prädiktoren. Unabhängig von Test-Art nahm das physiologische Stresserleben (p<.001) sowie subjektive/r Stress/Angst (p=.033) vom ersten auf den zweiten Test signifikant ab. Wie erwartet zeigte sich zudem höherer physiologischer Stress im adaptiven Test, mit im Mittel 0.27 PPM mehr als im nicht-adaptiven Test (p=.029). Die Modelle für wahrgenommene Aufregung (p=.108) und Stress/Angst (p=.065) zeigten hingegen keine signifikanten Unterschiede zwischen den Test-Arten.

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass Personen während der Bearbeitung adaptiver Leistungstests höheren physiologischen Stress erleben, während sich dies jedoch nicht eindeutig in ihrer subjektiven Wahrnehmung von Aufregung oder Stress und Angst widerspiegelt. Basierend auf Studien, die einen nur bestenfalls moderaten Zusammenhang zwischen Hautleitfähigkeit und subjektiver Testangst zeigten (Roos et al., 2021), ist es also möglich, dass adaptives Testen differenzielle Effekte auf physiologischen Stress und die subjektive Wahrnehmung dessen hat.

 

Testängstlichkeit und Lesemotivation bei computeradaptiven Tests in der Grundschule

Thomas Brüggemann, Ulrich Ludewig, Ramona Lorenz, Nele McElvany
Institut für Schulentwicklungsforschung, TU Dortmund

Theoretischer Hintergrund

Digitale Medien werden vermehrt im Schulkontext eingesetzt (Lorenz et al., 2022). In der Grundschule können digitale Medien zur Leseförderung und Diagnostik genutzt werden (z.B. Goldhammer et al., 2023). Dabei bieten computeradaptive Tests (CAT) eine Alternative zu computerbasierten (CBT) und papierbasierten Tests (PPT). CBTs unterscheiden sich von PPTs in ihrer Aufgabendarstellung (z.B. Furenes et al., 2021) und CATs unterscheiden sich von CBTs und PPTs in der Aufgabenselektion (z.B. Frey, 2020). Die Unterschiede zwischen diesen drei Testformaten können sich auf das Testerleben in Form von Motivation und Testängstlichkeit auswirken (z.B. Colwell, 2013). Lesemotivation und Testängstlichkeit bestehen aus einer Eigenschaftskomponente (Trait) und einer Zustandskomponente (State; Tremblay et al., 1995; Zohar et al., 1998).

Computer wirken auf Grundschüler*innen oft motivierend (z.B. Picton, 2014), wobei fraglich ist, ob die Motivation langfristig anhält (Neuheitseffekt; Shin et al., 2019). Die potenziell motivierenden Effekte von CATs durch anspruchsvolle Aufgaben (Weiss & Betz, 1973) wurden bisher nur wenig untersucht (Ling et al., 2017). Gleichzeitig sind Effekte der Testformate auf die Testängstlichkeit durch Computerangst (z.B. dos Santos & de Santana, 2018) und Unterschiede in der Itemselektion (Ling et al., 2017) möglich.

Fragestellungen

Bisherige Studien zu den Unterschieden zwischen PPT, CBT und CAT sind meist im Bereich der Mathematik verortet (z.B. Martin & Lazendic, 2018), untersuchen Schüler*innen in der Sekundarstufe (Ling et al., 2017) und vergleichen meist zwei der drei Formate (z.B. Fritts & Marszalek, 2010). Daher wird in dieser Studie untersucht, inwiefern sich PPTs, CBTs und CATs auf die Lesemotivation und Testängstlichkeit von Grundschüler*innen der vierten Klasse in einem Lesekompetenztest auswirken.

Methode

An einer experimentellen Studie nahmen N = 387 Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse (48.2 % weiblich) in allgemeinbildenden Grundschulen in Nordrhein-Westfalen an einem Lesekompetenztest (Rel.¬¬¬WLE = .84) teil. Die Schüler*innen wurden zufällig innerhalb ihrer Klassen in drei Gruppen aufgeteilt, die den Lesekompetenztest jeweils papierbasiert, computerbasiert oder computeradaptiv bearbeiteten. Die Schüler*innen wurden vor dem Lesekompetenztest nach ihrer allgemeinen Trait-Lesemotivation (α = .89) und Testängstlichkeit (α = .83) gefragt, sowie nach der Ankündigung des Lesekompetenztests nach ihrer State-Testängstlichkeit (α = .68). In der Mitte (inter) und am Ende (post) des Tests wurde die State-Lesemotivation (αinter = .82; αpost = .90) und State-Testängstlichkeit (αinter = .71; αpost = .82) erfasst. Am Ende des Tests wurde ebenfalls die Testmotivation (α = .87) gemessen. Fehlende Werte wurden mit der Bibliothek missRanger (Mayer, 2019) in R imputiert. Die Daten wurden mithilfe von linear mixed-effect Modellen mit der R-Bibliothek lme4 (Bates et al., 2014) ausgewertet.

Ergebnisse

Die Ergebnisse zur State-Lesemotivation fanden signifikante Haupteffekte von Trait-Lesemotivation und dem Testmedium (Papier versus Bildschirm). Schüler*innen, die gerne lesen, fanden die Testaufgaben spannender. Weiterhin lasen Schüler*innen lieber am Computer als am Papier. Über den Testverlauf sank die Lesemotivation am Bildschirm signifikant ab und war am Ende des Tests auf dem Niveau der Lesemotivation der Kinder am Papier. Es gab keine Unterschiede zwischen den Testformaten in der Post-Test Testmotivation.

Die Trait-Testängstlichkeit war ein signifikant positiver und die Lesekompetenz ein signifikant negativer Prädiktor der State-Testängstlichkeit. Es gab keine Unterschiede zwischen dem PPT, CBT oder CAT in der empfundenen State-Testängstlichkeit. Weitere Analysen nach Geschlechtsunterschieden fanden eine signifikant erhöhten Anstieg der State-Testängstlichkeit für Schülerinnen im CAT und ein Sinken der State-Testängstlichkeit für Schüler im CAT.

Diskussion

Die Befunde zur Lesemotivation deuten einen Neuheitseffekt (Shin et al., 2019) für bildschirmbasierte Tests an. CATs wirkten dabei nicht motivierender als der PPT oder CBT (vgl. Weiss & Betz, 1973). Unterschiede in der Testängstlichkeit zwischen den Testformaten wurden nicht gefunden (vgl. Ling et al., 2017). Die Geschlechtsunterschiede werden vor dem Hintergrund des Testthemas der Lesekompetenz und dem Alter der Schüler*innen mit Blick auf die Testfairness diskutiert.

 

Emotionale Effekte verschiedener Item-Review-Verfahren bei adaptiven Hochschulklausuren

Cosima Schenk, Patrick Naumann, Andreas Frey
Goethe-Universität Frankfurt am Main

Theoretischer Hintergrund

Computerisiertes adaptives Testen (CAT) kennzeichnet sich dadurch, dass sich die Auswahl des als nächstes vorzugebenden Items am vorherigen Antwortverhalten des getesteten Individuums orientiert (z.B. Frey, 2020). Diese hocheffiziente Art des Testens eignet sich in besonderem Maße zur Messung des Kompetenzstandes von Studierenden im Rahmen von Klausuren (Spoden & Frey, 2021). Jedoch kann die Bearbeitung von adaptiven Klausuren für die getesteten Studierenden mit Emotionen mit negativer Valenz einhergehen (Kimura, 2017). Eine Ursache hierfür könnte sein, dass bei adaptiven Klausuren kein Item-Review vorgesehen ist, also keine Möglichkeit besteht, bearbeitete Items im Nachhinein noch einmal durchzugehen und Antworten bei Bedarf zu verändern (Stocking, 1997). Dadurch könnte es zu einem verringerten Kontrollerleben kommen, welches – gemäß der Kontroll-Wert-Theorie von Pekrun und Perry (2014) – zu negativen emotionalen Reaktionen führt. Ein gesteigertes Kontrollerleben könnte hingegen zu positiven emotionalen Reaktionen führen. Dies wäre nicht nur für die getesteten Individuen angenehm, sondern dürfte auch den Abruf der maximalen Leistungsfähigkeit und die Akzeptanz adaptiver Klausuren fördern.

Im Rahmen der präsentierten Studie wurden verschiedene Item-Review-Verfahren für computerbasierte Tests, darunter auch drei neu konzipierte Verfahren, hinsichtlich des emotionalen Erlebens durch Studierende im Vergleich zu papierbasiertem Testen untersucht. Bei den drei neu entwickelten Verfahren handelt es sich um CAT-„Answer Until Correct“ (CAT-AUC), bei dem Studierende eine Aufgabe so lange bearbeiten dürfen bis diese richtig gelöst wurde, CAT-„Final Answer“ (CAT-FA), bei dem Studierende entweder vorläufige oder finale Antworten geben dürfen, und CAT-„Skipping“ (CAT-SK), bei dem Aufgaben übersprungen werden dürfen.

Fragestellungen

Mithilfe der Studie werden die folgenden Fragestellungen untersucht:

Wie ist das emotionale Erleben von Studierenden während einer Klausur in Abhängigkeit des Item-Review-Verfahrens?

Wie ist das subjektive Kontrollerleben von Studierenden während einer Klausur in Abhängigkeit des Item-Review-Verfahrens?

Welche Item-Review-Methode ist für CAT-Klausuren am vorteilhaftesten hinsichtlich des emotionalen Erlebens und des subjektiven Kontrollerlebens?

Methode

Im Rahmen einer Online-Studie mit dem Between-Subjects-Faktor „Prüfungsszenario“ und dem Within-Subjects-Faktor „Messwiederholung“ wurden Studierenden jeweils zwei von acht verschiedenen Prüfungsszenarien als Vignetten vorgelegt. Bei den acht Prüfungsszenarien handelte es sich um papierbasierte Klausuren, computerisierte Klausuren ohne adaptives Testen, CAT-Klausuren ohne Item-Review-Möglichkeit, CAT-Klausuren mit der Möglichkeit, alle Items nachträglich zu verändern (CAT „Full Review“), die drei neu entwickelten Verfahren CAT-AUC, CAT-FA, CAT-SK und um das von Cui et al. (2018) vorgeschlagene Verfahren CAT „Salt“. Als abhängige Variablen wurden das emotionale Erleben (7 Leistungsemotionen) und das subjektive Kontrollempfinden mit Fragebogenskalen erhoben. Die erhobenen Daten (N = 2566) wurden mit generalisierten linearen Mischmodellen mit dem R-Paket lme4 (Bates et al., 2014) analysiert. Fehlende Werte wurden mithilfe multipler Imputation mit dem R-Paket mice (van Buuren & Groothuis-Oudshoorn, 2011) imputiert.

Ergebnisse

Die Analysen zeigen einen signifikanten Effekt des Faktors „Prüfungsszenario“ für alle Leistungsemotionen und das Kontrollempfinden (p ≤ .002). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein gesteigertes subjektives Kontrollempfinden insbesondere bei dem Prüfungsszenario CAT-AUC vorliegt, welches auch mit höheren positiven Emotionen und niedrigeren negativen Emotionen einhergeht. In der Regel fallen die emotionalen Reaktionen von Prüfungsszenarien mit CAT (einschließlich solcher mit Item-Review-Verfahren) positiver aus als bei papierbasierten Klausuren und computerisierte Klausuren ohne adaptives Testen.

Diskussion

Die Ergebnisse der vorgestellten Studie weisen auf unterschiedliches emotionales Erleben von verschiedenen Klausurversionen hin. Des Weiteren deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die ohnehin schon in der Regel mit wünschenswerteren emotionalen Reaktionen verbundenen adaptiven Klausuren (stärkere positive Emotionen und schwächere negative Emotionen) durch die zielgerichtete Verwendung von Item-Review-Verfahren weiterhin hinsichtlich des Kontrollerlebens und damit distal hinsichtlich des emotionalen Erlebens optimiert werden. Implikationen – insbesondere im Hinblick auf die zukünftige Umsetzung von CAT-Prüfungen – werden diskutiert.

 
9:00 - 10:407-04: Augmented Reality for Learning and Instruction – Theory-based Research Beyond Media Comparisons
Ort: H02
 
Symposium

Augmented Reality for Learning and Instruction – Theory-based Research Beyond Media Comparisons

Chair(s): Jule M. Krüger (Universität Potsdam, Digitale Bildung), Kristin Altmeyer (Universität des Saarlandes, Empirische Bildungsforschung)

Diskutant*in(nen): Josef Buchner (Pädagogische Hochschule St.Gallen, Institut Digitale und Informatische Bildung)

Augmented reality (AR) is a form of information presentation that includes the combination of virtual and physical elements. The integration of these types of representations can be implemented in unique educational experiences to effectively elicit and support learning processes and lead to improved learning outcomes. With a technological focus, Azuma and colleagues (2001) identified three key features of AR technology as 1) the integration of real and virtual elements, 2) real-time interactivity, and 3) 3D registration. For instructional design, AR systems allow for the integration of instructionally relevant virtual data into physical, real-world environments. For example, instructional information can be embedded into corresponding real-world settings, and authentic 3D models can be embedded into instructional settings. From a learner-based perspective, AR thus allows for an integrated perception of virtual and physical elements for a contextualised experience in physical space, including interaction with combined physical-virtual materials (Krüger et al., 2019).

In recent years, research on AR for learning and instruction has increased a lot due to the technological developments in this area, such as devices for mobile AR. In general, positive effects on cognitive, affective, and behavioural learning outcomes have been identified of AR in comparison to other types of learning experiences and material (Chang et al., 2022; Malone et al., 2023). In a recent systematic review, Buchner and Kerres (2023) found that 80% of studies on AR in education published in the top twelve journals on educational technologies until 2020 use a media-comparison approach. However, this technology-centred approach has been widely criticized concerning its narrow view on instructional design, methodologically flawed research designs, and limited gain in scientific insights. Recently, it has been observed that there is a growing tendency to employ an expanding array of novel study designs to examine the underlying mechanisms that determine the effects of AR. A goal of this symposium is to bring together research from different labs that goes beyond the mere comparison of AR with other forms of information presentation. In line with the suggestions by Buchner and Kerres (2023), these alternative research approaches include value-added designs, which compare different versions of an AR-based learning experience, and learner-treatment-interaction designs, which examine the influence of learner characteristics on learning with AR.

Therefore, the general research question for this symposium does not focus on “if” AR can be used to effectively support learning and instruction but considers the “how” and the “when” of this question.

In the first contribution, a value-added study describes the evaluation of different AR application designs with multiple external representations in physics lab work based on the Cognitive Theory of Multimedia Learning and Cognitive Load Theory.

In the second contribution, a value-added study draws on situated learning to examine the influence of contextualising a learning experience in the medical field, without changing the AR application itself.

The third contribution reviews existing literature and defines a research gap concerning the consideration of learner differences as moderators in research on AR in education and thus the lack of learner-treatment-interaction study designs in the literature.

The fourth contribution explores learner characteristics in interaction with a value-added design on AR-based information placement on corresponding local trees in a setting in nature.

The contributions describe different approaches and insights that can bring the research field closer towards better understanding the how and when of learning and instruction in AR. The discussion of the symposium will focus on the opportunities and challenges in current research on AR in education, discussing the future directions of methods and design in and development of a framework for meaningful educational AR research.

 

Beiträge des Symposiums

 

Augmented Reality for Visualizing Scientific Models in Physics Lab Work: The Role of (Multiple) Representations

Kristin Altmeyer1, Peter Edelsbrunner2, Barbara Gränz3, Sarah Hofer4, Christoph Hoyer5, Jochen Kuhn5, Zoya Kozlova4, Stefan Küchemann5, Andreas Lichtenberger3, Sarah Malone1, Roman Schmid3, Ralph Schumacher2, Bermann Steinmacher3, Elsbeth Stern2, Andreas Vaterlaus3, Max Warkentin5, Roland Brünken1
1Universität des Saarlandes, Empirische Bildungsforschung, 2ETH Zürich, Lehr- und Lernforschung, 3ETH Zürich, Physik und Ausbildung, 4LMU München, Lehr- und Lernforschung, 5LMU München, Didaktik der Physik

Theoretical Background

Visual-graphic representations of scientific models can support students by visualizing the invisible foundations of observations during scientific experimentation (Olympiou et al., 2013). However, these models are usually shown spatially and temporally separated from observed phenomena (e.g., on a worksheet handed out after lab work), which hampers conceptual understanding (Schroeder & Cenki, 2018). In accordance with the Cognitive Theory of Multimedia Learning (Mayer, 2014) and the Cognitive Load Theory (Sweller, 1998), Augmented Reality (AR) offers the potential to address this issue by enabling the real-time presentation of virtual models in close proximity and adaptive to corresponding real-world phenomena. This resulting contiguity of information can contribute to a reduction in learning-irrelevant cognitive load and improved learning outcomes (Buchner et al., 2021), particularly in the context of physics lab work (e.g., Altmeyer et al., 2020).

Research Objectives

The objective of the present study was to investigate a newly-developed AR-supported experimental learning set-up in which electromagnetic phenomena are superimposed with virtual representations of vector field models (Donhauser et al., 2020). While extensive research has explored the presentation of (graphical) representations in traditional multimedia learning environments (e.g., Rau et al., 2015), the reasonable selection of AR-based representations in lab work settings requires further investigation. Therefore, the current study compares different virtual (multiple) representations in AR to examine their impact on cognitive load and conceptual knowledge acquisition. Indications for the design of effective AR learning environments will be derived.

Method

N=75 students (47% female, Mage=17.02, SD=1.22) participated in the study. In the first part of the study, all students were presented with a learning video, then they completed a representational competence test (covariate, 31 items adapted from Küchemann et al., 2021; α=.89/ ω=.90), watched a second learning video, and completed a pre-test of conceptual knowledge (14 items adapted from Küchemann et al., 2021; α=.90/ ω=.90). The second part of the study occurred within a two-day interval. Applying a between-subjects design, participants were randomly allocated to seven groups. The students conducted five experiments on the Lorentz force while utilizing AR-smartglasses. Depending on their respective group, they were presented with distinct virtual representations including vector fields, field lines, and a tripod, or with any combination of these representations. Finally, the participants completed a cognitive load questionnaire (Thees et al., 2021; 3 items per dimension, α/ω=.46-.96), a post-test of conceptual knowledge (α=.93/ ω=.94), and a usability questionnaire (Brooke, 1996).

Results

Usability across all AR conditions was rated as "good" (Bangor et al., 2009) with very minor and non-significant differences between groups (F(6, 70)=1.54, p>.05). Qualitative feedback indicates that students derived enjoyment from their AR-supported experiments, yet they highlighted opportunities for enhancing the design of virtual representations and reducing the complexity of AR-interaction. Regarding cognitive load (F(18, 184.33)=1.06, η²=.07) and also conceptual knowledge acquisition (F(7, 78)=1.66, η²g=.13), there were minimal and non-significant differences between the AR groups (p>.05). An exploratory analysis unveiled that groups employing the vector tripod either individually or in conjunction with other virtual representations demonstrated more substantial gains in conceptual knowledge acquisition, as opposed to those without access to the tripod (F(1, 84)=3.66, η²g=.08).

To summarize, the findings suggest that all representational iterations of the newly-developed AR-based experimental learning environment hold promise for supporting the acquisition of conceptual knowledge, with the vector tripod being the most helpful representation. Providing various instead of single virtual representations did not appear to foster or impede conceptual knowledge acquisition. Future research will investigate whether engaging with diverse representations promotes the development of representational competence. Planned subsequent research endeavors will also analyze AR-interactions and eye movements to refine the learning environment and gain further insights into AR-enhanced science education.

 

The Impact of Narrative and Physical Contextualisation on Situated Learning in Augmented Reality

Kevin Palzer1, Jule Krüger2, Daniel Bodemer1
1Universität Duisburg-Essen, Psychologische Forschungsmethoden – Medienbasierte Wissenskonstruktion, 2Universität Potsdam, Digitale Bildung

Theory

Situated learning is recognised as a valuable pedagogical approach for augmented reality (AR) environments (Garzón et al., 2020). Situated cognition, as described by Brown et al. (1989), proposes an inherent connection of learning and its context, distinguishing between school and application context, and Young (1993) suggests situating learning in real-world environments. In combining virtual elements and physical environments, AR can contextualise learning in authentic environments and bring authentic artefacts into instruction (Bower et al., 2014). By embedding learning in a corresponding physical context, AR-based contextuality can support the mental connection and integration of virtual and physical elements (Krüger et al., 2019). This integration can elicit context immersion (Kim, 2013). In order to further support Immersion, a narrative (Nilsson et al., 2016; Reid et al., 2005) and physical artefacts (Reid, 2008) can be used, where narrative and artefacts should be strongly coupled (Georgiou & Kyza, 2021). In the current study, we examine how these factors can induce perceived contextuality in AR and how they might impact learning processes and outcomes. We expect that adding a contextualising physical artefact and application-focused narrative leads to increased perceived contextuality, enjoyment and knowledge. Furthermore, we explore the impact of contextualisation on workload.

Method

A laboratory study was conducted in an experimental 2×2 between-subjects design with narrative (educational vs. application) and physical contextualisation (physical artefact present vs. absent) as factors in a value-added study (see Buchner & Kerres, 2023). N = 40 participants between 18 and 32 years (M = 23.50, SD = 3.52), 24 female and 15 male, were evenly distributed into the four conditions. The topic of the human digestive system was introduced with the narrative describing either an educational (university course) or an application context (medical internship). The AR application on a Microsoft Hololens 2 showed a virtual 3D model of the digestive system, either on its own (physical artefact absent) or projected onto a person (physical artefact present). After the learning phase, participants answered the NASA TLX for workload (Hart, 2006), a scale on intrinsic motivation with a subscale on enjoyment (Wilde et al., 2009) and the ARcis Questionnaire for contextuality (Krüger & Bodemer, 2022). Afterwards, a knowledge test on naming the digestive system components was administered.

Results

The data were analysed with 2×2 ANOVAs. Concerning perceived contextuality, we only found a main effect of physical artefact, with higher contextuality for present artefact, F(1,36) = 14.88, p < .001, ω² = 0.26. Regarding enjoyment, we only found a main effect of narrative, showing increased enjoyment in the application narrative, F(1,36) = 4.60, p = .039, ω² = 0.08. For knowledge, we found a main effect of narrative, F(1,36) = 5.15, p = .029, ω² = 0.09, and an interaction effect, F(1,36) = 4.48, p = .041, ω² = 0.08: highest knowledge in the application narrative with no artefact, and lowest knowledge in the education narrative with no artefact. The explorative analyses of workload (NASA TLX) only showed a main effect of physical contextualisation on frustration, with increased frustration for present artefact, F(1,36) = 4.70, p = .037, ω² = 0.09.

Discussion

We found that a physical artefact in AR facilitated perceived contextuality, in accordance with the ARcis framework (Krüger et al., 2019). Using an application narrative increased enjoyment and knowledge, but the effect on knowledge was diminished by the physical artefact. This might be explained by the increase in learners' frustration, which was unexpected, but may be attributable to the presence of another person as a social stressor leading to increased anxiety and arousal (Kushnir, 1986). More research is necessary, but this study describes first indications of the impact of contextualisation in AR on affective and cognitive variables.

 

AR Glasses in the Classroom with no Human Learner Behind? A Systematic Literature Review

Zoya Kozlova, Sarah Hofer
LMU München, Lehr- und Lernforschung

Theoretical Background

According to Steffen (2019), most of the activities which augmented reality (AR) enables are either impossible to carry out in the physical world due to the physical laws (e.g., seeing the entire solar system while sitting in the classroom) or too dangerous or inconvenient to perform (e.g., asking a novice surgeon to do a training surgery on a real patient). These two key affordances make AR well-suited for use in STEM subjects teaching, e.g., conducting dangerous experiments in chemistry or visualizing normally invisible magnetic fields. At the same time, affordances as a term of ecological psychology are seen more as a concept defining relations between the environment and the organism (Chemero, 2003). Namely, the environment affords behavior to the organism, so affordances are relations between the abilities of organisms and features of the environment. Affordances of AR then can only be fully exploited when being attributed to a certain organism with specific characteristics.

Research Question

This brought us to evaluate to which extent AR affordances consider the learner as the organism in recent studies. In other words, we seek to explore to which extent the research into the use of AR in STEM education considers the learner characteristics and learning outcomes.

Method

In a systematic review, we derived 667 studies from the two databases Scopus and Web of Science. In our search we used the terms “augmented reality”, “augmenting reality”, and “mixed reality”, coupled with “learning”, “education”, “training”, “teaching”, and “instruction” for the period of 2013-2022. In the first selection phase, we excluded studies done in non-STEM subjects (e.g., art). In the second phase, we identified the studies that examine learner characteristics together with the learning outcomes. We categorized the studies based on the knowledge outcome (declarative and procedural knowledge and the associated cognitive processes – reproduce, transfer, produce), individual characteristics, e.g., spatial ability, prior knowledge, and the AR affordances, e.g., delivering learning content in a 3D perspective, visualizing the invisible etc. In the end, only 24 studies satisfying our inclusion criteria were distinguished.

Results

Apart from the small proportion of the studies addressing individual characteristics (less than 5%), another interesting finding suggests that spatial ability and prior knowledge are the most explored individual characteristics in AR research (9 studies for spatial ability and 2 for prior knowledge). In terms of the learning outcomes, only 21% of the studies tackled procedural knowledge outcomes. The main focus was on reproduction and transfer of declarative knowledge (88% for reproduction and 54% for transfer). The most used AR affordance was presenting learning content in a 3D perspective (21 out of 24 studies).

Discussion

At present, AR technology seems to be seen as a universal tool, suitable for all learners, without sufficient consideration of their unique individual differences. The existing research on individual differences in AR sparkles numerous questions that are yet to be fully explored. For instance, it is still questionable, whether or not AR has a compensatory effect for the students with lower spatial ability or whether higher spatial ability serve as an enhancer in AR learning environment. Other important learner characteristics, such as working memory capacity, have hardly been investigated in AR learning. The findings of this review help to define the future research agenda for AR.

 

Augmented reality in nature: an exploratory study on the placement of learning content and the impact of learner characteristics

Jule Krüger
Universität Potsdam, Digitale Bildung

Theory

In augmented reality (AR), virtual and physical elements can be combined and presented integrated into one view, which enables the contextualisation of interactive and spatial virtual representations in authentic physical environments without changing the physical surroundings themselves. For example, a natural environment can be enriched by virtual information designed for the purpose of achieving specific learning objectives. This goal-oriented embedding of virtual information in an associated physical environment leverages the AR-specific property of contextuality (see Krüger et al., 2019). This placement of information within a real-world context can play a role in authentic experience, enjoyment, and learning (Bower et al., 2014; Harley et al., 2016; Kamarainen et al., 2013), influencing immersion, motivation, and learning processes (Georgiou & Kyza, 2021; Sylaiou et al., 2010; Weerasinghe et al., 2022). The current study further explores the role of the exact positioning of virtual information in an AR application in nature on cognitive and affective factors, behaviour, and learning outcomes. Placement of instructional information closer to corresponding physical objects is expected to lead to improved cognitive load, presence, positive emotions, knowledge, and different behaviours. Potential moderations of learner characteristics are explored.

Method

In a two-group design, the study took place outside in nature. N = 18 participants, 18 to 33 years old (M = 22.67, SD = 4.35), 16 female, 3 male, were distributed evenly (near vs. far condition). A prior knowledge test and task expectancy questions (Wigfield & Eccles, 2000) were administered. In the learning phase, participants retrieved marker-based information on plants in the environment with a tablet-based AR application, with markers either anchored to corresponding plants (near) or placed further away (far). Cognitive load was measured with a questionnaire (Klepsch et al., 2017), presence with the AR immersion scale (Georgiou & Kyza, 2017), positive emotions with the short Achievement Emotions Questionnaire (Bieleke et al., 2021), and behaviour with self-designed questions. Afterwards, a knowledge test was administered, and the participants were interviewed on their experience.

Results

A mixed 2×2 ANOVA on prior and resulting tree name knowledge showed a positive main effect of time, F(1,16) = 45.90, p < .001, and an interaction effect, F(1,16) = 6.88, p = .018, with a larger increase for near than far placement. Far compared to near placement led learners to look into the environment less often, t(15.52) = 2.48, p = .025, which is also in accordance with the interview data, describing that participants with near placement compared the tablet-based information and the plants. Concerning other variables, no effects of group but significant moderation effects were detected. Only for low and not high prior knowledge learners germane cognitive load, t(14) = 2.50, p = .025, and pride, t(14) = 2.59, p = .021, increased for near placement. Further, only for low and not high task expectancy learners, germane cognitive load, t(14) = 2.30, p = .037, presence, t(14) = 4.14, p = .001, and pride, t(14) = 2.76, p = .015, increased for near placement.

Discussion

The data suggest that proximity of the plants led to a larger increase in tree-specific knowledge and caused implicit bottom-up or stimulus-driven attentional control (see Egeth & Yantis, 1997) towards the plants. Learning scenarios in which virtual and physical elements are to be integrated into a coherent mental model might profit from this. The effect on other factors were contingent on learners’ characteristics, with more positive effects when prior knowledge and expectancy were low. The results in this study support the necessity to examine specific design decisions and their interaction with learner characteristics in AR. Future studies with bigger samples can build on the results of this exploratory study.

 
9:00 - 10:407-05: Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Mathematik: Über welche professionellen Kompetenzen bzw. über welches professionelle Wissen verfügen (angehende) Regel- und Förderlehrkräfte?
Ort: H01
 
Symposium

Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Mathematik: Über welche professionellen Kompetenzen bzw. über welches professionelle Wissen verfügen (angehende) Regel- und Förderlehrkräfte?

Chair(s): Elisabeth Moser Opitz (Universität Zürich, Schweiz)

Diskutant*in(nen): Elmar Souvignier (Universität Münster)

Zur Thematik der professionellen Kompetenz von Lehrkräften und deren Erfassung wurden im letzten Jahrzehnt zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Bisher kaum untersucht wurde die professionelle Kompetenz von Lehrkräften (und Studierenden) bezogen auf den Umgang mit Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Mathematik (Lietz, 2021; Author et al., 2017; Schmid & Schabmann, 2016). Im Kontext der Umsetzung von inklusivem Unterricht kommt dieser Thematik hinsichtlich von Diagnose und Förderung besondere Bedeutung zu. Mit Blick auf eine adäquaten Unterstützung der Schüler:innen im Unterricht ist es zentral Kenntnisse darüber zu erlagen, ob und wie sich Regel- und Förderlehrkräfte in ihrer professionellen Kompetenz bezüglich Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Mathematik unterscheiden.

In Anlehnung an Shulman (1986) wird im Fachdiskurs zur professionellen Kompetenz zwischen fachlichem und fachdidaktischem Wissen unterschieden. Hinsichtlich der Thematik des Umgangs mit Lernschwierigkeiten scheint diese Unterscheidung schwierig zu sein (Phelps & Schilling, 2004; Lietz, 2021). Zudem stellt sich bei der Erfassung der professionellen Kompetenz immer die Frage nach der Unterscheidung von Wissen und Können. Wenn eine Lehrkraft beispielsweise weiß, dass die Kenntnis des dezimalen Stellenwertsystems eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb der Grundoperationen ist, heißt das noch nicht, dass sie passende Fördermöglichkeiten kennt bzw. umsetzen kann. Wir unterscheiden deshalb in Anlehnung an Blömeke (2011) und Bremerich-Vos et al. (2011) bei der Erfassung von professioneller Kompetenz verschiedene kognitive Anforderungen: (1) Anforderungen im Sinn von Erinnern und Abrufen (eher deklaratives Wissen) und (2) Anforderungen im Sinn von Verstehen/Analysieren/Anwendung durch anwendungsbezogene Items. Je nach Schwerpunkt verwenden wir in den Beiträgen des professionellen Wissens oder der professionellen Kompetenz.

Ein wichtiger Aspekt professioneller Kompetenz zum Thema Lernschwierigkeiten, der gemäß Artelt (2009) domänenspezifisch zu konzeptualisieren ist, ist die diagnostische Kompetenz. Hier zeigen sich mehrere Forschungslücken: Es fehlen geeignete Instrumente, insbesondere wenn es darum geht, die professionelle Kompetenz von Regel- und Förderlehrkräften mit demselben Instrument messinvariant zu erfassen (Lietz, 2021). Als Folge dieses Mangels fehlen Erkenntnisse zur Frage, was Lehrkräfte über Diagnose und Förderung bei Lernschwierigkeiten wissen. Schließlich fehlen Erkenntnisse zur Frage, ob und wie sich professionelle Kompetenz zum Umgang mit Lernschwierigkeiten auf den Leistungszuwachs der Schüler:innen auswirkt.

Im Symposium werden vier Studien präsentiert, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der professionellen Kompetenz bzw. dem professionellen Wissen von Regel- und Förderehrkräften sowie von Lehramtsstudierenden zum Thema Lernschwierigkeiten befassen.

Im ersten Beitrag liegt der Schwerpunkt auf einem ausgewählten Aspekt der diagnostischen Kompetenz: der Urteilsgenauigkeit. Es wird untersucht, wie akkurat Regellehrkräfte die Lesekompetenz von Lernenden mit und ohne besonderen Förderbedarf einschätzen können.

Beitrag 2 untersucht, ob sich die diagnostische Kompetenz von Lehramtsstudierenden durch eine Lehrveranstaltung verbessern lässt und welche individuellen Merkmale die Entwicklung bedingen.

In Beitrag 3 wird eine Untersuchung präsentiert, in der Interviews mit Regel- und Förderlehrkräften zum Thema „Förderung bei Leseschwierigkeiten“ mit einem hochinferenten Ratingverfahren analysiert wurden, um zu überprüfen, ob sich zwischen den beiden Personengruppen Unterschiede zeigen.

In der Studie in Beitrag 4 wird untersucht, ob sich das professionelle Wissen von Regel- und Förderlehrkräften zum Umgang mit mathematischen Lernschwierigkeiten unterscheidet und ob und wie sich dies auf den Leistungszuwachs der Schüler:innen auswirkt.

Im Symposium werden die Beiträge zum einen hinsichtlich der eingesetzten Instrumente, zum anderen hinsichtlich des Wissens bzw. der Kompetenz der unterschiedlichen Gruppen von Lehrkräften bzw. Lehramtsstudierenden diskutiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

Die Urteilsgenauigkeit von Lehrkräften in der inklusiven Grundschule bezüglich des Leseverständnisses ihrer Schüler:innen

Sophia Hertel1, Karolina Urton2, Jürgen Wilbert3, Johanna Krull1, Janis Bosch2, Thomas Hennemann1
1Universität Köln, 2Universität Münster, 3Universität Potsdam

Theoretischer Hintergrund

Leseverständnis ist eine Schlüsselfähigkeit, die vorwiegend während der Grundschulzeit erworben werden sollte (Mendoza-Pinargote & Reyes-Meza, 2022). Allerdings nimmt die Zahl der Schüler:innen mit adäquaten Lesefähigkeiten ab, sodass ein Viertel der Viertklässler:innen über eine geringe Lesekompetenz verfügt (McElvany et al., 2023). Für den Aufbau des Leseverständnisses der Schüler:innen kommt den Lehrkräften eine zentrale Bedeutung zu (Hudson, 2022). Dazu gehört u.a. deren diagnostische Kompetenz, da diese als wichtige Voraussetzung für die Unterrichtsgestaltung und individuelle Förderung angesehen wird (Hasselhorn et al., 2019). Die Meta-Analyse von Südkamp und Kolleg:innen (2012) zeigte, dass Lehrkräfte die schulischen Leistungen von Schüler:innen durchschnittlich recht genau einschätzten, wenngleich eine hohe Variabilität der Beurteilungsleistung zwischen den Lehrkräften bestand (Gabriel et al., 2016). Von Interesse ist, inwiefern Lehrkräfte für die jeweilige Kompetenz relevante bzw. irrelevante Merkmale (Brunswik, 1956; Loibl et al., 2020) der Schüler:innen im Rahmen des Urteilsprozesses einbeziehen. Mit Blick auf die Merkmale der Schüler:innen wird deutlich, dass diese die Beurteilungsgenauigkeit der Lehrkräfte bei der Einschätzung des Leseverständnisses bedingten (Südkamp et al., 2012; Urhahne & Wijnia, 2021). Sowohl Begeny et al. (2011) als auch Paleczek et al. (2017) stellten fest, dass Lehrkräfte die Leseleistung von Leser:innen mit geringen und durchschnittlichen Leistungen schlechter beurteilen konnten. Weiterhin gibt es Belege dafür, dass Lehrkräfte Schüler:innenmerkmale, die für das zu bewertende Merkmal irrelevant sind, in ihre Bewertung einbeziehen (Südkamp et al., 2018). Dazu gehören u.a. Verhaltensauffälligkeiten (Schmidt & Schabmann, 2009), ein SPF (Author et al., 2020) sowie das Geschlecht der Schüler:innen (Klapp, 2015).

Fragestellungen

Basierend auf den oben genannten Forschungsbefunden werden die folgenden Fragestellungen untersucht:

(1) Inwiefern sind Lehrkräfte in der Lage in inklusiven Klassen die Lesekompetenz einer heterogenen Schüler:innenschaft auf Wort-, Satz- und Textebene korrekt einzuschätzen?

(2) Inwiefern wird die Einschätzung der Lesekompetenz durch die Merkmale Klassenstufe, SPF und Geschlecht der Schüler:innen bedingt?

Methode

In der Studie wurde das Leseverständnis von Schüler:innen der 2. bis 4. Jahrgangsstufe ohne (n = 1565) und mit SPF Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache (n = 381) auf Wort-, Satz- und Textebene anhand der ELFE 1-6 (Lenhard & Schneider, 2006) erfasst. Die Lehrkräfte (n = 102) schätzten anhand eines Kompetenzratings, welches den Bereichen der ELFE entspricht, die Fähigkeiten der Schüler:innen ihrer Klasse ein.

Die Daten wurden mittels einer Mehrebenenanalyse modelliert. Dabei wurden die jeweilige Testleistung der Schüler:innen (Perzentile auf Wort-, Satz- und Textebene) durch das korrespondierende Rating der Lehrkräfte prädiziert. Die Effekte des Förderbedarfs (getrennt nach SPF Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache), der Klassenstufe und des Geschlechts wurden über Interaktionseffekte mit dem Rating beschrieben.

Ergebnisse

Hinsichtlich der ersten Fragestellung zeigte sich, dass die Lehrkrafturteile im unteren Leistungsbereich weniger differenzieren als im mittleren und oberen Leistungsbereich. Dabei ist die Differenzierung im Bereich des Wortverstehens deutlich geringer als für das Satz- und Textverstehen. Für die zweite Fragestellung deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das Lehrkrafturteil ungenauer für Schüler:innen mit SPF im Bereich des Lernens sowie in niedrigeren Klassenstufen ist. Die Beurteilung der Leistung erfolgte unabhängig vom Geschlecht der Schüler:innen.

Betrachtet man diese Ergebnisse in Zusammenhang mit der Annahme, dass Schüler:innen mit einem SPF Lernen, ebenso wie Schüler:innen niedrigerer Klassenstufen, eine geringere Leseverständniskompetenz aufweisen, so untermauern die Ergebnisse die Annahme, dass Lehrkräfte das Leseverständnis von Schüler:innen mit geringen Kompetenzen in diesem Bereich nur ungenau einschätzen können. Zudem zeigte sich, dass eine Erhöhung der Komplexität des zu bewertenden Merkmals (Leseverständnis auf Wort-, Satz- und Textebene) sowie eine höhere Klassenstufe zu einer differenzierteren Bewertung durch die Lehrkräfte führen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Lehrkräfte eine größere Anzahl von Merkmalen, mit Bedeutung für das Leseverständnis, berücksichtigen können.

 

Entwicklung der diagnostischen Kompetenz von Lehramtsstudierenden bezüglich Leseschwierigkeiten

Jennifer Igler, Anke Hußmann, Janin Brandenburg
Technische Universität Dortmund

Theoretischer Hintergrund

Lesekompetenz bezeichnet die Fähigkeit, schriftsprachliche Formen zu verstehen und nutzen zu können. Damit ist sie eine zentrale Voraussetzung für den Lernerfolg; im Fach Deutsch sowie auch in anderen Unterrichtsfächern (Leisen, 2007; Rosebrock & Nix, 2012). Nach den Ergebnissen der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung sind jedoch ein Viertel der Viertklässler: innen in Deutschland als schwach lesend einzustufen (McElvany et al., 2023).

Um Lernende bestmöglich fördern und den Unterricht an deren Bedürfnisse anpassen zu können, müssen Lehrkräfte sowohl Wissen im Bereich der Förderung als auch in der Diagnostik aufweisen (Bäuerlein, 2014). Studien verweisen auf Probleme von Lehrkräften, die Lesekompetenz ihrer Lernenden einschätzen zu können (Karing, Matthäi & Artelt, 2011; Lorenz & Artelt, 2009); insbesondere bei Lernenden mit schwachen Leseleistungen (Bates & Nettelbeck, 2001; Feinberg & Shapiro, 2009). Um angehende Lehrkräfte früh auf die Schulpraxis vorzubereiten, sollten bereits während des Studiums die diagnostische Kompetenz gefördert (Grotegut & Klingsieck, 2022) und individuelle Determinanten für den Kompetenzerwerb in den Blick genommen werden. Dies erscheint insbesondere deshalb bedeutsam, da nach dem Modell von Blömeke et al. (2015) Lehrkräfte u.a. auf Basis von individuellen diagnostischen Dispositionen (z.B. Überzeugung, Erfahrung, Selbstkonzept und Motivation) in verschiedenen pädagogischen Handlungssituationen pädagogische Diagnostik durchführen (auch Leuders et al. 2018). Trotz ihrer Relevanz für die universitäre Lehrkräfteausbildung liegen über die Entwicklung der diagnostischen Kompetenz während des Studiums und ihrer Determinanten bislang noch wenig bzw. inkonsistente Befunde vor (Buholzer & Zulliger, 2013; Heeg, Bittorf & Schanze, 2021).

Fragestellungen

F1 Entwickelt sich die diagnostische Kompetenz von Studierenden bezüglich Leseschwierigkeiten positiv durch den Besuch eines Seminars im Bereich Diagnostik und Förderung von Lesekompetenzen?

H1 Durch den Besuch eines Seminars im Bereich Diagnostik und Förderung von Lesekompetenzen kommt es bei Lehramtsstudierenden zu einem bedeutsamen Anstieg ihrer fachspezifischen diagnostischen Kompetenz.

F2 Welche individuellen Merkmale bedingen eine positive Entwicklung der diagnostischen Kompetenz von Lehramtsstudierenden bezüglich Leseschwierigkeiten?

H2 Die individuellen Merkmale Überzeugung, Erfahrung, Selbstkonzept und Motivation bedingen die Entwicklung der diagnostischen Kompetenz von Lehramtsstudierenden bezüglich Leseschwierigkeiten.

Methode

Für die Beantwortung der Fragestellungen wurden bzw. werden Studierende des Lehramtsstudiengangs für Sonderpädagogische Förderung der TU Dortmund zu zwei Messzeitpunkten (Anfang und Endes des Semesters) in zwei Erhebungswellen (Sommersemester 2023 und Wintersemester 2023/2024) zu ihrem professionellem Wissen als Facette der diagnostischen Kompetenz anhand einer gekürzten Version des Wissenstests von Lietz (2021) mit 24 Items (Cronbachs αMZP1 = .61; Cronbachs αMZP2 = .57) befragt. Bisher nahmen N = 36 Masterstudierende an der Umfrage im Längsschnitt teil (75.0% weiblich; MAlter = 26.14, SD = 5.71). Für die Erfassung der individuellen Merkmale wurden die Frage nach der Erfahrung durch das Praxissemester und die Skalen Überzeugungen zur Nützlichkeit Lesediagnostik, Selbstkonzept und Motivation bezüglich Diagnostik im Leseunterricht eingesetzt (alle Cronbachs α ≥ .84). Im Rahmen eines Seminars befassten sich die Studierenden mit der Thematik der Diagnostik und Förderung von Lesekompetenzen.

Ergebnisse

Erste Ergebnisse eines t-Tests für abhängige Stichproben zeigten einen signifikanten Anstieg der diagnostischen Kompetenz der Studierenden (MMZP1 = 0.68, SDMZP1 = 0.18; MMZP2 = 0.81, SDMZP2= 0.17; t(34) =-5.37 , p < .01 , d =-0.74). Studierende erreichten nach dem Besuch des Seminars einen höheren Wert in ihrer Diagnosekompetenz als am Anfang des Semesters. Mittels Regressionsanalysen konnte festgestellt werden, dass die Motivation (β = .41, SE = 0.04, p < .05) und das Selbstkonzept (β = -.39, SE = 0.04, p < .05) prädiktiv für die Entwicklung der diagnostischen Kompetenz waren, jedoch nicht die Überzeugungen und die Erfahrung.

Die Ergebnisse leisten einen Beitrag für das noch nicht hinreichend untersuchte Feld der diagnostischen Kompetenz bezüglich Leseschwierigkeiten. Mit Blick auf die Lehrkraftausbildung können die erwarteten Ergebnisse die Bedeutsamkeit der Förderung von individuellen Merkmalen wie z.B. Motivation für eine optimale Aus- und Weitertbildung im Bereich der diagnostischen Kompetenz betonen.

 

Professionelle Kompetenz von Regellehrkräften und Förderlehrkräften zur Leseförderung

Meret Stöckli1, Susanne Schnepel2, Maria Wehren-Müller3, Simon Luger3, Elisabeth Moser Opitz3
1HfH Zürich, 2Universität Münster, 3Universität Zürich

Theoretischer Hintergrund

Professionelles Wissen wird im Bereich Lesen und Schriftspracherwerb häufig mittels Fragebögen erfasst (z.B. Van den Hurk et al., 2017; König et al., 2022; Jordan & Bratsch-Hines, 2020). Hier liegen beispielsweise Erkenntnisse zum linguistisches Grundlagenwissen und zum Wissen zu basalen Komponenten des Leseerwerbs vor (Moats, 2009). Erst vereinzelt untersucht worden ist das professionelle Wissen von Lehrkräften zur Leseförderung bzw. zur Förderung von Schüler:innen mit Leseschwierigkeiten (Jakobson et al., 2022; Lietz, 2021). Im Kontext von inklusivem Unterricht stellt sich zudem die Frage, ob sich Regel- und Förderlehrkräfte hinsichtlich ihres professionellen Wissens unterscheiden und ob dieses bei Lehrkräften mit unterschiedlicher Ausbildung (Grundschulpädagogik, Förderpädagogik) mit demselben Instrument messinvariant erfasst werden kann. Lietz (2021) hat das professionelle Wissen von Studierenden der Regel- und der Förderpädagogik mit einem Fragebogen erfasst. Für die Studierenden der Förderpädagogik konnte ein reliables Instrument entwickelt werden, für die Studierenden der Regelpädagogik ist dies nicht gelungen. Ein alternativer Zugang stellt die Durchführung und Analyse von leitfadengestützten Interviews (für das Leseverständnis Jakobson et al., 2022) dar. Dieses Vorgehen bietet den Vorteil, dass durch anwendungsbezogene Fragen ein stärkerer Praxisbezug im Sinn von Anwenden, Verstehen und Analysieren hergestellt werden kann als mit einem Fragebogen, und der Fokus somit stärker auf der professionellen Kompetenz liegt.

Fragestellung

Mittels einem hochinferenten Rating von leitfadengestützten Interviews wird folgende Frage untersucht:

Über welche professionelle Kompetenz zur Leseförderung verfügen Regel- und Förderlehrkräfte?

Methodisches Vorgehen

Im Anschluss an zwei Unterrichtsbesuche wurden zu zwei Messzeitpunkten je ein leitfadengestütztes Interview zum Thema Leseförderung mit Regel- und Förderlehrkräften geführt (306 Interviews). Diese unterrichteten im Team auf der 2. bis 4. Klassenstufe (N = 153; Regellehrkräfte: n = 91; Förderlehrkräfte: n = 62) in inklusiven Klassen. Die Lehrkräfte wurden u.a. zu Förderzielen und Fördermaßnahmen eines leseschwachen Kindes aus der Klasse sowie zu wichtigen Aspekten ihrer Leseförderungspraxis befragt. Die Auswahl der leseschwachen Kinder erfolgte aufgrund der Leistungen in einem Leseverständnistest (ELFE 1-6; Lenhard & Schneider, 2006)

Die Interviews wurden mit einem hochinferenten Ratingverfahren hinsichtlich der professionellen Kompetenz zur Leseförderung von drei Raterinnen theoriebasiert mit vier Indikatoren ausgewertet: (A) Weiß die Lehrkraft, dass die Leseflüssigkeit eine wichtige Voraussetzung für das Leseverständnis ist (z.B. Chard et al., 2012) und berücksichtigt sie dies für die Umsetzung der Leseförderung? (B) Wendet die Lehrkraft Maßnahmen zur Leseförderung an, die zu den Lernvoraussetzungen der Klasse bzw. einzelnen Lernenden passen und kann sie diese Maßnahmen unter Verwendung von Fachbegriffen begründen? (C) Berücksichtigt die Lehrkraft unterschiedliche Schwierigkeitsgrade von Texten für unterschiedliche Lernniveaus (z.B. Artelt, 2009)? (D) Weiß die Lehrkraft, dass bei der Förderung der Leseflüssigkeit je nach Lernstand gezielt auf der Wort-, Satz- oder Textebene gefördert werden soll (Lenhard et al., 2020)?

25% aller Interviews (n = 40) wurden über die gesamte Auswertungszeit verteilt von allen Raterinnen eingeschätzt und der Generalisierbarkeitskoeffizient wurde berechnet. Die Interraterreliabilität (G-Koeffizient) betrug .76 bis .94 und kann als gut bis sehr gut bezeichnet werden (Seidel et al., 2003).

Nebst deskriptiven Analysen wurde mittels T-Tests untersucht, ob sich signifikante Unterschiede in der professionellen Kompetenz der Regel- und der Förderlehrkräfte zeigen.

Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigen, dass die im Rating erfasste professionelle Kompetenz zur Leseförderung der Förderlehrkräfte (M = 2.47, SE = 0.13) im Vergleich zu den Regellehrkräften (M = 2.16, SE = 0.09) signifikant höher ausfiel (t (151) = -2.00, p = .047), jedoch mit einer kleinen Effektstärke (Cohens d = 0.33).

Im Symposium wird das Instrument vorgestellt und der methodische Zugang wird diskutiert.

 

Professionelles Wissen von Regel- und Förderlehrkräften zur Förderung bei mathematischen Lernschwierigkeiten

Maria Wehren-Müller1, Susanne Schnepel2, Simon Luger1, Meret Stöckli3, Elisabeth Moser Opitz1
1Universität Zürich, 2Universität Münster, 3HfH Zürich

Theoretischer Hintergrund

Ein wichtiges Ziel von inklusivem Unterricht ist u.a. die fachliche Förderung der Lernenden. Untersuchungen zum professionellen Wissen von Regellehrkräften zeigten, dass das professionelle mathematikbezogene Wissen der Lehrkräfte bedeutsam ist für den Leistungszuwachs der Lernenden (z.B. Baumert et al., 2010; Hill et al., 2005). Bislang liegen nur wenig Erkenntnisse zum professionellen Wissen von (ausgebildeten) Förderlehrkräften vor. Nach Jandl und Moser Opitz (2017) verfügten ausgebildete Förderlehrkräfte über ein höheres professionelles Wissen bezüglich der mathematischen Förderung von Kindern mit einer intellektuellen Beeinträchtigung als Lehrkräfte ohne entsprechende Ausbildung. Feng und Sass (2013) zeigten auf, dass Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten, die von ausgebildeten Förderlehrkräften unterrichtet wurden, bessere Leistungen in Mathematik erzielten als Lernende, die den Unterricht bei nicht sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrkräften besuchten. Im Unterschied zur bisherigen Forschung fokussiert die vorliegende Studie das professionelle Wissen von Regel- und Förderlehrkräften, die im inklusiven Unterricht zusammenarbeiten und gemeinsam die Förderung von Schüler:innen mit mathematischen Lernschwierigkeiten verantworten.

Fragestellungen

1. Wie unterscheiden sich Regel- und Förderlehrkräfte, die gemeinsam in inklusiven Klassen unterrichten, in ihrem professionellen Wissen zur Förderung bei mathematischen Lernschwierigkeiten?

2. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem professionellen Wissen und der sonderpädagogischen Ausbildung der Lehrkräfte?

3. Wirkt sich das professionelle Wissen auf den mathematischen Leistungszuwachs aller Schüler:innen aus?

Methode

Stichprobe

Durchgeführt wurde eine Längsschnittstudie mit N = 156 Lehrkräften (n = 81 Regellehrkräfte, n = 61 Förderlehrkräfte mit sonderpädagogischer Ausbildung, 14 ohne sonderpädagogische Ausbildung) aus 81 inklusiven Klassen (N = 1390 Schüler:innen; n = 716 Jungen, n = 674 Mädchen) im 2. bis 4. Schuljahr.

Instrumente Lehrkräfte

Interview: Mittels eines Ratings von strukturierten Einzelinterviews mit Regel- und Förderlehrkräften wurde das professionelle Wissen der Lehrkräfte hinsichtlich der folgenden Aspekte ermittelt: Behandlung zentraler Inhalte (z.B. Bedeutung dezimales Stellenwertsystem), Verwendung geeigneter Arbeitsmittel und Veranschaulichungen; Kenntnis des Lernstands bzw. der Lernentwicklung ausgewählter Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten (3 Items, McDonalds Omega = .67, Interraterreliabilität G-Koeffizient = .71 bis .81).

Fragebogen: Mittels einer Online-Befragung wurde das professionelle Wissen der Regel- und Förderlehrkräfte zu Merkmalen und geeigneten Fördermaßnahmen bei mathematischen Lernschwierigkeiten erfasst (22 Items, WLE-Reliabilität = .71, Codierübereinstimmung Cohens Kappa = .74 bis .94 von 8 offenen Items).

Instrumente Schüler:innen

Mathematiktests: Es wurde ein von der Forschungsgruppe entwickelter Tests zur Ermittlung der grundlegenden arithmetischen Fähigkeiten der Schüler:innen eingesetzt (Anfang Klasse 2: 28 Items, Cronbachs Alpha = .90; Ende Klasse 2/Anfang Klasse 3: 30 Items, Cronbachs Alpha = .90, Ende Klasse 3/Anfang Klasse 4: 41 Items, Cronbachs Alpha = .92; Ende Klasse 4: 58 Items, Cronbachs Alpha = .92).

Kontrollvariablen: Es erfolgte eine Erhebung des Geschlechts sowie der allgemeinen Denkfähigkeit entsprechend dem Alter (CFT 1-R, Weiß & Osterland, 2013, 150 Items, Cronbachs Alpha = .96; CFT 20-R, Weiß, 2006, 56 Items, Cronbachs Alpha = .82).

Analysen

Es wurden Mittelwertvergleiche und (Mehrebenen-) Strukturgleichungsmodelle bezogen auf die Gesamtstichprobe berechnet.

Ergebnisse

Frage 1: Die Analysen zeigen einen signifikanten Unterschied zwischen Regel- (n = 81) und Förderlehrkräften (n = 75) hinsichtlich des professionellen Wissens zur Förderung bei mathematischen Lernschwierigkeiten zugunsten der Förderlehrkräfte (Interview-Rating: d = 0.88, p < .01; Fragebogen: d = 0.34, p < .05).

Frage 2: Zwischen der Art der Ausbildung (n = 95 Regellehrkräfte und Förderlehrkräfte ohne sonderpädagogische Ausbildung, n = 61 Förderlehrkräfte mit sonderpädagogischer Ausbildung) und dem professionellen Wissen besteht ein (tendenziell) positiver Zusammenhang (Interview-Rating β = .41, p < .001, Fragebogen β = .16, p = .06). Ausgebildete Förderlehrkräfte verfügen demnach über ein höheres professionelles Wissen als Förderlehrkräfte ohne sonderpädagogische Ausbildung und Regellehrkräfte.

Frage 3: Das professionelle Wissen (Fragebogendaten) von Regel- (β = .14, p < .05) und Förderlehrkräften (β = .25, p < .05) hat einen positiven Einfluss auf den Leistungszuwachs der Schüler:innen der Gesamtstichprobe.

Im Symposium werden die Ergebnisse hinsichtlich der eingesetzten Instrumente diskutiert.

 
9:00 - 10:407-06: Kooperatives Lernen zwischen Theorie und Praxis
Ort: H08
 
Symposium

Kooperatives Lernen zwischen Theorie und Praxis

Chair(s): Johanna Marder (Institut für Bildungsanalysen Banden-Württemberg (IBBW), Deutschland)

Diskutant*in(nen): Jasmin Decristan (Universität Wuppertal)

Kooperatives Lernen beschreibt ein pädagogisches Unterrichtskonzept, bei welchem die Schülerinnen und Schüler (SuS) in Kleingruppen gemeinsam an einer vorab strukturierten Aufgabe arbeiten (Johnson & Johnson 1989; Slavin 1995).

Kooperatives Lernen hat sich in vielfacher Hinsicht als wirksam für den Kompetenzerwerb der Lernenden erwiesen (z.B. Kyndt et al., 2013) und wird auch in Bezug auf den Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen häufig propagiert (Büttner et al., 2012). Doch trotz ihres Potenzials werden kooperative Lernformen vergleichsweise weniger häufig eingesetzt (Buchs et al., 2017). Selbst nach Teilnahme an Fortbildungen berichten Lehrkräfte zahlreiche Schwierigkeiten, die sowohl Ressourcen (z.B. Vorbereitungsaufwand), die Schülerschaft (z.B. soziale Kompetenzen), als auch die ablaufenden Lehr-Lernprozesse (z.B. Klassenführung) betreffen (Gillies & Boyle, 2010; Völlinger et al., 2018). Diese Befunde deuten auf eine Diskrepanz zwischen Forschung (empirisch belegte Wirksamkeit) und Praxis (mangelnde Umsetzungsqualität) hin.

Modelle der professionellen Kompetenz von Lehrkräften (Kunter et al. 2013) und der Unterrichtsforschung (Eccles & Roeser, 2011, Helmke 2017) verdeutlichen, dass das Unterrichtsgeschehen durch eine Vielzahl komplexer Prozesse geprägt ist, welche einerseits auch Überzeugungen und Einstellungen der Lehrkraft, als anderseits auch die Schülerschaft miteinschließen. In der Untersuchung des kooperativen Lernens sind diese Ansätze jedoch nicht ausreichend differenziert berücksichtigt.

Das Symposium geht deshalb der übergeordneten Forschungsfrage nach, welche Faktoren die Umsetzung kooperativer Lernformen beeinflussen und wie die Umsetzungsqualität kooperativer Lernformen in der Unterrichtspraxis unterstützt werden kann.

Die Beiträge des Symposiums nehmen jeweils eine individuelle Perspektive auf die Umsetzung und Förderung des kooperativen Lernens ein und adressieren unterschiedliche Forschungsdesiderate. Durch die Verwendung verschiedener methodischer Ansätze und Datenquellen tragen sie zu einer Erweiterung des bisherigen Forschungsstands bei und helfen die Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis vertieft zu ergründen sowie Interventionen abzuleiten.

Beitrag 1 untersucht mithilfe eines Mixed-method Designs und der Kombination verschiedener Datenquellen die Bedeutung von Überzeugungen und Einstellungen der Lehrkräfte zum kooperativen Lernen. Die quantitativen und qualitativen Analysen zeigen Zusammenhänge zwischen den Selbstwirksamkeits- und Nützlichkeitserwartungen der Lehrkräfte in Bezug auf das kooperative Lernen und der Umsetzungsqualität des kooperativen Lernens. Darüber hinaus zeigt sich, dass sich Lehrkräfte mit hoher und niedriger Umsetzungsqualität in ihren Perspektiven auf das kooperative Lernen unterscheiden.

Beitrag 2 untersucht in einem experimentellen Kontrollgruppendesign, in wie weit die Qualität der transaktiven Kommunikation in den Schülergruppen durch ein Training der Kommunikationsfähigkeiten der SuS gesteigert werden kann. Es zeigen sich positive Trainingseffekte in Bezug auf die vertiefende Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand in der Partnerarbeitsphase, als auch auf die wahrgenommene Zufriedenheit der SuS mit der Zusammenarbeit.

Beitrag 3 ordnet das pädagogische Konzept des kooperativen Lernens konzeptuell in das Beschreibungssystem der Sicht- und Tiefenstrukturen des Unterrichts ein und untersucht, in wie weit die Lehr-Lernprozesse beim kooperativen Lernen mit bekannten Qualitätsmerkmalen eines lernwirksamen Unterrichts zusammenhängen. Es zeigen sich reziproke Zusammenhänge zwischen Umsetzungsqualität und -quantität kooperativen Lernens mit der Klassenführung, konstruktiver Unterstützung und kognitiver Aktivierung.

Abschließend werden die Beiträge in der Gesamtschau mit Blick auf ihre Potenziale zur Auflösung der Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis diskutiert. Es werden Implikationen für die Umsetzung kooperativer Lernformen sowie für den Wissenschafts-Praxis Transfer in der Lehrkräftebildung herausgearbeitet.

 

Beiträge des Symposiums

 

Kooperatives Lernen in der Praxis – eine Mixed-Methods-Studie zur Umsetzungsqualität

Katja Adl-Amini1, Vanessa Völlinger2, Agnes Eckart3
1TU Darmstadt, 2PH Freiburg, 3Universität Giessen

Kooperatives Lernen (KL) umfasst Unterrichtsmethoden, bei denen die Schüler*innen in kleinen Gruppen zusammenarbeiten, um sich gegenseitig beim Lernen zu helfen und ihre Lernergebnisse zu verbessern. Als Basiselemente von KL gelten: (1) positive Interdependenz, (2) individuelle Verantwortlichkeit, (3) fördernde Interaktion, (4) soziale Fähigkeiten und (5) Reflexionsprozesse (Slavin, 1995; Johnson & Johnson, 1989). Die positiven Wirkungen von KL auf fachliche sowie motivationale Lernziele sind vielfach belegt (Ginsburg-Block et al. 2006; Kyndt et al. 2013). Die Wirksamkeit hängt jedoch von der Qualität der Umsetzung ab, die durch die Implementation der fünf Basiselemente bestimmt wird (Supanc et al. 2017; Veenman et al. 2002). Studien deuten vielfach darauf hin, dass diese Umsetzung herausfordernd für Lehrkräfte ist und schlussfolgern zahlreiche Schwierigkeiten, die Lehrkräfte auch nach Teilnahme an Fortbildungen berichten (Buchs et al. 2017). Die Umsetzungsqualität ist zumeist eher gering, die Basiselemente werden nur von wenigen Lehrkräften vollständig implementiert (Abramczyk & Jurkowski 2020; Gillies & Boyle 2010; Völlinger et al. 2018). Zudem zeigen sich Zusammenhänge der Umsetzungsqualität mit den Überzeugungen der Lehrkräfte sowie Einschätzungen der Wirksamkeit der Methode (ebd.). Es ist jedoch anzumerken, dass die Umsetzungsqualität häufig in Selbstberichten erhoben wurde, Beobachtungstudien finden sich nur selten (Veenmann, 2000; Veldmann et al., 2020), obwohl nur diese Informationen zur Umsetzung von KL in der Praxis liefern. Zudem finden sich kaum Studien, die Lehrkräfte mit hoher und niedriger Implementationsqualität vergleichen, obwohl dies hilfreich sein könnte, um Gelingensbedingungen für die Umsetzung von KL in der Praxis ableiten und gezielte Interventionen entwickeln zu können. Hier setzt die vorliegende Studie an.

Ziel und Methode:

Ziel der Studie ist die Untersuchung der Umsetzungsqualität in der Unterrichtspraxis. Folgende Forschungsfragen stehen dabei im Fokus:

1. Wie werden die Basiselemente von KL in der Praxis umgesetzt?

2. Mit welchen Überzeugungen hängt die Umsetzungsqualität von KL zusammen?

3. Wie unterscheiden sich Lehrkräfte mit hoher und niedriger Umsetzungsqualität in Bezug auf ihre Perspektive auf KL?

Es wurde ein sequentielles Mixed-Methods-Design (quantitativ-qualitativ; Ponce & Pagán-Maldonado 2015) angewendet. In insgesamt 49 Klassen wurden Fragebögen zu Überzeugungen und Einschätzungen der Umsetzung eingesetzt. In 30 Klassen wurden zudem Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt und die Umsetzungsqualität anhand einer Beobachtungsskala mit Indikatoren für die Basiselemente von KL bewertet (11 Items, Interraterübereinstimmung >63). Zudem wurden strukturierte Interviews mit Lehrkräften zu ihrer Umsetzung durchgeführt, von denen vier in Bezug auf die Umsetzungsqualität kontrastiv ausgewählten Fällen mittels thematischer Kodierung (Strauss 1991, adaptiert nach Flick 2021) ausgewertet wurden.

Ergebnisse und Diskussion;

Die Ergebnisse zeigen eine eher geringe Umsetzungsqualität von KL. Nur 7% der beobachteten Lehrkräfte setzten die Basiselemente um. Selbst positive Interdependenz und individuelle Verantwortlichkeit, die beiden wichtigsten Elemente von KL, wurden nur in 17 % der beobachteten Unterrichtsstunden umgesetzt. Die Ergebnisse der Fragebögen zeigen, dass die Umsetzungsqualität mit der Bewertung von KL durch die Lehrkräfte in Bezug auf die Eignung für verschiedene Lernziele (r=.40*) und unterschiedliche Schüler*innen (r=.36*) sowie die Selbstwirksamkeitserwartungen der Lehrkräfte (r=.50*) zusammenhängt. Die qualitative Analyse der Lehrerinterviews zeigte Unterschiede zwischen Lehrkräften mit hoher und niedriger Umsetzungsqualität hinsichtlich ihrer Perspektive auf KL. Lehrkräfte mit hoher Umsetzungsqualität schätzen den Wert der sozialen Lernprozesse beim KL als höher ein und fühlen sich stärker für den Erfolg von KL verantwortlich. Ähnliche Ergebnisse finden sich in der Studie von Veldmann et al. (2022) mit fortgebildeten Lehrkräften, was darauf hinweist, dass die Vermittlung von Wissen zu KL nicht ausreicht, um eine hohe Umsetzungsqualität zu ermöglichen. Die Ergebnisse zeigen eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis und verweisen auf die Bedeutung von Überzeugungen für die Umsetzungsqualität von KL. Unter Bezugnahme auf Modelle zur professionellen Kompetenz von Lehrkräften (Kunter et al. 2013) sollten zukünftige Interventionen auch diese Bereiche fokussieren, um eine negative Spirale zwischen Überzeugungen und der Umsetzung von KL zu vermeiden.

 

Förderung kooperativen Lernens durch ein unterrichtsintegriertes Training der Schülerkommunikation

Lukas Mundelsee1, Susanne Jurkowski2, Martin Hänze3
1Universität Heidelberg, 2Universität Erfurt, 3Universität Kassel

Studien belegen die positiven Effekte kooperativen Lernens auf den Wissenserwerb (Kyndt et al., 2013). Die Wirksamkeit basiert auf einer intensiven inhaltlichen Lernerkommunikation (Webb, 2009). In der transaktiven Kommunikation nehmen die Gruppenmitglieder in ihren Beiträgen aufeinander Bezug, indem sie Ideen ihrer Lernpartnerinnen und Lernpartner aufgreifen, sie klären, ergänzen, hinterfragen oder mit weiteren Ideen zusammenführen und dadurch gemeinsam Wissen konstruieren (Berkowitz et al., 2008). Damit spiegelt die transaktive Kommunikation den besonderen Nutzen kooperativen Lernens im Vergleich zu einer individuellen intensiven Auseinandersetzung mit den Lerninhalten wieder (Chi & Wylie, 2014).

Lernenden fällt es jedoch oftmals schwer, im gemeinsamen Arbeitsprozess intensiv über die Lerninhalte zu kommunizieren, und Lehrkräfte wie auch Schülerinnen und Schüler betrachten geringe Fähigkeiten zur Kommunikation und Kooperation als zentrale Herausforderung für lernwirksames kooperatives Lernen (Abramczyk & Jurkowski, 2020; Le et al., 2018). Diese geringen Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten der Lernenden waren für Lehrkräfte einer der zentralen Gründe für den relativ seltenen Einsatz kooperativen Lernens (Abramczyk & Jurkowski, 2020). Ein weiterer Grund für den seltenen Einsatz war ein hoher Druck durch das Curriculum (Abramczyk & Jurkowski, 2020). Somit sollte eine Förderung der Kommunikationsfähigkeiten möglichst gut in den weiteren Unterrichtsablauf integriert sein.

In der vorliegenden Studie wurde deshalb ein in den Unterricht integriertes Training der transaktiven Kommunikation entwickelt und evaluiert. Das Training wurde mit einem quasiexperimentellen Prätest-Posttest-Design an 594 Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse aus 23 Sekundarschulklassen getestet. Die Klassen wurden zufällig entweder der Experimental- (Transaktivitätstraining) oder der Kontrollgruppe (Präsentationstraining) zugewiesen. Die Trainings beider Gruppen dauerten 2,5 Schultage und wurden mit dem fächerübergreifenden Thema Nachhaltige Ressourcennutzung kombiniert. Zudem war in beiden Gruppen die Zeit an kooperativen Lehr-/Lernformen identisch. Im Unterschied zur Kontrollgruppe, die ein Präsentationstraining erhielt, bekam die Experimentalgruppe aber im Zuge des kooperativen Lernens Instruktionen, Übungen und Feedback zur transaktiven Kommunikation. Vor und nach der Intervention wurde die Kommunikation der Lernenden während einer Partnerarbeitsphase aufgezeichnet, später transkribiert und im Hinblick auf transaktive Aussagen kodiert. Für die Transaktivität wurden niedrig-transaktive (Beantworten, Paraphrasieren, Nachfragen) und hoch-transaktive (Ergänzen, Hinterfragen, Gegenüberstellen, Zusammenführen) Aussagen unterschieden. Die Kodierungen liegen für eine parallelisierte Teilstichprobe von n = 164 Schülerinnen und Schüler vor. Außerdem wurde zu beiden Messzeitpunkten der Wissenserwerb der Lernenden getestet und sie berichteten über ihre Zufriedenheit mit der Zusammenarbeit auf einer sozial-emotionalen Ebene. Für alle abhängigen Variablen wurden im Posttest höhere Werte in der Experimentalgruppe als in der Kontrollgruppe erwartet.

Unter Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur der Daten (Messzeitpunkte, Dyaden, Klassen) ergaben sich positive Effekte des Transaktivitätstrainings auf niedrig-transaktive und hoch-transaktive Beiträge. Es zeigten sich jedoch keine Unterschiede zwischen den Bedingungen im Wissenserwerb. Darüber hinaus berichteten die Schülerinnen und Schüler in der Experimentalgruppe über eine höhere Zufriedenheit mit der Zusammenarbeit. Die Ergebnisse lassen sich dahingehend interpretieren, dass ein in den Unterricht integriertes Transaktivitätstraining positive Effekte auf den kooperativen Arbeitsprozess haben kann, gleichzeitig die Umsetzung neu gelernter Kommunikation womöglich so viele kognitive Ressourcen der Lernenden gebunden hat, dass sich noch keine positiven Effekte auf den Wissenserwerb ergeben konnten.

 

Kooperatives Lernen zwischen Sicht- und Tiefenstrukturen des Unterrichts

Johanna Marder1, Katja Adl-Amini2, Vanessa Völlinger3, Alexandra Dehmel1, Benjamin Fauth1
1IBBW, 2TU Darmstadt, 3PH FReiburg

Die positiven Effekte des kooperativen Lernens auf das fachliche Lernen, sozialer Kompetenzen und Motivation der Schülerinnen und Schüler (SuS) sind gut belegt (Kyndt et al., 2013), dennoch wird kooperatives Lernen auch nach Fortbildungsbesu-chen in der Unterrichtspraxis nur wenig eingesetzt (Völlinger et al., 2018).

Tiefere Erkenntnisse, wie kooperatives Lernen im Unterricht gelingen und gefördert werden kann, können durch eine Untersuchung der ablaufenden Lehr-lernprozesse gewonnen werden. Dazu ordnet die gegenwärtige Studie das pädagogische Konzept des kooperativen Lernens mit Blick auf die Sicht- und Tiefenstrukturen des Unterrichts (Decristan et al., 2020) ein.

Auf Ebene der Sichtstruktur wird kooperatives Lernen als Sozialform umgesetzt, bei welcher die SuS in Kleingruppen zusammenarbeiten. Kooperative Lernaufgaben zeichnen sich jedoch weniger durch die Sozialform, als vielmehr durch die Basisele-mente des kooperativen Lernens (z.B., positive Interdependenz, Übernahme individueller Verantwortung; Slavin, 1995) aus, welche tieferliegende Lehr-lernprozesse (z.B. vertiefende Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand) auf Ebene der Tiefenstrukturen anregen können.

Inwieweit kooperatives Lernen jedoch qualitätsvoll umgesetzt werden und lernwirksam werden kann, hängt möglicherweise mit den Qualitätsdimensionen eines lernwirksamen Unterrichts (Klassenführung, konstruktive Unterstützung, kognitive Aktivierung; Klieme et al., 2001) zusammen.

Blickt man genauer darauf, wie kooperative Lernaufgaben organisiert sind und mit welcher Qualität soziale und kognitive Prozesse bei der Zusammenarbeit ablaufen, finden sich aus Perspektive der Unterrichtsforschung zahlreiche Ansatzmöglichkeiten, um die Qualitätsdimensionen eines lernwirksamen Unterrichts zu adressieren: Während des kooperativen Lernens beobachtet und unterstützt die Lehrkraft die Lernprozesse in angemessener Weise (z.B. durch Scaffolding und Feedback) und setzt somit kognitive Aktivierung und konstruktive Unterstützung um. Durch effektive Klassenführung (z.B. Monitoring) wird ein störungsfreies Arbeitsumfeld sichergestellt. Ebenso wäre denkbar, dass beispielsweise eine effektive Klassenführung und kognitiv aktivierende Aufgabenstellungen die Rahmenbedingungen für eine hochwertige Implementation kooperativer Lernformen sicherstellen.

In wie weit Klassenführung, konstruktive Unterstützung und kognitive Aktivierung je-doch in einer eher schülerzentrierten Lernform wie dem kooperativen Lernen umge-setzt werden, wurde empirisch kaum untersucht.

Ziele & Methode:

Der Beitrag setzt an dieser Stelle an und untersucht in einer umsetzungspraktischen und einer konzeptionellen Fragestellung,

- wie Lehrkräfte die Umsetzung des kooperativen Lernens wahrnehmen und welchen Herausforderungen sie dabei begegnen

- inwieweit die Lehrlernprozesse beim kooperativen Lernen mit den Qualitäts-merkmalen des Unterrichts zusammenhängen

Die Datenerhebung erfolgte im Rahmen einer wissenschaftlich begleiteten Fortbil-dungsreihe zum kooperativen Lernen, an welcher Lehrkräfte der Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg teilnahmen. Gemeinschaftsschulen stellen eine integrative Schulform dar, bei welcher SuS unterschiedlicher Leistungsniveaus gemeinsam in der gleichen Klasse unterrichtet werden.

Mittels Online-Fragebögen wurden die teilnehmenden Lehrkräfte in einem Prä-post Design zu ihrem (Vor-) Wissen, Einstellungen, sowie zur Quantität und Qualität der Umsetzung des kooperativen Lernens in Ihrem Unterricht befragt. Darüber hinaus wurden die Lehrkräfte gebeten, ihren Unterricht anhand der Dimensionen Klassenführung, konstruktive Unterstützung und kognitive Aktivierung einzuschätzen.

An der Befragung nahmen N = 310 Lehrkräfte (71 % weiblich) mit M = 9.9 (SD = 7.1) Jahren Unterrichtserfahrung teil.

Ergebnisse & Diskussion:

Insgesamt geben die Lehrkräfte an, die Basiselemente des kooperativen Lernens weitgehend umsetzen zu können, berichten jedoch auch Herausforderungen. Fakto-renanalytisch können diese in drei übergeordnete Bereiche eingeteilt werden: Res-sourcen, Aufgaben der Lehrkraft, Verhalten & Kompetenzen der Schülerschaft.

Darüber hinaus weisen erste Ergebnisse auf reziproke Zusammenhänge zwischen der Klassenführung, instruktionaler Unterstützung und kognitiven Aktivierung im Unterricht und der Umsetzung des kooperativen Lernens hin. Diese Zusammenhänge ergeben sich hinsichtlich der Umsetzungshäufigkeit (r = .18 bis r = .29, p <.05) als auch der Umsetzungsqualität (r = .36 bis r = .39, p <.05). Es zeigte sich jedoch kein Zusammenhang zwischen der Quantität und der Qualität der Umsetzung kooperativer Lern-formen.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass kooperatives Lernen zu einem lernwirksamen Unterricht im Sinne der Qualitätsdimensionen beiträgt. Ebenso können die Qualitätsdimensionen dazu beitragen, die bei kooperativen Lernformen ablaufenden Lehr-lernprozesse zu unterstützen und bekannten Umsetzungshindernissen (z.B. Störverhalten der SuS; Abramczyk & Jurkowski, 2020) zu begegnen.

 
9:00 - 10:407-07: Teilhabe an Bildung und Gesellschaft in Zeiten der Digitalität
Ort: H06
 
Symposium

Teilhabe an Bildung und Gesellschaft in Zeiten der Digitalität

Chair(s): Pia Sander (Universität Duisburg-Essen, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Uta Hauck-Thum (LMU München), Jana Heinz (Hochschule München)

Die Digitalisierung hat sich tief in sämtliche Funktionssysteme der Gesellschaft und Handlungspraktiken eingebettet und bewirkt somit umfassende gesellschaftliche Veränderungen in den Bereichen des täglichen Lebens, Lernens und Arbeiten (Kerres, 2020). Dieser (digitale) Transformationsprozess betrifft Menschen aller Altersgruppen und Lebensphasen - wir können ihm nicht mehr ausweichen, sondern müssen die Möglichkeit haben, an ihm teilzuhaben. Teilhabe an der (digitalen) Gesellschaft setzt die Befähigung zu einer informierten, aktiven und verantwortlichen Mitgestaltung der Welt voraus (Hafer, Mauch & Schumann, 2019). Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen hierfür betreffen Aspekte auf individueller und institutioneller Ebene. Individuen müssen über Kompetenzen und Fertigkeiten verfügen, die ihnen eine aktive gesellschaftliche und berufliche Teilhabe in einer von Digitalisierung geprägten Welt ermöglichen. Die Europäische Kommission (2006) spricht in diesem Zusammenhang von „21st-Century-Skills“, die beschreiben, was Lernenden Heute und in Zukunft können sollten (Voogt et al., 2013). Der Erwerb dieser (Digital-)Kompetenzen hängt in erheblichem Maße von sozialer Herkunft und den damit verbundenen Chancen und Hindernissen ab (Eickelmann et al., 2019). Eine bedeutsame Aufgabe wird demnach Bildungsinstitutionen entlang der gesamten Bildungskette zugeschrieben, „Menschen in allen Lebensphasen zu unterstützen und zu begleiten sowie unterschiedliche Lernsettings zu nutzen, um digitale Kompetenzen zu vermitteln“ (Wilmers et al., in Druck). Bildung wird somit zur grundlegenden Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und erfordert von Bildungsinstitutionen, Organisations- und Schulentwicklungsprozesse unter dieser Verantwortlichkeit zu betrachten.

Dieses Symposium untersucht Voraussetzungen von Teilhabe unter den Vorzeichen der Digitalisierung. Es widmet sich der Frage wie wirksame Bildungsprozessen zur Förderung von Teilhabe gestaltet werden können. Dabei beleuchtet es verschiedene Akteursebenen (Individuum und Institution) sowie Bildungsbereiche (Schule und Erwachsenen-/Weiterbildung. Das gemeinsame theoretisches Fundament bildet das Input-Prozess-Output-Model für Schulqualität (Eickelmann & Drossel, 2019), das von diversen Voraussetzungen (Input) und prozessorientierten Faktoren (Prozess) ausgeht, die den Output in Form von Kompetenzen der Lernenden (Kompetenzen) und deren gesellschaftliche Teilhabe sowie beruflichen Erfolg und Befähigung zum lebenslangen Lernen (Outcome) beeinflussen. Darüber hinaus teilen die Beiträge die Annahme, dass die Digitalisierung sowohl Treiber von gesellschaftlicher Veränderung ist als auch das Potenzial bietet, durch den Einsatz digitaler Medien und digitalsierungsbezogenen Entwicklungsprozessen Teilhabe an einer sich wandelnden Gesellschaft zu fördern.

Beitrag 1 präsentiert Ergebnisse einer Forschungssynthese zur Frage, wie das Prüfen von Informationen von Schüler:innen durch den Einsatz digitaler Medien gefördert werden kann. Die Ergebnisse des Critical Reviews zeigen erfolgreiche didaktische Umsetzungen auf, um die Informationskompetenz und somit die Möglichkeit zur Teilhabe in einer digital geprägten Gesellschaft von Schüler:innen zu fördern.

Beitrag 2 untersucht Schulen, die trotz einer besonders herausfordernder Schülerkomposition Schüler:innen mit unerwartet hohen digitalen Kompetenzen aufweisen. Die Autorinnen gehen der Frage nach, welche Voraussetzungen Schulträger an diesen organisational resilienten Schulen schaffen, um einen chancengerechten digitalisierungsbezogenen Schulentwicklungsprozessen zu ermöglichen. Die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Analyse von fünf Interviews mit Vertreter:innen von Schulträgern zeigen, dass diese erheblich zur Chancengerechtigkeit auf allen Dimensionen der digitalisierungsbezogenen Schulentwicklung beitragen können.

Beitrag 3 stellt Ergebnisse einer Forschungssynthese vor, die die Voraussetzungen für die Teilnahme an Bildungsangeboten mit digitalen Medien durch benachteiligte Erwachsene herausarbeitet. Ein induktiv-thematisches Clustering führt zu drei Kategorien, die die Teilnahme an digitalisierungsbezogener Bildung benachteiligter Erwachsene beeinflussen können: Gestaltungsfaktoren, Faktoren aufseiten der Teilnehmenden sowie Ungleichheiten in Zugang und Nutzung.

Beitrag 4 adressiert den Einsatz von digitalen Medien in Grundbildungskursen und untersucht die institutionellen Voraussetzungen hierfür. Die Ergebnisse der Mixed-Method Studie mit Institutionsleitenden, konzeptionell Tätigen sowie Kursleitungen bieten Erkenntnisse über den Status und die Entwicklungspotenziale im Bereich IT-Infrastruktur/Ausstattung sowie Professionalisierung des Personals. Die Autorinnen diskutieren die Ergebnisse in Hinblick auf ihre Implikationen für gesellschaftliche Teilhabe.

Im Anschluss an das Symposium diskutieren Prof. Uta Hauck-Thum und Prof. Dr. Jana Heinz unter Einbezug der Teilnehmenden Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe in Zeiten der Digitalität aus einer übergeordneten und interdisziplinären Perspektive (vgl. Hauch-Thum, Heinz & Hoiß, 2023).

 

Beiträge des Symposiums

 

Förderung der Informationskompetenz von Schüler:innen im digitalen Kontext in Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe

Anna Heinemann, Pia Sander, Jens Leber
Universität Duisburg-Essen

Hintergrund:

Schüler:innen stoßen im Internet auf eine enorme Anzahl an Informationen. Für die effiziente Beschaffung relevanter und vertrauenswürdiger Informationen ist es deshalb wichtig, den Überblick über sie zu behalten und sie einordnen zu können. Informationskompetenz ist demnach für eine gesellschaftliche Teilhabe von zentraler Bedeutung, da sie dazu befähigt, fundierte Entscheidungen zu treffen, Daten kritisch zu analysieren und sich aktiv an Diskussionen zu beteiligen. Bei der Förderung von Informationskompetenz haben Bildungsinstitutionen eine zentrale Aufgabe, denn sie sollen Lernende befähigen unabhängig und selbstbewusst mit Informationen in der digitalen Landschaft umzugehen (Griesbaum, 2022; Kerres, 2020; Senkbeil et al., 2019; United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization [UNESCO], 2013). Jedoch ist die Gestaltung von Interventionen für die Lehrenden herausfordernd, da sie diese Anforderung in konkrete (fach-)didaktische Konzepte übersetzen müssen. Digitale Medien können hierbei möglicherweise sinnvoll eingesetzt werden (Kerres, 2018). Dieser Beitrag betrachtet verschiedenen theoretische Zugänge von Informationskompetenz (z.B. ACRL; 1989 und Klingenberg, 2016) und verwandten Konzepten, wie Critical Thinking. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie Informationskompetenz von Schüler:innen durch den Einsatz digitaler Medien im Unterricht gefördert werden kann und diskutiert die Ergebnisse im Kontext von gesellschaftlicher Teilhabe.

Methode:

Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden Ergebnisse präsentiert basierend auf einer Forschungssynthese (Leber et al., 2023), die sich am Format des Critical Reviews (Grant und Booth, 2009) orientiert. Dieser beinhaltete eine systematische Recherche der Literatur mit relevanten Suchbegriffen, die in Anlehnung an das PICO-Schema (Petticrew & Roberts, 2006, S. 38) definiert wurden und die Themenblöcke Schule und Unterricht, digitale Medien sowie Informationskompetenz umfassten. Die Recherche wurde in den Datenbanken ERIC, ERC, WoS und IEEE Xplore für den Zeitraum 2016 bis 2023 von einer Informationswissenschaftlerin durchgeführt. Aufgrund des großen Datensatzes (4134 Publikationen) wurde die Treffermenge die Publikationszeitspanne auf 2018 bis 2023 eingegrenzt. Hieraus resultierte eine Gesamttreffermenge von 3098 Datensätzen für das Titel- und Abstractscreening. Schließlich flossen 533 Studien in die Volltextprüfung ein. 22 Studien wurden final in das Review aufgenommen und in Hinblick auf die Fragestellung analysiert und synthetisiert. Es wurden dabei ausschließlich Beiträge berücksichtigt, die empirisch vorgingen und konkrete Interventionen untersuchten.

Ergebnisse:

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass digitale Medien sowohl als Lerninstrument, Lernumgebung und Lerninhalt zur Stärkung von Informationskompetenz eingesetzt werden können. Dabei können sie an bisherige Erkenntnisse über das Potenzial digitaler Medien zur Förderung von Informationskompetenzen anknüpfen (Kerres, 2018). Analysierte Studien deuten diesbezüglich u.a. darauf hin, dass die Nutzung von digitalen Tools die Bewertung von Informationen in bestimmten didaktischen Rahmen verbessern kann (Ackermans et al., 2021; Axelsson et al., 2021). Wurden Tools mit integrierten Funktionen zur Überprüfung von Informationen in der Intervention angeboten, wurden umso mehr Verbesserungen festgestellt (Nygren et al., 2021). Ein Desiderat, welches sich aus dem Review ergibt, sind Studien, die sich dem Forschungsgegenstand der Informationskompetenz einheitlich nähern, da so Ergebnisse besser synthetisiert und damit Übertragbarkeiten und Implikationen für die Schulpraxis sowie curriculare Umsetzungen klarer herausgearbeitet werden könnten. In diesem Sinne wäre auch die transparente Nutzung von Forschungsinstrumenten hilfreich, damit deutlich wird, was in den Studien gemessen wurde (Buntins et al., 2021) und um die Reproduzierbarkeit der Studien zu gewährleisten. Dies könnte sowohl auf Forschungsebene zu noch weitergehenden Erkenntnissen führen, als auch für die Schulpraxis von Relevanz sein, um mehr Klarheit darüber zu verschaffen, wie die Informationskompetenz von Schüler:innen und damit ihre Mündigkeit und Teilhabe in einer digital geprägten Welt im Schulraum unterstützt werden können.

 

Voraussetzungen zur Unterstützung von chancengerechten digitalisierungsbezogenen Schulentwicklungsprozessen durch Schulträger

Kerstin Drossel, Birgit Eickelmann, Ricarda Bette, Jan Niemann
Universität Paderborn

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung

Schulische digitalisierungsbezogene Bildungsprozesse entfalten in Deutschland bisher nicht in erforderlicher Weise ihre Wirksamkeit (Scheiter, 2021). Dies betrifft vor allem auch die Förderung digitaler Kompetenzen von Schüler:innen aus sozial benachteiligten Lagen (Drossel et al., 2020). In diesem Zusammenhang zeigen beide bisherigen Zyklen der ‚International Computer and Information Literacy Study‘ (ICILS 2013, 2018) auf, dass die digitalen Kompetenzen von Achtklässler:innen in allen an der Studie beteiligten Bildungssystemen sozialen Disparitäten unterliegen und diese für Deutschland besonders deutlich ausfallen (Fraillon et al., 2019; Senkbeil et al., 2019). Dennoch lassen sich Schulen identifizieren, die die digitale Spaltung (van Deursen & van Dijk, 2015) überwinden und die digitalen Kompetenzen ihrer Schüler:innen besonders gut fördern (Drossel et al., 2020). Diese Schulen werden als organisational resilient angesehen (Schelvis et al., 2014). Schulträger, deren Handlungsrealität in Schulqualitätsmodellen (z. B. Eickelmann & Drossel, 2019) auf der Inputebene zu verorten ist, weisen dabei in der Mehrebenenstruktur des Schulsystems Entwicklungspotenziale zur Unterstützung der Überwindung von digitalisierungsbezogenen Bildungsdisparitäten auf (Schulze et al., 2022).

Daher wird in diesem Beitrag unter Rückbezug auf die fünf Dimensionen der digitalisierungsbezogenen Schulentwicklung (Organisationsentwicklung, Unterrichtsentwicklung, Personalentwicklung, Kooperationsentwicklung und Technologieentwicklung, vgl. Eickelmann & Gerick, 2017) der Frage nachgegangen, welche Voraussetzungen zur Unterstützung von chancengerechten digitalisierungsbezogenen Schulentwicklungsprozessen durch Schulträger an organisational resilienten Schulen geschaffen werden.

Methodik

Um die Forschungsfrage zu beantworten, werden Daten des BMBF-geförderten Projektes ‚Unerwartbar erfolgreiche Schulen im digitalen Wandel – eine qualitative Vertiefungsstudie zu ICILS 2018’ (UneS-ICILS 2018; Laufzeit 2020-2023) herangezogen. Schulen werden als ‚unerwartbar erfolgreich‘ bzw. als organisational resilient identifiziert, wenn der mittlere sozioökonomische Status (SES) der Achtklässler*innen in den Daten der Studie ICILS 2018 unterdurchschnittlich ausfiel (untere 40% im HISEI; Highest International Socio-Economic Index of Occupational Status) und die mittleren digitalen Kompetenzen (5 Plausible Values) sich überdurchschnittlich in der repräsentativen Gesamtverteilung für Deutschland einordnen ließen. Diese Kriterien erfüllen 17% (N=36) der teilnehmenden Schulen in ICILS 2018 in Deutschland (Drossel et al., 2020).

In die hier vorgestellten, die ICILS-2018-Studie vertiefenden, inhaltsanalytischen Analysen (Mayring, 2010) fließen die Daten von qualitativen, leitfadengestützen Interviews ein, die im Sommer 2022 mit Vertreter:innen von Schulträgern (N=5) dieser organisational resilienten Schulen geführt wurden. Der Leitfaden wurde auf Basis von Schulqualitätsmodellen (z. B. Eickelmann & Drossel, 2019) sowie unter Berücksichtigung der fünf Dimensionen der digitalisierungsbezogenen Schulentwicklung (vgl. Eickelmann & Gerick, 2017) entwickelt.

Ergebnisse und Implikationen

Mit Blick auf eine chancengerechte digitalisierungsbezogene Schulentwicklung auf der Ebene der Organisationsentwicklung (1) als eine der fünf Dimensionen der digitalisierungsbezogenen Schulentwicklung (Eickelmann & Gerick, 2017) zeigt sich u.a., dass sich UneS-Schulträger vor allem als übergreifende Unterstützungsinstanz wahrnehmen, die die Verantwortung für die Umsetzung der (pädagogisch-technischen) Prozesse chancengerechter digitalisierungsbezogener Schulentwicklungsprozesse übernehmen. Bezüglich der Dimension der Unterrichtsentwicklung (2) passen UneS-Schulträger u. a. ihre Unterstützung der (pädagogisch-technischen) Prozesse flexibel an die diesbezüglichen Bedarfe der UneS-Schulen an. Hinsichtlich der Dimension Personalentwicklung (3) zeigt sich u. a., dass der Schwerpunkt der Schulträger bei Lehrkräftefortbildungen im Bereich der technischen Anwendungen im Multiplikator:innenverfahren liegt. Die Ergebnisse zeigen in Bezug auf die Kooperationsentwicklung (4), dass u. a. eine transparente, zuverlässige und wertschätzende Kommunikation zwischen Schulträgern und schulischen Akteuren hinsichtlich chancengerechter digitalisierungsbezogener Entwicklungsprozesse entscheidend ist. Im Hinblick auf eine chancengerechte digitalisierungsbezogene Technologieentwicklung (5) zeigen die Ergebnisse, dass die Schulträger u. a. neben allen Ausstattungs- und Anschaffungseinzelfragen im Grunde die organisatorische Hauptrolle bei der Planung der lernförderlichen IT-Ausstattung der Schulen spielen.

Auf der Grundlage der UneS-Forschungsergebnisse ergibt sich, dass Schulträger einen maßgeblichen Beitrag leisten können, Chancengerechtigkeit im Kontext der Digitalisierung auf allen fünf Ebenen der Schulentwicklung zu unterstützen. Für nachhaltige und damit wirksame chancengerechte digitalisierungsbezogene Schulentwicklung sind Schulen darüber hinaus durch systematische Unterstützung auf der Prozess- und Systemebene zu begleiten. Dabei können die in dem UneS-Projekt entwickelten Transferprodukte zur Gestaltung chancengerechter digitalisierungsbezogener Schulentwicklungsprozesse genutzt werden.

 

Chancen und Herausforderungen für die Teilnahme an Bildung mit digitalen Medien durch benachteiligte Erwachsene

Jan Koschorreck, Angelika Gundermann
Deutsches Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für lebenslanges Lernen e.V.

Hintergrund

Die Teilnahme an Bildung ist ein zentraler Baustein für die Realisierung gesellschaftlicher Teilhabe. Teilnahme (auch Beteiligung) ist der messbare Indikator für Teilhabe und wird von vielen Large Scale Surveys und anderen großen Studien erfasst (Boeren, 2023). Im internationalen Diskurs bezeichnet Teilnahme nicht allein das Gegenteil von Nicht-Teilnahme, mit dem Begriff Teilnahme (engl. participation) wird hier das Versprechen auf positive Entwicklung impliziert (vgl. z.B. UNESCO Institute for Lifelong Learning, 2020). Die Verbreitung und der Einsatz digitaler Medien in der Erwachsenen- und Weiterbildung (EB/WB) nimmt zu und hat zuletzt bedingt durch die Pandemie einen Schub erfahren (Rohs, 2020). Zu den Menschen mit geringen digitalen Kompetenzen gehören u. a. Ältere, gering Literalisierte und gering Qualifizierte, drei Gruppen von Erwachsenen, die damit grundsätzlich als benachteiligt bei der Bildungsteilhabe betrachtet werden können (Bachmann et al., 2021). Im Rahmen dieses Beitrags verstehen Autorin und Autor unter Teilnahme sowohl den Fakt an sich (im Gegensatz zur Nicht-Teilnahme) als auch den Prozess hinsichtlich verschiedener qualitativer Aspekte, dessen Output entsprechende Digitalkompetenzen sind, die wiederum zur Realisierung gesellschaftlicher Teilhabe beitragen (vgl. Eickelmann & Drossel, 2019).

Forschungsfrage und Methode

Der Beitrag stellt Ergebnisse einer Forschungssynthese vor (Koschorreck & Gundermann, in Vorb.). Das Review wurde in Anlehnung an die Methode des Critical Review erstellt (Grant & Booth, 2009) und sichtet und analysiert empirische Arbeiten aus den Veröffentlichungsjahren 2016 bis Januar 2023, die sich auf die o. g. Gruppen beziehen. Die Forschungsfrage lautet: Welche Faktoren erleichtern oder erschweren benachteiligten Erwachsenen die Teilnahme an Bildung mit digitalen Medien?

Die Recherche umfasst deutsche und englische Titel in den Datenbanken ERIC, ERC, Web of Science, Fachportal Pädagogik und IEEE Explore. In den Suchstrings wurden grundsätzlich die Schlagworte „Erwachsenenbildung/Adult Education“, „Digital*“, „Teilnahme/Participation“ sowie die fokussierten Gruppen (Ältere/Older, gering Literalisierte/low literacy, gering Qualifizierte/lower educated) integriert und passende Trunkierungen und Synonyme bzw. verwandte Begriffe eingesetzt. Die Suchterme bzw. ihre Kombinationen wurden in einem iterativen Prozess mehrfach angepasst, um die Trefferquote zu verbessern. Die Recherche ergab 3.321 Treffer. Nach dem initialen Screening verblieben 259 Titel, die im Volltext geprüft wurden.

Ergebnisse

Schlussendlich wurden 35 Studien synthetisiert. Die Studien sind ungleich über die Gruppen verteilt (Ältere: 23, gering Literalisierte: neun, gering Qualifizierte: sieben). Repräsentative Samples werden vor allem in den ermittelten Sekundäranalysen zugrunde gelegt, ansonsten werden überwiegend anfallende Stichproben berichtet. Mittels eines induktiven thematischen Clusterings konnten drei übergeordnete Kategorien ermittelt werden: Gestaltungsfaktoren, Faktoren aufseiten der Teilnehmenden sowie Ungleichheiten in Zugang und Nutzung. Hierunter konnten verschiedene weitere Aspekte identifiziert werden. Darin zeigen sich einige Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche zielgruppenspezifische Unterschiede. Die teilnehmerorientierte Gestaltung von Angeboten und eingesetzter Technik bzw. Anwendungen spielen eine bedeutende Rolle für den Teilnahmeprozess, ebenso wie Motivationen, Erfahrungen und Kompetenzen, (Selbst-)Wahrnehmungen und soziale Unterstützung. Gruppenübergreifend werden Lernformate mit Präsenzanteilen (Blended Learning, generationenübergreifendes Lernen) sowie die barrierearme Gestaltung von Anwendungen und Technik empfohlen. Ungleichheiten in Zugang und Nutzung bleiben eine relevante Hürde für die (erfolgreiche) Teilnahme an Bildung mit digitalen Medien. Die ermittelte Empirie ist insgesamt sehr heterogen. Dennoch haben die Ergebnisse einen Orientierungswert für die Bildungspraxis, da Zielgruppenspezifika eine bedeutende Rolle bei der Ansprache und Teilnehmendengewinnung spielen (am Beispiel der Alphabetisierung und Grundbildung: Mania et al., 2022), insbesondere im Bereich der EB/WB. In diesem Zusammenhang können auch zielgruppenspezifische Modelle wie etwa das Medienkompetenzmodell für die Grundbildung (Koppel & Langer, 2020) und daran anschließend zum Digital Taste (David et al., 2022) sowie der Digital Identity von älteren Erwachsenen (Muñoz-Rodríguez et al., 2020) eine Orientierung bieten, um in der Gestaltung von Lernen mit digitalen Medien systematisch Brücken zur Lebenswelt aufzubauen. Ein wichtiges Desiderat sind empirische Studien zu den Gründen für die Nichtteilnahme benachteiligter Erwachsener sowie vergleichende Untersuchungen der Teilnahme von benachteiligten und nicht-benachteiligten Erwachsenen.

 

Institutionelle Voraussetzungen für den Einsatz digitaler Medien in der Grundbildung und Implikationen für die gesellschaftliche Teilhabe

Ilka Koppel, Sandra Langer
PH Weingarten

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung

Ein Großteil der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland weist unzureichende digitale (Grund-)Kompetenzen auf (z.B. Grotlüschen & Buddeberg, 2020; Rammstedt et al., 2013): Personen mit Grundbildungsbedarf trauen sich beispielsweise im Bereich des Internets (z.B. im Internet angebotene Wohnungsbörsen) signifikant weniger zu im Vergleich zur Gesamtbevölkerung; zunehmend verlagern sich aber Angebote, die für das grundlegende Alltägliche lebensnotwendig sind – wie der Wohnungsmarkt, Terminvergaben bei Behörden oder Ärzt*innen – in das Internet (Buddeberg & Grotlüschen, 2020, S. 214). Damit besteht für diese Zielgruppe ein systematisch höheres Risiko des Teilhabeausschlusses und es ist ein hoher Bedarf an Weiterbildung im Bereich der Erwachsenengrundbildung festzustellen. Bildungsinstitutionen spielen demnach eine maßgebliche Rolle, Personen in ihrer Teilhabefähigkeit zu unterstützen, denn die institutionelle Ausstattung bildet den Rahmen für die Lehrtätigkeit in Bildungsinstitutionen. Mehrere Studien liefern Hinweise auf Bedingungsfaktoren für die erfolgreiche Integration digitaler Medien auf der institutionellen Ebene (vgl. z.B. Egetenmeyer, Lechner, Treusch & Grafe, 2020; Gerick & Eickelmann, 2017; Getto, Hintze, & Kerres, 2018). Auch wenn die Studien selbst z.T. kritisch zu hinterfragen sind, wird insgesamt deutlich, dass erst die Verbindung von Technologie und Organisationsentwicklungskonzepten eine qualitativ hochwertige, effektive Nutzung digitaler Medien in Schule und Unterricht erzielen kann (Schulz-Zander, 2001) und eine medienorientierte Entwicklung von Weiterbildungsorganisationen sowohl von den strukturellen Rahmenbedingungen (wie Organisationsgröße und Personalausstattung) als auch vom Engagement der Akteure und von der Organisationskultur abhängig ist (Stang, 2003, S. 229).

Bisher wurden die institutionell geprägten Rahmenbedingungen in der durch heterogene Strukturen geprägten Grundbildung allerdings wenig explizit in den Blick genommen. Die Rahmenbedingungen umfassen üblicherweise rechtliche und finanzielle Regelungen sowie gesellschaftliche Erwartungen und Normvorstellungen (Jenner, 2023, 218); der Blick wird in diesem Beitrag daher konkret auf die technische Ausstattung, auf die Datenschutzmaßnahmen sowie die institutionell unterstützenden Weiterbildungsmöglichkeiten gerichtet und es wird folgende Frage bearbeitet:

Welche institutionellen Voraussetzungen sind gegeben, um in Grundbildungskursen digitale Medien einsetzen zu können und welche Implikationen zeigen sich im Hinblick auf die Förderung einer digitalen Grundbildung?

Methodik

Für die Bearbeitung der in diesem Beitrag anvisierten Fragestellung werden im Sinne eines „Convergent“ Mixed Methods-Design (Creswell, 2022, S. 52-53) quantitative Befragungen mit Institutionsleitenden bzw. konzeptionell Tätigen (N=58) sowie Kursleitungen (N=49) deskriptiv und inferenzstatistisch ausgewertet; daran anknüpfend werden Interviews mit Institutionsleitenden bzw. konzeptionell Tätigen (N=14; 4m/10w) sowie Kursleitenden (N=18; 5m/13w) mittels qualitativer Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018) ausgewertet. Die Daten wurden im Rahmen des BMBF-Projekts GediG (www.gedig.online) erhoben.

Ergebnisse

Für die Bearbeitung der Fragestellung werden die Ergebnisse den Themenbereichen IT-Ausstattung und -Infrastruktur (1) sowie Professionalisierung des Personals (2) zugeordnet:

In den Bildungsinstitutionen ist zwar eine digitale Grundausstattung vorzufinden, allerdings variieren Erweiterungs-/Aktualisierungsbedarfe bezüglich der IT-Ausstattung und der IT-Infrastruktur stark.

Ein Großteil der Lehrpersonen hat grundsätzlich Zugang zu Fort- und Weiterbildung, allerdings zeichnen sich Unterschiede zwischen fest angestellten Personen und Honorarkräften ab, was zu einem Ungleichgewicht hinsichtlich der Professionalisierung in der Erwachsenengrundbildung führen kann.

Beide dargestellten Aspekte können zu paradoxen Situationen in Bezug auf die didaktische Gestaltung von Kursen in der Grundbildung führen: Dem Anspruch, den Umgang mit digitalen Geräten bzw. Anwendungen zu vermitteln, kann aufgrund mangelnder IT-Ausstattung/Infrastruktur nicht begegnet werden. Lernsettings können somit nicht genutzt werden, um digitale Kompetenzen zu vermitteln und die Teilhabefähigkeit zu fördern. Des Weiteren kann es auf unzureichende Professionalisierung zurückgeführt werden, wenn Lehrpersonen aufgrund mangelnder Möglichkeiten zur Teilnahme an Fort- und/oder Weiterbildungen den Einsatz digitaler Medien im Kurs meiden. Damit haben die institutionelle Ausstattung und die Professionalisierungsmöglichkeiten nicht nur einen Einfluss auf die methodischen und didaktischen Gestaltungsmöglichkeiten in Grundbildungskursen, sondern auch auf mögliche motivationale Aspekte sowie die Teilhabefähigkeit der Kursteilnehmenden.

 
9:00 - 10:407-08: Financial Literacy als Voraussetzung für erfolgreiche individuelle Lebensgestaltung und für gesellschaftliche Partizipation
Ort: S18
 
Symposium

Financial Literacy als Voraussetzung für erfolgreiche individuelle Lebensgestaltung und für gesellschaftliche Partizipation

Chair(s): Christin Siegfried (PH Weingarten, Professur für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und ihre Didaktik), Eveline Wuttke (Goethe Universität Frankfurt, Deutschland, Professur für Wirtschaftspädagogik)

Diskutant*in(nen): Nicole Ackermann (Pädagogische Hochschule Zürich)

Hintergrund:

In modernen Volkswirtschaften wird die Fähigkeit von (Wirtschafts-)Bürger:innen, finanzielle Angelegenheiten kompetent zu regeln, immer wichtiger. Financial Literacy (finanzielle Allgemeinbildung) beeinflusst nicht nur das persönliche finanzielle Wohlergehen, sondern hat auch Einfluss auf die gesamte Volkswirtschaft (Klapper, Lusardi & Panos, 2012). Bisherige Studien zeigen jedoch trotz großer Heterogenität in Definition und Messung von Financial Literacy eine deutliche Übereinstimmung: Jugendlichen und jungen Erwachsenen mangelt es an Financial Literacy und sie sind besonders anfällig für ein ungünstiges Finanzverhalten (z. B. Aprea et al., 2016; Lusardi, 2019). Evidenzbasierte Strategien für die Förderung finanzieller Allgemeinbildung sind deshalb dringend notwendig. Ihre Entwicklung erfordert ein ganzheitliches Verständnis dieses vielschichtigen Konstrukts (siehe z. B. die Definition der OECD, 2022) sowie geeignete Messverfahren und Interventionen.

Das geplante Symposium betrachtet daher in vier Beiträgen Einflussfaktoren auf Finanzielles Handeln (Kraitzek et al.), Interventionen zur Förderung von Financial Literacy (Aprea et al. sowie Malik, Fürstenau und Hommel) sowie eine alternative Methode zur Messung von Finanzkompetenz (Wagner, Wuttke und Happ). Damit werden insgesamt betrachtet sowohl Einflussfaktoren, die ggf. für Fördermaßnahmen zu berücksichtigen sind, als auch Förderansätze selbst und eine zielführende Messung des zu fördernden Konstruktes in den Blick genommen.

Gemeinsamkeiten der vier Beiträge:

Die vier Beiträge gehen der gemeinsamen Fragestellung nach, wie Financial Literacy als Voraussetzung für erfolgreiche individuelle Lebensgestaltung und für gesellschaftliche Partizipation definiert, gemessen und gefördert kann. Alle Beiträge fokussieren Jugendliche und junge Erwachsene, die am Anfang einer eigenständigen finanzbezogenen Lebensgestaltung stehen. Gemeinsam ist den Beiträgen ein Verständnis von Financial Literacy, das nicht ausschließlich Finanzwissen, sondern auch Können bzw. Handeln in den Blick nimmt. Methodisch ergänzen sich die vier Beiträge, die Zugänge reichen von Design-Based Research bis hin zu Laborexperimenten. Inhaltlich werden verschiedene Bereiche von Financial Literacy in den Blick genommen.

Kurze Vorstellung der vier Beiträge:

Ausgangspunkt des Beitrags von Kraitzek et al. (Beitrag 1) ist die Erkenntnis, dass finanzielles Verhalten von Jugendlichen nicht nur von ihrer Finanzkompetenz, sondern auch von dem Grad der institutionalisierten oder informellen (Finanz-)Bildung, dem Elternhaus oder dem Einfluss von Peer-Gruppen bestimmt ist. Die Studie untersucht daher Einflussfaktoren der Sozialisation auf das Finanzverhalten von 16-25-jährigen in Deutschland. Die Ergebnisse zeigen, dass knapp 28% der Varianz im untersuchten finanziellen Verhalten durch Sozialisationsfaktoren und soziodemografische Merkmale erklärt werden können.

Der zweite Beitrag (Aprea et al.) fokussiert Altersvorsorge als zentralen Bereich von Financial Literacy, der in Zeiten des demografischen Wandels eine hohe Bedeutung erlangt. Bislang existieren allerding kaum wissenschaftlich fundierte und zugleich unabhängig von Finanzakteuren entwickelte Lernangebote in diesem Bereich. In der Studie wurde deshalb ein neutrales und evidenzbasiertes Lernangebot für junge Erwachsene entwickelt und evaluiert, welches deren Interesse am Thema wecken und ihr Verständnis für das deutsche Rentensystem fördern soll.

Im dritten Beitrag (Malik et al.) wird analysiert, inwieweit ein lernförderliches User Interface Design Verständnisschwierigkeiten und Fehlentscheidungen entgegenwirken kann, die im Rahmen von informellem Lernen durch Internetrecherchen entstehen können. Im Fokus stehen Informationen zu Baufinanzierung. In der Studie wurde geprüft, ob multimedial aufbereitete Webseiten das Erinnern der Informationen und das Anwenden des Wissens besser unterstützen als Webseiten, die nicht entsprechend aufbereitet sind. Die Befunde zeigen ein insgesamt besseres Abschneiden der Experimentalgruppe sowohl im Erinnern als auch im Anwenden der Inhalte.

Im vierten Beitrag (Wagner et al.) wird die Entwicklung, Evaluation, Überarbeitung und erneute Evaluation eines Situational Judgement Tests (SJT) zur Messung von Financial Literacy präsentiert. Dieser richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene und enthält Situationen, die das Planen und Verwalten alltäglicher Finanzangelegenheiten fokussieren. Die Befunde zeigen, dass die Leistung der 246 berufsbildenden Schüler:innen insgesamt auf einem mittleren Niveau eingeordnet werden kann. Die Testgüte ist bei zwei Faktoren zufriedenstellend, beim dritten Faktor trotz Überarbeitung nicht. Korrelationen mit dem Außenkriterium Kaufverhalten weisen auf valide Testwertinterpretationen hin.

 

Beiträge des Symposiums

 

Finanzielle Sozialisation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Untersuchung des Einflusses von Sozialisationsfaktoren auf das Finanzverhalten

Andreas Kraitzek, Sandra Lang, Manuel Förster
TU München, Professur für Wirtschaftspädagogik

Theoretischer Hintergrund:

Vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen kommt der Grundbildung im Bereich der persönlichen Finanzen bzw. der Financial Literacy (FL) ein immer bedeutenderer Stellenwert in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu (OECD 2020). Als übergeordnetes Ziel gilt es daher, die Financial Literacy junger Menschen zu stärken, damit diese den Übergang ins Erwachse-nenleben finanziell kompetent bewältigen und als mündige Wirtschaftsbürger:innen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Über finanzielles Wissen zu verfügen bedeutet allerdings nicht automatisch, dass dieses Wissen auch in adäquates Finanzverhalten überführt werden kann. Beeinflusst wird das tatsächli-che finanzielle Verhalten von Jugendlichen dabei nicht nur von ihrer grundlegenden Finanzkompetenz, sondern zusätzlich von einer Vielzahl an Faktoren wie bspw. dem Grad der institutionalisierten oder in-formellen (Finanz-)Bildung, dem Elternhaus oder auch dem Einfluss von Peer-Gruppen (Deenanath et al. 2019; Rudeloff 2019; Förster et al. 2019). Die finanzielle Sozialisation einer Person spielt somit beim tat-sächlichen Umgang mit Geld eine bedeutende Rolle (Kaiser 2017). Um die Entwicklung von finanzieller Kompetenz sowie das konkrete Finanzverhalten von jungen Leuten zu verstehen gilt es daher verschiede-ne Sozialisationskontexte zu berücksichtigen. Ein Großteil bisheriger Studien zur finanziellen Sozialisation stammt dabei entweder aus einem internationalen Kontext oder fokussiert primär auf Studierende und Jugendliche höherer Bildungsniveaus. Folglich können Erkenntnisse auf Grund unterschiedlicher Rahmen-bedingungen nur eingeschränkt auf die finanzielle Lebenssituation von Jugendlichen und nicht-akademisch gebildeten jungen Erwachsenen in Deutschland übertragen werden.

Leitende Fragestellung:

Um diese Lücke zu adressieren untersucht die vorliegende Studie daher Einflussfaktoren der Sozialisation auf das Finanzverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 16-25 Jahren in Deutsch-land. Es soll der Frage nachgegangen werden, welche Sozialisations- und Persönlichkeitsfaktoren das Fi-nanzverhalten von jungen Leuten erklären können. Hierunter fallen familiäre-, soziale- und persönliche Einflussfaktoren sowie bspw. auch Einstellungen zum Umgang mit digitalen Finanztechnologien.

Methode:

Die Daten von N=249 Personen im Alter von 16-25 Jahren (M = 20.97, SD = 2.87) wurden durch einen ei-gens konzipierten Fragebogen erhoben und mittels einer sequentiellen Regressionsanalyse sowie Struk-turgleichungsmodellen ausgewertet. Das Finanzverhalten der Personen wurde dabei primär durch likert-skalierte Items zur Selbstauskunft erfasst, die sich an der Studie von Deenanath et al. (2019) orientieren und für die vorliegende Studie angepasst wurden. Inhaltlich wurden die Studienteilnehmer:innen bspw. nach ihrem konkretem Sparverhalten, der pünktlichen Rückzahlung von Schulden oder der Durchführung von Preisvergleichen bei anstehenden Käufen gefragt.

Ergebnisse:

Erste Ergebnisse zeigen, dass knapp 28% der Varianz im finanziellen Verhalten der Jugendlichen durch Sozialisationsfaktoren und soziodemografische Merkmale erklärt werden können. Insbesondere die direk-te finanzielle Erziehung durch die Eltern, die individuelle Finanzbildung, das Einkommen, das Alter sowie die institutionalisierte Finanzbildung zeigen signifikante Zusammenhänge mit dem Finanzverhalten der Jugendlichen. Es ist ersichtlich, dass viele dieser Faktoren, im Vergleich zu Faktoren wie dem Geschlecht, dem Rollenbild der Eltern oder dem Migrationshintergrund, individuell beeinflussbar sind. So können die Eltern, die Schule, das selbstständige Verdienen von Geld oder individuelle Bildungsbemühungen der Jugendlichen signifikant dazu beitragen, deren finanzielles Verhalten zu verbessern. Diese Ergebnisse stüt-zen zum einen die Befunde aus bisherigen Forschungsarbeiten. Zum anderen untermauern sie die Forde-rung nach der Implementierung einer einheitlichen finanziellen Bildungsstrategie für Deutschland. In Zu-kunft könnten zusätzliche Studien die Einflüsse detaillierter untersuchen, indem diese durch Leistungs-tests bzw. dedizierte Kompetenz-Assessments oder durch Längsschnitts-Untersuchungen im Laufe des Sozialisationsprozesses ergänzt werden.

 

Rente verstehen: Design, Erprobung und Evaluation eines evidenzbasierten Lernangebots für junge Erwachsene

Carmela Aprea1, Ronja Baginski2, Merve Suna2
1Universität Mannheim, Lehr¬stuhl für Wirtschafts¬pädagogik – Design und Evaluation instruktionaler Systeme & Mannheim Institu-te for Financial Education (MIFE), 2Universität Mannheim; Lehr¬stuhl für Wirtschafts¬pädagogik – Design und Evaluation instruktionaler Syste-me & Mannheim Institute for Financial Education (MIFE)

Theoretischer Hintergrund. Der demografische Wandel bringt viele Herausforderungen mit sich. Eine da-von ist die nachhaltige Finanzierung der Alterssicherung in Deutschland (OECD, 2021). Dabei ist in den vergangenen Jahren eine zunehmende Eigenverantwortung der Bevölkerung in diesem Sozialversiche-rungsbereich zu konstatieren. Diese Notwendigkeit betrifft insbesondere die jüngeren Generationen, weshalb sie ein fundiertes Verständnis der Funktionsweise des Alterssicherungssystems aufbauen sollten. Zudem ist ein solches Verständnis wichtig, um am politischen Willensbildungsprozess bezüglich Reformen des Rentensystems teilnehmen zu können (Fornero & Lo Prete, 2023). Allerdings existieren bislang kaum wissenschaftlich fundierte und zugleich unabhängig von Finanzakteuren entwickelte Lernangebote in die-sem Bereich. An dieser Stelle setzen die hier vorgestellten Forschungsaktivitäten an, welche im Rahmen des vom BMAS geförderten Forschungsprojekts „Verständnis und Haltungen zur Altersvorsorge in Deutschland (VHAlt)“ stattfanden und die Intention verfolgen, die mittels qualitativer Interviews und einer repräsentativen Befragung identifizierten Missverständnisse zur Altersvorsorge im Sinne eines Trans-fers der Projektergebnisse zu adressieren. Insbesondere zielen sie darauf ab, ein neutrales und evidenzba-siertes Lernangebot für junge Erwachsene bzw. Berufseinsteigende bereitzustellen, welches deren Inte-resse am Thema wecken und ihr Verständnis für das deutsche Rentensystem fördern soll. Zur Erreichung dieser Zielsetzung wurden unter Rekurs auf Ansätze des spielbasierten Lernens (z.B. Schutz & Schwartz, 2022) sowie des multimedialen Lernens (Mayer, 2020) drei am Design-Based Research Ansatz (z.B. Arm-strong et al. 2020) orientierte Forschungszyklen durchlaufen, in denen das Lernangebot entwickelt, er-probt und evaluiert bzw. sukzessive optimiert wurde.

Fragestellung. Zentral ist damit die Forschungsfrage, wie ein Lernangebot zum Thema Altersvorsorge ge-staltet sein sollte, um die Zielgruppe effektiv beim Erwerb des erforderlichen Wissens und Könnens zu unterstützten.

Methode. Im Rahmen eines partizipativen Ansatzes waren an den drei Forschungszyklen sowohl Mitglie-der der Zielgruppe als auch Fachexperten beteiligt. Im ersten Forschungszyklus stand vor allem die inhalt-liche Ausgestaltung des Lernangebots im Vordergrund. Gemeinsam mit Masterstudierenden der Wirt-schaftspädagogik wurde im Rahmen eines universitären Seminars eine erste Fassung des Lernangebots entwickelt, welche vier Fachexperten aus Wissenschaft, Bildung und Rentenpolitik vorgelegt und von diesen im Hinblick auf die Passung für die Zielgruppe und die fachliche Korrektheit beurteilt wurde. Auf Basis dieser Rückmeldungen wurde im nächsten Forschungszyklus eine zweite Version des Lernangebots erstellt und mit einer Gruppe von 20 Bachelorstudierenden umgesetzt, die mittels Fragebögen beurteilen sollten, inwiefern das Lernangebot und dessen Gestaltung ihr Interesse am Lerngegenstand bzw. ihre Motivation, sich mit diesem auseinanderzusetzten, unterstützt. Dabei sollten sie auch angeben, welche Elemente des Lernangebots sie besonders ansprechend bzw. hilfreich für ihr Lernen fanden und wo sie Verbesserungsbedarf sehen. Um weitere Hinweise in Bezug auf die Verständlichkeit des Lernangebots zu erhalten, kamen außerdem geschlossene und offene Testfragen zum Einsatz. Die so gewonnenen Opti-mierungshinweise flossen in den dritten Forschungszyklus ein, in dessen Mittelpunkt die Evaluation der einzelnen Elemente (insb. Texte, Abbildungen, Lernaufgaben) des Lernangebots stand. Hierzu wurde das Lernangebot fünf Berufseinsteigenden aus verschiedenen Berufsgruppen vorgelegt, deren Bearbeitungs-prozesse mittels der Methode des lauten Denkens erfasst wurden. Zusätzlich wurden auch sie nach der wahrgenommenen Lernförderlichkeit gefragt und gebeten, die bereits im zweiten Zyklus eingesetzten Testfragen zu beantworten.

Ergebnisse. Als Ergebnis der Forschungsaktivitäten wurde die Rentenrallye entwickelt, die am Prinzip des Stationenlernens orientiert ist. An bisher sieben Stationen können sich junge Erwachsene selbstorgani-siert Wissen über das Alterssicherungssystem aneignen. Wie die Befunde der oben genannten For-schungszyklen zeigen, unterstützen die einzelnen Stationen den Wissenserwerb und die Motivation durch eine Kombination aus Karikaturen, Erklärvideos, Informationstexten und Quizelementen. Die Rentenrallye liegt in digitalisierter Form vor. Die Forschungsaktivitäten leisten damit einen Beitrag zur Erkenntnisge-winnung im Kontext eines praxisrelevanten, jedoch bislang in der empirischen Bildungsforschung noch nicht hinreichend berücksichtigten Lerngegenstands. Sie bildet die Grundlage für derzeit in Planung be-findliche feldexperimentelle Untersuchungen, die sich u. a. mit der Frage befassen, wie sich das entwi-ckelte Lernangebot wirksam in schulische Curricula oder auch außerschulische Lernkontexte einbetten lässt.

 

Förderung informellen Online-Lernens über Baufinanzierungen durch User Interface Design von Webseiten

Awais Malik1, Bärbel Fürstenau1, Mandy Hommel2
1TU Dresden, 2OTH Amberg Weiden

Hintergrund

Financial Literacy (FL) wird als wesentliche Fähigkeit im 21. Jahrhundert gesehen, die sowohl individuelles als auch gesellschaftliches finanzielles Wohlergehen beeinflussen kann (Lusardi 2015). Verunsicherungen durch Krisen, wie die Coronapandemie oder Rezessionen, aber auch veränderte Sozial- und Finanzsyste-me erfordern mehr als bisher private Vorsorge und eigenverantwortliche finanzielle Entscheidungen. Um sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, konsultieren die Menschen häufig das Internet. Sol-che zielbezogenen Internetrecherchen lassen sich als informelles Lernen einordnen (Baumgartner, 2008). Da jedoch die Informationen im Internet oft umfangreich sind und nicht speziell unter Lerngesichtspunk-ten dargeboten werden, sind Verständnisschwierigkeiten und Fehlentscheidungen möglich. Daher stellt sich die Frage, ob ein lernförderliches User Interface Design (UI) von Webseiten (Abascal-Mena, López-Ornelas & Zepeda 2012) das informelle Online-Lernen unterstützen kann. Eine Möglichkeit des UI-Designs ist die Anwendung der Prinzipien multimedialen Lernens (Malik, Fürstenau & Hommel, 2023). In unserer Studie wurde geprüft, ob die multimediale Aufbereitung von Webseiten informelles Online-Lernen zu Baufinanzierungen besser unterstützt als die ursprünglichen Banken-Webseiten. Aus den Ergebnissen lassen sich Schlüsse darüber ziehen, wie informelles Online-Lernen, speziell FL, gefördert werden kann.

Theoretische Grundlagen

Angelehnt an das Verständnis der OECD (2020) ist finanzielles Wissen ein zentraler Aspekt von FL und Grundlage für fundierte Finanzentscheidungen (S. 6). Weiterhin spielen Einstellungen, Interesse und ma-thematische Fähigkeiten eine Rolle. Inhaltlich bezieht sich FL dabei u.a. auf die Verwaltung der persönli-chen Finanzen in Bezug auf Einnahmen und Ausgaben, Sparen, Kredite und Investitionsentscheidungen (Hilgert, Hogarth & Beverly 2003).

Das UI-Design von Webseiten beeinflusst die direkte Erfahrung des Nutzers mit der Website (Rodrigues, Costa & Oliveira 2017) und damit auch informelles Lernen (Livingstone, 2001). Anzunehmen ist, dass die auf der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens (CTML) (Mayer, 2021) basierenden Prinzipien mul-timedialen Lernens geeignet sind, das UI-Design von Webseiten und damit informelles Lernen zu verbes-sern.

Methode

In einer Studie wurde geprüft, ob multimedial aufbereitete Webseiten über Baufinanzierungsdarlehen, d. h. einem komplexen Finanzprodukt mit langfristigen Auswirkungen auf die persönliche Finanzsituation, das Erinnern der Informationen und das Anwenden des Wissens besser unterstützen als Webseiten, die nicht entsprechend aufbereitet sind. Die Datenerhebung erfolgte in einem Laborexperiment mit einem Prä-/Post-Test-Design. Die Stichprobe umfasste 37 Studierende (21 w, 15 m; Alter M = 22, SD = 2,1) eines Bachelorstudiengangs Wirtschaftswissenschaften einer deutschen Universität, die randomisiert auf Expe-rimental (EG) (18 Personen) und Kontrollgruppe (KG) verteilt wurden.

Die Teilnehmer der KG beschäftigten sich mit Informationen über Baufinanzierungsdarlehen auf den Webseiten der HypoVereinsbank (ausgewählt nach Zufallsprinzip aus den 10 größten deutschen Banken nach Bilanzsumme). Die Informationen waren jeweils Teil des Kreditrechners mit Daten zum Kaufpreis, zur Kreditsumme, zur Zinsbindung und zur Tilgung. Die Teilnehmer der EG beschäftigten sich mit ver-gleichbaren, aber nach multimedialen Lernprinzipien umgestalteten Webseiten. Im Prätest bearbeiteten die Teilnehmer Items zu ihrem finanziellen Interesse (angelehnt an Mayer & Moreno 2003; Mayer 1997), ihrem Finanzwissen (Lusardi, 2019) und ihren Rechenfähigkeiten (Banks & Oldfield, 2007). Der Posttest bestand aus je vier Items, die das Erinnern und Anwenden der Informationen erforderten.

Ergebnisse und Diskussion

Im Prätest zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen (α < .05) in Bezug auf fi-nanzielles Interesse, Finanzwissen und Rechenfähigkeiten. Hinsichtlich des Posttests zeigt sich insgesamt ein besseres Abschneiden der EG (t-Test, t(35) = 2.31, p = .027, d = 0.76). Die EG zeigt sowohl im Erinnern (t(35) = 2.19, p = .035, d = 0.77) als auch im Anwenden bessere Ergebnisse (t(35) = 2.31, p = 0.027, d = 0.61).

Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass ein UI-Design, das die Prinzipien multimedialen Lernens berücksichtigt, die Entwicklung von FL in informellen Lernprozessen unterstützen kann. Limitierend ist zu berücksichtigen, dass in der Studie mehrere Prinzipien multimedialen Lernens auf die Webseiten ange-wendet wurden. Damit können die Effekte nicht differenziert nach einzelnen Prinzipien analysiert werden.

 

Revision und Analyse eines Situational Judgement Tests zur Messung von Financial Literacy

Elisa Wagner1, Roland Happ1, Eveline Wuttke2
1Universität Leipzig, Professur für berufliche Bildung mit dem Schwerpunkt Wirtschaft, 2Goethe Universität Frankfurt, Professur für Wirtschaftspädagogik, insbes. empirische Lehr-Lern-Forschung

Theoretischer Hintergrund:

Zahlreiche Studien messen Financial Literacy auf Basis von geschlossenen Aufgabenformaten, die das Wis-sen und Verstehen der persönlichen Finanzen in den Vordergrund rücken (Förster, Happ & Molerov, 2017; Lusardi & Mitchell, 2011; Walstad & Rebeck, 2017). Es ist jedoch unbestritten, dass für finanziell kompetentes Verhalten nicht nur Wissen allein, sondern auch das bewusste Treffen von finanziellen Ent-scheidungen von Bedeutung ist. Mit dem Situational Judgment Test (SJT) zur Messung von Financial Lite-racy (Wuttke & Aprea, 2018) wurde ein Instrument entworfen, das das Treffen von finanziellen Entschei-dungen fokussiert und damit Financial Literacy handlungsnah misst. SJT, die bereits in den 1920er Jahren (McDaniel et al., 2001) in arbeits- und berufsbezogenen Anwendungskontexten verwendet wurden (Muck, 2013, S. 188), fanden bislang bei der Messung von Financial Literacy keine Berücksichtigung. Bei der vorliegenden Testform werden die Proband:innen gefragt, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie sich in einer dargestellten Situation für eine bestimmte Handlungsoption entscheiden würden (McDaniel & Nguyen, 2001). Nach einem ersten Einsatz des Tests und mit Blick auf die einschlägige Literatur (McDaniel et al., 2001) zeigte sich ein Überarbeitungsbedarf des Tests. In dem Vortrag wird die Konstruktion und die Revision des SJT beschrieben. Es wird insbesondere auf Aspekte der Validierung auf Basis der AERA Stan-dards (AERA, APA & NCME, 2014) eingegangen.

Fragestellung

Zeigen sich durch die Revision eines Situational Judgement Tests in den Analysen Hinweise, die dafür sprechen, dass die erzielten Testwerte der Proband:innen valide Testwertinterpretationen zulassen?

Methode

Der revidierte SJT richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene. Er enthält Situationen, die das Pla-nen und Verwalten alltäglicher Finanzangelegenheiten fokussieren. Im Zuge der Revision wurden im Rah-men von think-aloud Studien problematische Items identifiziert, reformuliert und neu konstruiert.

Die revidierte Version wurde gegen Ende des zweiten Schulhalbjahres 2022/2023 bei 246 Schüler:innen aus 15 Klassen von drei Schulen aus dem berufsbildenden Bereich in Sachsen eingesetzt. Derzeit laufen noch Erhebungen an weiteren berufsbildenden Schulen in Hessen. Die vollständigen Daten liegen bis zur GEBF 2024 in Potsdam ausgewertet vor und werden dort präsentiert. Der Fokus in dem Vortrag liegt auf der Analyse der Testgüte, was Reliabilität und unterschiedliche Validierungskriterien einschließt. Es wer-den Befunde aus Faktor-, Reliabilitäts- und Korrelationsanalysen berichtet.

Ergebnisse

Die Befunde zeigen, dass die Leistung der berufsbildenden Schüler:innen ingesamt auf einem mittleren Niveau eingeordnet werden kann. Im Mittel haben die Schüler:innen von max. 126 Punkten 87,88 Punkte erreicht. Durch Faktoranalysen können drei Faktoren bestimmt werden, die sich inhaltlich in die folgen-den Dimensionen untergliedern lassen 1) Budget-/Haushaltsplanung 2) Kontrolle der eigenen finanziellen Situation 3) Sensibler Umgang mit Geld. Die Testgüte auf Basis der internen Konsistenz (Cronbachs` alpha) kann für die ersten beiden Dimensionen als zufriedenstellend eingeordnet werden (Faktor 1: .807, Faktor 2: .659). Faktor 3 weicht mit .446 davon ab und zeigt auch nach der Revision der Items keine zufrieden-stellenden Werte.

Das Kaufverhalten (erhoben mit dem Fragebogen von Ray & Najman, 1986) korreliert mit dem Testscore der Proband:innen. Über das Außenkriterium ‚Kaufverhalten‘ im Sinne der Relations to other Variables (AERA et al., 2014) können also Hinweise auf valide Testwertinterpretationen gegeben werden. Es werden mit dem SJT in der Stichprobe keine geschlechtsspezifischen Unterschiede festgestellt. Das stellt ein deut-licher Unterschied zu dem häufig in standardisierten Testungen mit Multiple- und Single-Choice Aufgaben festgestellten geschlechtsspezifischen Unterschieden dar, bei denen Probanden besser als Probandinnen abschneiden (Driva, Lührmann & Winter, 2016; Förster, Happ & Maur, 2018; Klapper & Lusardi, 2020; Hammer & Zureck, 2022; Preston & Wright, 2023). Dieser Aspekt wird mit dem Publikum auf der GEBF diskutiert.

Insgesamt haben nicht alle Überarbeitungen der Revision des SJT die erwarteten Effekte auf Testgüte und Validierung gezeigt. Alles in allem ist aber eine Verbesserung gelungen, sodass der SJT nun in weiteren Assessments eingesetzt wird.

 
9:00 - 10:407-09: Diagnose von Lernendenmerkmalen im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung und Klimabildung
Ort: S17
 
Symposium

Diagnose von Lernendenmerkmalen im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung und Klimabildung

Chair(s): Jennifer Stemmann (Pädagogische Hochschule Freiburg), Johannes Hartig (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation), Werner Rieß (Pädagogische Hochschule Freiburg)

Diskutant*in(nen): Benjamin Fauth (Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg)

Problemstellung/Ausgangslage

Bildung ist ein wesentlicher Faktor, um Menschen auf den Umgang mit dem Klimawandel und seinen Herausforderungen vorzubereiten. Klimabildung soll bei Lernenden ein Bewusstsein für den Klimawandel, dessen Ursachen und Folgen entwickeln, sowie Handlungskompetenzen fördern, die für eine Abschwächung des anthropogen verursachten Klimawandels (Mitigation) bzw. zum Ergreifen von Maßnahmen für eine Verringerung nachteiliger Auswirkungen des Klimawandels (Adaption) benötigt werden (Lohmann et al., 2021; Monroe et al., 2019; Rieß, 2010; UNESCO, 2021). Dies mit dem Ziel, dass Entscheidungen informiert getroffen und Bedürfnisse der heutigen Generation so befriedigt werden, dass die Lebensgrundlagen der nächsten Generation nicht gefährdet werden (Michaelis et al., 2020; UNESCO, 2021). Es liegen inzwischen zahlreiche Kompetenzmodelle zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung für die Schul- und Hochschulbildung vor (bspw. Haan, 2008; Rieckmann, 2018; Wiek, 2016). Der Fokus dieser Modelle liegt jedoch zumeist auf umfassenden überfachlichen Handlungs-, Gestaltungs-, Problemlösungs- oder Schlüsselkompetenzen (Lozano et al., 2017). Die theoretisch angenommenen Dimensionen in diesen Modellen sind oft schwer zu operationalisieren und strukturelle Zusammenhänge sind nur unzureichend definiert. Daher entziehen sich die meisten Ansätze einer empirischen Überprüfung (Michaelis et al., 2020). Um aber die Wirkungen von Bildungsangeboten auf den Lernerfolg, d. h. auf den Erwerb von nachhaltigkeitsspezifischem Wissen, Kompetenzen, motivationale und volitionale Orientierungen, emotionales Erleben, Einstellungen und Verhaltensbereitschaften erfassen und messen zu können, bedarf es valider und reliabler Instrumente zur Erfassung empfohlener Lernendenmerkmale sowie Erkenntnisse darüber, wie diese Lernendenmerkmale miteinander wechselwirken (Rieß et al., 2018).

Zielsetzung/Zuschnitt des Symposiums

Die Beiträge des Symposiums greifen diese Desiderata auf und befassen sich mit der Diagnose und dem Zusammenspiel von Lernendenmerkmalen im Kontext von Klimabildung und Nachhaltigkeit. Dabei werden zum einen Messinstrumente zur Erfassung von Climate Literacy und von Einstellungen zum Klimawandel sowie von nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen vorgestellt und zum anderen Prädiktoren von Nachhaltigkeitseinstellungen sowie deren Einfluss auf individuelle Entscheidungsprozesse im Nachhaltigkeitskontext untersucht.

Der erste Beitrag befasst sich mit der Entwicklung und empirischen Prüfung eines Tests zur Erfassung der Climate Literacy von Schüler*innen am Ende der Sekundarstufe I. Der Fokus des Beitrags liegt dabei auf den kognitiven Facetten des Tests, dessen 164 Items neben naturwissenschaftlich-technischen auch sozial- und geisteswissenschaftliche Fachwissensinhalte abdecken.

Der zweite Beitrag widmet sich den Einstellungen von Schüler*innen der 9. Klasse zum Klimawandel. Basierend auf bereits vorhandenen Instrumenten zu Umwelteinstellungen auf Basis selbstberichteten Verhaltens entwickelt die Arbeitsgruppe ein Instrument, das klimarelevante Aspekte integriert und validiert die daraus resultierenden Einstellungsmaße mit traditionellen Einstellungsmaßen zum Klimawandel.

Die Genese entsprechender nachhaltigkeitsrelevanten Einstellungen wird in dem dritten Beitrag in den Blick genommen. Die Autoren untersuchen wie die nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen von Schüler*innen mit denen ihrer Eltern zusammenhängen. Hierzu analysieren sie die PISA-2015-Daten von 16 Ländern und prüfen dabei, ob und wie sich Zusammenhänge von elterlichen und kindlichen Nachhaltigkeitseinstellungen in den Ländern unterscheiden und inwieweit diese Unterschiede ggf. durch Prädiktoren auf Schul- oder Schulsystemebene erklärt werden können.

Mit dem Ziel, die Entscheidungsfähigkeit von Schüler*innen im Unterricht gezielt zu fördern, nimmt der vierte Beitrag die Diagnose von Entscheidungsprozessen im Kontext einer Nachhaltigen Entwicklung mit dem Fokus auf Ernährung in den Blick und untersucht, wie vorhandenes Wissen und Einstellungen auf individuelle Entscheidungsprozesse wirken.

Eine abschließende Diskussion adressiert die Limitationen der Einzelbeiträge und künftige Herausforderungen für die Forschung im Feld.

 

Beiträge des Symposiums

 

Climate Literacy von Jugendlichen – Wissen und Können messbar machen

Monika Martin1, Magdalena Stadler1, Martin Schwichow1, Stephan Schuler2, Jennifer Stemmann1, Josef Künsting1, Roman Asshoff3, Ute Bender1, Franziska Birke1, Astrid Carrapatoso1, Anne-Marie Grundmeier1, Christian Höger4, Werner Rieß1
1Pädagogische Hochschule Freiburg, 2Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, 3Universität Münster, 4Universität Luzern

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung

Für die Bewältigung der Herausforderungen, die der Klimawandel an die Gesellschaft stellt, spielt Klimabildung eine zentrale Rolle (vgl. Otto et al., 2022). Während die Kompetenzen von Schüler*innen in Mathematik, Deutsch oder den Naturwissenschaften regelmäßig überprüft werden, z. B. im Rahmen der PISA-Studien (OECD, 2017), ist jedoch wenig bekannt über Kompetenzen von Jugendlichen im Umgang mit dem Klimawandel. Um den aktuellen Stand der Klimabildung in Deutschland zu überprüfen sowie weitere notwendige Maßnahmen abzuleiten, ist ein Messinstrument notwendig, das reliabel und valide die Climate Literacy von jungen Menschen als Ergebnis von Klimabildung erfassen kann. Für den deutschen Sprachraum existieren bereits Instrumente, die relevante Teilaspekte einer Climate Literacy erfassen, z. B. naturwissenschaftliches Grundlagenwissen über den Klimawandel (Schubatzky et al., 2023) oder Systemkompetenz (Roczen et al., 2021). Für ein regelmäßiges und umfassendes Monitoring schulischer Klimabildungsmaßnahmen ist jedoch ein Messinstrument erforderlich, das der Multidisziplinarität von Klimabildung gerecht wird.

In der hier vorgestellten Studie wurde daher ein Test zur Erfassung der Climate Literacy von Schüler*innen am Ende der Sekundarstufe I (Ende Klasse 9) entwickelt. Analog zu Scientific Literacy in PISA verstehen wir unter Climate Literacy sowohl kognitive Facetten als auch Einstellungen und Verhaltensbereitschaften. Im vorliegenden Beitrag soll der Fokus auf den kognitiven Facetten von Climate Literacy liegen, also welches Wissen zum Klimawandel Schüler*innen haben und inwiefern sie dieses Wissen z. B. beim Lösen von Problemen im Zusammenhang mit dem Klimawandel anwenden können.

Als Grundlage der Testentwicklung dient ein Kompetenzstrukturmodell (Autoren, eingereicht), das an bestehende Kompetenzmodelle (z. B. OECD, 2017; Sumfleth et al., 2019) anknüpft. Darin werden die vier Kompetenzbereiche (1) Umgang mit Fachwissen, (2) Gewinnung und Beurteilung von Erkenntnissen, (3) Information und Kommunikation und (4) Normative Bewertung unterschieden. Da vermehrt der Einbezug einer politischen Perspektive (z. B. im Kontext von Handlungsmaßnahmen) gefordert wird (Kranz et al., 2022), liegt ein Fokus der abgedeckten Fachwissensinhalte neben naturwissenschaftlichen Aspekten einer Climate Literacy (USGCRP, 2009) auch auf sozial- und geisteswissenschaftlichen Aspekten.

Methode

Die Testaufgaben (vorwiegend Multiple-Choice) wurden von Fachdidaktiker*innen aus neun Fachbereichen (z. B. Biologie, Geographie, Politik) entwickelt und mithilfe einer think-aloud-Pilotierung (N = 20 Schüler*innen) sowie zwei quantitativen Pilotierungsstudien (N1= 353, N2 = 310) iterativ weiterentwickelt. Das finale Instrument umfasst insgesamt 164 Testitems in 43 Themenblöcken (z. B. „Klimapolitik“, „Brennstoffe“, „Moral und Werte“) und wird im Multi-Matrix-Design mit sieben Testheften (je ca. 70 Items) administriert. Die Schüler*innen bearbeiten den Test in Einzelarbeit am PC; die Bearbeitungszeit beträgt 70 Minuten.

Ergebnisse

Dem vorgestellten Beitrag liegen Daten aus einer Erhebung mit 810 Neuntklässler*innen (MAlter = 15,6, SDAlter = 0,96) verschiedener weiterführender Schulen in [Bundesland] zugrunde. Die Skalierung der Daten erfolgte mittels der Item-Response-Theory. Der Test erzielte eine hohe Reliabilität mit EAP-Rel = .908 und WLE-Rel = .902. Die Lösungshäufigkeiten der Items streuten zwischen 4 % und 78 % (M = 36 %). Aufgaben aus dem Kompetenzbereich Information und Kommunikation wurden dabei signifikant seltener gelöst (M = 25 %) als Aufgaben aus den anderen Kompetenzbereichen, F(3, 160) = 4,61, p = .004.

Diskussion

Ziel des im Beitrag vorgestellten Projektes ist die Integration natur- und sozialwissenschaftlicher Aspekte in ein umfassendes Instrument zur Erfassung der Climate Literacy unter Jugendlichen. Erste Erhebungen mit dem Instrument zeigen Bereiche auf, in denen schulische Klimabildung ansetzen könnte, um die Kompetenzen von Jugendlichen im Umgang mit dem Klimawandel zu stärken. Vor allem die Testaufgaben, in denen Informationen aus Diagrammen oder Tabellen entnommen und interpretiert werden müssen, scheinen herausfordernd für die Zielgruppe von Schüler*innen am Ende der Klassenstufe 9 zu sein. In den nächsten Monaten sollen auf Basis des entwickelten Kompetenzmodells sowie der vorliegenden Daten kriterienorientierte Kompetenzstufen (s. Rauch & Hartig, 2020) einer Climate Literacy formuliert werden, um konkrete Rückmeldungen zum Ist-Stand sowie Indikationen zu Fördermaßnahmen ermöglichen.

 

„Man kann das am Anfang vielleicht auch abfragen“ – Messung von Einstellungen Jugendlicher zum Klimawandel

Magdalena Stadler, Martin Seeger, Monika Martin, Werner Rieß, Josef Künsting
Pädagogische Hochschule Freiburg

Schulische Klimabildung ist ein bedeutsamer Baustein, um den Klimawandel zu begrenzen und in seinen Folgen erfolgreich zu bewältigen (Conninck et al., 2018; Otto et al., 2020). Im zentralen Fokus schulischer Bildungsmaßnahmen steht in der Regel die Wissensvermittlung. Versteht man die Förderung von Climate Literacy als Ziel von Klimabildung, also die Vermittlung einer klimawissenschaftlichen Grundbildung, die Schüler*innen zur erfolgreichen Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen im Zusammenhang mit dem Klimawandel befähigt, umfasst diese neben kognitiven Facetten (z. B. Wissen) auch Einstellungen und Verhaltensbereitschaften (Azevedo & Marques, 2017; Mochizuki & Bryan, 2015). Dabei wird entsprechend des Tripartite-Modells der Einstellungen (Rosenberg et al., 1960) angenommen, dass sich diese in kognitiven, affektiven und behavioralen Reaktionen zeigen. Einstellungen sind insofern von besonderer Relevanz, da Wissen im Kontext des Klimawandels nicht automatisch zum Handeln führt (Braun & Dierkes, 2019; Kollmuss & Agyeman, 2002), weshalb Schule als wichtige Sozialisationsinstanz nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch motivational-affektive Aspekte fördern sollte.

Hier kann zunächst danach gefragt werden, welche Rolle die Einstellungen von Schüler*innen zum Klimawandel beim Unterrichten von Klimathemen für Lehrkräfte spielen. In einer Vorstudie wurden deshalb zehn leitfadengestützte Interviews mit Gymnasiallehrkräften (Geografie, Biologie, Gemeinschaftskunde) geführt und mittels qualitativer Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2022) ausgewertet. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass die Einstellungen von Schüler*innen zum Klimawandel unterrichtsrelevant sind und Lehrkräfte sowohl ihren Unterricht auf diese Einstellungen aufbauen als auch die Einstellungsbildung als Unterrichtsziel fördern wollen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Lehrkräfte nur sehr wenig über die tatsächlich vorhandenen Einstellungen ihrer Schüler*innen wissen und über keine systematischen Messmethoden verfügen, um diese zu erfassen.

Aus dieser Erkenntnis leitet sich das weitergehende Ziel ab, ein praktikables Messinstrument zu entwickeln, mit dem die Einstellungen von Schüler*innen zum Klimawandel reliabel, valide und unkompliziert gemessen werden können.

Dazu wurden zwei bestehende Instrumente adaptiert. Einerseits wird auf einen Fragebogen (GEB-40) von Kaiser et al. (2007) zurückgegriffen, der Umwelteinstellungen von Jugendlichen auf Basis von selbstberichtetem Verhalten im Rahmen des Campbell-Paradigmas (Kaiser et al., 2010) misst. Er wurde mit dem Ziel der Anpassung an die aktuelle Lebenswelt von Jugendlichen und einer stärkeren Integration klimarelevanter Aspekte überarbeitet. Ein weiterer Fragebogen, der als traditionelles Einstellungsmaß bezeichnet werden kann, misst klimarelevante Einstellungen anhand der Stärke der Zustimmung zu Aussagen durch Ratingskalen und dient als Kriterium zur Validierung der Messwerte. Dieser leitet sich ebenfalls aus bestehenden Skalen (Bostrom et al., 2019; Poortinga et al., 2018) ab und erfasst Einstellungen zum Klimawandel im Rahmen des Value-Belief-Norm-Modells nach Stern (2000).

Beide Fragebögen wurden in einer Pilotierung (N = 236) überprüft und in überarbeiteter Version von 785 Schüler*innen der 9. Klasse verschiedener Schularten in [Bundesland] beantwortet. Eine Rasch-Skalierung des Fragebogens zur verhaltensbasierten Einstellung erzielte eine zufriedenstellende Reliabilität (EAP-Rel. = 0.831; WLE-Rel. = 0.822), zeigt eine gleichmäßige Verteilung der Itemschwierigkeiten und zufriedenstellende Fit-Indizes (Infit = 0.8 – 1.2; Outfit = 0.8 – 1.4). Die a priori erwarteten Schwierigkeiten der Verhaltensitems decken sich mit den empirisch ermittelten Schwierigkeiten. Zwischen den verhaltensbasierten Einstellungswerten (WLE-Personenschätzern) und den Konstrukten des traditionellen Einstellungsmaßes (z. B. Überzeugungen, Besorgnis, Verantwortungsattribution) ergeben sich Zusammenhänge zwischen r = .22 und r = .51. Zusammen-genommen erklären letztere etwa 36 % der Varianz in der verhaltensbezogenen Einstellung der Jugendlichen.

Bezogen auf die Ergebnisse der Vorstudie können zwei Instrumente für Lehrkräfte zur Verfügung gestellt werden, die unterschiedliche Erkenntnisinteressen bedienen: Steht die Evaluation des eigenen Unterrichts zu Klimathemen und seine Wirkung auf die Einstellungen der Schüler*innen im Fokus, eignet sich der Fragebogen zur verhaltensbasierten Einstellung sehr gut, da er zeitsparend einen zusammengefassten Einstellungswert ausgibt und sich somit für Veränderungsmessungen eignet. Ist dagegen zu Beginn einer Unterrichtseinheit von Interesse, welche Einstellungen bei den Schüler*innen vorzufinden sind, um den Unterricht darauf aufzubauen, liefert das traditionelle Einstellungsmaß detailliertere Einsichten in klimarelevante Konstrukte wie Überzeugungen oder Besorgnis.

 

Nachhaltigkeitseinstellungen von Schüler*innen und Eltern im internationalen Vergleich: Bedeutung der nationalen- und Schulebene

Nina Roczen1, Marit List1, Nina Jude2
1DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Frankfurt, 2Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Theoretischer Hintergrund

Globale Herausforderungen im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit erfordern sowohl politische Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene als auch individuelles Handeln. Um individuelle Handlungskompetenzen zu fördern, ist es entscheidend, verschiedene Voraussetzungen für diese Kompetenzen zu verstehen, darunter Einstellungen, Werthaltungen und Wissen sowie deren Wechselwirkungen. Bei Kindern und Jugendlichen gelten die familiäre Sozialisierung sowie die schulische Bildung als bedeutsam für die Entwicklung dieser Voraussetzungen. Bisherige Studien zur Genese und dem Zusammenspiel nachhaltigkeitsbezogener Einstellungen von Kindern und Jugendlichen betrachten dabei zumeist nur einzelne oder wenige Länder (z. B. Ando et al., 2015). Die OECD-Studie PISA 2015 (OECD, 2017) bietet Daten, um die Zusammenhänge zwischen nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen unter Berücksichtigung des familiären und schulischen Kontexts simultan in verschiedenen Ländern zu analysieren. In einigen der an der PISA-Studie teilnehmenden Länder werden auch Eltern befragt. Diese Elterninformationen werden in der Regel verwendet, um Schüler*innenleistungen vorherzusagen. Aufbauend auf dem Forschungsstand zum Zusammenhang von Schüler*innen- und Elterneinstellungen sowie Prädiktoren von Nachhaltigkeitseinstellungen (Ando et al., 2015; Grønhøj & Thøgersen, 2012, 2017; List et al., 2020) untersuchen wir die Zusammenhänge zwischen den nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen von Schüler*innen und ihren Eltern in einem gemeinsamen Modell. Wir vergleichen dieses Modell in verschiedenen Ländern, um Unterschiede zwischen kulturellen Kontexten und Schulsystemen zu berücksichtigen. Dazu integrieren wir Prädiktoren auf Schulebene sowie auf nationaler Ebene und untersuchen, inwieweit diese die unterschiedlich starken Zusammenhänge zwischen Schüler*innen und ihren Eltern in den verschiedenen Kontexten (Schulen, Schulsysteme) erklären können.

Fragestellung

Unsere Fragestellungen beziehen sich (1) auf die Zusammenhänge zwischen Schüler*innen und Eltern sowie (2) auf den internationalen Vergleich:

1) Zusammenhänge zwischen Schüler*innen- und Elterneinstellungen

a. Hängen die nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen von Schüler*innen mit denen ihrer Eltern zusammen?

2) Internationaler Vergleich

a. Lässt sich ein Zusammenhangsmodell in allen Ländern bestätigen?

b. Wie unterscheiden sich die Zusammenhänge von elterlichen und kindlichen Umwelteinstellungen in den unterschiedlichen Ländern?

c. Gibt es Prädiktoren auf Schulebene oder Schulsystemebene, die die Unterschiedlichkeit in der Stärke der Zusammenhänge erklären können?

Methode

Unsere Analysen basieren auf den PISA-2015-Daten von 16 Ländern von insgesamt N=22.400 Schüler*innen und ihren Eltern. Als nachhaltigkeitsbezogene Einstellungen untersuchen wir auf Schüler*innenseite Skalen zu (1) dem Bewusstsein für umweltbezogene Probleme wie Atommüll oder Luftverschmutzung (Umweltbewusstsein), (2) der Einschätzung, inwieweit sich diese Probleme in den nächsten Jahren verbessern oder verschlechtern werden (Umweltoptimismus), und (3) dem Interesse an Naturwissenschaften. Auf Elternseite untersuchen wir (4) Umweltoptimismus und (5) eine Skala zur Besorgnis bezüglich der o.g. Umweltprobleme (Umweltbesorgnis). Alle Analysen wurden mittels Multigruppen-Strukturgleichungsmodellen in der Software Mplus durchgeführt. Um der genesteten Datenstruktur (Personen genestet in Schulen genestet in Ländern) gerecht zu werden, verwenden wir einen Mehrebenenansatz und schätzen Effekte auf Individual-, Schul- und Länderebene.

Ergebnisse und Bedeutung

Deskriptive Analysen zum Umweltoptimismus zeigen, dass in fast allen Ländern Schüler*innen in Bezug auf die meisten Umweltthemen optimistischer sind als ihre Eltern. Die Stärke dieser Unterschiede variiert zwischen Ländern. Allgemein unterscheiden sich Schüler*innen und Eltern in ihrem Optimismus in Bezug auf "Energieknappheit", "Wasserknappheit" und "Atommüll" stärker als in Bezug auf die übrigen Umweltprobleme.

Die Überprüfung der Mehrgruppen Strukturgleichungsmodelle zur Beschreibung der Zusammenhänge zwischen nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen von Schüler*innen und Eltern indizieren eine gute Passung, d.h. es kann davon ausgegangen werden, dass die Struktur dieser nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen in den Ländern vergleichbar ist. Die Modelle zeigen für die meisten Länder signifikante Zusammenhänge zwischen nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen von Schüler*innen und Eltern. Die Stärke der Zusammenhänge unterscheidet sich z.T. deutlich zwischen einzelnen Ländern. Erste Analysen zu Variablen auf Schulsystem- und Schulebene legen nahe, dass diese die Unterschiede nur in geringem Maße erklären können.

Nachhaltigkeitsbezogene Einstellungen wie Umweltbewusstsein und -optimismus gelten als wichtige Voraussetzung für den Erwerb von Handlungskompetenzen für eine nachhaltige Entwicklung. Mit unserem Beitrag liefern wir Erkenntnisse, die dazu beitragen, das Zusammenspiel dieser nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen besser zu verstehen.

 

Diagnose von Lernendenmerkmalen zur Förderung individueller Entscheidungsprozesse von Schüler*innen im Kontext einer NE

Federica Valsangiacomo1, Ute Bender2, Christine Künzli3
1Pädagogische Hochschule Freiburg, Pädagogische Hochschule Fachhochschule Nordwestschweiz, 2Pädagogische Hochschule Freiburg, 3Pädagogische Hochschule Fachhochschule Nordwestschweiz

Im Hinblick auf eine bewusste (Mit-)Gestaltung des eigenen und des gesellschaftlichen Lebens im Kontext einer Nachhaltigen Entwicklung (NE) ist die Fähigkeit, reflektierte Entscheidungen zu treffen, von Bedeutung (de Haan, 2008; Künzli & Bertschy, 2008; UNEP 2010). Entscheidungen in diesem Kontext sind durch mehrere Kriterien gekennzeichnet, aus denen unterschiedliche, zum Teil konfligierende Handlungsoptionen ergeben können (Cebrian et al., 2020; Sander & Höttecke, 2018). Solche Entscheidungen sind dementsprechend komplex (Böhm et al., 2020) und erfordern, dass Individuen unterschiedliche Handlungsoptionen erkennen und gegeneinander abwägen, sich fundiert entscheiden und ihre Entscheidungsprozesse reflektieren können (Bögeholz et al., 2018; Dittmer et al., 2019). Für die Gestaltung des eigenen Alltags sowie die aktive Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen im Kontext einer NE ist die Fähigkeit, solche Entscheidungen zu treffen, zentral und muss daher gezielt gefördert werden (Ardwiyanti & Prasetyo, 2021; Garrecht et al., 2018; Gresch et al., 2017). Dies erfordert, dass Lehrpersonen in der Lage sind, die Entscheidungsfähigkeit ihrer Schüler*innen im Kontext einer NE zu diagnostizieren und sie gezielt zu fördern.

Unter bislang vorliegenden Forschungsarbeiten finden sich Interventionsstudien zur Förderung von Entscheidungskompetenz von Schüler*innen im Rahmen einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE). Sie konzentrieren sich auf die Förderung einzelner spezifischer Fähigkeiten in Entscheidungsprozessen. Obwohl diese Studien gewisse Erfolge der jeweiligen Intervention verzeichnen, können wichtige Interventionsziele nicht nachweisen (Eggert & Bögeholz, 2010; Gresch et al., 2013; Gresch, 2012; Gresch & Bögeholz, 2013; Nahum et al., 2010). Zudem werden die Werte von Schüler*innen in den Studien kaum berücksichtigt (Lee & Grace, 2010; Ratcliffe & Grace, 2003) und die Rolle des Wissens der Lernenden im Entscheidungsprozess bleibt offen (Gausmann et. al., 2010; Sakschewski et al. 2014). Einige dieser Studien deuten darauf hin, dass Schüler*innen keine Schwierigkeiten haben, Handlungsoptionen zu entwickeln. Sie haben jedoch Schwierigkeiten, NE-Wissen im Entscheidungsprozess angemessen zu berücksichtigen (Gausmann et al., 2010; Ratcliffe, 1997). Darüber hinaus verweisen einige Studien auf die Schwierigkeit der Schüler*innen, Abwägungsprozesse zu vollziehen und mit widersprüchlichen Werten umzugehen (Eggert, 2008; Eggert & Bögeholz, 2010).

Mit Blick auf die Förderung von Entscheidungskompetenz im Sinne einer NE geht es im Betrag darum zu verstehen, wie Schüler*innen Entscheidungen treffen, damit Lehrpersonen die diesbezüglichen Merkmale der Lernenden erkennen und ihre Entscheidungsfähigkeit im Unterricht gezielt fördern können: Wie gestalten 11- bis 12-jährige Schüler*innen ihre Entscheidungsprozesse im Kontext einer NE? Welche Typen von Entscheidungsprozessen lassen sich erkennen?

Hierzu werden die Daten aus dem qualitativen Forschungsprojekt EKoN-E (Entscheidungsprozesse im Kontext einer Nachhaltigen Entwicklung mit dem Fokus Ernährung) verwendet. Im Projekt wurden die die Schüler*innen nach einem mehrstufigen kriterienorientierten Auswahlverfahren ausgewählt, welches die Zusammenstellung einer variationsmaximierten Stichprobe (Misoch, 2019) gewährleistete. Hierzu wurden die Kriterien Standort, Wissensniveau, Wertorientierung (im Sinne von Schwartz et al., 2012), Geschlecht sowie sozioökonomischer Status der Eltern berücksichtigt. Insgesamt wurden 27 Schüler*innen der sechsten Schulklasse aus fünf Schulen der Deutschschweiz ausgewählt.

Zur Datenerhebung wurde die Methode des unstrukturierten Lauten Denkens (Ericsson & Simon, 1993) in Kombination mit einer Phase der Retrospektion (Konrad, 2020; Sandmann, 2014) genutzt. Hierzu wurde jedes Kind mittels eines offenen Impulses in eine Entscheidungssituation zum Thema Fleisch versetzt. Als Auswertungsmethode diente zunächst die inhaltlich strukturierende und anschliessend die inhaltlich zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2020). Zur Konstruktion einer Typologie von Entscheidungsprozessen fand die Methode der empirisch begründeten Typenbildung gemäß Kelle & Kluge (2010) Anwendung.

Daraus ergaben sich fünf Typen individueller Entscheidungsprozesse. Die Unterschiede zeigten sich insbesondere im Formulieren und Berücksichtigung mehrerer Handlungsoptionen sowie im Abwägen zwischen konfligierenden Handlungsoptionen. Die Befunde zeigten auch, dass der Einbezug widersprüchlicher Werte Entscheidungen im Sinne einer NE unterstützt. Diese Ergebnisse stellen Merkmale dar, die Lehrpersonen diagnostizieren und verstehen sollten, um die Entscheidungsfähigkeit der Lernenden im Unterricht gezielt zu fördern.

 
9:00 - 10:407-10: Erstakademiker:innen an der Hochschule – Zusammenhänge zwischen Herkunft und Studienerfolg
Ort: S26
 
Symposium

Erstakademiker:innen an der Hochschule – Zusammenhänge zwischen Herkunft und Studienerfolg

Chair(s): Johannes Vollmer (Albert–Ludwigs–Universität Freiburg, Deutschland), Annabell Daniel (Ludwig-Maximilians-Universität), Matthias Nückles (Albert–Ludwigs–Universität Freiburg, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Rainer Watermann (Freie Universität Berlin)

Sowohl beim Hochschulzugang als auch beim Studienerfolg und Studienabbruch lassen sich ausgeprägte soziale Disparitäten zum Nachteil von Studierenden nicht-akademischer Herkunft, deren Eltern selbst nicht studiert haben, beobachten (Bachsleitner et al., 2022; Klein & Müller, 2020). Während die Ursachen für den sozial selektiven Zugang vielfach untersucht wurden (Quast et al., 2023), sind die Mechanismen sozialer Disparitäten beim Studienerfolg sowie dem Studienabbruch weitgehend ungeklärt. Es gibt zwar Untersuchungen, die auf Unterschiede in den Studienleistungen zwischen Studierenden unterschiedlicher sozialer Herkunft hinweisen (Schlücker & Schindler, 2019), jedoch können diese allein die bestehenden Ungleichheiten im Studienerfolg und Studienabbruch nicht vollständig erklären (Klein & Müller, 2020). Neben den Studienleistungen als einem Indikator für die akademische Integration dürfte nach Tinto (1975) zudem die soziale Integration positiv den Studienverlauf und somit den Studienerfolg bzw. negativ den Studienabbruch beeinflussen. Internationale Untersuchungen haben gezeigt, dass Studierende nicht-akademischer Herkunft oftmals eine geringere soziale Eingebundenheit berichten (Ostrove & Long, 2007, Rubin, 2012) und eine geringere kulturelle Passung zum Hochschulmilieu wahrnehmen (Stephens et al., 2019). Das Gefühl, nicht dazu zugehören, wirkt sich wiederum negativ auf die motivationale und leistungsbezogene Entwicklung aus (Walton & Cohen, 2007, Stephens et al., 2012). In Deutschland mangelt es bislang an systematischen Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen der Bildungsherkunft und der sozialen Integration sowie zu den daraus resultierenden Unterschieden in der Studienmotivation und den Studienleistungen.

Das Ziel des Symposiums ist es daher, aus einer interdisziplinären Perspektive aufzuzeigen, inwiefern die akademische und soziale Integration von der Bildungsherkunft der Studierenden abhängt und welchen Einfluss diese auf verschiedene motivationale Dimensionen des Studienerfolgs sowie den Studienverlauf ausübt. Die einzelnen Beiträge greifen dazu auf unterschiedliche Datengrundlagen und Methoden zurück.

Aus einer soziologischen Perspektive analysiert Daniel Klein im ersten Beitrag, wie die akademische und soziale Integration abhängig von der Herkunft der Studierenden das Studienabbruchrisiko beeinflusst. Auf Basis des Nationalen Bildungspanels und des Deutschen Studierendensurveys zeigt er, dass sich die Leistungsorientierung kaum zwischen Studierenden akademischer und nicht-akademischer Herkunft unterscheidet. Allerdings fällt es Erstakademiker:innen im Vergleich schwerer, ein Freundschaftsnetzwerk aufzubauen und sich sozial zu integrieren, wodurch sich wiederum das Risiko eines Studienabbruchs für diese Gruppe erhöht.

Im zweiten Beitrag prüfen Stefan Janke und seine Kolleginnen aus einer psychologischen Perspektive herkunftsspezifische Unterschiede im Zugehörigkeitserleben sowie längsschnittliche Zusammenhänge mit der Studienzufriedenheit und dem Studienabbruch. Im Ergebnis zeigt sich ein vermindertes Zugehörigkeitserleben bei Erstakademiker:innen, das – anders als bei Studierenden mit Migrationshintergrund – zwar nicht mit einem sozialen Ausschluss einhergeht, aber dennoch negative Folgen für die Studienzufriedenheit hat und den Abbruch wahrscheinlicher werden lässt.

Johannes Vollmer und Matthias Nückles gehen aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive im dritten Beitrag der Frage nach, inwiefern ein höheres Fremdheitserleben die motivationale Regulation, die Lern- und Leistungsmotivation sowie die Wahl der Lernstrategien von Erstakademiker:innen im Lehramtsstudium beeinflusst. Die Ergebnisse ihrer Fragebogenstudie zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen dem Fremdheitserleben und einer Vermeidungsleistungszielorientierung und identifizieren Unterschiede bezüglich der introjizierten Regulation in Relation zur Bildungsherkunft. Ergänzend dazu führten sie halbstandardisierte Interviews und konnten zeigen, dass Erstakademiker:innen seltener Elaborationsstrategien anwenden als ihre Mitstudierenden akademischer Herkunft.

Im vierten Beitrag untersuchen Christina Bauer und ihre Kolleginnen aus psychologischer Perspektive das Talent-Selbstkonzept von Studierenden in Abhängigkeit ihrer Bildungsherkunft. In verschiedenen korrelativen und (quasi-)experimentellen Studien können sie zeigen, dass sich Erstakademiker:innen auch unter Kontrolle der Leistungen als weniger talentiert einschätzen und damit einhergehend ein geringes akademisches Engagement beweisen. Der Beitrag hebt darüber hinaus die Bedeutung des Kontextes hervor, indem die Autorinnen zeigen können, dass die Benachteiligungen für Erstakademiker:innen umso geringer ausfallen, je stärker das Umfeld Anstrengung statt Talent betont.

Insgesamt stellen die Beiträge wichtige Erkenntnisse darüber bereit, wie sich soziale Disparitäten im Studienerfolg und im Studienverlauf erklären lassen. Sie liefern zudem empirische Hinweise darauf, wo mögliche Maßnahmen zum Abbau von Bildungsbarrieren ansetzen können.

 

Beiträge des Symposiums

 

Soziale Herkunft und Studienabbruch: Eine Frage der sozialen Integration?

Daniel Klein
Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung

Das Studienabbruchrisiko hängt von der sozialen Herkunft ab; das ist seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt (z. B. Heublein et al., 2003; Kath et al., 1966; Klein & Müller, 2020). Studien zu den Ursachen dieses Zusammenhangs sind aber auch heute noch erstaunlich rar (Bachsleiter et al., 2022). Insbesondere das Erklärungspotenzial des international etablierten „Student Integration Model“ (Tinto, 1975, 1987) wurde diesbezüglich bisher kaum überprüft (Dahm et al., 2016). Vor diesem Hintergrund gehe ich in meinem Beitrag der Frage nach, inwiefern sich soziale Ungleichheit beim Studienabbruch durch die soziale und akademische Integration der Studierenden erklären lässt. Aus theoretischer Perspektive zeichne ich zunächst die zentralen Dimensionen der sozialen und akademischen Integration nach und zeige deren Abhängigkeit von der sozialen Herkunft auf. Dabei gehe ich knapp auf unterschiedliche Modellvarianten (Tinto, 1975, 1987) ein und diskutiere auch Wechselwirkungen zwischen der sozialen und akademischen Integration. Als Datengrundlage der empirischen Überprüfung des Modells verwende ich das Nationale Bildungspanel (NEPS) und den Deutschen („Konstanzer“) Studierendensurvey. Die Analysen basieren auf Regressionsmodellen und der nicht-linearen Dekompositionsmethode von Karlson et al. (2012). Die Ergebnisse bestätigen, dass Studierende aus Nichtakademiker-Familien Schwierigkeiten haben, Kontakte zu Kommiliton:innen zuknüpfen. Weiterhin deutet sich an, dass eine misslungene soziale Integration in Form fehlender Kontakte zu Kommiliton:innen den positiven Einfluss bestimmter Formen der akademischen Integration reduziert und so das Studienabbruchrisiko weiter erhöht. Es zeigt sich aber auch, dass Kontakte zu Dozierenden und die akademische Integration in Form von Leistungserwartungen und Leistungsorientierung kaum von der sozialen Herkunft abhängen. Insgesamt lässt sich deshalb nur ein geringer Anteil der sozialen Ungleichheit beim Studienabbruch auf mangelnde Integration zurückführen.

 

Vermindertes Zugehörigkeitsgefühl an der Universität für Erstakademiker:innen und Studierende ethnischer Minoritäten: Gleiches Erleben, unterschiedliche Gründe?

Stefan Janke1, Laura Messerer1, Belinda Merkle1, Selma Rudert2
1Universität Mannheim, 2Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau

Studierende deren Eltern nicht selbst studiert haben (sog. Erstakademiker:innen), sowie Studierende die nicht der Majoritätsethnie angehören, schildern in der Studieneingangsphase verstärkt Unsicherheit in Bezug auf die eigene Zugehörigkeit an der Universität (u.a. Janke et al., 2017; Johnson et al., 2007). Bisherige Erklärungsmodelle sehen diese Zugehörigkeitsunsicherheit insbesondere als Folge fehlerhafter Attributionen sozialer Hinweisreize und resultierenden selbsterfüllende Prophezeiungen (siehe Walton & Cohen, 2011). Dieser vorwiegend in internalen Prozessen verankerte Mechanismus wird dabei sowohl für Erstakademiker:innen als auch für Studierende aus ethnischen Minoritäten angenommen, obwohl sich beide Gruppen mutmaßlich in der Visibilität des Merkmals unterscheiden, welches sie von der Majorität an ihrer Universität abhebt. Während der familiäre Bildungshintergrund wenig visibel ist, kann die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minorität durchaus für andere Studierende visibel sein. In Einklang mit dem Prinzip der Homophilie ist dabei zu erwarten, dass Studierende sich eher Kommiliton:innen annähern, welche ihnen auch (sichtbar) ähnlich sind (Jaffé et al., 2019). Während also für Erstakademiker:innen eher davon ausgegangen werden kann, dass Zugehörigkeitsunsicherheit eine Folge internaler Prozesse ist, könnte für Studierende aus Minoritäten mit assoziierten visiblen Merkmalen tatsächlicher sozialer Ausschluss einen wesentlichen Wirkfaktor darstellen. Diese differentiellen Annahmen wurden von uns in einer Stichprobe von 973 Universitätsstudierenden aus zwei konsekutiven Jahrgängen untersucht (ausschließlich reguläre Studierende, keine Gaststudierende), welche zu Beginn ihres ersten und ihres zweiten Semesters im Rahmen einer Längsschnittstudie befragt wurden. Zur Datenakquise wurde jeweils der vollständige Jahrgang über zentrale Verteiler einer mittelgroßen deutschen Universität angeschrieben und um Teilnahme gebeten. Hypothesen wurden mittels latenter Strukturgleichungsmodellierung geprüft. Im Ergebnis können wir aufzeigen, dass sowohl Erstakademiker:innen als auch Studierende mit Migrationshintergrund mit Bezug zum Nahen Osten, Afrika, Südostasien oder Lateinamerika ein vermindertes Zugehörigkeitserleben schildern. Allerdings ist dieser Zusammenhang nur für die letztere Gruppe, die sich durch potenziell sichtbare Ethnizität oder kulturellen Hintergrund auszeichnen, vermittelt durch ein erhöhtes Erleben sozialen Ausschlusses. Weitergehend interessant ist, dass Studierende mit Migrationshintergrund mit Bezug zu dem ehemaligen Ostblock und Europa im Vergleich zur Majorität wiederum weder ein beeinträchtigtes Zugehörigkeitserleben noch vermehrte Ausschlusserfahrungen schilderten. Unabhängig davon, ob ein vermindertes Zugehörigkeitserleben direkt oder vermittelt mit dem Minoritätsstatus zusammenhing, zeigten sich langfristige negative Zusammenhänge mit Studienzufriedenheit, Abbruchintention und faktischem Studienabbruch zu Beginn des zweiten Studiensemesters. Die Befunde legen nahe, dass sich Minoritätsgruppen an der Universität nicht nur in ihrem Zugehörigkeitsgefühl unterscheiden, sondern auch darin, ob dieses Zugehörigkeitsgefühl in Zusammenhang mit dem Erleben sozialen Ausschlusses steht. Auch wenn weitere Forschung zur Ergründung der Ursachen des erlebten sozialen Ausschlusses notwendig ist, zeigt die Studie schon jetzt die Notwendigkeit einer kritischen Diskussion von Erklärungsansätzen auf, welche die Ursache von Zugehörigkeitsunsicherheit primär bei dem betroffenen Individuum verorten. Während für Erstakademiker:innen individuumszentrierte psychologische Interventionen möglicherweise das Mittel der Wahl zur Verminderung von Zugehörigkeitsunsicherheit sind, sollten insbesondere in Bezug auf Studierende aus gesellschaftlich stark stereotypisierten Minoritäten verstärkt systemische Ursachen wie beispielhaft sozialer Ausschluss auf Grund von Gruppenzugehörigkeit adressiert werden.

 

Erstakademiker:innen – Fremdheitserleben, akademische Leistung und Studienerfolg

Johannes Vollmer, Matthias Nückles
Albert–Ludwigs–Universität Freiburg

Studienerfolg hängt nach dem Student Interaction Model (Tinto, 1975) in erheblichem Maße von einer gelungenen sozialen und akademischen Integration der Studierenden ab. Wenn Studierende in die kommunikativen Strukturen der Hochschule integriert sind (soziale Integration) und sich mit den vorherrschenden Normen und Werten an der Hochschule identifizieren (akademische Integration), entsteht ein stärkeres Verpflichtungsgefühl, was die Wahrscheinlichkeit für einen gelingenden Studienverlauf sowie erfolgreichen Studienabschluss erhöht.

Bei sozialer sowie akademischer Integration zeigen sich allerdings soziale Disparitäten zuungunsten von Erstakademiker:innen (EA) (Hicks & Wood, 2016). Es kann angenommen werden, dass für EA die soziale und akademische Integration im Vergleich zu Akademikerkindern (AK) deutlich schwieriger ist. So können sich EA an Hochschulen fremd fühlen, da sie bestimmte kulturelle Codes nicht beherrschen und es kann ihnen aufgrund einer hochschulferneren Sozialisation schwerfallen, sich mit den vorherrschenden Werten und Normen zu identifizieren (Bourdieu & Passeron, 1971). Diese Schwierigkeiten könnten wiederum Gründe für die schlechteren akademischen Leistungen (Jaksztat, 2014) und die höhere Studienabbruchquote von EA sein (Heublein et al., 2017).

Fragestellung

In dem vorliegenden Beitrag untersuchen wir, welche Faktoren Fremdheitserleben und soziale Integration beeinflussen und wie dieses Erleben mit der motivationalen Regulation der Studierenden zusammenhängt? Uns interessieren zudem mögliche Unterschiede in der Lern- und Leistungsmotivation zwischen EA und AK. Ferner möchten wir herausfinden, ob EA und AK unterschiedliche Lernstrategien nutzen und was die Wahl spezifischer Lernstrategien bedingt.

Methode

In zwei Studien haben wir Erstsemesterstudierende im Lehramtsstudium untersucht. Studie I war als Fragebogenstudie angelegt. Mit einem Subsample derselben Population wurden halbstandardisierte Interviews durchgeführt (Studie II). Die Fragebogenerhebung konzentriert sich auf Bereiche wie Kulturkapital, soziale Integration, Fremdheitserleben, wahrgenommene Unterstützung, motivationale Regulation, Lern- und Leistungsmotivation sowie Lernstrategien.

Die halbstandardisierten Interviews beinhalteten einen Metawissenstest, der das Strategiewissen erfasste. Zusätzlich wurde, um eine handlungsnahe Erfassung der angewendeten Lernstrategien zu erreichen, anhand vierer Prüfungsszenarien ermittelt, wie sich die Studierenden auf diese vorbereiten würden.

N = 304 (MAlter = 20.03, SD = 1.73, n = 192weiblich) nahmen an Studie-I teil. Davon waren n = 110 (36,2 %) EA. Die Stichprobe der Studie-II umfasst N = 51 (MAlter = 20.59, SD = 1.96, n = 35weiblich), n = 18 (35,3 %) waren EA.

Ergebnisse

In Studie I stellten wir fest, dass im Besonderen der Bildungsstand des Vaters einen signifikanten Einfluss auf das Fremdheitserleben der Studierenden hat. Ferner wurde deutlich, dass EA im Gegensatz zu AK ein signifikant höheres Fremdheitserleben aufweisen und weniger sozial integriert sind. Das Fremdheitserleben und die soziale Integration hängt mit der motivationalen Regulation der Studierenden zusammen, wobei Unterschiede zwischen EA und AK hauptsächlich in der introjizierten Regulation bestehen. Auch zeigten sich positive Zusammenhänge zwischen Fremdheitserleben und Vermeidungsleistungsziel-Orientierung sowie zwischen sozialer Integration und Lernziel-Orientierung. Hinsichtlich der Lernstrategien waren nur bei der Anwendung von Wiederholungsstrategien und Ressourcenstrategien tendenzielle Unterschiede zwischen AK und EA erkennbar.

In Studie II waren bezüglich des Strategiewissens keine Unterschiede zwischen EA und AK festzustellen. Bei den generativen Antworten zeigte sich jedoch, dass AK signifikant häufiger Elaborationsstrategien anwenden als EA.

Zusammenfassend legen unsere Ergebnisse nahe, dass Fremdheitserleben und soziale Integration im Studium wichtige Faktoren sind, die Studienverlauf und Studienerfolg beeinflussen können. Wir konnten Zusammenhänge zwischen dem Fremdheitserleben bzw. der sozialen Integration, der motivationalen Regulation, der Zielorientierung und den Lernstrategien finden. Darüber hinaus deuten die Daten darauf hin, dass sich EA und AK hinsichtlich ihres Strategiewissens nicht unterscheiden, jedoch zeigen EA bei der situativen Anwendung der Lernstrategien ein Produktionsdefizit.

 

Wer darf sich selbst als talentiert betrachten? Sozialisierte Unterschiede in Talent-Selbstkonzepten benachteiligen Erstakademiker:innen in talentorientierten Feldern

Christina Bauer1, Veronika Job1, Bettina Hannover2
1Universität Wien, 2Freie Universität Berlin

In westlichen Bildungskontexten gilt angeborenes intellektuelles Talent gemeinhin als wichtiger und erstrebenswerter Erfolgsfaktor. Eine Umfrage unter 1.820 westlichen Forscher:innen in verschiedenen Fachgebieten ergab beispielsweise eine breite allgemeine Zustimmung zu Aussagen wie "Wenn man in [meinem Fachgebiet] erfolgreich sein will, reicht harte Arbeit allein nicht aus; man muss eine angeborene Begabung oder ein Talent haben" (Leslie et al., 2015). Außerdem deutet Forschung darauf hin, dass Menschen talentierte "Naturtalente" gegenüber fleißigen "Strebern" selbst dann bevorzugen, wenn Letztere für eine Stelle besser qualifiziert sind (Tsay, 2016).

In solchen talentorientierten Umgebungen - d.h., Umgebungen, die Talent eine hohe Bedeutung zumessen – spielt das Ausmaß, in dem sich Studierende selbst für talentiert halten, eine wichtige Rolle. Studierende, die sich für relativ weniger talentiert halten, mögen sich zum Beispiel unsicher fühlen und sich weniger trauen, sich an der Universität einzubringen. Dabei erlauben die unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen, die Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen machen, es nicht jeder Person, sich in gleichem Maße für talentiert zu halten (Eccles & Wigfield, 2020).

Fragestellung

In der vorliegenden Studie untersuchen wir Unterschiede im Talentselbstkonzept von Studierenden in Abhängigkeit von ihrer Bildungsherkunft. Wir vermuten, dass Erstakademiker:innen sich selbst als relativ weniger talentiert sehen als ihre Altersgenossen, selbst wenn man frühere Leistungsunterschiede berücksichtigt. Wir nehmen an, dass diese Verzerrung spezifisch für das Talentselbstkonzept ist und sich nicht für anstrengungsbezogene Komponenten des Selbstkonzepts wie das Fleiß-Selbstkonzept zeigt. Darüber hinaus vermuten wir, dass die Verzerrung des Talentselbstkonzepts zu Nachteilen hinsichtlich des akademischen Erlebens und Engagements unter Erstakademiker:innen in talentorientierten Umgebungen beiträgt. Schließlich untersuchen wir, ob die Kultivierung von anstrengungs- statt talentorientierten Umgebungen die negativen Folgen von verzerrten Talentselbstkonzepten abfedern kann.

Methode

Wir untersuchen unsere Hypothesen in fünf Studien mit insgesamt 3.584 Studierenden in westlichen Ländern. Dabei nutzen wir unterschiedliche Methoden. Um die Auswirkung von Bildungshintergrund auf Talent-Selbstkonzepte zu untersuchen, vergleichen wir die Selbstkonzepte von Erstakademiker:innen und Nicht-Erstakademiker:innen in einem quasi-experimentellen Design unter Kontrolle bisheriger Leistungen (Quasi-Experimente 1a-b; N = 694; 316). Zum Nachweis von Konsequenzen dieser Talent-Selbstkonzept-Verzerrungen kombinieren wir eine korrelative Feldstudie, die indirekte „Bildungshintergrund -> Talent-Selbst-Konzept -> Outcome“-Pfade testet (Feldstudie 2a; N = 1.881) mit einer experimentellen Studie, die das Talent-Selbstkonzept experimentell manipuliert und kausale Folgen untersucht (Experiment 2b; N = 372). Damit folgen wir dem „Causal Chain Approach“, der uns erlaubt, Kausalität in unserem Mediationsmodell nachzuweisen (Spencer et al., 2005). Schlussendlich manipulieren wir unseren angenommenen Moderator – den Anstrengungs- vs. Talent-Fokus in der akademischen Umgebung – in einem Experiment (Experiment 3; N = 331), um zu untersuchen, ob so Disparitäten, die durch verzerrte Talent-Konzepte entstehen, vermindert werden können.

Ergebnisse

Quasi-Experimente 1a und b zeigen, dass sich Erstakademiker:innen als relativ weniger talentiert, aber nicht weniger fleißig einschätzen. Diese Unterschiede zeigen sich auch unter Kontrolle bisheriger Leistungsunterschiede. Feld- und experimentelle Studien 2a-b zeigen weiterhin, dass Verzerrungen im Talent-Selbstkonzept zu Benachteiligungen von Erstakademiker:innen beitragen: Die geringeren Talent-Selbstkonzepte von Erstakademiker:innen sagen Benachteiligungen in ihrem akademischen Erleben und Engagement vorher (korrelative Feldstudie 2a) und eine experimentelle Verminderung von Talent-Selbstkonzepten (Experiment 2b) führt zu solchen Benachteiligungen. Experiment 3 demonstriert schlussendlich, dass Benachteiligungen, die aus verzerrten Talentselbstkonzepten stammen, am stärksten in talentorientierten Umfeldern ausgeprägt sind. Wenn jedoch das Umfeld Anstrengung statt Talent betont, werden die mit dem Talentselbstkonzept verbundenen Nachteile gemildert.

Insgesamt scheinen die Erfahrungen, die Erstakademiker:innen in derzeitigen westlichen Umfeldern machen, sie dazu zu bringen, sich selbst als relativ weniger talentiert zu sehen. Dies trägt zu sozialen Disparitäten bei. Die Kultivierung von anstrengungs- statt talent-orientierten Umfeldern kann diesen Disparitäten entgegenwirken und Gleichstellung fördern.

 
9:00 - 10:407-11: Geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene – welche Faktoren beeinflussen die Entscheidung für eine Berufsausbildung sowie die Aufnahme dieses Bildungsweges?
Ort: S27
 
Symposium

Geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene – welche Faktoren beeinflussen die Entscheidung für eine Berufsausbildung sowie die Aufnahme dieses Bildungsweges?

Chair(s): Regina Becker (Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, Bamberg), Gisela Will (Leibniz-Institut für Bildungsverläufe)

Diskutant*in(nen): Georg Lorenz (Universität Potsdam)

Im Zuge der Fluchtbewegungen Mitte der 2010er Jahre haben ca. 1,8 Millionen Geflüchtete in Deutschland Schutz gesucht. Die Schutzsuchenden sind dabei im Durchschnitt deutlich jünger als die Bevölkerung in Deutschland; viele der Geflüchteten sind minderjährig oder gehören der Gruppe der 18-30-Jährigen an (Statistisches Bundesamt, 2019). Für Jugendliche und junge Erwachsene ist die Aufnahme einer Berufsausbildung von großer Bedeutung für die weiteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dies gilt insbesondere für Deutschland, da hier formale (Berufs-)Bildungsabschlüsse für die Positionierung auf dem Arbeitsmarkt eine zentrale Rolle spielen (z.B. Shavit/Blossfeld, 1993; Shavit/Müller, 1998). Die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung für selbst zugewanderte Jugendliche und junge Erwachsene ist jedoch mit besonderen Herausforderungen verknüpft. Viele der Neuzugewanderten haben die gesamte oder zumindest einen Großteil ihrer Schulzeit im Herkunftsland verbracht, das Wissen über das deutsche (Berufs-)Bildungssystem ist eher gering und die meisten der Geflüchteten lernen erst seit Ankunft im Aufnahmeland die deutsche Sprache. Die empirisch beobachtbaren geringeren Zugangschancen von jungen Erwachsenen mit Fluchthintergrund in eine berufliche Ausbildung – auch unter Kontrolle zentraler Einflussfaktoren (z.B. Eberhard/Schuß, 2021) – legen zudem nahe, dass es auch auf Seiten der Betriebe Zugangsbarrieren wie etwa Diskriminierung oder Planungsunsicherheit aufgrund unsicherer Bleibeperspektive von Geflüchteten gibt.

In dem Symposium wird der Frage nachgegangen, inwieweit es geflüchteten Neuzugewanderten, die als Jugendliche oder junge Erwachsene nach Deutschland kommen, gelingt, im Bildungssystem Fuß zu fassen und eine Berufsausbildung zu beginnen. Den Beiträgen liegt ein gemeinsames grundlegendes Theorieverständnis zu Grunde, bei dem individuelle Ressourcen, das soziale Umfeld sowie Faktoren auf Makroebene (z.B. regionale Ausbildungsmärkte) in ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse und Bildungsentscheidungen berücksichtigt werden. Die Beiträge ziehen dabei im Detail jedoch unterschiedliche Theorieansätze heran und fokussieren verschiedene Ebenen der genannten Einflussfaktoren. Durch die detaillierte Betrachtung der Determinanten von Bildungsentscheidungen einerseits sowie der Analyse von Einmündungschancen in berufliche Bildung andererseits wird der Themenkomplex aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Auch genderspezifische Aspekte werden in zwei Beiträgen als besonderer Schwerpunkt berücksichtigt.

Das Symposium umfasst insgesamt vier Vorträge und einen Diskussionsbeitrag, der die Ergebnisse der Einzelvorträge reflektiert und zueinander in Beziehung setzt. Die ersten beiden Beiträge arbeiten mit den Daten der Studie „ReGES – Refugees in the German Educational System“ (vgl. Will et al., 2021) und beschäftigen sich mit geflüchteten Jugendlichen, die als Seiteneinsteiger:innen in das deutsche Schulsystem gekommen sind und sich zum Zeitpunkt der ersten Befragung im allgemeinbildenden Schulsystem der Sekundarstufe I befanden. Der erste Beitrag zeigt, welche Bildungswege die Jugendlichen von der Sekundarstufe I an im weiteren Verlauf der Bildungsbiographie einschlagen und prüft, inwieweit berufliche Ausbildungswege für die Jugendlichen eine quantitativ bedeutsame Alternative darstellen. Der zweite Beitrag des Symposiums untersucht welche Faktoren die Entscheidung für eine berufliche Ausbildung beeinflussen. Betrachtet werden hierbei wahrgenommene Nutzen und Kosten einer möglichen Berufsausbildung sowie die subjektiv eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, eine Ausbildung erfolgreich abschließen zu können.

Beitrag drei und vier widmen sich der Frage, welche Chancen geflüchtete Jugendliche und jungen Erwachsene beim Übergang in eine Berufsausbildung haben. Im Fokus stehen hier besonders junge Frauen. Im dritten Beitrag wird mit Daten der IAB-BAMF-SOEP Geflüchtetenbefragung (Kühne et al., 2019) untersucht, welche Faktoren mit der Aufnahme einer Berufsausbildung von jungen geflüchteten Frauen zusammenhängen. Berücksichtigt wird hier neben individuellen Ressourcen und regionale Faktoren des Ausbildungsmarktes insbesondere das soziale Umfeld der geflüchteten Frauen. Der vierte Beitrag geht der Frage nach, inwieweit unterschiedliche Chancen beim Zugang zu beruflicher Ausbildung zwischen ausbildungsinteressierten jungen Menschen mit oder Fluchthintergrund in bzw. kurz nach der Coronapandemie bestehen und analysiert zentrale Einflussfaktoren. Insbesondere wird betrachtet, ob weibliche junge Geflüchtete weniger von ungünstigen Einmündungschancen in und kurz nach der Coronapandemie betroffen sind als männliche Geflüchtete. Der Beitrag nutzt die Daten der BA/BIBB-Bewerberbefragung (Christ et al., 2022).

 

Beiträge des Symposiums

 

Bildungsverläufe geflüchteter Jugendlicher in Deutschland: Eine deskriptive Bestandsaufnahme

Regina Becker
Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, Bamberg

Mitte der 2010er Jahre sind ca. 1,8 Millionen Geflüchtete nach Deutschland gekommen, ungefähr ein Viertel davon sind in einem schulpflichtigen Alter (Statistisches Bundesamt, 2019). Für diese Kinder und Jugendliche kommt der Teilhabe am Bildungssystem eine zentrale Bedeutung zu, auch da Bildungsqualifikationen und -zertifikate einen maßgeblichen Einfluss auf den späteren Arbeitsmarkterfolg haben (Bol/van der Werfhorst, 2011).

Bisherige Forschung beschäftigt sich insbesondere mit Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb geflüchteter Schüler:innen sowie mit ausgewählten Bildungsübergängen (El-Mafaalani/Kemper, 2017; Winkler, 2021). Hinsichtlich der Bildungsverläufe wurde gezeigt, dass die Bildungsbiographien der damals in Deutschland angekommenen Kinder und Jugendlichen oftmals von Unterbrechungen gekennzeichnet sind, die einerseits auf die Situation im Herkunftsland und eine längere Fluchtdauer (Homuth et al., 2020), andererseits auch, bedingt durch unterschiedliche regionale institutionelle Rahmenbedingungen, auf Verzögerungen bei der Einschulung in Deutschland zurückzuführen sind (Will/Homuth, 2020; Will et al., 2022). Darüber hinaus ist wenig über die Bildungsbiographien geflüchteter Jugendlicher in Deutschland bekannt. Eine Analyse der Bildungsverläufe ist jedoch essentiell um mögliche Ungleichheiten im Zugang zu Bildung besser zu verstehen und Unterstützungsmöglichkeiten identifizieren zu können.

Der vorliegende Beitrag widmet sich der Untersuchung von Bildungsbiographien geflüchteter Jugendlicher. Wer verbleibt länger im allgemeinbildenden Schulsystem und besucht die Sekundarstufe II? Wem gelingt der Übergang in eine berufliche Ausbildung und welche Rolle kommt dem Übergangssystem zu? Ziel des Beitrags ist es, zum einen Bildungsverläufe geflüchteter Jugendlicher in Deutschland deskriptiv zu beschreiben und zum anderen eine Erklärung für den Verbleib im allgemeinbildenden Schulsystem im Vergleich zum Übergang in das Übergangssystem bzw. in eine berufliche Ausbildung herauszuarbeiten.

Theoretisch basiert dieser Beitrag auf Ansätzen, die sowohl allgemeine, meist auf soziale Herkunft bezogene Faktoren (Boudon, 1974; Erikson/Jonsson, 1996), als auch migrations- und fluchtspezifische Faktoren zur Erklärung von Bildungsungleichheiten und Bildungsübergängen heranziehen (Hunkler, 2014). Dabei wird erwartet, dass Faktoren der sozialen Herkunft auch für geflüchtete Jugendliche Gültigkeit haben (Will/Homuth, 2020). Im vorliegenden Beitrag wird darauf aufbauend bspw. angenommen, dass sowohl Jugendliche, deren Eltern einen höheren sozioökonomischen Status haben, als auch Jugendliche mit besseren Deutschsprachkenntnissen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben die Sekundarstufe II zu besuchen. Darüber hinaus wird erwartet, dass der Besuch einer Neuzuwandererklasse negativ mit dem Besuch der Sekundarstufe II zusammenhängt, insbesondere für ältere Jugendliche.

Die empirischen Darstellungen beruhen auf der Panel-Studie „ReGES – Refugees in the German Educational System“ (Will et al., 2021), die seit 2018 Befragungen mit geflüchteten Jugendlichen durchführt. Die Jugendlichen sind zwischen 2014 und 2018 in Deutschland angekommen und besuchten zum Zeitpunkt der ersten Befragung die Sekundarstufe I des allgemeinbildenden Schulsystems. Die multivariaten Analysen basieren auf linearen Wahrscheinlichkeitsmodellen.

Zunächst werden die Bildungsverläufe der Jugendlichen ab dem Schuljahr 2017/2018 bis zum Schuljahr 2021/2022 dargestellt. 2022 besucht ungefähr ein Drittel der Jugendlichen weiterhin eine allgemeinbildende Schule, jeweils ca. 15% machen eine berufsvorbereitende Maßnahme oder eine beruflichen Ausbildung, fast 10% haben ein Studium begonnen, während über ein Viertel das Bildungssystem verlassen hat. Der andauernde Schulbesuch hängt teilweise damit zusammen, dass viele der Jugendlichen bei Eintritt ins deutsche Schulsystem in einer niedrigeren Klassenstufe eingestuft wurden, als dies ihrem Alter entsprochen hätte (siehe auch Will et al., 2022). Andererseits verweist dieser Befund darauf, dass viele geflüchtete Jugendliche, trotz ihrer herausforderungsvollen Situation als Seiteneinsteiger:innen ins Bildungssystem, weiterhin auf direktem Weg höhere Bildungsabschlüsse erwerben könnten. Im Verlauf zeigt sich insbesondere die Bedeutung des Übergangssystems, das viele Jugendliche nach dem Verlassen des allgemeinbildenden Schulsystems besuchen. Erste multivariate Analysen zum Verbleib in der Sekundarstufe II zeigen, dass ältere Jugendliche – tendenziell insbesondere wenn sie in einer Neuzuwandererklasse beschult wurden – eine geringere Wahrscheinlichkeit aufweisen, die Sekundarstufe II zu besuchen. Variablen der sozialen Herkunft sowie migrationsspezifische Faktoren weisen keine signifikanten Effekte auf. Dies könnte möglicherweise auf die Heterogenität dieser Gruppen zurückgeführt werden, die sich bspw. stark innerhalb der jeweiligen Bildungssituation (bspw. besuchte Schulform, Art der Berufsvorbereitung) unterscheiden.

 

„Soll ich eine Ausbildung machen?“ Entscheidungskalküle für berufliche Bildung bei geflüchteten Schüler:innen

Robin Busse1, Oliver Winkler2
1Technische Universität Darmstadt, 2Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

In Deutschland hat die berufliche Ausbildung große Bedeutung für die Verteilung von Lebenschancen (Konietzka/Hensel, 2017) und ist zugleich zentral für eine gelingende Integration geflüchteter Menschen (Jeon, 2019). Geflüchtete stehen beim Übergang allerdings vielschichtigen Herausforderungen gegenüber (Seeber et al., 2019). Während die Bedeutung von rechtlichen Hürden (z. B. Beschäftigungsverbote oder unklare Bleibeperspektiven/Aufenthaltsstatus) für die Chancen von Geflüchteten für den beruflichen Bildungsübergang empirisch nicht eindeutig ist (Meyer/Winkler, 2023), ist bestätigt, dass junge Geflüchtete neben Angeboten zum Erwerb von deutschen Sprachkenntnissen und schulischen Qualifikationen auch berufliche Orientierung benötigen (Eberhard/Schuß, 2021; Gerhards, 2019). Bislang gibt es allerdings nur wenig Forschung zu den beruflichen Abwägungen von Geflüchteten (Damelang/Kosyakova, 2021). Die Kenntnis beruflicher Abwägungen von Geflüchteten und deren Determinanten ist auch insofern wichtig, weil Hinweise auf erschwerte Ausbildungszugänge bei Geflüchteten vorliegen (Eberhard et al., 2017). Ziel der Studie ist es daher, die Einflussfaktoren bei den Kosten-Nutzen-Abwägungen für eine berufliche Ausbildung bei jungen Geflüchteten, die zwischen 2014 und 2017 nach Deutschland migriert sind, zu untersuchen.

Investitionen von Zugewanderten in länderspezifisches Humankapital können als Kosten-Nutzen-Überlegungen modelliert werden (Duleep/Regets, 1999). Auf diese Abwägungen sind Einflüsse von Merkmalen des Zeithorizonts (Hillmert/Jacob, 2003), Diskriminierungserwartungen (Heath et al., 2008) und elterlichen Bildungserwartungen (Kao/Tienda, 1995) zu erwarten. Wir nehmen an: Je wichtiger kurzfristige finanzielle Einkünfte, desto höher sind Nutzenerwartungen einer Ausbildung (H1a) und desto niedriger sind die erwarteten Kosten einer Ausbildung (H1b) z.B. im Vergleich zu (akademischen) Bildungswegen, bei denen längerfristigere Renditen wichtiger sein dürften. Je höher die Diskriminierungserwartung auf dem Ausbildungsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt für Ausbildungsberufe ist, desto niedriger sind der erwartete Nutzen (H2a) und der erwartete Erfolg einer Ausbildung (H2b) und desto höher sind die erwarteten Ausbildungskosten (H2c). Je höher die elterlichen Berufserwartungen sind, desto niedriger ist der erwartete Nutzen (H3a), da durch eine Ausbildung nicht die akademischen Bildungsziele erreicht werden können, die sich die Eltern für ihre Kinder wünschen. Dieses Abweichen von den elterlichen Erwartungen ist auch mit höheren erwarteten Kosten einer Ausbildung (H3b) verbunden.

Für die Analysen wird die Refugee Cohort 2 (RC2) der Studie „ReGES – Refugees in the German Educational System“ (Will et al., 2021) herangezogen. Die Zielpersonen der zweiten ReGES-Startkohorte sind geflüchtete Jugendliche, die zu Studienbeginn (Oktober 2017) zwischen 14 und 16 Jahre alt waren und noch die Sekundarstufe I des allgemeinbildenden Schulsystems besucht haben. Unser Analysesample beträgt n = 1.943. Die drei abhängigen Variablen sind die eingeschätzten Berufschancen B, die subjektive Erfolgserwartung p und die subjektiv wahrgenommenen Kosten C. Wir berechnen OLS-Modelle mit multipel imputierten Daten.

Wir finden systematische Unterschiede in den Kosten-Nutzen-Abwägungen der jungen Geflüchteten, die auch unter Kontrolle zentraler Drittvariablen (z.B. Geschlecht, Herkunftsland, Bleibeperspektive) bestehen. Die Befunde verweisen auf die Relevanz schneller Verdienstwünsche, die positiv mit den Nutzenerwartungen von jungen Geflüchteten bezüglich einer Ausbildung in Verbindung stehen. Antizipierte Diskriminierungen auf dem Ausbildungsmarkt stehen dagegen negativ mit den Nutzen- und Erfolgserwartungen der befragten Geflüchteten gegenüber einer Ausbildung in Verbindung. Zudem unterstreichen die Ergebnisse die Relevanz elterlicher Erwartungen, da mit der Höhe der elterlichen Berufserwartung die Nutzenbewertung einer Berufsausbildung geringer und die Kostenerwartung höher ausfällt. Die Befunde bieten wichtige Anhaltspunkte für die berufliche Orientierung von jungen Geflüchteten. Mit Blick auf die empirische Relevanz von Diskriminierungserwartungen für die Nutzen- und Erfolgserwartung einer beruflichen Ausbildung müssten zum einen berufsorientierende Angebote Diskriminierungserwartungen von jungen Geflüchteten gezielt adressieren; zum anderen können auch sensibilisierende Maßnahmen gegen Diskriminierung in Betrieben die Attraktivität von Berufsausbildungen fördern. Des Weiteren sollten berufsorientierende Angebote die Bedeutung elterlicher Berufserwartung für die Nutzenbewertung einer Berufsausbildung von jungen Geflüchteten berücksichtigen, da die Eltern womöglich noch nicht vertraut genug mit Berufsbildungssystem in Deutschland sind und eher akademische Bildungsoptionen für ihre Kinder erwägen.

 

Übergänge geflüchteter Frauen in die berufliche Ausbildung: Eine empirische Analyse der Herausforderungen und Gelingensbedingungen

Franziska Meyer
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Im Zeitraum von 2015–2016 haben über 600.000 geflüchtete Frauen einen Asylantrag in Deutschland gestellt (Eurostat, 2023). Ihr Alter liegt dabei deutlich unter dem der Mehrheitsbevölkerung; 39% von ihnen sind unter 30 und nochmal 35% zwischen 30 und 39 Jahre alt (Cardozo, 2023). Da die Arbeitsmarktpositionierung in Deutschland eng mit dem Erwerb formaler Qualifikationen verknüpft ist (Hausner et al., 2015), kann der Übergang in die Berufsausbildung als die wahrscheinlich aussichtsreichste Perspektive für ihre langfristige sozioökonomische Integration erachtet werden. Die Chancen von geflüchteten Frauen in eine Berufsausbildung überzugehen, sind insgesamt deutlich geringer als die von geflüchteten Männern (Meyer/Winkler, 2023). Doch weder zu ihren genauen Übergangszahlen noch zu den Bedingungen, die für ihre Ausbildungsaufnahme förderlich oder hemmend wirken, liegen bislang belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Ziel des Beitrags ist es, dieses Forschungsdesiderat zu adressieren und der Frage zu nachzugehen: Welche Hindernisse und Gelingensbedingungen sind mit dem Übergang junger geflüchteter Frauen in die Berufsausbildung assoziiert?

Grundsätzlich ergibt sich ein erfolgreicher Übergang in die Berufsausbildung aus dem Zusammenspiel der Präferenzen der potenziellen Auszubildenden und Ausbilder:innen auf der Mikroebene sowie der regionalen Opportunitätsstrukturen auf der Makroebene (Müller/Gangl, 2003). Es wird davon ausgegangen, dass die Ausbildungspräferenz der Frauen der 2015/16-Geflüchtetenkohorte in einem engem Zusammenhang mit normativen Vorstellungen zu Geschlechterrollen steht, sowohl ihrer eigenen als auch denen ihres sozialen Umfelds, das Druck auf sie ausüben kann, die geschlechtsspezifische Aufteilung von Haus- und Lohnarbeit aufrechtzuerhalten (Read/Oselin, 2008; Fernández/Fogli, 2009; Kulik/Rayyan, 2003). So wird angenommen, dass eine hohe Zustimmung der Frauen zu traditionellen Geschlechterrollen (H1a), das Vorhandensein eines Partners (H1b), ein häufiger Kontakt zu Personen derselben Herkunftsgruppe (H1c) sowie das Vorhandensein von Kindern unter sechs Jahren im Haushalt (H1d) negativ mit den Übergangschancen geflüchteter Frauen in das Berufsbildungssystem assoziiert sind. Umgekehrt ergibt sich die Präferenz der Ausbilder:innen für einen bestimmten Bewerber bzw. eine bestimmte Bewerberin mit Hinblick auf deren jeweilige Humankapitalausstattung. Einerseits sollten der Bildungsstand (H2a) sowie die im Herkunftsland erworbene Berufserfahrung (H2b) (klassisches Humankapital), andererseits Kenntnisse in der Aufnahmelandsprache (H2c) sowie der Kontakt zu Personen der Mehrheitsbevölkerung (H2d) (aufnahmelandspezifisches Humankapital) positiv mit der Chance auf eine Ausbildungsaufnahme assoziiert sein. Zuletzt kann auch die regionale Struktur des Ausbildungsmarkts eine wesentliche Opportunitätsstruktur für den Übergang geflüchteter Frauen in die Berufsausbildung darstellen. Da sich Frauen in Deutschland grundsätzlich vorwiegend auf Ausbildungsplätze im sekundären, schulischen Berufsbildungssektor bewerben (BIBB, 2022), sollte dessen stärkere regionale Präsenz positiv mit diesem Übergang assoziiert sein (H3).

Die Untersuchung dieser einzelnen Annahmen erfolgt auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten (Brücker et al., 2018) mithilfe eines Mehrebenen-Piecewise-Constant-Exponentialmodells. Die Stichprobe umfasst geflüchtete Frauen, die sich mit 18 bis 30 Jahren im ausbildungsfähigen Alter befinden (n = 932). Ihre Zeit bis zum Übergang in die Berufsausbildung, die sogenannte duration time, wird für den Zeitraum von 2016–2020 analysiert.

Deskriptiv zeigt sich, dass nur 9% der Frauen innerhalb des Untersuchungszeitraums in die Berufsausbildung übergegangen sind. Aus den multivariaten Analysen wird ersichtlich, dass nur wenige Faktoren mit diesem Übergang assoziiert sind: die Häufigkeit des Kontakts zu Personen desselben Herkunftslands, vor allem aber das Vorhandensein eines Partners stehen in einem signifikant negativen Zusammenhang mit dem Übergang geflüchteter Frauen in die Berufsausbildung. Demgegenüber stehen ein häufigerer Kontakt zu Personen der Mehrheitsbevölkerung sowie bessere Deutschsprachkenntnisse in einem signifikant positiven Zusammenhang mit der Chance geflüchteter Frauen, eine Ausbildung aufzunehmen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass dem sozialen Umfeld geflüchteter Frauen eine zentrale Rolle bei ihrer Integration in den deutschen Ausbildungsmarkt zukommt. Politische Maßnahmen, die auf eine Erhöhung des Frauenanteils unter geflüchteten Auszubildenden abzielen, sollten daher besonders eine stärkere Vernetzung der Frauen mit Personen der Mehrheitsbevölkerung anstreben, beispielsweise über Mentorinnenprogramme oder spezifische Beratungsstellen für Migrantinnen.

 

Trotz ungünstigerer Einmündungschancen für Alle in der Corona-Zeit: Überflügeln Bewerberinnen mit Fluchthintergrund junge Männer mit Fluchthintergrund beim Zugang in eine berufliche Ausbildung?

Mona Granato1, Alexander Christ2
1https://orcid.org/0000-0003-3847-9160, 2https://orcid.org/0009-0002-1428-3657

Die Beteiligung von Jugendlichen mit Migrations- und Fluchthintergrund an beruflicher Ausbildung liegt seit Jahren deutlich unter derjenigen von Jugendlichen ohne Migrations- und Fluchthintergrund. Selbst unter Berücksichtigung zentraler Einflussfaktoren lassen sich ihre geringeren Einmündungschancen nicht abschließend erklären (Beicht/Walden, 2017; Eberhard/Schuß, 2021). Dies gilt auch für junge Frauen mit Migrationshintergrund. Ihre geringeren Zugangschancen – gegenüber jungen Frauen ohne Migrationshintergrund sowie gegenüber der männlichen Vergleichsgruppe – sind nicht abschließend erklärt (Beicht/Walden, 2017).

Von dem nach der Pandemie wieder steigenden Angebot an dualen Ausbildungsplätzen bei sinkender Nachfrage nach Ausbildungsplätzen, d.h. einer besseren Ausbildungsmarktlage für Jugendliche auf der Suche nach einer Lehrstelle, haben Jugendliche mit (Flucht-)Migrationshintergrund nicht profitiert. Ihre Einmündungsquote in berufliche Ausbildung liegt weiterhin deutlich unter derjenigen der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund (Christ et al., 2023). Gleichzeitig weisen amtliche Statistiken darauf hin, dass junge Frauen mit einem Fluchtmigrationshintergrund seit der Pandemie häufiger als die männliche Vergleichsgruppe in eine duale Ausbildung einmünden (2018: w 33%, m 37%; 2022: w 39%, m 32% (Bundesagentur für Arbeit, 2022)).

Wie lässt sich erklären, dass es jungen Frauen mit Fluchthintergrund gerade in der Pandemie gelungen ist ihre Beteiligung an beruflicher Ausbildung zu erhöhen und dabei junge Männer mit Fluchthintergrund zu überflügeln?

Der vorliegende Beitrag greift diese Frage auf und nimmt dabei förderliche und hemmende Faktoren eines erfolgreichen Übergangs in berufliche Ausbildung in der (Nach-)Corona-Zeit in den Blick.

(1) Welche institutionellen, sozialen und individuellen Faktoren beeinflussen in und nach der Corona-Pandemie die geringeren Chancen von Jugendlichen mit Fluchterfahrung – gegenüber denjenigen ohne Migrationshintergrund – bei der Einmündung in eine berufliche Ausbildung?

(2) Welche Faktoren beeinflussen die (höhere) Einmündung junger Frauen mit einem Fluchthintergrund gegenüber der männlichen Vergleichsgruppe? Lassen sich Hinweise für eine ‚nachholende Integration‘ (Bade, 2007) finden – d.h. Hinweise für eine nachträgliche Chancenverbesserung bzw. Hinweise zur Erklärung der Verringerung bzw. Persistenz von Bildungsungleichheiten an dieser Statuspassage?

Aus einer Transitionsperspektive geht der Beitrag der Frage nach individuellen, sozialen und institutionellen Faktoren für einen gelingenden Übergang in berufliche Erstausbildung nach. Die Social Cognitive Career Theorie (SCCT) sieht den Zugang in Ausbildung von Jugendlichen als Prozess, der von individuellen und sozial vermittelten Unterschieden in den Ressourcen von Jugendlichen sowie von institutionell bedingten Gelegenheitsstrukturen geprägt wird (Lent et al., 2002). Hierzu gehören u.a. Unterstützungen und Hindernisse im Übergangsprozess und heterogene Ausbildungsmärkte. Individuelle, sozial vermittelte Faktoren wie Gelegenheitsstrukturen und ihre individuelle Wahrnehmung können bei Jugendlichen zu einer (weiteren) Einschränkung von Optionen und Chancen, zu einer (selbst- und fremdselektiven) Engführung im Übergangsprozess z.B. in geschlechtsspezifischer Hinsicht, beitragen.

Die BA/BIBB-Bewerberbefragung ist eine repräsentative schriftlich-postalische Untersuchung von Jugendlichen, die bei der Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit als Ausbildungsstellenbewerber:innen registriert sind (Christ et al., 2023).

Auf Basis der BA/BIBB-Bewerberbefragungen 2018 und 2021 werden deskriptive und multivariate Analysen (vorrangig Logit Modelle) durchgeführt, differenziert nach Migrations- und/oder Fluchthintergrund sowie Geschlecht. Der Verbleib der Bewerber:innen zum Befragungszeitpunkt in betrieblicher Ausbildung vs. nicht in betrieblicher Ausbildung ist jeweils die abhängige Variable.

Die Fallzahlen ermöglichen mithilfe deskriptiver und multivariater Analysen erste vorsichtige Aussagen differenziert nach Geschlecht und (Flucht-)Migrationshintergrund. Als zentrale erklärende Faktoren werden institutionelle Merkmale (u.a. regionale und berufsspezifische Ausbildungsmärkte, Unterstützungsangebote beim Übergang in berufliche Ausbildung), sozial vermittelte Faktoren (u.a. Unterstützung durch soziales Umfeld) sowie individuelle Merkmale (u.a. Alter, schulische Vorbildung) in die Regressionen einbezogen.

Erste Analysen weisen darauf hin, dass Bewerber:innen mit einem Fluchthintergrund sowie Bewerber:innen mit einem Migrationshintergrund ohne Fluchterfahrung, auch in der Pandemie selbst unter Kontrolle ausgewählter Faktoren geringere Chancen auf eine Ausbildungsstelle haben als Bewerber:innen ohne Fluchthintergrund. Weibliche Geflüchtete haben 2021 im Vergleich zu 2018 im Integrationsprozess aufgeholt und sind häufiger in Ausbildung eingemündet als männliche Geflüchtete. Die Ausarbeitung der Gelingensfaktoren, zu denen qualifikatorische Merkmale der Bewerber:innen, wahrgenommene Unterstützungsangebote aber auch Aktivitäten im Bewerbungsprozess zählen, sind Gegenstand des Beitrags.

 
9:00 - 10:407-12: Engagement mit Mathematiklernprogrammen: Determinanten und Effekte
Ort: S19
 
Symposium

Engagement mit Mathematiklernprogrammen: Determinanten und Effekte

Chair(s): Anna Hilz (Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik), Jennifer Meyer (Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik)

Diskutant*in(nen): Michael Sailer (Universität Augsburg)

Die Entwicklung mathematischer Fertigkeiten ist eine zentrale Voraussetzung für die soziale und berufliche Teilhabe in modernen Gesellschaften (OECD, 2019). Schon in der Grundschule werden die Grundlagen für eine erfolgreiche Entwicklung der Mathematikkompetenzen in der Sekundarstufe gelegt (Reinhold et al., 2019). Aktuelle Befunde aus TIMSS (Schwippert et al., 2020) zeigen jedoch, dass in Deutschland etwa 25 Prozent der Schüler:innen am Ende der Grundschulzeit grundlegende Defizite in den Grundrechenarten aufweisen. Eine besondere Herausforderung für das Bildungssystem und insbesondere für die Lehrkräfte der Sekundarstufe besteht deshalb darin, eine angemessene Unterstützung aller Schüler:innen in sehr heterogenen Klassenverbänden zu gewährleisten (OECD, 2019).

Im Zeitalter der Digitalisierung stellt der Einsatz von computergestützten Mathematiklernprogrammen einen vielversprechenden Ansatzpunkt dar, um dieser Herausforderung zu begegnen, da diese eine individuelle Förderung von Schüler:innen mit heterogenen Ausgangslagen vereinfachen. Dabei können solche Programme entweder in den Regelunterricht integriert und/oder als zusätzliche Lernmöglichkeit im häuslichen Rahmen genutzt werden. Eine Reihe von Studien konnte bereits das lernförderliche Potential solcher Mathematiklernprogramme zeigen (z.B. Byun & Joung, 2018; Tokac et al., 2019); wenig überraschend sind diese positiven Effekte jedoch abhängig von einer regelmäßigen Nutzung, also dem Engagement der Schüler:innen (Cheung & Slavin, 2013; Ozel et al., 2008). Um Schüler:innen demnach bestmöglich dabei zu unterstützen durch hohes und langfristiges Engagement vom Einsatz solcher Lernprogramme zu profitieren, kann an zwei zentralen Punkten angesetzt werden. Einerseits gilt es Lernumgebungen intern so zu gestalten, dass Schüler:innen Anreize geboten werden diese auch regelmäßig zu nutzen. Hierzu zählen beispielsweise Programmerkmale wie Adaptivität und Feedback, welche für positive Lernerfahrungen sorgen können (Hillmayr et al., 2020). Andererseits kann aber auch ein lernförderliches äußeres Umfeld oder Personenmerkmale der Schüler:innen ein regelmäßiges Üben bedingen (d.h. externe Faktoren). Auf Basis dieser beiden Annahmen gilt es zu untersuchen, welche Determinanten besonders relevant für das Engagement der Schüler:innen mit Mathematiklernprogrammen sind, wobei gleichzeitig auch Effekte des Engagements auf die Leistung in den Blick genommen werden sollten. Dabei bieten insbesondere die gespeicherten Prozessdaten dieser Programme einen vielversprechenden aber bisher viel zu wenig genutzten Ansatzpunkt, um Engagement objektiv und ökonomisch zu operationalisieren (Baker & Inventado, 2014). Das Symposium greift dieses Forschungsdesiderat gezielt auf und liefert somit einen Überblick aktueller empirischer Befunde zu externen und internen Determinanten des Engagements mit Mathematiklernprogrammen sowie der Lernwirksamkeit von Engagement. Auf Basis der Ergebnisse werden Perspektiven und Herausforderungen des Einsatzes digitaler Lernprogramme diskutiert. Die Beiträge verbinden sich insbesondere durch die Integration von Prozessdaten in die jeweiligen Analysen und adressieren die Fragestellung des Symposiums mithilfe verschiedener methodischer Ansätze. Die ersten beiden Beiträge beschäftigen sich dabei mit internen Gestaltungsmechanismen von Lernumgebungen. Der dritte Beitrag fokussiert affektiv-motivationale Merkmale der Schüler:innen als Determinanten von Engagement, während der vierte Beitrag sich auf den Lernkontext bezieht.

 

Beiträge des Symposiums

 

Individuelles Lernen von Bruchzahlkonzepten unterstützen: Wie Lernende adaptive Funktionen in digitalen Lernumgebungen nutzen, mediiert deren Wirkung

Maria-Martine Oppmann, Maik Beege, Frank Reinhold
PH Freiburg

Theoretischer Hintergrund

Features digitaler Tools – wie z. B. Interaktivität, Adaptivität und Feedback – bergen Potenziale für den Mathematikunterricht (Hillmayr et al., 2020; Steenbergen-Hu & Cooper, 2013) und zeigen sich insbesondere beim Bruchrechnenlernen empirisch wirksam (Killi et al., 2018; Reinhold et al., 2020). Lehr-lernpsychologische Wirkmechanismen, die diese positiven Effekte erklären, sind Gegenstand aktueller Diskussion. Ein Erklärungsansatz ist, dass diese Features situativ motivierend wirken und damit die Angebotsnutzung (Helmke, 2010) der Lernenden positiv beeinflussen, was zu lernförderlichen Effekten führen kann (Heckhausen & Heckhausen, 2010). Der zugrunde liegende Mediationseffekt ist jedoch noch nicht vollständig geklärt.

Fragestellung

In dieser Studie wurde untersucht, ob der Zusammenhang zwischen der Wirkung von Features in digitalen Lernumgebungen für Bruchrechenlernen (konkret: Äquivalenz von Brüchen; Erweitern & Kürzen, vgl. Reinhold et al., 2020) und dem Lernzuwachs durch eine Steigerung des Engagements (Fredricks et al., 2004) mediiert wird. Wir argumentieren, dass adaptive Unterstützung und individuelles Feedback in Übungsphasen positiv auf wahrgenommene Kompetenz- und Autonomieunterstützung und negativ auf wahrgenommene Überforderung wirken, was zu einem erhöhten kognitiven und behavioralen Engagement (Fredricks et al., 2004) und folglich zu höherem Lernzuwachs führt.

Methode

Zur Abbildung des Mediationseffektes wurde ein 90-minütiges RCT durchgeführt. Insgesamt nahmen N = 300 Sechstklässler:innen aus Baden-Württemberg an der Studie teil. Für die Intervention wurden diese aus 13 Klassenräumen jeweils zufällig der Kontrollbedingung (CG; n = 151, papierbasierte Lernumgebung) oder der Experimentalbedingung (EG; n = 149, adaptive digitale Lernumgebung) zugeordnet. Es wird davon ausgegangen, dass die Lernenden zuvor noch nicht mit dem Bruchrechnen in der Schule in Berührung gekommen sind.

Das Vorwissen der Lernenden über inhaltspezifische Bruchkonzepte wurde vor und das konzeptuelle Verständnis zur Äquivalenz zu Brüchen nach der Intervention erhoben. Das motivational-emotionale Engagement wurde mittels Selbstberichten erfasst (jeweils 5 Items mit 4-stufiger Zustimmungsskala: Wahrgenommene Kompetenzunterstützung, α = .74; Wahrgenommene Autonomieunterstützung, α = .66; Wahrgenommene Überforderung, α = .86) und das behaviorale Engagement über Prozessdaten aus Logfiles (14 Variablen: Anzahl insgesamt bearbeiteter Aufgaben auf einem von sieben Schwierigkeitsniveaus sowie der Anteil der jeweils korrekt bearbeiteten Aufgaben). Die Mediationsanalyse wurde mittels Strukturgleichungsmodellierung durchgeführt.

Ergebnisse & Diskussion

Anhand der Prozessdaten wurden mittels k-Means Clusteranalyse sechs Gruppen von Schüler:innen identifiziert, die auf dem Nutzungsverhalten der Lernenden während des Übens basierten, darunter: „Gamer“ (viele Aufgabenbearbeitungen auf niedrigem Niveau, niedrige Lösungsraten, ausschließlich in EG), „Beschleunigte Experten“ (korrekte Bearbeitungen, schnell auf hohem Aufgabenniveau, vermehrt in EG) und „Verlangsamte Experten“ (korrekte Bearbeitungen, verweilen länger bei Aufgaben mit niedrigem Niveau, vermehrt in CG). Diese Gruppen zeigen signifikant unterschiedliche und hypothesenkonforme wahrgenommene Autonomie- und Kompetenzunterstützung sowie wahrgenommene Überforderung. So erkennen beispielsweise die „Verlangsamten Experten“, dass sie nicht adäquat unterstützt werden, während die „Beschleunigten Experten“ ein hohes Autonomieerleben berichten. Zudem stehen die Gruppen erwartungskonform in Zusammenhang mit erreichten Ergebnissen im Posttest, wobei „Beschleunigte Experten“ am besten abschnitten. Insgesamt stützt die Mediationsanalyse unsere Hypothese; es zeigt sich ein signifikanter indirekter Effekt der Wirkung der Features digitaler Tools über das kognitiven und behavioralen Engagement auf das Lernergebnis (β = –.21, p < .001).

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die „Beschleunigten Experten“ die adaptive Unterstützung in digitalen Lernumgebungen schätzen, während die „Verlangsamten Experten“ bemerken, dass sie nicht auf ihrem Kompetenzniveau gefördert und herausgefordert werden und mehr lernen könnten, wenn sie andere Aufgaben gezeigt bekämen. In unserer Studie hängen damit die Lernergebnisse von Schüler:innen mit vergleichbaren Voraussetzungen hypothesenkonform von der Nutzung des ihnen zur Verfügung gestellten Lernangebots ab. Folgestudien könnten sich mit der Frage befassen, wie diese Prozessdaten in Echtzeit zur Implementierung weiterer adaptiver Features genutzt werden kann. Ein Problem, das dabei gelöst werden sollte, ist die Frage, wie Ablenkung in digitalen Lernumgebungen verhindert werden kann. Offen bleibt, warum leistungsschwache Schüler:innen nicht wie erwartet von der adaptiven Lernumgebung profitieren konnten.

 

Auswirkungen der Aufgabenreihenfolge beim spielbasierten Lernen mathematischer Konzepte

Franz Wortha1, Korbinian Moeller2, Kristian Kiili3, Manuel Ninaus4
1Loughborough University, Universität Tübingen, 2Loughborough University, Universität Tübingen, Leibniz-Institut für Wissensmedien, 3Tampere University, 4Universität Graz, Universität Tübingen

Theoretischer Hintergrund

Es wurde wiederholt festgestellt, dass das Verständnis von Brüchen ein wichtiger Prädiktor für spätere mathematische Leistungen ist, die sich erheblich auf die Lebensperspektiven des Einzelnen auswirken. Dementsprechend ist die Weiterentwicklung von Lehransätzen zur Förderung des Bruchverständnisses von Schüler:innen, beispielsweise durch spielbasiertes Lernen (SBL), ein wichtiges Ziel für Forschende und Praktizierende gleichermaßen. Die optimale Gestaltung von SBL-Umgebungen wird jedoch noch diskutiert. In der vorliegenden Interventionsstudie haben wir das Modell der Reihenfolgeeffekte beim Problemlösen (Scheiter & Gerjets, 2007) berücksichtigt, um Reihenfolgeeffekte von zwei Aufgaben auf das Bruchrechnenlernen zu untersuchen. Das Modell geht davon aus, dass Sequenzen unterschiedlicher Aufgaben das Lernen der Schüler:innen fördern sollten. Um dies für das Lernen von Brüchen zu evaluieren, haben wir eine SBL-Umgebung verwendet, in der die Schüler:innen entweder getrennte Levels von geblockten Aufgaben zum Größenvergleich und Zahlenstrahlschätzen absolvierten oder Levels von integrierten Aufgaben, bei denen jeder Zahlenstrahlschätzung ein Größenvergleich in integrierter Weise vorausging. Eine solche Integration von Aufgaben sollte sich vorteilhafter auf das Bruchrechnenlernen der Schüler:innen auswirken, da die integrierten Größenvergleiche einen zusätzlichen Referenzpunkt für die anschließende Zahlenstrahlschätzung darstellen sollten. Dies sollte sich in einer besseren Gesamtleistung, aber auch im Spielverhalten der Teilnehmenden widerspiegeln, das anhand von Prozessdaten während des Spielens/Lernens erfasst wurde (z.B. Schwankungen der Antwortzeiten über die Sitzungen hinweg).

Fragestellung

In der vorliegenden Interventionsstudie sollte untersucht werden, ob die Reihenfolge zweier Lernaufgaben und die damit verbundenen Auswirkungen auf das Verhalten im Spiel neue Erkenntnisse über das Lernen von Brüchen liefern können, indem die folgenden Forschungsfragen untersucht wurden.

(1) Gibt es signifikante Unterschiede im Bruchverständnis zwischen geblockten und integrierten Lernbedingungen?

(2) Können leistungsschwache Schüler:innen anhand ihres Verhaltens im Spiel identifiziert werden?

Methode

Wir haben Daten aus einem großen, randomisierten Feldversuch mit 634 Schüler:innen aus 22 Schulen verwendet, die gleichmäßig in Kontroll- und Interventionsschulen aufgeteilt waren. Die Klassen in den Interventionsschulen nahmen an einem fünfwöchigen spielbasierten Training zum Größenvergleich von Brüchen und zum Zahlenstrahlschätzen teil (entweder geblocktes oder integriertes Aufgabendesign), während die Kontrollschulen einen "Business-as-usual"-Ansatz verfolgten. Die Schüler:innen aller Schulen absolvierten vor und nach der Intervention einen umfassenden Mathematikleistungstest.

Ergebnisse & Diskussion

Im Hinblick auf die erste Forschungsfrage wurden separate linear mixed effects Modelle mit zur Vorhersage von Zuwächsen bei den Fähigkeiten der Schüler:innen im Zahlenstrahlschätzen sowie im Größenvergleich durchgeführt, wobei für die mathematischen Leistungen zu Beginn der Intervention kontrolliert wurde. Die Ergebnisse zeigten, dass die Schüler:innen in der geblockten Bedingung im Vergleich zu den Schüler:innen in den Kontrollklassen eine signifikant höhere Genauigkeit beim Zahlenstrahlschätzen aufwiesen (β = .18, z = 2.61, p < .001). Darüber hinaus wurde ein ähnlicher Trend für die Verbesserung im Größenvergleich beobachtet (blockierte vs. Kontrollbedingung: β = .49, z = 1.70, p =.090). Alle anderen Vergleiche in beiden Modellen blieben unbedeutend, was darauf hindeutet, dass integrierte Aufgaben das Lernen nicht signifikant mehr verbesserten als ein Business-as-usual-Ansatz.

Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage verwendeten wir einen Random-Forest-Klassifikator, der durch wiederholte nested cross-validation die dichotomisierte Mathematiknote der Schüler:innen am Ende der Intervention vorhersagte (d. h. bestanden oder nicht bestanden). Diese Modelle erreichten eine Genauigkeit von 58.51 % (95%-CI = [54.46, 62.56]) bei der Identifizierung von Schüler:innen, die die Klasse nicht bestanden haben. Dies liegt signifikant über dem Zufallswert [t(99.815) = 4.429, p <.001], wobei das seltene Auftreten solcher Schüler:innen (< 5 % in unserer Stichprobe) berücksichtigt wird.

Zusammengenommen deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass ein geblocktes Design im Vergleich zu einem "Business-as-usual"-Ansatz zu signifikant höheren Lernzuwächsen beim Bruchrechnen (in Bezug auf den Messaspekt entlang des Zahlenstrahl) führte, während ein integriertes Design keine derartigen Effekte zeigte. Dennoch konnten wir beobachten, dass das Spielverhalten der Schüler:innen (z. B. die Varianz der Antwortzeiten über die Sitzungen hinweg) die Identifizierung leistungsschwacher Schüler:innen ermöglichte.

 

Prozessdaten nutzen: Effekte von Angst und Übungsverhalten in einem Mathematiklernprogramm auf die Leistung von Schüler:innen

Anna Hilz1, Abe Hofman2, Brenda Jansen2, Karen Aldrup1
1Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, 2Universiteit van Amsterdam

Theoretischer Hintergrund

Mathematikangst und Mathematikleistung sind negativ assoziiert (Barroso et al., 2021). Aus theoretischer Sicht wird angenommen, dass Defizite hinsichtlich der Mathematikkompetenzen zu schlechten Leistungen und deshalb zu Angst führen (Maloney, 2016); umgekehrt ist Mathematikangst mit Vermeidungsverhalten mathematischer Inhalte verbunden (Eysenck et al., 2007). Bisherige Studien, die Zusammenhänge zwischen Angst und Vermeidungsverhalten untersuchten, fokussierten als Outcome insbesondere auf Kurswahlen im Hochschulkontext (LeFevre et al., 1992). Solche Ansätze können jedoch nicht die Frage beantworten, wie Mathematikangst mit Lernverhalten zusammenhängt, das zur Verbesserung der Mathematikleistung in der Schule beiträgt – einem Kontext, in dem die Vermeidung von Mathematikunterricht keine Option ist. Die wenigen Studien, die diese Beziehung bei Sekundarschüler:innen untersuchten, konzentrierten sich auf Selbstberichte (Hasty et al., 2021; Quintero et al., 2022). Ein Nachteil von Selbstberichten ist jedoch eine mögliche Verzerrung der Realität (z.B. self-serving bias; Donaldson & Grant‐Vallone, 2002). Im Gegensatz dazu haben Prozessdaten, die beispielsweise beim Üben mit Lernprogrammen erhoben werden, das Potential Übungsverhalten von Schüler:innen ohne Verzerrungen objektiv und ökonomisch zu erfassen.

Fragestellung

Daher wurde für diese Studie das adaptive Arithmetiklernprogramm Math Garden (Klinkenberg et al., 2011) verwendet, um das Übungsverhalten der Schüler:innen in Bezug auf die geübten Aufgaben innerhalb des Programms objektiv zu erfassen. Es wird somit der zentralen Frage nachgegangen, ob der angenommene negative längsschnittliche Zusammenhang zwischen Mathematikangst und Mathematikleistung über vermeidendes Übungsverhalten (Anzahl geübter Aufgaben) in Math Garden mediiert wird.

Methode

Die Analysen basieren auf längsschnittlichen Daten von 890 Fünftklässler:innen. Die Schüler:innen bearbeiteten im Prätest unter anderem Mathematikangstfragebögen (Faber, 1995; Roick et al., 2013) und einen Mathematikleistungstest (HRT; Haffner et al., 2005). Anschließend wurde ihnen und ihren Lehrkräften das Programm Math Garden über 45 Wochen zur Verfügung gestellt und die Anzahl der dort geübten Mathematikaufgaben getrackt. In einem Posttest wurde erneut die Mathematikleistung erhoben.

Ergebnisse & Diskussion

Zur Beantwortung der Fragestellung wurde ein Mediationsanalyse in Mplus gerechnet (Prädiktor: Mathematikangst, Mediator: Anzahl geübter Aufgaben, Outcome: Mathematikleistung), wobei die Mehrebenenstruktur der Daten mit „type=complex“, ebenso wie relevante Kovariaten (Prätest Mathematikleistung, Geschlecht, Migrationshintergrund, Teilnahme an zusätzlichem Förderunterricht) berücksichtigt wurden. Bezogen auf die Fragestellung zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Übungsverhalten und der Mathematikleistung (β = .10, p = .002), allerdings übten Mathematikängstlich nicht wie erwartet weniger mit Math Garden (β = –.05, p = .370). Daher wurde der signifikant negative Zusammenhang zwischen Mathematikangst und Mathematikleistung (β = –.09, p = .020) auch nicht über die Anzahl geübter Aufgaben mediiert (β = –.01, p = .348).

Zusammenfassend wiesen Schüler:innen, die mehr mit Math Garden übten, eine höhere Leistungsverbesserung auf. Dieser Befund stütz einmal mehr die Relevanz Schüler:innen beispielsweise durch Unterstützung von Eltern oder Lehrkräften in eine systematischen Zustand des Übens zu versetzen (Spitzer, 2022). Im Gegensatz zu früheren Erkenntnissen, die sich auf selbstberichtetes Vermeidungsverhalten beziehen, übten mathematikängstliche Schüler:innen nicht weniger mit Math Garden. Dies deutet darauf hin, dass sie das Programm gleichermaßen nutzen, um ihre Leistung zu verbessern und in dieser Hinsicht nicht benachteiligt waren. Dieses Ergebnis könnte ein erster Hinweis auf den Vorteil der Erfassung von Vermeidungsverhalten anhand von Prozessdaten sein, da diese weniger wahrscheinlich von Verzerrungen beeinflusst sind. So könnten mathematikängstliche Schüler:innen ihre Anstrengung in Selbstberichten eher herunterspielen, um schlechte Leistungen nicht auf die eigenen Fähigkeiten attribuieren zu müssen. Gleichzeitig könnte die Divergenz zu den Ergebnissen aus bisheriger Forschung mit Selbstberichtsinstrumenten darin bestehen, dass mathematikängstliche Schüler:innen adaptive Lernprogramme als kontrollierbarer wahrnehmen, was im Sinne der Kontroll-Wert-Theorie zu weniger Angst und damit zu mehr Übung führen müsste (Pekrun, 2006). Andere, nicht-adaptive Lernangebote könnten jedoch weiterhin aufgrund anhaltender Misserfolge vermieden werden. Die Ergebnisse sind also auf das Übungsverhalten von Schüler:innen mit einem adaptiven Arithmetiklernprogramm zu Beginn der Sekundarstufe limitiert und es bedarf weiterer Untersuchungen für andere mathematikbezogene Situationen und Altersgruppen.

 

Digitale Lernprogramme brauchen Lehrkräfte

Markus Wolfgang Hermann Spitzer1, Lisa Bardach2, Jennifer Meyer3, Korbinian Moeller4
1Universität Halle, 2Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung, 3Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, 4Loughborough University, Universität Tübingen, Leibniz-Institut für Wissensmedien

Theoretischer Hintergrund

Seit über 40 Jahren werden digitale Lernprogramme weltweit entwickelt, um Lehrkräfte zu unterstützen (Anderson et al., 1985; Sleeman & Brown, 1982) und gerade in Zeiten der COVID-19 Pandemie waren sie oft von immenser Bedeutung im Distanzunterricht (Meeter, 2021; Spitzer et al., 2023; Tomasik et al., 2020). Allerdings gibt es kaum Analysen dazu, inwieweit digitale Lernprogramme die Unterstützung von Lehrkräften benötigen, um ihre Wirksamkeit voll zu entfalten. Die Beantwortung dieser Frage ist von besonderer Bedeutung, da trotz der deutlichen Weiterentwicklung digitaler Lernprogramme gerade in den letzten 10 Jahren, spezifische Probleme, wie z.B. hohe Abbruchquoten bei der Nutzung digitaler Lernprogramme, vorliegen (z.B., Spitzer et al., 2021). In der vorliegenden Studie wurde entsprechend der Einfluss von Lehrkräften auf die Abbruchquoten von Schüler:innen für ein digitales Lernprogramm für Mathematik (Bettermarks) untersucht.

Fragestellung

Insbesondere interessierten wir uns dafür, ob die Art der Einbindung des digitalen Lernprogramms (d.h. durch die Lehrkräfte vs. durch die Schüler:innen selbst) einen Einfluss auf die Abbruchquote hatte. Es wurde erwartet, dass die Abbruchquoten bei Einbindung durch die Lehrkräfte geringer ausfallen würden.

Methode

Hierfür wurde die Bettermarks Nutzung von über hunderttausend Schüler:innen (N = 103,612 ) analysiert, die sich von Januar 2016 bis September 2019 bei Bettermarks in Deutschland registrierten. Da sich Schüler:innen bei Bettermarks entweder selbstständig anmelden können (z.B. für die selbstständige Nutzung daheim) oder über ihre Lehrkraft angemeldet werden und anschließend im Klassenkontext mit Bettermarks arbeiten (z.B. für Hausaufgaben oder für Berechnungen im Unterricht) konnten wir den Effekt der Einbindung durch die Lehrkraft, im Vergleich zur reinen Selbstnutzung, näher untersuchen.

Mittels sogenannter survival Analysen wurde die Nutzung von Bettermarks, von dem Datum an dem Schüler:innen zum ersten Mal mit Bettermarks arbeiteten über die folgenden 250 Tage verfolgt, wobei das Datum der letzten Nutzung als Indikator für den Abbruch berücksichtigt wurde. Die survival Analysen wurden anschließend mit einem hierarchischen Cox proportional hazard Model quantifiziert.

Ergebnisse & Diskussion

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Abbruchquote wesentlich von der Einbindung des digitalen Lernprogramms durch die Lehrkräfte abhängt. 50 Tage nach der ersten Nutzung waren nur noch 65% der Schüler:innen die selbstständig mit Bettermarks arbeiten aktiv, wohingegen 74% der Schüler:innen, die Aufgaben von den Lehrkräften zugewiesen bekamen, noch aktiv waren. Ein ähnliches Bild zeigte sich nach 150 Tagen: 32% der Schüler:innen die selbstständig arbeiteten waren noch aktiv, wohingegen 46% der Schüler:innen, die Aufgaben von den Lehrkräften zugewiesen bekamen Bettermarks noch regelmäßig nutzten. Die mediane Überlebenszeit lag bei 88 (selbstständig arbeitende Schüler:innen) und 134 (im Klassenkontext arbeitende Schüler:innen) Tagen. Das hierarchische Cox proportional hazard Model zeigte einen signifikanten Effekt (p < .001) zwischen den beiden unterschiedlichen Gruppen.

Zusammengenommen zeigen diese Ergebnisse, dass die Nutzung digitaler Lernprogramme von deren Einbindung durch die Lehrkräfte abhängig ist. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass für die kontinuierliche Nutzung von digitalen Lernprogrammen Lehrkräfte notwendig sind und digitale Lernprogramme gezielt in den Unterricht einbezogen werden müssen, um kontinuierlich genutzt zu werden und dadurch Schüler:innen beim Lernen erfolgreich zu unterstützen (vgl. Spitzer et al., 2023). Damit wird auch deutlich, dass digitale Lernprogramme für einen Großteil der Schüler:innen als reines Selbstlernsystem eher nicht in Frage kommen, da die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie nach kurzer Zeit nicht mehr genutzt werden. Generell weisen unsere Ergebnisse auf die Relevanz von mangelndem Engagement (im Sinn von Abbruchraten) im Kontext von digitalen Lernsystemen hin—denn Schüler:innen können nur beim Lernen unterstützt werden und Lernerfolge zeigen, wenn sie überhaupt lernen. Unsere Studie weist somit auf die Relevanz von Lehrkräfte für eine systematische Einbindung von digitalen Lernprogrammen und deren kontinuierliche Nutzung hin.

 
9:00 - 10:407-13: Psychosoziale Entwicklung in inklusiven Klassenzimmern (NELSEN-Symposium)
Ort: S28
 
Symposium

Psychosoziale Entwicklung in inklusiven Klassenzimmern (NELSEN-Symposium)

Chair(s): Christine Sälzer (Universität Stuttgart, Deutschland), Cornelia Gresch (Humboldt-Universität Berlin), Aleksander Kocaj (IQB Berlin)

Diskutant*in(nen): Julia Gorges (Philipps-Universität Marburg)

Die inklusive Beschulung von Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen (SPF) ist eine der tiefgreifenden Reformen im deutschen Bildungssystem der letzten 30 Jahre. Im Zuge inklusiver Bemühungen werden Schüler*innen mit SPF vermehrt in allgemeinen Schulen unterrichtet und verstärkt in Schulleistungsstudien einbezogen. Mittlerweile liegen aus solchen Studien Daten vor, die auch längsschnittliche und kontextberücksichtigende Analysen von Effekten inklusiver Beschulung erlauben und dies nicht nur in Bezug auf die Kompetenzentwicklung, sondern auch auf die psychosoziale Entwicklung von Schüler*innen mit und ohne SPF in inklusiven Schulklassen (z. B. Labsch, Nusser, Schmitt & Schüpbach, 2021). Die Fokussierung auf Entwicklungen über den reinen Kompetenzerwerb hinaus liegt gerade bei der Untersuchung inklusiver Bildung nahe. So werden in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, 2008) verschiedene Ziele inklusiver Bildung formuliert, etwa das Ziel der Teilhabe an schulischen Bildungsprozessen. Entsprechend können Studien, die sich mit psychosozialen Entwicklungen beschäftigen, zeigen, wie die inklusive Ausgestaltung in dieser Hinsicht gelingt (z. B. Spörer, Henke & Bosse, 2021). Ferner können differenzielle Entwicklungen im psychosozialen Bereich zwischen Kindern mit und ohne SPF anschlussfähige Hinweise auf Bedarfe und Möglichkeiten der Intervention für den Unterricht geben. Das seit 2012 bestehende und von 2017 bis 2021 von der DFG geförderte Netzwerk NELSEN (NEtwork of Large-scale-studies including students with Special Educational Needs) hat das Ziel, zu einer belastbaren Datengrundlage bzgl. der Situation von Schüler*innen mit SPF in Large-Scale-Assessments beizutragen. Basierend auf zwei Large-Scale Assessments, dem IQB-Bildungstrend 2016 und der Längsschnittstudie INSIDE, werden in diesem Symposium vier Beiträge aus dem NELSEN-Netzwerk vorgestellt. Im ersten Beitrag wird anhand des IQB-Bildungstrends 2016 untersucht, ob verschiedene Merkmale der Klassenzusammensetzung und der Unterrichtsgestaltung mit der sozialen Integration der Schüler*innen zusammenhängen und inwiefern sich diese für Schüler*innen ohne und mit SPF in den Bereichen Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung unterscheiden. Die Befunde weisen darauf hin, dass die soziale Integration der Viertklässler*innen positiv mit der Klassenführung und konstruktiver Unterstützung durch die Lehrperson zusammenhängt. Die Studie liefert Hinweise darauf, inwieweit Lehrkräfte durch die Gestaltung ihres Unterrichts neben Lernprozessen auch das soziale Miteinander unterstützen. In den weiteren Beiträgen werden Daten aus der Längsschnittstudie INSIDE (Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland) verwendet. Beitrag 2 wertet Daten der Klassenstufe 6 aus und fokussiert das Ausgrenzungsrisiko von Schüler*innen mit einem SPF in inklusiven Klassen. Zur Beantwortung der Frage, ob individualisierter Unterricht die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF verbessern kann, wurde die soziale Partizipation in den Fächern Deutsch und Mathematik über Leistungsmaße und das Ausmaß der Individualisierung vorhergesagt. Es zeigen sich in beiden Fächern positive Effekte der Individualisierung auf die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF. Aus den Ergebnissen können Hinweise dafür abgeleitet werden, dass die Gestaltung des Unterrichts das Potenzial hat, das Ausgrenzungsrisiko von Schüler*innen mit SPF zu reduzieren. In Beitrag 3, der eine längsschnittliche Untersuchung der Klassenstufen 6, 7 und 9 vorstellt, steht die Entwicklung des subjektiven Wohlbefindens von Sekundarschüler*innen in inklusiven Klassen von der 6. bis zur 9. Klasse in Abhängigkeit von individuellen und kontextuellen Faktoren im Zentrum. Besonderes Augenmerk liegt auf den drei Dimensionen emotionales Wohlbefinden in der Schule, soziale Integration in der Klasse sowie akademisches Selbstkonzept. Abschließend nimmt Beitrag 4 ebenfalls eine längsschnittliche Perspektive ein (Klassenstufen 6, 7 und 9) und untersucht die Entwicklung der sozialen Partizipation von Schüler*innen mit und ohne SPF. Zentral sind dabei Ausgrenzungs- und Schereneffekte sowie drei theoretisch postulierte Einflüsse auf der Entwicklung der sozialen Partizipation (Einflusseffekte). Insgesamt tragen die vier Präsentationen vielfältige Aspekte der psychosozialen Entwicklung in inklusiven Klassenzimmern zusammen, die alle gemeinsam darauf hinweisen, welche zentrale Rolle die Gestaltung des Unterrichts und die Unterstützung durch Lehrpersonen auf diese Entwicklung haben. Die Diskussion wird die gewonnenen Erkenntnisse bündeln und sie gemessen am Stand des Diskurses auf methodischer und inhaltlicher Ebene herausfordern.

 

Beiträge des Symposiums

 

Merkmale der Klassenzusammensetzung und der Unterrichtsgestaltung und die soziale Integration von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht

Pauline Kohrt1, Cornelia Gresch2, Sofie Henschel1
1IQB Berlin, 2Humboldt-Universität Berlin

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bildet die rechtliche Grundlage des inklusiven und damit gemeinsamen Unterrichts von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) an allgemeinen Schulen. Durch das in der UN-BRK benannte Ziel, eine gleichberechtigte Teilhabe aller Schüler*innen im allgemeinen Schulsystem zu realisieren (Artikel 24, Vereinte Nationen 2008), wird die soziale Integration von Schüler*innen mit SPF verstärkt in Untersuchungen im schulischen Kontext einbezogen. Grundsätzlich nehmen besser sozial integrierte Schüler*innen motivierter und konzentrierter am Unterricht teil, ihr Stresserleben ist geringer und sie haben mehr Freude am Unterricht (Zurbriggen und Venetz 2016). Allerdings sind Schüler*innen mit SPF in den Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und emotionale-soziale Entwicklung (LSE), an allgemeinen Schulen deutlich weniger sozial integriert und haben auch weniger soziale Kontakte als ihre Mitschüler*innen ohne SPF (z. B. Frostad und Pijl 2007; Huber et al. 2021; Zurbriggen et al. 2021; Schwab et al. 2013). Zur Erklärung dieser Unterschiede können unterschiedlich verlaufende soziale Vergleichsprozesse (Theorie sozialer Vergleichsprozesse: Festinger 1954) und weniger Kontakte zu ihren Mitschüler*innen (Kontakthypothese: Allport 1954; Pettigrew 1998) eine Rolle spielen. Dabei können Lehrkräfte implizit auf soziale Integrationsprozesse einwirken: Zum einen wird entlang der sozialen Referenzierungstheorie davon ausgegangen, dass Schüler*innen zur Bewertung ihrer Mitschüler*innen Lehrkräfte als soziale Referenz nutzen (Feinman 1992; Webster und Foschi 1992). Da unterrichtliches Lernen in Schulen in der Regel im sozialen Kontext der Klasse stattfindet, kommt zum anderen der Zusammensetzung der Klasse, aber auch der Unterrichtsgestaltung selbst, welche sich zudem zwischen Schulklassen unterscheiden, eine zentrale Rolle zu (Külker et al. im Erscheinen). Es gibt nur wenige Studien, die sich mit der Rolle der Klassenzusammensetzung und der Unterrichtsgestaltung für die soziale Integration von Schüler*innen mit und ohne SPF auseinandersetzen, welche zumeist nur einzelne Merkmale betrachten und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen (Ruijs et al. 2010; Skårbrevik 2005).

In dem Beitrag wird untersucht ob verschiedene Merkmale der Klassenzusammensetzung (Klassenzusammensetzung, Anteil von Kindern mit SPF-LSE in der Klasse) und der Unterrichtsgestaltung (Einsatz kooperativer Methoden, Klassenführung, konstruktive Unterstützung sowie kognitive Aktivierung durch die Lehrkraft) mit der sozialen Integration der Schüler*innen zusammenhängen und inwiefern sich diese für Schüler*innen mit und ohne SPF-LSE unterscheidet. Wir gehen davon aus, dass sich Schüler*innen in größeren Klassen weniger sozial integriert fühlen als in kleineren Klassen und dass je mehr Schüler*innen mit SPF in einer Klasse unterrichtet werden, die wahrgenommene soziale Integration der Schüler*innen insgesamt höher ist. Bezüglich des Einsatzes kooperativer Methoden und von der gesamten Klasse beurteilten Klassenführung sowie konstruktiven Unterstützung vermuten wir positive Zusammenhänge mit der wahrgenommenen sozialen Integration der Schüler*innen. Für die genannten unabhängigen Variablen erwarten wir zudem für Schüler*innen mit und ohne SPF differenzielle Effekte. Für die kognitive Aktivierung erwarten wir keinen Zusammenhang mit der sozialen Integration.

Die Datengrundlage bildet der bundesweit in vierten Klassen durchgeführte IQB-Bildungstrend 2016 (Stanat et al. 2019), wobei alle allgemeinen Schulen, an denen Schüler*innen mit SPF unterrichtet wurden, in die Analysen eingingen (N=9417 Schüler*innen, davon N=899 Schüler*innen mit SPF-LSE in 523 Klassen). Zur Prüfung der Hypothesen wurden verschiedene sogenannte doubly-latent Mehrebenenstrukturgleichungsmodelle geschätzt (Marsh et al. 2012; Marsh et al. 2009). Die latent auf Individualebene modellierte soziale Integration wurde dabei durch latent auf Klassenebene modellierte Merkmale vorhergesagt. Als Kontrollvariablen wurden manifeste Variablen für den sozioökonomische Status, das Alter und das Geschlecht der Schüler*innen, sowie die individuelle Lesekompetenz als auch die Klassenmittelwerte für die Lesekompetenz in die Modelle aufgenommen.

Die Ergebnisse zeigen auf, dass sowohl die Klassenführung als auch die konstruktive Unterstützung positiv mit der sozialen Integration von Viertklässler*innen zusammenhängen und sich diese für die konstruktive Unterstützung zwischen Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterscheidet.

Die Studie liefert Hinweise darauf, inwieweit Lehrkräfte durch die Gestaltung ihres Unterrichts neben Lernprozessen auch das soziale Miteinander unterstützen.

 

Kann individualisierter Unterricht die soziale Partizipation von Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf verbessern?

Miriam Balt1, Michael Grosche1, Cornelia Gresch2, Monja Schmitt3, Katrin Böhme3
1Bergische Universität Wuppertal, 2Humboldt-Universität Berlin, 3HU Berlin

Theoretischer Hintergrund

In nationalen und internationalen Studien der schulischen Inklusionsforschung wird immer wieder deutlich, dass Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) ein erhöhtes Ausgrenzungsrisiko im Vergleich zu Schüler*innen ohne SPF haben (Avramidis et al., 2017; Schürer, 2020). Dieser viel replizierte Befund wirft die Frage auf, wie die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF in inklusiven Schulklassen gefördert werden kann. Nach Huber (2019) wird soziale Partizipation durch Prozesse innerhalb des Unterrichts und/oder durch die betroffenen Schüler*innen selbst, z.B. ihre Sozialkompetenz, beeinflusst. Dabei bildet der Unterricht den Kontext, in dem soziale Kontakte entstehen und soziale Partizipation stattfinden kann. Insgesamt liegen bisher nur wenige Befunde vor, welche Kontextfaktoren (d.h. Faktoren, die außerhalb der Schüler*innen liegen) die soziale Partizipation beeinflussen (Schürer, 2020). Es gibt jedoch erste Hinweise, dass Differenzierung und Individualisierung im Unterricht einen positiven Einfluss auf die soziale Partizipation in inklusiven Schulklassen haben können (Lindner & Schwab, 2020). In der vorliegenden Studie soll daher der Frage nachgegangen werden, ob die Individualisierung des Unterrichts die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF verbessern kann.

Methode

Datengrundlage bildet der erste Erhebungszeitpunkt der vom BMBF geförderten Studie „Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland – INSIDE“ (Schmitt et al., 2020). Die Stichprobe besteht aus 4.166 Schüler*innen der sechsten Jahrgangsstufe. Die soziale Partizipation wurde mittels einer Subskala der deutschen Version des Fragebogens Perceptions of Inclusion (Venetz et al., 2015) erfasst, ergänzt um Fragen zu weiteren Dimensionen sozialer Partizipation (Külker et al., 2021). Ebenso wurde das Ausmaß der Individualisierung im Mathematik- und im Deutschunterricht erfragt (in Anlehnung an Gebhardt et al., 2014). Gemessen wurden außerdem die Leistungen im Lesen und in Mathematik (Stegenwallner-Schütz et al., 2022). Der sonderpädagogische Förderbedarf wurde über Angaben der Lehrkräfte und Eltern ermittelt. Die Datenauswertung erfolgte mittels gemischter linearer Modelle mit den Paketen lme4 und mitml in der Statistiksoftware R. Die Vorhersage der sozialen Partizipation erfolgte getrennt für die Fächer Mathematik und Deutsch.

Ergebnisse

Die Individualisierung im Mathematik- bzw. Deutschunterricht konnte die Varianz der sozialen Partizipation der Schüler*innen mit R² = 8.1% (Mathematik) bzw. 9.1% (Deutsch) aufklären (beide p < .001). Bei gleichzeitiger Berücksichtigung aller eingegangener Variablen wird die Partizipation weder durch die Mathematik- noch durch die Leseleistung beeinflusst. Hingegen kann die geringere Partizipation von Schüler*innen mit SPF auch an dieser Stelle repliziert werden (beide p < .001). Ebenfalls findet sich sowohl in Mathematik (b = 0.22, p < .001) als auch in Deutsch (b = 0.27, p < .001) ein signifikanter Effekt der Individualisierung. Der für unsere Fragestellung wichtige Interaktionseffekt zwischen der Kategorie SPF und dem Ausmaß der Individualisierung ist ebenfalls signifikant, sowohl in Mathematik (b = 0.14, p = .002) als auch in Deutsch (b = 0.11, p < .05).

Diskussion

Zusammenfassend lassen sich positive Effekte der Individualisierung sowohl im Deutsch- als auch im Mathematikunterricht auf die soziale Partizipation von Schüler*innen mit SPF berichten. Die Studie liefert damit weitere Hinweise dafür, dass auch die Gestaltung des Unterrichts selbst das Ausgrenzungsrisiko von Schüler*innen mit SPF minimieren kann.

 

Entwicklung des schulischen Wohlbefindens von Schüler*innen in inklusiven Klassen

Lena Nusser1, Carmen Zurbriggen2, Amelie Labsch1
1LifBi, 2Universität Fribourg

Inklusive Bildung ist eine der bedeutendsten Bildungsreformen unserer Zeit. Sie soll nicht nur Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen gewährleisten, sondern auch förderlich für die Entwicklung ihrer Schulleistungen und für ihr subjektives Wohlbefinden (SWB) sein. In der Sekundarstufe kann das SWB von Schüler*innen jedoch durch verschiedene Entwicklungsveränderungen in der frühen Adoleszenz beeinträchtigt werden. Bisherige Forschung deutet auf einen Rückgang des SWB in dieser Lebensphase hin (Casas & Gonzalez-Carrasco, 2019; Lin & Yi, 2019). Vor allem Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) berichten im Vergleich zu ihren Peers ohne SPF über ein geringeres SWB (Goldan et al., 2022).

Das SWB wird als ein multidimensionales Phänomen verstanden, das von individuellen und kontextuellen Faktoren abhängt (Hascher, 2010). Eine wichtige Ressource für das SWB sind positive soziale Beziehungen (Goswami, 2012) sowie ein positives soziales Klassenklima (Steinmayr et al., 2018; Zurbriggen et al., 2021). Inklusive Klassen zeichnen sich meist durch eine heterogene Komposition (z. B. sozioökonomischer Hintergrund oder kognitive Fähigkeiten) aus, welche das soziale Klassengefüge beeinflussen kann. Obwohl Beziehungen zu Erwachsenen in der Adoleszenz an Bedeutung verlieren (McPherson et al., 2001), können Lehrkräfte eine positive Entwicklung von Schüler*innen in dieser Phase unterstützen. So trägt beispielsweise adaptives Unterrichten dazu bei, dass Schüler*innen erfolgreicher lernen, was wiederum förderlich für das schulbezogene SWB ist (Pozas et al., 2021). Ebenfalls kann die Einstellung der Lehrkräfte zu Inklusion Unterschiede im SWB zwischen Schüler*innen mit und ohne SPF reduzieren (Heyder et al., 2020).

Dieser Beitrag untersucht die Entwicklung des SWB von Sekundarschüler*innen in inklusiven Klassen von der 6. bis zur 9. Klasse in Abhängigkeit von individuellen und kontextuellen Faktoren. In Anbetracht der Multidimensionalität des schulbezogenen SWB konzentrieren wir uns auf drei zentrale Komponenten: das emotionale Wohlbefinden in der Schule, die soziale Integration in der Klasse und das akademische Selbstkonzept. Folgende Fragestellungen werden betrachtet:

1) Wie entwickelt sich das schulbezogene SWB von Schüler*innen in inklusiven Klassen von der 6. bis 9. Klassenstufe?

2) Welchen Effekt hat das soziale Klassenklima auf die Veränderungen im schulbezogenen SWB der Schüler*innen?

3) Welchen Effekt haben die Schüler*innen-Lehrkraft-Beziehung, die Einstellung der Lehrkräfte zu Inklusion und ihr Verantwortungsbewusstsein auf die Veränderung im schulbezogenen SWB der Schüler*innen?

Zur Beantwortung der Forschungsfragen greifen wir auf Daten der Längsschnittstudie INSIDE (Inklusion in der Sekundarstufe in Deutschland; Schmitt et al., 2020) zurück. Schüler*innen aus inklusiven Klassen sowie ihrer Klassenlehrkräfte wurden in den Klassenstufen 6 (n = 3899), 7 (n = 1661) und 9 (n = 812) befragt. Die Befragung beinhaltet zu jedem Messzeitpunkt die Schüler*innenversion des Perception of Inclusion Questionnaire (PIQ; Venetz et al., 2015), der die drei oben genannten Dimensionen des SWB abdeckt. Konfirmatorische Faktorenanalysen zeigen gute Fit-Werte (TLI > .95; CFI > .95; SRMR < .05) für alle drei Messzeitpunkte; die interne Konsistenz für die drei Dimensionen reichte von ω = .83 (95% CI = [.82, .84]) bis ω = .91 (95% CI = [.90, .92]).

Die Veränderung des SWB wurde unter Berücksichtigung der genesteten Datenstruktur anhand eines latent neighbor change score models untersucht. Individuelle und kontextuelle Variablen wurden auf die Veränderung zwischen jeweils zwei Messzeitpunkten regressiert. Zudem wurde für die Heterogenität der Klassenkomposition und den individuellen Status der Schüler*innen bezüglich Geschlecht, SPF, Migrationshintergrund, soziale Herkunft und kognitive Grundfähigkeiten kontrolliert.

Erste Ergebnisse zeigen eine insgesamt recht stabile, aber leicht rückläufige Entwicklung des schulbezogenen SWB von Klasse 6 bis 9. Die drei Dimensionen weisen allerdings unterschiedliche Verläufe auf. So nimmt das emotionale Wohlbefinden tendenziell stärker ab als die soziale Integration und das akademische Selbstkonzept. Darüber hinaus deuten die Ergebnisse auf kompensierende Effekte hin: Je positiver die Schüler*innen-Lehrkraft- Beziehung wahrgenommen werden und je höher das Verantwortungsbewusstsein der Lehrkräfte ist, desto weniger nimmt das emotionale Wohlbefinden und die soziale Integration der Schüler*innen ab.

 

Wie entwickelt sich die soziale Partizipation von Schüler*innen mit vs. ohne sonderpädagogische Förderbedarfe in inklusiven Schulen der Sekundarstufe I?

Michael Grosche1, Monja Schmitt2, Cornelia Gresch3, Amelie Labsch2, Lena Külker3
1Bergische Universität Wuppertal, 2LifBi, 3Humboldt-Universität Berlin

Theoretischer Hintergrund

In inklusiven Schulklassen werden Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen (SPF) häufiger ausgegrenzt und partizipieren weniger als ihre Klassenkamerad*innen ohne SPF (Böttinger, 2021; Schürer, 2020). Diesen für die Grundschule inzwischen vielfach replizierten Befund nennen wir an dieser Stelle „Ausgrenzungseffekt“. Ob dieser Ausgrenzungseffekt auch in der Sekundarstufe zu finden ist, ist hingegen deutlich weniger erforscht (Bossaert et al., 2013; Külker et al., 2021). Das Fehlen solcher Studien überrascht, ist doch die Zeit der Sekundarstufe eine für das Jugendalter sehr wichtige Entwicklungsphase, in der soziale Partizipation in der Schulklasse eine besondere Bedeutung erfährt. Zudem wurde der Ausgrenzungseffekt bislang hauptsächlich querschnittlich untersucht. Die wenigen vorliegenden Längsschnittstudien (ausnahmslos in der Grundschule) finden entweder ein Stagnieren oder ein leichtes Absinken der sozialen Partizipation über die Zeit (Blumenthal & Blumenthal, 2021; Schwinger et al., 2020). Eine wichtige und erst in Ansätzen beantwortete Frage lautet daher, wie sich dieser Ausgrenzungseffekt über den Verlauf von mehreren Schuljahren entwickelt. Geht „die Schere“ zwischen Schüler*innen mit vs. ohne SPF weiter auseinander oder verringert sich der Abstand („Schereneffekt“)? Eine wichtige Anschlussfrage lautet, welche von den Lehrkräften beeinflussbare Faktoren die soziale Partizipation der Schüler*innen verbessern können. Einen positiven Einfluss scheinen insbesondere die sozialen Fähigkeiten der Schüler*innen, die sozialen Referenzierungen durch die Lehrkräfte und die sozialen Kontakte zwischen den Mitschüler*innen auszuüben (Huber, 2019). Daher stellt sich die Frage, ob diese „Einflusseffekte“ für alle Schüler*innen positiv sind oder sogar den Ausgrenzungseffekt verringern können.

Fragestellung

Wir untersuchen die Entwicklung der sozialen Partizipation von Schüler*innen mit vs. ohne SPF (Fragestellung 1: Ausgrenzungs- und Schereneffekte) sowie drei theoretisch postulierte Einflüsse auf deren Entwicklung der sozialen Partizipation (Fragestellung 2: Einflusseffekte). Dabei kontrollieren wir für individuelle Hintergrundmerkmale der Schüler*innen (Geschlecht, sozialer Hintergrund, elterliche Bildung und Migrationshintergrund) und prüfen auf differentielle Effekte zwischen Schüler*innen mit vs. ohne SPF.

Methode

Im Rahmen des INSIDE Projektes („Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland“) wurden über einen Zeitraum von drei Schuljahren N = 2.002 Schüler*innen (davon n = 232 mit SPF) aus 159 Schulen aus 14 Bundesländern dreimal (Klassenstufe 6, 7 und 9) mit einem Fragebogen zu ihrer sozialen Partizipation (α = .79), ihrem Sozialverhalten (α = .81) und ihrer Beziehung zu den Lehrkräften (α = .84) befragt. Die Möglichkeit miteinander in Kontakt zu kommen operationalisierten wir durch den prozentualen Anteil an Schüler*innen mit SPF in der Klasse. Zur Analyse der individuellen Entwicklungen der sozialen Partizipation berechneten wir lineare Wachstumskurven mit random intercept und random slope.

Ergebnisse

Im Mittel berichten Schüler*innen mit SPF von signifikant weniger sozialer Partizipation (Ausgrenzungseffekt B = -0.11, p = .002). Die soziale Partizipation verringert sich im Verlauf der drei Schuljahre signifikant (B = -0.09, p < .001). Diese negative Entwicklung unterscheidet sich jedoch nicht zwischen Schüler*innen mit vs. ohne SPF (Schereneffekt B = 0.03, p = .259). Für die Einflusseffekte finden wir folgendes: Entgegen unserer Annahme hat die selbstberichtete Impulsivität der Schüler*innen keinen Einfluss. Jedoch berichten prosozialere Schüler*innen über mehr Partizipation (B = 0.28, p < .001). Verbessert sich das prosoziale Verhalten über die Zeit, verbessert sich auch die Partizipation (B = .20, p < .001). Gleiche Befunde finden wir bezüglich der Beziehung zur Lehrkraft: Verbessert sich die Beziehung, steigt auch die Partizipation (B = 0.09, p < .001). Die Effekte sind besonders deutlich für Schüler*innen mit einem SPF in der emotional-sozialen Entwicklung. Die Klassenkomposition hat hingegen keinen Einfluss auf die soziale Partizipation.

Diskussion

Schüler*innen mit SPF berichten im Mittel von weniger sozialer Partizipation in der Sekundarstufe I (Ausgrenzungseffekt). Die soziale Partizipation verschlechtert sich während der Sekundarstufenzeit, dies gilt jedoch gleichermaßen für Schüler*innen mit vs. ohne SPF (keine Schereneffekte). Prosoziale Fähigkeiten der Schüler*innen und eine positive Lehrkraft-Schüler*innen-Beziehung verbessern die soziale Partizipation (Einflusseffekte). Lehrkräfte sollten daher prosoziale Fähigkeiten fördern und besonderen Wert auf eine positive Beziehung zu ihren Schüler*innen legen.

 
9:00 - 10:407-14: Digital und analoge Diagnostik und Unterstützung von selbstreguliertem Lernen im Hochschulkontext
Ort: H07
 
Symposium

Digital und analoge Diagnostik und Unterstützung von selbstreguliertem Lernen im Hochschulkontext

Chair(s): Benedict C. O. F. Fehringer (Universität Mannheim, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Laura Dörrenbächer-Ulrich (Universität des Saarlandes)

Selbstreguliertes Lernen (SRL) umfasst von Personen selbstgenerierte Gedanken, Gefühle und Handlungen, um bestimmte Lernziele zu erreichen (Zimmerman & Moylan, 2009). Bei SRL geht es insbesondere um einen aktiven und konstruktiven Prozess, bei dem sich Lernende Lernziele setzen und die eigenen Kognitionen, Motivation, das eigene Verhalten, sowie meta-kognitive Strategien in Abhängigkeit dieser Ziele und den gegebenen äußeren Umständen beobachten, regulieren und kontrollieren (Pintrich, 2000). Bei der Feststellung von Diskrepanzen zwischen dem angestrebten Lernziel und dem aktuellen Lernstand können beispielsweise einzelne Lerntechniken aber auch Lernstrategien (Sequenz einzelner Lerntechniken, Schiefele & Pekrun, 1996) angepasst werden. Lernstrategien können in drei Kategorien untergliedert werden: die kognitiven Strategien, die metakognitiven Strategien und die ressourcenbezogenen Strategien (Leopold & Leutner, 2002). Weinstein and Mayer (1986) unterteilen die kognitiven Strategien in Elaboration, Organisation und Wiederholung. Die metakognitiven Strategien beziehen sich auf das Wissen über verschiedene Lernstrategien und deren Anwendung, sowie auf die Kontrolle kognitiver Prozesse (Flavell, 1979), wobei die Kontrolle kognitiver Prozesse dabei in Planung, Überwachung und Regulation unterteilt werden kann. Die ressourcenbezogene Strategien beziehen sich auf die Regulation externer Ressourcen (z. B. Gestaltung der Lernumgebung, Nutzung zusätzlicher Literatur) und interner Ressourcen (z. B. investierte Anstrengung, Gestaltung der Lernzeit, Schiefele & Pekrun, 1996) zur Unterstützung von Lernprozessen.

Die Beiträge des Symposiums untersuchen, wie SRL valide im Hochschulkontext diagnostiziert werden kann und wie, basierend auf einer solchen Diagnostik, das SRL der Studierenden unterstützt werden kann. Dabei fokussiert ein Beitrag auf umfassende SRL-Profile basierend auf SRL-Aspekten aus dem LIST-K (Klingsieck, 2018), wohingegen die anderen drei Beiträge auf eine Unterstützung des Lernverhaltens der Studierenden, bzw. auf eine Änderung der Lernstrategien abzielen. Die untersuchten Interventionen fokussieren dabei auf kognitive oder ressourcenbezogene Strategien. Alle Beiträge beziehen sich auf reale Lernkontexte im Feld und nicht auf Laborsituationen.

Die ersten beiden Beiträge nutzen die Daten aus einer mehrjährigen Kohortenstudie, bei der Lehramtsstudierende des ersten Semesters eine Einführungsveranstaltung besucht haben und dazu angehalten wurden, ein digitales Lernsystem zur Lernunterstützung zu nutzen. Ausgehend von den Erfahrungen der ersten Kohorten wurde im Herbst-Winter-Semester 2022 den Studierenden angeboten, an einer Intervention teilzunehmen, die den Einsatz und die Nutzung von elaborierten Lernstrategien stärken sollte. Der erste Beitrag untersucht, welche Auswirkungen diese Intervention hat, sowohl auf das Lernverhalten innerhalb des digitalen Lernsystems als auch im Hinblick auf den Klausurerfolg. Der zweite Beitrag nutzt die Daten derselben Kohorte, hat aber zum Ziel, Studierende basierend auf selbstberichteten SRL-Aspekten zu bestimmten SRL-Profilen zu gruppieren. Die gefundenen Profile wurden bezüglich der Nutzung des digitalen Lernsystems und der erzielten Klausurpunkzahl analysiert.

Der dritte Beitrag evaluiert ein Training zur Unterstützung des Zeitmanagements als ressourcenbezogene SRL-Strategie von Studierenden. Dabei untersucht die Studie, wie sich dieses begleitend zu einem Online-Seminar durchgeführte Training auf das Prokrastinationsverhalten der Studierenden auswirkt. Vorher-Nachher-Vergleiche zwischen dem Prokrastinationsverhalten zu Beginn und am Ende des Seminars zeigen eine positive Wirkung des Trainings, welche sich auch in besseren Klausurergebnissen der Trainingsgruppe zeigt.

Der vierte Beitrag untersucht den Nutzen eines digitalen Feedbacksystems auf das Prokrastinationsverhalten und die Klausurnoten von Studierenden. Dabei wird Prokrastination multimodal betrachtet (Selbstbericht und digitale Verhaltensdaten). Das Feedbacksystem wurde in zwei Kursen der Wirtschaftsinformatik evaluiert. Das System ist innerhalb eines digitalen Lernsystems integriert und gibt Studierenden individuelle Handlungsvorschläge bezüglich ihres Lernverhaltens (z. B. bestimmte Inhalte zu wiederholen oder bestimmte Fragen zu bearbeiten). Die gegebene Rückmeldung basiert auf der Auswertung der individuellen digitalen Lerndaten (u.a. Lernzeit) der Studierenden.

Die Beiträge des Symposiums zeigen die Bedeutsamkeit der verschiedenen Aspekte von SRL, insbesondere der kognitiven Strategien und des Zeitmanagements als ressourcenbezogene Strategie. Obwohl sich Unterschiede zwischen den Studierenden in ihren Fähigkeiten zum SRL feststellen lassen, zeigen die Befunde auch, dass Studierende in ihrem SRL unterstützt und angeleitet werden können und, dass sich dies auch in besseren Klausurergebnissen zeigt.

 

Beiträge des Symposiums

 

Förderung der kognitiven Strategie der Elaboration bei Studienanfängern - eine Interventionsstudie im Feld

Benedict C. O. F. Fehringer, Stefan Münzer, Samuel Wissel, Marc Philipp Janson
Universität Mannheim

Fragestellung: Kognitive Lernstrategien, die Lerninhalte mit Vorwissen, Begründungen und Anreicherungen verknüpfen, gelten als förderlich für akademisches Lernen. Solche Strategien werden hier als „Elaborationsstrategien“ bezeichnet. Einzelstrategien wie „Warum?“-Fragen (Pressley et al., 1987; Woloshyn et al., 1992) und Selbsterklärungen (Berry, 1983; mit ausgearbeiteten Lösungsbeispielen z.B. Renkl, 2002; Atkinson et al., 2003) zeigen empirisch Lernwirksamkeit (Überblick s. Dunlowksy et al., 2013). In der vorliegenden Feldstudie wurde im ersten Semester des Lehramtsstudiums in einer bildungswissenschaftlichen Vorlesung eine Trainingsintervention für elaborative Strategieelemente durchgeführt. Untersucht wurde die Wirksamkeit in Bezug auf die Klausurleistung.

Methode: Von anfänglich N = 198 Studierenden wurden zu Beginn des Semesters demografische Daten, Abiturnote und selbstberichtete Lernstrategien (LIST-K, Klingsieck, 2018) erfasst. Während des Semesters konnten die Studierenden ein digitales Lernsystem mit verständnisfördernden MC-Lernfragen und elaborativem Feedback nutzen. Das Lernsystem errechnet einen Lernindex, der ansteigt, wenn MC-Fragen wiederholt richtig beantwortet werden (Retrieval Practice). Der Lernindex wurde am Abend vor der Klausur ausgelesen. Zeitlich etwa in der Mitte des Semesters wurde das Elaborationstraining als 90-minütiges Präsenztraining in Kleingruppen angeboten. Die Teilnahme war freiwillig. Das Training übte Elaborationsstrategien wie Vorwissensaktivierung, Beispiele finden, Fragen stellen / beantworten an Lerninhalten der Vorlesung.

Für die Analysen wurden diejenigen Studierenden einbezogen, die die Klausur zum Ersttermin am Ende des Semesters schrieben (N = 97), das digitale Lernsystem verwendet hatten (Ausschluss N = 16 ohne Nutzung) und die Abiturnote angegeben hatten (Ausschluss weiterer N = 15 ohne Angabe). Die resultierende Stichprobe umfasste N = 66 Teilnehmende (52 w, 14 m) mit einem mittleren Alter von M = 20.08 Jahren (SD = 1.99 Jahren). Hinsichtlich der freiwilligen Teilnahmeergaben sich annährend gleich große Gruppen (N_Teilnehmende = 34; N_Nicht-Teilnehmende = 32) , die sich in der Abiturnote nicht unterschieden, t(64) = 1.56, p = .123. Die ursprüngliche Klausurpunktzahl (theoretisches Maximum = 92) wurde um Fragen zu selbstreguliertem Lernen sowie um Fragen zu Inhalten aus dem Elaborationstraining bereinigt (theoretisches Maximum = 80, empirisches Maximum = 77).

Ergebnisse: Die Studierenden, die am Training teilgenommen hatten, erzielten tendenziell eine höhere Klausurpunktzahl (M = 59.0, SD = 9.0) im Vergleich zu denen, die nicht teilgenommen hatten (M = 55.4, SD = 9.8), t(64) = 1.46, p = .073 (einseitig). Hinsichtlich des Lernindex des digitalen Lernsystems fand sich kein Unterschied zwischen den Gruppen, t(64) = 1.31, p = .196. In einem multiplen Regressionsmodell, in welchem Abiturnote, die Teilnahme am Elaborationsstrategietraining (Intervention) als Prädiktoren sowie der Interaktionsterm zwischen Abiturnote und Teilnahme aufgenommen wurden, zeigten sich beide Haupteffekte signifikant, b_Intervention = 14.95, p = .042, b_Abiturnote = -6.67, p = .003. Darüber hinaus war der negative Interaktionseffekt marginal signifikant, b_Interaktion = -6.25, p = .054. Dieser zeigt einen tendenziell stärken Zusammenhang zwischen Abiturnote und Klausurpunktzahl für die Teilnehmenden am Strategietraining an. Eine Aufnahme des digitalen Lernindex als zusätzlichen Prädiktor in das Modell veränderte das Ergebnismuster nicht.

Diskussion: Die Ergebnisse zeigen, dass das Training unter Berücksichtigung der Abiturnote einen Effekt auf die Klausurleistung hatte. Allerdings trat eine Art „Matthäus“-Effekt auf: Die Abiturnote wirkte sich mit Training tendenziell stärker auf die Klausurleistung aus als ohne Training. Studierende mit besserer Abiturnote konnten also besonders vom Training profitieren. Studierende der Trainingsgruppe unterschieden sich nicht im Lernindex des digitalen Lernsystems von den anderen Studierenden. Sie müssen ihren Vorteil also aus qualitativ unterschiedlichem Lernverhalten gezogen haben, der mit dem Lernindex nicht erfasst wird. Künftige Entwicklungen richten sich auf die Integration von Elaborationstechniken in das digitale Lernsystem, womit auch darauf bezogenes Lernverhalten durch digitale Lernprozessdaten erfasst werden soll.

 

Heterogenität in Selbstberichtsdaten zu Selbstreguliertem Lernen: Latente Pro-filanalyse an Selbstberichteten selbstreguliertem Lernverhalten

Samuel Wissel, Benedict C. O. F. Fehringer, Stefan Münzer, Marc Philipp Janson
Universität Mannheim

Die Hochschule erfordert von Studierenden neue Herangehensweisen, die vor allem die Investition in ihre eigenen Lernfähigkeiten betreffen (Pfost et al., 2020). Studierende neigen jedoch zu kognitiven Illusionen, präferieren ineffektive Lernstrategien und schätzen die Nützlichkeit verschiedener Lernstrategien falsch ein (Cervin-Ellqvist et al., 2021; Blasiman et al., 2017). Im Rahmen einer Pflichtveranstaltung für Lehramtserstsemesterstudierende erheben wir Lernprozessdaten mittels eines digitalen Lernsystems (DLS) und Fähigkeiten zu selbstreguliertem Lernen (SRL) mittels Selbstbericht. Obwohl SRL-Selbstberichte in Frage gestellt wurden (Artelt, 2000), bieten sie auch eine ökologische Möglichkeit, die grundlegenden SRL-Kenntnisse von Studierenden zu bewerten und Einblick in die Wahrnehmung ihres Lernverhaltens zu erhalten (Rovers et al., 2019). Wir untersuchen in der vorliegenden Studie, ob qualitativ unterschiedliche Subgruppen innerhalb von SRL-Selbstberichten (Dörrenbächer & Perels, 2016; Muwonge et al., 2020; Mindrila & Cao, 2022) zu Beginn des Semesters vorzufinden sind und ob diese Subgruppen Studierende mit Schwierigkeiten beim SRL identifizieren helfen.

Diese Studie ist Teil eines Kohorten-Projektes, in dem jährlich seit 2019 Lernprozessdaten und SRL-Selbstberichte erhoben werden. Aufgrund erster explorativer Analysen präregistrierten wir, dass drei distinkte Subgruppen in den Subskalen des LIST-K (Klingsieck, 2018) Unterschiede in der Anzahl der insgesamt bearbeiteten Aufgaben im DLS, der Anzahl der gelernten Tage im DLS, dem Lernindex des DLS und der Klausurleistung, jedoch keine Unterschiede in der Abiturnote als Kontrollvariable zeigen würden. Spezifischer sagten wir vorher, dass sich die Gruppe mit generell hohen Werten im LIST-K (H) von den Gruppen mit generell niedrigeren und generell mittleren Werten im LIST-K (L & M) unterscheiden, jedoch kein Unterschied zwischen der mittleren und niedrigen Gruppe bestehen würde.

Wir erfassten N = 198 Lehramtsstudierende im Herbst-Winter-Semester 2022 innerhalb einer vorlesungsbegleitenden Erhebung, wobei nur Studierende betrachtet wurden, die die Klausur zum Ersttermin geschrieben haben. Zu Beginn des Semesters wurde der LIST-K (Klingsieck, 2018) zusammen mit demographischen Variablen erhoben. Im Verlauf des Semesters loggte das DLS jede Lernhandlung der Studierende in Form digitaler Lernprozessdaten.

In einem ersten Schritt replizierten wir die latente Profilanalyse (LPA) mit drei Profilen (ICL = -15110; BIC = 15033; Entropy = .884, BLRTp =.009). Die drei Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer selbstberichteten SRL-Ausprägungen (niedrig: N = 19, mittel: N = 133, hoch; N = 46). Alle drei Gruppen unterschieden sich nicht be-deutsam hinsichtlich der durchschnittlichen Abiturnote. Mittels des R-Pakets bain (Gu et al., 2023) testeten wir die folgenden informativen Hypothesen innerhalb einer Vari-anzanalyse für diese drei Gruppen für die abhängigen Variablen „Anzahl gelernter Fragen“, „Anzahl an Lerntagen“, „Lernindex des DLS“ und „Klausurerfolg“. (Die Hypothesen- und Ergebnisdarstellung entspricht der Empfehlung von Hoijtink et al., 2019):

H0 : μ_hohesSRL = μ_mittleresSRL = μ_niedrigesSRL

H1 : μ_hohesSRL > μ_mittleresSRL = μ_niedrigesSRL

Hu : μ_hohesSRL, μ_mittleresSRL, μ_niedrigesSRL

Die Auswertung der Daten mittels bayesianischer Statistik zeigt anekdotische bis moderate Evidenz für die aufgestellte Hypothese H1 (gleiche Werte in den Gruppen mit niedrigem und mittlerem SRL und größere Werte in der Gruppe mit hohem SRL) für die abhängigen Variablen „Anzahl der Lerntage“ (BF_10 = 2.49; Bayesian error probabi-lity (BEP) = .32), „Anzahl der gelernten Items“ (BF_10 = 4.63; BEP = .24) und „Lernin-dex des DLS“ (BF_10 = 4.55; BEP = .25). Bezüglich der Klausurleistung (BF_01 = 2.34; BEP = .33) zeigt sich anekdotische Evidenz für die informative Hypothese H0 (keine Unterschiede zwischen allen drei SRL-Gruppen). Explorative Analysen deuten zudem darauf hin, dass selbstberichtete SRL-Fähigkeiten mehr mit dem Lernverhalten zu-sammenhängen, wenn sie zum Ende des Semesters erfasst werden.

Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass mittels eines ökonomischen Fragebogens zu Beginn des Semesters, Subgruppen von Studierenden identifiziert werden können, die sich bezüglich ihres Lernverhaltens innerhalb des DLS unterscheiden, jedoch nicht hinsichtlich ihrer Lernleistung.

 

Effekte eines digitalen Zeitmanagement-Trainings auf das Prokrastinationsverhalten von Erstsemesterstudierenden

Sebastian Trentepohl1, Julia Waldeyer1, Jens Fleischer1, Julian Roelle1, Detlev Leutner2, Joachim Wirth1
1Ruhr-Universität Bochum, 2Universität Duisburg-Essen

Effektives Zeitmanagement ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Studienverlauf (van der Meer et al., 2010; Wolters & Brady, 2020). Es gilt als integraler Bestandteil selbstregulierten Lernens und zeigt bedeutsame Zusammenhänge mit verschiedenen Studienerfolgsindikatoren (Aeon et al., 2021; Zimmerman & Moylan, 2009). Im Gegensatz dazu stellt Prokrastinationsverhalten, d.h. das bewusste Aufschieben geplanter Aufgaben trotz absehbarer negativer Konsequenzen, ein Merkmal mangelhafter Selbstregulation mit entsprechend negativen Konsequenzen für Studienleistungen dar (Kim & Seo, 2015; Steel, 2007). Prokrastination gilt unter Universitätsstudierenden als besonders verbreitetes Problem. Während in Umfragen 15–20% der Allgemeinbevölkerung regelmäßiges Prokrastinationsverhalten berichten, sind es unter Studierenden 80–95% (Steel, 2007). Ein Großteil der Betroffenen gibt dabei an in problematischem Ausmaß zu prokrastinieren und äußert den Wunsch, das Prokrastinationsverhalten zu reduzieren (Grunschel & Schopenhauer, 2015). Zeitmanagement-Trainings können Studierenden dabei helfen, ihr Prokrastinationsverhalten zu reduzieren (van Eerde, 2015). Die bisherige Befundlage zu Trainingseffekten auf Studienleistungen ist jedoch unklar. Eine mögliche Ursache hierfür ist die häufig inkonsistente Konzeptualisierung von Zeitmanagement in unterschiedlichen Trainingsstudien (Claessens et al., 2007). Diese weisen häufig keinen hinreichenden Bezug zu zugrundeliegenden Prozessmodellen selbstregulierten Lernens auf (Wolters & Brady, 2020). Demnach sollte ein effektives Training neben der Vermittlung von Strategiewissen auch praktische Übung in der Anwendung der Strategien sowie Anregung zur Reflexion der Strategieanwendung enthalten (Foerst et al., 2017; Wolters & Brady, 2020), wobei sich im Zusammenhang mit Studienleistungen insbesondere effektives Planungsverhalten als relevant erwiesen hat (Claessens et al., 2007).

Das Ziel der Studie war es zu untersuchen, ob ein konzeptuell an die Phasen des selbstregulierten Lernprozesses angelehntes Zeitmanagement-Training Studierenden dabei helfen kann, ihr Prokrastinationsverhalten zu reduzieren und dadurch ihre akademischen Leistungen zu verbessern. Zu diesem Zweck sollte den Studierenden zunächst deklaratives und prozedurales Wissen über Zeitmanagementstrategien vermittelt werden, um damit die Voraussetzungen für die Anwendung der Strategien zu schaffen. Daraufhin sollten die Studierenden im Verlauf des Semesters durch praktische Übungen lernen, ihr Lernverhalten selbstständig zu planen und ihr Planungsverhalten zu reflektieren. Dafür nahmen N = 57 Erstsemesterstudierende über den Verlauf eines Semesters an einem Online-Seminar zum Thema multimediale Präsentationen teil. Die Studierenden wurden zu Semesterbeginn zufällig in eine Trainingsgruppe und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. Die Trainingsgruppe erhielt eine Einführung zu zentralen Zeitmanagementstrategien, deren Anwendung sie anschließend in wöchentlichen Übungen mit Fokus auf ihr Planungsverhalten übten. Teil der wöchentlichen Übungen waren zudem Leitfragen, die die Studierenden dazu anregen sollten, ihr Planungsverhalten zu reflektieren. Die Kontrollgruppe erhielt eine Einführung in wissenschaftliches Schreiben, welche ebenfalls wöchentliche Übungen von vergleichbarem zeitlichen Umfang enthielt. Alle Interventionsmaßnahmen wurden digital über die Kursoberfläche des Online-Seminars durchgeführt. Das Prokrastinationsverhalten der Studierenden wurde zu Beginn und zum Ende des Semesters mit der deutschen Version der Behavioral and Emotional Academic Procrastination Scale (BEPS; Bobe et al., 2022) erfasst. Der Studienerfolg der Studierenden wurde anhand einer Klausur am Ende des Semesters bestimmt.

Während die Interventionsgruppen sich zu Beginn des Semesters nicht signifikant in ihrem Prokrastinationsverhalten unterschieden, t(55) = 0.38, p = .703, berichtete die Trainingsgruppe (M = 2.78, SD = 0.72) zu Semesterende signifikant weniger Prokrastinationsverhalten als die Kontrollgruppe (M = 3.20, SD = 0.65), t(55) = 2.30, p = .026, d = 0.61. Die Trainingsgruppe zeigte zudem bessere Klausurleistungen am Ende des Semesters, t(55) = 2.82, p = .007, d = 0.77. Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass ein Zeitmanagement-Training Erstsemesterstudierenden dabei helfen kann, Prokrastinationsverhalten einzugrenzen und ihren Studienerfolg zu verbessern.

 

Das Zusammenspiel von Selbsteinschätzung und Verhaltensdaten – ein Beispiel im Kontext von Prokrastination und der Nutzung eines digitalen Feedbacks

Philipp Handschuh1, Maria Klose1, Felix Haag2, Sebastian Günther2, Konstantin Hopf2, Thorsten Staake2
1Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, 2Universität Bamberg

Die zunehmende Bedeutung von digitalen Lernumgebungen, v.a. in der Hochschulbildung, geht mit vermehrten Anforderungen an das selbstregulierte Lernen (SRL) der Studierenden einher (Kizilcec et al., 2017; Vosniadou, 2020). Jedoch bieten digitale Technologien auch Chancen, da sie es erlauben mit Log-Daten zum Lernverhalten zu arbeiten und somit Prozesse des SRL auf individuelle und adaptive Art zu unterstützen. Dabei gilt es, diese neuen Daten richtig zu interpretieren und gewinnbringend mit bestehenden Konstrukten zu kombinieren (Akbulut et al., 2023; Ellis et al., 2017). Ein für das Lernergebnis einflussreiches Verhalten ist die Prokrastination, deren zentraler Aspekt das Aufschieben einer Aufgabe ist (Schraw et al., 2007; Wolters, 2003). Auch wenn dieses Aufschieben durch Verhaltensdaten erfassbar ist, kann das Aufschieben von Aufgaben auch ein aktives, bewusst erwünschtes Verhalten des Lernenden sein (vgl. aktive Prokrastination, Chun Chu & Choi, 2005), oder mit motivationalen Aspekten zusammenhängen (Bäulke, 2021). Solche zugrundeliegenden Eigenschaften sind wiederum besser mit Selbstberichten abbildbar. In einem multimodalen Ansatz soll das Zusammenspiel und der gegenseitige Erkenntnisgewinn von selbstberichteter akademischer Prokrastination mit den Verhaltensweisen in einer digitalen Lernumgebung analysiert werden.

Die Anwendbarkeit dieses multimodalen Ansatzes wird zusätzlich bei der Untersuchung der Effektivität eines individuellen Feedbacks überprüft. In den beiden Kursen wurde jeweils ein der Rahmen der beiden Kurse. Hier wurde jeweils digitales Feedback eingeführt, das selbstreguliertes Lernen unterstützt und dabei auch die Effekte von Prokrastination mindern soll. Auf Basis von maschinellen Lernen und kontrafaktischer Erklärungen werden den Lernenden Vorschläge gemacht (Haag et al., 2023), wie sie sich in der Lernumgebung verhalten sollten (bspw. welche Videos sie anschauen oder welche Frageblöcke wiederholt bearbeitet werden sollten, um das bisherige Lernverhalten zu optimieren). Das Feedback soll Prokrastinationsverhalten beeinflussen, indem es einen Lerndruck erzeugt (McCloskey, 2011), sowie Anhaltspunkte zur Bearbeitung liefert.

Daher ist es Ziel unserer Studie die Effektivität des Feedbacks zu untersuchen und dessen Einfluss auf den Zusammenhang von Prokrastination mit Klausurnote. Darüber hinaus sollen multimodale Aspekte der Prokrastination (Selbstberichtet: akademische Prokrastination, Log-Daten: regelmäßiges Lernen, aufgeschobenes Lernen) in Zusammenhang gebracht werden um die jeweiligen Stärken bei der Vorhersage des Lernerfolgs herauszuarbeiten. Dies wird zusätzlich in einer Intervention zum SRL, welche auch einen Einfluss auf Prokrastination haben sollte, untersucht. Dabei nehmen wir an, dass die selbstberichtete Prokrastination sowie das Aufschieben negativ mit der Klausurnote zusammenhängt, das regelmäßige Lernen jedoch positiv. Dabei kann letzteres auch die Effekte der selbstberichteten Prokrastination ausgleichen.

Das Feedback wurde in einem Wirtschaftsinformatik Kurs im Bachelor (84 Studierende), sowie einem im Master (85 Studierende) implementiert. Nach einer sechswöchigen Baseline-Phase wurden in der Experimentalgruppe wöchentlich drei adaptive Handlungsvorschläge präsentiert, welche auf kontrafaktischer Erklärungen basieren (Bachelor: 41 Studierende; Master: 41 Studierende). Die Kontrollgruppe hat den Kurs ohne Feedback bearbeitet. Zu Beginn der Kurse wurden metakognitive Strategien (MSLQ; Pintrich et al., 1991) und Prokrastination erhoben (APS-S: McCloskey, 2011; Yockey, 2016). Aus dem wöchentlichen Lernverhalten (i.e., investierte Lernzeit pro Woche) wird ein Index für das Aufschieben von Lernaktivitäten erstellt. Die Anzahl der Wochen in denen der digitale Kurs bearbeitet wurde, wird als Maß für die Regelmäßigkeit hergenommen.

Vorläufige Ergebnisse der Bachelorstudierenden mit Regressionsanalysen zeigen zwar einen positiven Effekt der Komponente auf die Note (β = -.17, sig.; unter der Kontrolle der Regelmäßigkeit) – diesen Effekt beobachten wir jedoch nicht für Masterstudierende. Ob Lernende das Feedback umsetzen, hängt in beiden Kursen mit akademischer Prokrastination zusammen (multiple linearen Regression: β = -.39, sig.). Allerdings zeigt sich kein statistisch signifikanter moderierender Einfluss des Feedbacks für den Effekt der Prokrastination auf die Note. Wobei es in einer linearen Regression vor allem die Verhaltensdaten zur Regelmäßigkeit und zum Aufschieben sind, die statistisch signifikant zur Varianzaufklärung der Note beitragen (R² = .14). Im Beitrag wird des Weiteren auf das Zusammenspiel von berichteter Prokrastination und Regelmäßigkeit eingegangen.

 
9:00 - 10:407-15: Wissen, wie es nicht geht: Bedingungen zum Lernen aus fehlerhaften Lösungsbeispielen
Ort: S14
 
Symposium

Wissen, wie es nicht geht: Bedingungen zum Lernen aus fehlerhaften Lösungsbeispielen

Chair(s): Marc Rodemer (Universität Duisburg-Essen), Katharina Loibl (PH Freiburg), Timo Leuders (PH Freiburg)

Diskutant*in(nen): Markus Dresel (Universität Augsburg)

Beispielbasiertes Lernen ist eine gut untersuchte Lernmethode für den Erwerb kognitiver Fähigkeiten in komplexen Domänen (Renkl, 2014). Fehlerhafte Lösungsbeispiele (sog. erroneous examples) sind ein vielversprechender Ansatz, die ablaufenden Lernprozesse auf konzeptuell relevante Aspekte zu lenken: Indem Fehler während der schrittweisen Erklärung einer Problemaufgabe expliziert werden, kann negatives Wissen (Oser & Spychinger, 2005) aufgebaut und das korrekte Verständnis gefördert werden. Unser Review zeigt kaum Untersuchungen zu den Bedingungen, unter denen fehlerhafte Lösungsbeispiele für Lernerfolg wirksam sind, und darüber hinaus, dass empirische Studien zu uneinheitlichen Befunden kommen (Dieterich et al., eingereicht).

Inwieweit fehlerhafte Lösungen lernförderlich sind, hängt davon ab, auf welche Weise Lernende die Information verarbeiten und in ihr Vorwissen integrieren. Hierbei spielen Faktoren auf Seiten des Instruktionsdesigns und der Lernenden eine Rolle.

Auf Seite des Instruktionsdesigns beeinflussen mehrere Faktoren das Lernen aus fehlerhaften Lösungsbeispielen. Insbesondere die Lernaktivität ist entscheidend: Das Lernen wird verbessert, wenn Lernende Fehler identifizieren, erklären und/oder korrigieren (Adams et al., 2014; Große & Renkl, 2007; Richey et al., 2019; Schmitz et al., 2017; Tsovaltzi et al., 2012; Yang et al., 2016). Diese Lernaktivitäten können durch Feedback und/oder Selbsterklärungs-Prompts unterstützt werden (Loibl & Leuders, 2019; Stark et al., 2011). Auch der Vergleich fehlerhafter und richtiger Lösungsbeispiele scheint den Lernerfolg zu unterstützen (Loibl & Leuders, 2019; Booth et al., 2013; Corral & Carpenter, 2020). Darüber hinaus ist unklar, inwieweit eine vorangehende Problemlösephase, in der eigene fehlerhafte Lösungen generiert werden, förderlich ist (PS-I Ansatz, Loibl et al., 2017).

Auf Seite der Lernenden beeinflussen Faktoren wie Vorwissen und kognitive Belastung die Lernergebnisse. Die Forschungsbefunde zum Vorwissen sind uneinheitlich: In einigen Studien profitierten insbesondere Lernende mit wenig Vorwissen von fehlerhaften Lösungsbeispielen (z.B. Barbieri & Booth, 2020), in anderen Studien nur Lernende mit hohem Vorwissen (Große & Renkl, 2007; Heemsoth & Heinze, 2014; Stark et al, 2011) und in weiteren Studien profitierten sowohl Lernende mit niedrigem als auch hohem Vorwissen (Adams et al., 2014; McLaren et al., 2012; McLaren et al., 2015). Diese Befundlage kann durch eine unterschiedliche kognitive Belastung erklärt werden: Studien berichten zwar eine Erhöhung der kognitiven Belastung durch fehlerhafte Lösungsbeispiele (Kopp et al., 2009; Stark et al., 2009; Yang et al., 2016), diese kann jedoch durch instruktionale Maßnahmen wie elaboriertes Feedback reduziert werden (Stark et al., 2009; 2011).

Die aktuelle Forschungslage unterstreicht die Notwendigkeit weiterer empirischer Studien zur Wirksamkeit fehlerhafter Lösungsbeispiele. Das Symposium stellt drei Beiträge vor, die verschiedene Bedingungen untersuchen, unter denen fehlerhafte Lösungsbeispiele lernförderlich sind.

Dieterich et al. untersuchten die Wirksamkeit fehlerhafter Lösungsbeispiele im Vergleich zu richtigen Lösungsbeispielen und einer Kombination beider in einer Prä-/Post-Erhebung im Fach Chemie zum Thema „chemische Bindung“ für Schüler:innen der Sekundarstufe I. Untersucht wurden neben den Lernergebnissen auch kognitive Belastung und der Einfluss des Vorwissens.

Brand et al. nutzten fehlerhafte Lösungsbeispiele als Vorbereitung auf den konzeptuellen Wissenserwerb in einer nachfolgenden Instruktion zum Thema „Varianz“ im Fach Mathematik der Sekundarstufe II. In einem randomisierten Klassenraumexperiment wurde mittels verschiedener fehlerhafter Lösungsbeispiele die relevante Vorwissensaktivierung manipuliert. Fehlerhafte Lösungsbeispiele, die auf die Aktivierung von Vorwissen zielen, bereiteten Schüler:innen auf das Lernen vor – unabhängig vom Ausmaß ihres Vorwissens und unabhängig davon, ob die fehlerhaften Lösungsbeispiele mehr oder weniger relevante Komponenten des Zielwissens beinhalteten.

Dikme et al. untersuchen zum Thema „Bruchvergleich“, inwieweit für einen erfolgreichen Konzeptwechsel beim Vergleich richtiger und fehlerhafter Lösungsbeispiele die Passung der fehlerhaften Lösungsbeispiele zu den eigenen Fehlkonzepten eine Rolle spielt (Chi, 2013). In einer computergestützten Lernumgebung generieren Schüler:innen ohne Vorwissen der Sekundarstufe I zunächst Lösungsansätze, die ihre Prä- und Fehlkonzepte aufzeigen. Anschließend erhalten sie entweder ein richtiges oder zusätzlich ein fehlerhaftes Lösungsbeispiel, das ihrem eigenen Lösungsansatz entspricht oder nicht entspricht. Unterschiede im Lernprozess und -ergebnis werden in einer experimentellen Prä-/Post-/Follow-Up Erhebung erfasst.

 

Beiträge des Symposiums

 

Einfluss fehlerhafter Lösungsbeispiele im Fach Chemie auf Lernzuwachs und kognitive Belastung in Abhängigkeit des Vorwissens

Sonja Dieterich, Stefan Rumann, Marc Rodemer
Universität Duisburg-Essen

Theoretischer Hintergrund

Fehler resultieren in den Naturwissenschaften wie im Fach Chemie häufig aufgrund von Alltags- oder Schülervorstellungen und aufgrund fachlich-komplexer Konzepte, z.B. der Verknüpfung der makroskopischen und symbolischen Ebene (Gilbert et al., 2009; Taber, 2002, 2013). Das Wissen über Fehler oder sogenanntes negatives Wissen soll lernförderlich sein, da es der Abgrenzung zum richtigen, positiven Wissen dient (Oser et al., 1999). Auf Basis der Theorie des negativen Wissens wird angenommen, dass fehlerhafte Lösungsbeispiele den Lernzuwachs fördern können.

Unser systematisches Literaturreview zur Wirksamkeit fehlerhafter Lösungsbeispiele zeigt widersprüchliche empirische Befunde in Abhängigkeit der kognitiven Belastung (CL) und des Vorwissens (Dieterich et al., eingereicht). Während einige Studien zeigen, dass Lernende mit niedrigem Vorwissen von fehlerhaften Lösungsbeispielen profitieren (Barbieri & Booth, 2020), legen andere Studien gegenteilig dar, dass hohes Vorwissen eine Voraussetzung für einen Lernzuwachs ist (Heemsoth & Heinze, 2014; Tsovaltzi et al., 2012). Außerdem ist unklar, ob fehlerhafte Lösungsbeispiele alleine lernförderlich sind (Adams et al., 2014; Chang et al., 2002; Durkin & Rittle-Johnson, 2012; Große & Renkl, 2007) oder ob eine Kombination aus fehlerhaften und richtigen Lösungsbeispielen notwendig ist (Booth et al., 2013; Corral & Carpenter, 2020; Loibl & Leuders, 2018, 2019). Diese divergenten Befunde können möglicherweise durch unterschiedliche kognitive Belastung erklärt werden (Dieterich et al., eingereicht). Das Review zeigt zudem, dass fehlerhafte Lösungsbeispiele überwiegend in Mathematik aber kaum in anderen Domänen untersucht wurden. Es fehlen empirische Untersuchungen bezüglich der lernförderlichen Verwendung von fehlerhaften Lösungsbeispielen für den naturwissenschaftlichen Unterricht.

Fragestellung

Die Studie untersucht im Fach Chemie die Lernwirksamkeit und die kognitive Belastung einer Instruktion auf Basis von entweder richtigen Lösungsbeispielen, fehlerhaften Lösungsbeispielen oder einer Kombination beider in Abhängigkeit des Vorwissens.

Methode

Die Studie wurde an drei Schulen mit N = 233 Schüler:innen (MAlter = 14.17 Jahre) durchgeführt. In einer klassenweise randomisierten Prä-/Post-Interventionsstudie wurden entweder richtige Lösungsbeispiele, falsche Lösungsbeispiele oder eine Kombination beider in Erklärvideos eingesetzt. Jede Bedingung erhielt drei spezifische Erklärvideos zum Thema „chemische Bindung“ innerhalb von drei Interventionsstunden. Die Fehler in den Erklärvideos basieren auf literaturbasierten Schülervorstellungen (Hunter et al., 2022).

Als Prä- und Post-Test wurden geschlossene Aufgaben zum inhaltsbezogenen Fachwissen eingesetzt, welche hohe Reliabilitäten aufwiesen (αPrätest = .81, αPosttest = .89). Direkt nach der Videobetrachtung wurde die kognitive Belastung gemessen (Krieglstein et al., 2023), welche für die Sub-Skalen hohe Reliabilitäten zeigte (mα (Germane, Intrinsic, Extraneous CL)= .68-.89). Aufgrund der Datenstruktur wurde ein mehrebenenanalytischer Ansatz verfolgt.

Ergebnisse und Diskussion

Die Ergebnisse zeigen einen signifikanten Lernzuwachs sowohl für Lernende mit niedrigem Vorwissen (t = 4.13, p < .001) als auch mit hohem Vorwissen (t = 3.89, p < .001). Die Lernzuwächse unterscheiden sich nicht zwischen den Bedingungen mit Ausnahme der Kombinationsbedingung für hohes Vorwissen, die signifikant besser sind (t = 3.33, p = .002).

Bezugnehmend auf kognitive Belastung erfolgt durch die Kombinationsbedingung eine signifikante Reduktion für ECL (t = -3.57, p < .001) und ICL (t = -3.58, p = .011) sowie eine signifikante Erhöhung des GCL (t = 2.52, p = .04) im Vergleich zu den anderen beiden Bedingungen (nur richtige oder nur falsche Lösungsbeispiele). Bei diesen beiden Bedingungen bestehen keine Unterschiede in allen drei Typen kognitiver Belastung.

Insgesamt profitierten sowohl Lernende mit wenig als auch viel Vorwissen von Lernvideos mit Lösungsbeispielen zum Thema chemische Bindung, jedoch ohne Unterschiede zwischen den Bedingungen. Der Lernzuwachs bei richtigen Lösungsbeispielen steht im Einklang mit bisherigen Befunden (Renkl, 2014). Die fehlerhaften Lösungsbeispiele führen möglicherweise zu einer Vorwissensaktivierung und Reflexion des Fehlers, die zur richtigen Erklärung führt. Hier könnten Prozessdaten weiteren Aufschluss geben. Der größere Lernzuwachs der Kombinationsbedingung kann auf die explizite Gegenüberstellung von positivem und negativem Wissen zurückzuführen sein, welche die kognitive Belastung (ECL/ICL) reduziert und lernbezogene Belastung (GCL) steigert. Weitere Ergebnisse werden auf der Tagung präsentiert.

 

Relevante Vorwissensaktivierung durch fehlerhafte Lösungsbeispiele als Vorbereitung auf das Lernen beim Problemlösen vor Instruktion

Charleen Brand1, Katharina Loibl2, Nikol Rummel1
1Ruhr-Universität Bochum, 2PH Freiburg

Theoretischer Hintergrund

Instruktionsansätze mit Problemlösen vor Instruktion (PS-I; Loibl et al., 2017) nutzen fehlerhafte Lösungsbeispiele, die Lernende in einer initialen Problemlösephase entweder selbst generieren oder analysieren, zur Vorbereitung auf das Lernen in einer nachfolgenden Instruktion (Sinha & Kapur, 2021; Brand et al., 2021, Hartmann et al., 2021). Mit Hilfe der fehlerhaften Lösungsbeispiele soll das Vorwissen der Lernenden aktiviert werden (Loibl et al., 2017). Ergebnisse deuten darauf hin, dass das aktivierte Vorwissen relevant für das zu lernende Zielkonzept sein muss, Lernende jedoch zu einem Großteil irrelevantes Vorwissen aktivieren, wenn sie selbst fehlerhafte Lösungsbeispiele generieren (Kapur, 2015). Durch den Einsatz von zu analysierenden fehlerhaften Lösungsbeispielen, die bereits relevante konzeptuelle Komponenten des Zielkonzepts adressieren, kann die relevante Vorwissensaktivierung gezielt variiert werden.

Fragestellung

Wir untersuchten, inwiefern fehlerhafte Lösungsbeispiele, die relevante konzeptuelle Komponenten des Zielkonzepts adressierten, und somit relevantes Vorwissen aktivierten, Lernende auf eine nachfolgende Instruktion vorbereiteten. Wir nahmen an, dass die Analyse fehlerhafter Lösungsbeispiele, die eine höheren Umfang an relevanten Komponenten vor Instruktion adressierten, zu einem höheren konzeptuellen Wissen nach Instruktion führen, als bei der Analyse von Lösungsbeispielen mit einem niedrigen Umfang an relevanten Komponenten. Als Manipulationscheck wurde die Vorwissensaktivierung durch Prozessdaten und einen Test nach der Problemlösephase erfasst. Um für potenzielle Einflüsse des Tests zu kontrollieren, wurde dieser zunächst variiert (vgl. Rowland, 2014 zum Testeffekt), aber keine Unterschiede erwartet.

Methode

In einem 2x2-Design wurden die Faktoren (1) Umfang (coverage) der relevanten konzeptuellen Komponenten (high coverage: HC versus low coverage: LC) und (2) Implementierung eines Tests zur Erfassung von Vorwissensaktivierung (präsent: HC+/LC+ versus abwesend: HC/LC) variiert. Der erste Faktor diente der Manipulation der relevanten Vorwissensaktivierung. Der Test, welcher durch den zweiten Faktor variiert wurde, diente ausschließlich der Überprüfung der erfolgreichen Manipulation von Vorwissensaktivierung.

165 Lernende (MAlter = 16,53; 62,4% weiblich, 37,6% männlich) wurden zufällig einer der vier Experimentalgruppen zugeordnet (HC+, HC, LC+, LC). Die Bedingung mit und ohne Test unterschieden sich nicht und wurden daher aggregiert (HC, LC), F(1, 157) = 0.996, p = .32, ηp² = .006. Nach Manipulationscheck ermöglichte die bereinigte Stichprobe mit 141 Lernenden (HC: n = 75, LC: n = 66) die Erfassung eines mittleren Effektes (f = 0,25; 1‑β = 0,84; GPower).

Die Materialien basierten auf PS-I-Studien zum Varianzkonzept (Loibl & Rummel, 2014b; Kapur, 2015). Die Lernenden erhielten zunächst einen Vorwissenstest, dann verschiedene Sets von fehlerhaften Lösungsbeispielen, anschließend einen Test zur Erfassung der Vorwissensaktivierung (in HC+/LC+), die Instruktion und einen konzeptuellen Wissenstest.

Es wurden zwei Lösungssets mit jeweils fünf fehlerhaften Lösungsbeispielen entwickelt. Lernende in den HC-Bedingungen erhielten ein Lösungsset, welches über die Lösungsbeispiele hinweg vier von insgesamt vier relevanten konzeptuellen Komponenten des Zielkonzepts adressierte (hohe relevante Vorwissensaktivierung), während in den LC-Bedingungen über alle Lösungsbeispiele hinweg nur zwei von vier Komponenten adressiert wurden (niedrige relevante Vorwissensaktivierung).

Ergebnisse und Diskussion

In einer einfaktoriellen ANCOVA mit den Kovariaten Vorwissen, mathematisches Selbstkonzept und mathematische Fähigkeit, untersuchten wir den Effekt relevanter Vorwissensaktivierung durch fehlerhafte Lösungsbeispiele auf das konzeptuelle Wissen nach Instruktion: es konnte kein Unterschied zwischen Lösungsbeispielen mit hoher oder niedriger Coverage adressierter relevanter Komponenten gefunden werden, F(1, 133) = 1.886, p = .172, ηp² = .014. Eine Exploration zeigte, dass konzeptuelles Wissen nach Instruktion nur in der HC-Bedingung mit Vorwissen korrelierte.

Sowohl fehlerhafte Lösungsbeispiel mit vielen als auch mit wenigen relevanten Komponenten konnten Lernende auf eine Instruktion vorbereiten. Im Gegensatz zu bisherigen Ergebnissen, die andeuten, dass fehlerhafte Lösungsbeispiele nur für Lernende mit hohem Vorwissen förderlich sind (Große & Renkl, 2007), waren fehlerhafte Lösungsbeispiele mit einem niedrigen Umfang an relevanten Komponenten in unserer Studie unabhängig vom Vorwissen der Lernenden lernförderlich. Somit stellen fehlerhafte Lösungsbeispiele vor Instruktion, die bereits einige, jedoch nicht zu viele relevante Komponenten des Zielkonzeptes adressieren, eine geeignete Vorbereitungsaktivität für Lernende unterschiedlichen Vorwissens dar.

 

Vergleich fehlerhafter und richtiger Lösungsbeispiele zur Anregung eines Konzeptwechsels

Cagla Dikme, Katharina Loibl, Timo Leuders, Kirsten Brunner
PH Freiburg

Theoretischer Hintergrund

Beim Erwerb mathematischen oder naturwissenschaftlichen Wissens, wie beispielsweise dem Bruchkonzept, machen Lernende auch nach einer Instruktion typische Fehler. Dies wird darauf zurückgeführt, dass nicht mehr geeignete Präkonzepte fortbestehen und nicht einfach durch Zielkonzepte ersetzt werden. Es bedarf eines Konzeptwechsels (Prediger, 2008; Vamvakoussi, & Vosniadou, 2002; van Hoof et al., 2017). Lernende müssen dabei zunächst die Fehler in ihren Konzepten (vgl. negatives Wissen, Oser & Spychiger, 2005) und ihre Wissenslücken erkennen, bevor sie aktiv ihr Wissen umstrukturieren können (VanLehn et al., 2003). Dies kann z. B. durch einen Vergleich richtiger und (eigener) falscher Lösungsbeispiele initiiert werden (Gadgil et al., 2012).

Bei einem solchen Vergleich wird ein größerer Lernerfolg erzielt als bei der Bearbeitung nur eines der beiden Lösungsbeispieltypen (Booth et al., 2013; Durkin & Rittle-Johnson, 2012; Siegler, 2002; Siegler & Chen, 2008). Besonders lernwirksam erscheint ein elaborierter Vergleich richtiger und falscher Lösungsbeispiele (Große & Renkl, 2007; Loibl & Leuders, 2018, 2019). Bisherige Studien unterscheiden sich darin, ob mit vorgegebenen fehlerhaften Lösungsbeispielen gearbeitet wurde (Booth et al., 2013; Durkin & Rittle-Johnson, 2012; Heemsoth & Heinze, 2014; Loibl & Leuders, 2018, 2019; Tsovaltzi et al., 2012) oder ob die Fehler den Lösungsversuchen der Lernenden entsprachen (Asterhan & Dotan, 2018; Gadgil et al., 2012; Heemsoth & Heinze, 2016; Siegler, 2002; Siegler & Chen, 2008). Nur bei der Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern lassen sich die angeregten Lernprozesse als Konzeptwechsel interpretieren.

Inwiefern es dabei ausreicht, typische fehlerhafte Lösungsbeispiele zu verwenden oder ob die individuellen Fehler aufgegriffen werden müssen, lässt sich aus dem bisherigen Forschungsstand nicht ableiten, da beide Lösungsbeispieltypen nicht direkt verglichen wurden. Ein solcher Vergleich setzt voraus, dass die Lernenden zunächst eigene Fehler generieren, wie es im Rahmen des Instruktionsansatzes PS-I (problem-solving prior to instruction) geschieht (Loibl et al., 2017).

Fragestellung

In einer experimentellen Studie wird in einem PS-I Setting der Effekt der Passung zwischen individuellen Lösungen aus einer Problemlösephase und Lösungsbeispielen einer nachfolgenden Instruktion auf den Lernerfolg überprüft. Hierzu wird in der Instruktionsphase variiert, ob die Lernenden für den Vergleich von richtigem und falschem Lösungsbeispiel ein falsches Lösungsbeispiel erhalten, das ihrem Fehlertyp entspricht (adaptive Bedingung) oder ein typisches falsches Lösungsbeispiel (aus Loibl & Leuders, 2018; Boomgaarden et al., 2022), das gerade nicht dem eigenen Fehlertyp entspricht (kontraadaptive Bedingung). Wir nehmen an, dass Lernende, die mit fehlerhaftem Lösungsbeispiel arbeiten, höhere Werte im Posttest erzielen als eine Kontrollbedingung ohne fehlerhafte Lösungsbeispiele (Hypothese 1) und dass die Passung zwischen den individuellen Fehlern der Lernenden und dem fehlerhaften Lösungsbeispiel für den Lernerfolg bedeutsam ist, d.h. dass die adaptive Bedingung die besten Lernergebnisse erzielt (Hypothese 2).

Methode

Vor dem Hintergrund früherer Befunde werden mittlere bis große Effektstärken erwartet (z. B. Loibl & Leuders, 2019: d = 0,3 bis 0,5), sodass eine Stichprobengröße von 175 Lernende bei dem beabsichtigten Design erforderlich ist. Lernende aus neun Schulklassen (ca. 180-225 Schüler:innen) Anfang der 6. Klasse werden randomisiert einer der drei Bedingungen zugewiesen.

Nach einem Prätest bearbeiten die Lernenden eine computerbasierte Problemlöseaufgabe zum Bruchvergleich. Der Typ der Schülerlösung wird automatisch diagnostiziert und dient als Grundlage für die Auswahl des fehlerhaften Lösungsbeispiels in der anschließenden Instruktionsphase (Details zur Validität der Lernumgebung und der Diagnose, s. Boomgaarden et al., 2022). Lernende in der Kontrollbedingung erhalten nur ein richtiges Lösungsbeispiel. Lernende in den anderen beiden Bedingungen erhalten zusätzlich ein fehlerhaftes Lösungsbeispiel, das entweder ihrem Lösungstyp entspricht (adaptive Bedingung) oder nicht (kontraadaptiven Bedingung). Nach der Instruktionsphase sowie nach einer Woche (Follow-Up) wird das konzeptuelle Verständnis der Schülerinnen und Schüler erfasst.

Ergebnisse und Diskussion

Die Datenerhebung ist nahezu abgeschlossen. Die Ergebnisse werden Hinweise dazu liefern, ob der lernförderliche Effekt des Vergleichs von richtigen und (adaptiven) fehlerhaften Lösungsbeispielen beim Erwerb des Bruchkonzepts auf Konzeptwechselprozesse zurückzuführen ist.

 
9:00 - 10:407-16: Authentische Lerngelegenheiten
Ort: S15
 
Paper Session

Evaluation eines Zooführungskonzeptes des Allwetterzoos Münster zur Bildung für nachhaltige Entwicklung

Gesche Barg, Elmar Souvignier

Universität Münster, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) verfolgt das Ziel, Menschen dazu zu befähigen, zukunftsorientiert zu denken und zu handeln (Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung, 2017). Für mehrere BNE-Bildungsangebote konnte ein positiver Einfluss auf die Veränderung von Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und moralischen Überzeugungen beobachtet werden (O’Flaherty und Liddy, 2018), aber bislang haben sich nur wenige Studien mit Effekten auf Verhaltensänderungen beschäftigt (Algurén, 2021). Wenngleich systematische Analysen zur Wirksamkeit unterschiedlicher Lehrmethoden im BNE-Kontext fehlen (Rieß, 2022), gelten beispielsweise außerschulische Lernorte wie Zoos als geeigneter Rahmen dafür, BNE-Lernmethoden zu erproben und miteinander zu vergleichen (Thomas, 2020). Erste Untersuchungen zur Wirksamkeit von zoopädagogischen Angeboten weisen generell auf deren Nutzen hin (Counsell et al. 2020; Kleepsies et al., 2022). Vor diesem Hintergrund sollen in der vorliegenden Studie Effekte eines neukonzipierten BNE-Zooführungskonzepts des Allwetterzoos Münster (Dobslaw, 2019) evaluiert werden. In dieser 90-minütigen Zooführung haben Tierarten die Rolle von Botschaftern ihrer Ökosysteme. Auf diese Weise werden reale BNE-Problemstellungen veranschaulicht und im Gespräch erarbeitet. Um Effekte einer zusätzlichen Aktivierung von Schüler:innen zu untersuchen, wurde das Zooführungskonzept in einer der beiden Experimentalgruppen durch kooperative Lernelemente in Form von Planspielen vertieft.

Fragestellung

Ziel der Studie war es, kurz- und langfristige Effekte der Teilnahme an einer BNE-Zooführung im Allwetterzoo Münster auf das Umweltwissen, das systemische Denken, die umweltbezogenen Einstellungen, die umweltschützenden Verhaltensabsichten und das tatsächliche umweltschützende Verhalten zu untersuchen. Aufgrund der Wirksamkeitsnachweise anderer BNE- und zoopädagogischer Bildungsangebote (Algurén, 2021; Counsell et al., 2020; Kleespies et al., 2022; O’Flaherty & Liddy, 2018) wurden positive Effekte der BNE-Zooführung auf alle Kriteriumsvariablen erwartet. Dabei gingen wir davon aus, dass die kooperativen Lernelemente einen zusätzlichen förderlichen Einfluss bewirken.

Methode

An der Studie nahmen 26 Schulklassen der Jahrgangsstufen 7 bis 9 (N = 656 Schüler:innen) aus dem Stadtgebiet Münster im Herbst/Winter 2022/23 teil. Die Klassen wurden Experimentalgruppe 1 (N = 189 Schüler:innen aus acht Klassen), Experimentalgruppe 2 (N = 218 Schüler:innen aus acht Klassen) und der Kontrollgruppe (N = 218 Schüler:innen aus zehn Klassen) randomisiert zugewiesen. Klassen der Experimentalgruppen nahmen während der Studie an der BNE-Zooführung teil, wobei nur bei Führungen der Experimentalgruppe 2 die kooperativen Planspiele genutzt wurden. Schüler:innen der Kontrollgruppe nahmen nach den Erhebungen an der BNE-Zooführung teil. Die Kriteriumsvariablen wurden anhand eines Fragebogens eine Woche vor der Führung (T1), unmittelbar nach der Führung (T2) und einen Monat nach der Führung (T3) erhoben. Die beiden Skalen zum Umweltwissen und zum umweltschützenden Verhalten wurden für die vorliegende Studie neu konstruiert. Die Fragen zum systemischen Denken (Bräutigam, 2014), zu den umweltbezogenen Einstellungen und zur umweltfreundlichen Verhaltensintention (Barth & Weiß, 2021) wurden aus bereits vorliegenden Skalen zusammengestellt. Alle Skalen weisen eine zufriedenstellende interne Konsistenz auf.

Ergebnisse

Für die statistische Auswertung wurde für jede Kriteriumsvariable zwei getrennte Random Intercept – Fixed Slope Mehrebenenmodelle für den Testzeitpunkt 2 und den Testzeitpunkt 3 berechnet. Die Werte des Testzeitpunktes 1 dienten zur Kontrolle von Vortestunterschieden. In beiden Experimentalgruppen erwies sich kurz- und langfristig das Umweltwissen im Vergleich zur Kontrollgruppe als signifikant höher (p ≤ .03). Kurzfristig bewirkten die Zooführungen geringfügig positive Effekte auf das systemische Denken (p ≤ .1) und die umweltschützenden Einstellungen (p ≤ .1). Es zeigten sich hingegen keine Effekte auf die Verhaltensintention oder das tatsächliche Verhalten der Schüler:innen. Die Wirksamkeit der kooperativen Lernelemente wurde mittels post-hoc Tests geprüft. Hier zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Experimentalbedingungen.

Insgesamt erweist sich das Konzept der BNE-Zooführung in Bezug auf die proximale Variable des Umweltwissens als wirksam und es deuten sich schwache Effekte auf systemisches Denken und umweltschützende Einstellungen an. Die Evaluation des BNE-Zooführungskonzepts verdeutlicht, dass eine effektivere Implementation von kooperativen Lernelementen sowie eine direktere Förderung von umweltschützendem Verhalten sinnvoll wären.



Paper Session

Ein randomisierter kontrollierter Feldversuch zur Untersuchung der Wirkmechanismen von Citizen Science im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Online-Kurses

Julia Maria Lange1, Julia Schiefer2, Markus Kleinhansl1, Carola Garrecht3, Steffen Seitz4, Thomas Scholten4, Benjamin Nagengast1,5, Jessika Golle1, Ulrich Trautwein1

1Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung, Eberhard Karls Universität Tübingen; 2Institut für Psychologie, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg; 3Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, Kiel; 4Geographisches Institut, Bodenkunde und Geomorphologie, Eberhard Karls Universität Tübingen; 5Department of Education and the Brain & Motivation Research Institute (bMRI), Korea University, Seoul, Korea

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung

Die aktive Partizipation an echter Forschung im Rahmen von Citizen-Science-Projekten wird als vielversprechender Ansatz angesehen, das wissenschaftliche Denken und die naturwissenschaftliche Motivation von Schüler:innen zu fördern (Bonney et al., 2016; Phillips et al., 2018). Citizen-Science-Projekte ermöglichen Schüler:innen die Bearbeitung von Themen gesellschaftlicher Relevanz und das Erleben von Wissenschaft als gemeinschaftliche Aktivität – Merkmale, die besonders Mädchen ansprechen (Diekman et al., 2010; Su et al., 2009). Die vorliegende Studie untersucht systematisch die Effekte, die eine Citizen-Science-Beteiligung im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Online-Kurses auf das wissenschaftliche Denken und die naturwissenschaftliche Motivation von Jungen und Mädchen im Grundschulalter hat.

Dazu wurde ein 3-wöchiger asynchroner Online-Kurs zum Thema „Boden“ entwickelt. Die Kurssitzungen waren für die Interventions- und Kontrollgruppe vergleichbar, variiert wurde die Beteiligung am Citizen-Science-Projekt (Tea-Bag-Index-Projekt; Djukic et al., 2021). Wir erwarteten, dass die Citizen-Science-Beteiligung einen positiven Effekt auf das wissenschaftliche Denken und die Motivation der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe haben würde.

Methode

Stichprobe und Design

Unsere Intervention wurde im Schuljahr 2021/22 als Bestandteil eines Enrichment-Programms für begabte Grundschulkinder in Baden-Württemberg (Hector Kinderakademien, vgl. Golle et al., 2018) angeboten. An der Intervention nahmen N = 206 Grundschulkinder (58.25% Jungen, Alter: M=9.39, SD=0.76, Klasse 1: N=2, Klasse 2: N=36, Klasse 3: N=112, Klasse 4: N=56) teil. Die Studie wurde als randomisierte kontrollierte Feldstudie mit einem Prä- und Posttest durchgeführt.

Instrumente

Wissenschaftliches Denken. Um die verschiedenen Bereiche wissenschaftlichen Denkens abzubilden, wurden die Experimentierfähigkeiten der Schüler:innen (Phan, 2007), ihr epistemisches Wissen über das Wesen von Citizen Science (selbstkonzipiert) und über die Natur der Naturwissenschaften (wie die Herkunft und Sicherheit naturwissenschaftlichen Wissens; Kremer, 2010) sowie ihr Sachwissen über den Boden (selbstkonzipiert) erfasst.

Motivation. Um die naturwissenschaftliche Motivation der Schüler:innen zu erheben, wurden u.a. ihre Intention, sich auch künftig mit Naturwissenschaften zu beschäftigen (Bruckermann et al., 2021), ihr naturwissenschaftliches Fähigkeiten-Selbstkonzept (Gaspard et al., 2021), ihre Science Identity („Wissenschaftsidentität“; Chen & Wei, 2022) und ihr forschendes Interesse (Holland, 1997) erfasst.[1]

Statistische Analyse

Die Effekte der Intervention wurden mittels multipler Regressionen in R analysiert (AVs: standardisierte Posttestwerte, UVs: Gruppenzugehörigkeit [Interventionsgruppe=1, Kontrollgruppe=0], standardisierte Prätestwerte) und können aufgrund der Standardisierung der AVs und UVs als Effektstärken (Cohens d) interpretiert werden. Um explorativ zu untersuchen, ob der Effekt durch die Citizen-Science-Beteiligung systematisch mit dem Geschlecht variiert, wurde in einem weiteren Analyseschritt die Interaktion zwischen der Gruppenzugehörigkeit und dem Geschlecht der Schüler:innen in die Regressionsmodelle aufgenommen.

Ergebnisse

Wissenschaftliches Denken. Entgegen unserer Hypothese konnten wir keinen signifikanten Effekt der Citizen-Science-Beteiligung auf das wissenschaftliche Denken der Schüler:innen feststellen. Allerdings profitieren Mädchen im Hinblick auf ihr epistemisches Wissen über das Wesen von Citizen Science (Gruppenzugehörigkeit*Geschlecht: B=-0.70, p=.014; Interventionseffekt für Mädchen: B=0.57, p=.012) sowie über die Herkunft (Gruppenzugehörigkeit*Geschlecht: B=-0.60, p=.032; Interventionseffekt für Mädchen: B=0.47, p=.021) und Sicherheit (Gruppenzugehörigkeit*Geschlecht: B=-0.62, p=.044; Interventionseffekt für Mädchen: B=0.30, p=.262) naturwissenschaftlichen Wissens mehr als Jungen von der Citizen-Science-Beteiligung.

Motivation. Übereinstimmend mit unserer Hypothese entwickelten die Schüler:innen in der Interventionsgruppe eine signifikant höhere Intention, sich auch künftig mit Naturwissenschaften zu beschäftigen (B=0.36, p=.005). Signifikante Haupteffekte der Citizen-Science-Beteiligung auf die anderen motivationalen Variablen waren nicht zu beobachten. Allerdings wurde die Science Identity der Mädchen durch die Citizen-Science-Beteiligung signifikant stärker gefördert als die der Jungen (Gruppenzugehörigkeit*Geschlecht: B=-0.67, p=.010; Interventionseffekt für Mädchen: B=0.44, p=.045).

Die Studie zeigt, dass der zusätzliche Nutzen einer Citizen-Science-Beteiligung insbesondere in der gesteigerten Intention der Schüler:innen besteht, sich auch künftig mit Naturwissenschaften zu beschäftigen. Darüber hinaus konnten besonders Mädchen von der Citizen-Science-Beteiligung in ihrem epistemischen Wissen und ihrer Science Identity profitieren. Citizen Science scheint eine Möglichkeit zu sein, dem geschlechterübergreifend geringen und bei Mädchen sinkenden Interesse an naturwissenschaftlichen Berufen entgegenzuwirken (Sadler et al., 2012; Sheldrake, 2020).

[1] In diesem Abstract konzentrieren wir uns auf eine Auswahl der Instrumente zur Messung von Motivation.



Paper Session

Führt ein Parlamentsbesuch von Erwachsenen zu einer Zunahme des Wissens über Politik? Befunde einer Längsschnittstudie

Falk Scheidig, Niklas Obergassel

Ruhr-Universität Bochum, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Eine zentrale Voraussetzung für demokratische Teilhabe ist das Vorhandensein politischen Wissens in der Bevölkerung. Politisches Wissen, z. B. zur Gesetzgebung, ist förderlich für die politische Systemunterstützung (Easton, 1965) und die politische Partizipation, z. B. die Beteiligung an Wahlen (Delli Carpini & Keeter, 1996). Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Abnahme des Vertrauens in politische Akteure und Institutionen in Deutschland von hoher Relevanz (Decker et al., 2019). Aktuelle Befunde zeigen jedoch, dass das Niveau politischen Wissens zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist (Tausendpfund & Westle, 2020). Bezüglich des Wissens zu grundlegenden Funktionslogiken des parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland bestehen Wissensdefizite und Fehlvorstellungen, die potenziell mit einem Akzeptanzverlust hinsichtlich politischer Prozesse und Entscheide einhergehen (Patzelt, 1998; Schuett-Wetschky, 2003).

Defizite im politischen Wissen stellen daher eine Herausforderung für die Demokratie dar und unterstreichen die Bedeutung politischer Bildung in allen Lebensphasen. Über den Schulunterricht hinaus erreichen Angebote politischer Bildung jedoch nur wenige Menschen (Hufer, 2016). Im Kontrast zur geringen Nachfrage nach Kursen politischer Erwachsenenbildung erzielen parlamentarische Informationsangebote des Bundestags und der deutschen Landtage eine sehr hohe Resonanz. Der Bundestag zählt bis zu drei Millionen Besucherinnen und Besucher pro Jahr, der in der Studie betrachtete Landtag Nordrhein-Westfalen erreicht jährlich bis zu 80.000 Besucherinnen und Besucher. Dabei handelt es sich mehrheitlich um Erwachsene, die in ihrer Freizeit, über den beruflichen Kontext oder durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe (z. B. Vereinswesen, Partei, Gewerkschaft, Kirche) an einem parlamentarischen Informationsprogramm teilnehmen. Charakteristika parlamentarischer Informationsangebote für Erwachsene sind der geringe Formalisierungsgrad des Lernens und die Authentizität und Exklusivität des Lernortes.

Bislang liegen nur wenige Erkenntnisse zur Wirkung parlamentarischer Informationsangebote vor. Bisherige Studien zentrieren sich vor allem auf Parlamentsbesuche von Schulklassen, die als Exkursionen in den Politikunterricht eingebettet sind (z. B. Abendschön et al., 2022). Für die quantitativ dominierende Gruppe der erwachsenen Besucherinnen und Besucher liegen demgegenüber nur wenige Studien (Scheidig & Meilhammer, 2019; Siemsen, 1997) und keine gesicherten Erkenntnisse zu Lernprozessen im Zusammenhang mit dem Parlamentsbesuch vor.

Fragestellung

Im Fokus der Studie steht die Frage, ob ein Parlamentsbesuch zu einer Zunahme des Wissens über Politik bei erwachsenen Besucherinnen und Besuchern führt.

Methode

Zur Beantwortung der Fragestellung wurde eine Fragebogenerhebung unter erwachsenen Besucherinnen und Besuchern des Landtags Nordrhein-Westfalen durchgeführt, die an einem Informationsprogramm teilnahmen (bestehend aus: Informationsvortrag, Gespräch mit einer oder einem Abgeordneten, ggf. Besuch einer Plenardebatte). Für die Befragung wurde ein Prä-Post-Follow-up-Design gewählt: Besucherinnen und Besucher wurden zu Beginn (t1) und am Ende (t2) des Parlamentsbesuchs mit einem Fragebogen befragt, sechs Monate nach dem Besuch fand eine weitere Befragung per Online-Fragebogen statt (t3). Der Fragebogen enthielt einen Wissenstest, der sich auf Fragen zum parlamentarischen Regierungssystem zentrierte und gezielt populäre Fehlvorstellungen aufgriff (z. B. zum Verhältnis von Parlament und Regierung, zum Zustandekommen von Gesetzen).

Die Teilnahme an der Befragung erfolgte anonym und auf freiwilliger Basis, indem Besucherinnen und Besucher im Eingangsbereich des Landtags Nordrhein-Westfalen zu einer Teilnahme an der Studie eingeladen wurden. Insgesamt nahmen 126 Personen zu allen drei Befragungszeitpunkten an der Erhebung teil.

Mittels Varianzanalyse (ANOVAs mit Messwiederholung) wurden Veränderungen im Politikwissen zwischen den drei Befragungszeitpunkten berechnet.

Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigen, dass das Politikwissen unmittelbar nach dem Parlamentsbesuch (t2) signifikant höher ist als zu Beginn des Parlamentsbesuchs (t1). Sechs Monate nach dem Parlamentsbesuch (t3) ist das Politikwissen etwas abgesunken, es befindet sich aber weiterhin auf einem deutlich höheren Niveau als vor dem Parlamentsbesuch. Somit lässt sich unter den erwachsenen Besucherinnen und Besuchern im Durchschnitt sowohl kurz- als auch langfristig eine Zunahme des Wissens über das parlamentarische Regierungssystem nachweisen. Trotz der gemessenen Wissenszunahme verweisen die Ergebnisse des Wissenstests jedoch darauf, dass auch nach der Teilnahme am parlamentarischen Informationsprogramm teilweise weiterhin populäre Fehlvorstellungen bezüglich der Parlamentsarbeit bestehen.



Paper Session

Zeitzeug*innenberichte im Geschichtsunterricht zur Förderung von historischen Kompetenzen, Wissen und Motivation: Eine cluster-randomisierte kontrollierte Interventionsstudie.

Katharina Totter, Wolfgang Wagner, Christiane Bertram, Ulrich Trautwein

Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung, Deutschland

Theorie

Zur Partizipation im demokratischen Diskurs westlicher Gesellschaften benötigen Bürger*innen neben historischem Bewusstsein auch das Handwerkszeug zum kritischen Denken (Trautwein et al., 2017). Beides soll im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht vermittelt werden, dessen zentrales Ziel der Aufbau der Kompetenzen historischen Denkens und damit die kritische Analyse von Quellen, Darstellungen und ihrer Narrative sowie die eigenständige Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellt (Jeismann, 2000; Rüsen, 1983; Seixas & Morton, 2013; van Drie & van Boxtel, 2008). Die Arbeit mit Zeitzeug*innen wird in Bildungsstandards sowie zahlreichen Fachbüchern empfohlen und ihr wird großes Potenzial zur Förderung von Motivation und Kompetenzen zugeschrieben (Henke-Bockschatz, 2014; Whitman, 2004). Studien zeigen jedoch auch Risiken auf (Dutt-Doner et al., 2016; Galda, 2013; Obens & Geißler-Jagodzinski, 2010). Schüler*innen glaubten Zeitzeug*innen mehr als anderen Quellen (Angvik et al., 1997; Rosenzweig et al., 1998) und in einer ersten randomisiert-kontrollierten Feldstudie zeigte sich, dass Schüler*innen in der Arbeit mit Live-Zeitzeug*innen zwar mehr Spaß hatten, aber weniger lernten als die Vergleichsklassen mit Videokonserven und Texten von Zeitzeug*innen (Bertram et al., 2017).

In einer darauf aufbauenden, groß angelegten randomisiert-kontrollierten Interventionsstudie wurde die Einschätzung der Transformationszeit nach 1990 jeweils mit zwei Alltagszeitzeug*innen der Generation 1975 aus dem Osten und Westen multiperspektivisch vermittelt. Schüler*innen der Interventionsklassen (live versus Video) wurden in drei Doppelstunden dazu angeregt, über die unterschiedlichen Erlebnisse und Erinnerungen nachzudenken und sie vor dem Hintergrund von Kontextinformationen auszuwerten. Anhand der deutsch-deutschen Geschichte sollten so Kompetenzen historischen Denkens (Körber et al., 2007), wie auch Motivation und Faktenwissen gezielt gefördert werden. Die Präregistrierung der Studie ist bei der Registry of Efficacy and Effectiveness Studies (REES) unter der Nummer #14881.1v1 abrufbar.

Fragestellung

Die Hypothesen bezogen sich auf die unterschiedliche Wirksamkeit der Intervention zwischen den Gruppen (live vs. Video vs. Kontrolle) bezüglich Kompetenzen historischen Denkens (primary outcome), Faktenwissens, motivationalen Variablen wie der Relevanz von Geschichte und der Unterrichtsbewertung.

Methode

Die Stichprobe umfasste insgesamt 1,301 Schüler*innen. Nach randomisierter Zuweisung der 50 Lehrkräfte (n = 23 live, n = 22 Video, n = 15 Kontrolle) erhielten die Lehrkräfte der Interventionsgruppen eine Fortbildung zur Unterrichtseinheit, die sie am Schuljahresende 2022 unterrichteten. Schüler*innendaten der Interventionsklassen wurden vor sowie nach der Intervention erfasst. Die Wartekontrollgruppe wurde nach Lehrplan beschult und analog zu den Interventionsgruppen getestet. Um die zentralen Studienziele empirisch erfassbar zu machen, wurden standardisierte Testaufgaben, wie beispielweise eine Aufgabenauswahl des HiTCH-Tests (Trautwein et al., 2017), genutzt sowie neue Inventare entwickelt und mittels zweiparametrischen Item Response Modellen skaliert. Items zu Einstellungen und Bewertungen der Unterrichtseinheit wurden zu Mittelwerten zusammengefasst. Gemäß den Vorgaben des What Works Clearinghouse (2022) wurden die adjustierten Mittelwertunterschiede der standardisierten Outcomes unter Einbezug von Kovariaten auf Basis von Analysen zur Baseline-Äquivalenz mittels Regressionsanalysen und unter Berücksichtigung der Clusterstruktur geschätzt. Auf Basis einer vorangegangenen Poweranalyse wurde bei Gruppenvergleichen hinsichtlich historischer Kompetenzen (hier mittlerer Gruppenunterschied) sowie der Relevanz von Geschichte eine Multistep-Prozedur von Koch und Röhmel (2004) gewählt.

Ergebnisse & Diskussion

In der Live-Gruppe wurde die Unterrichtseinheit hinsichtlich des Interesses (β = .390, p < .001) sowie der Note günstiger eingeschätzt als bei der Interventionsgruppe mit Videos (β = 0.285, p <.001). Die angenommene Überlegenheit der Interventionsgruppen gegenüber der Kontrollgruppe erwies sich hinsichtlich des erworbenen Wissens als signifikant (0.114 ≤ β ≤ 0.142, p < .05), nicht jedoch bei eingeschätzter Relevanz von Geschichte und im Komposit aus Kompetenztests historischen Denkens. Bei Letzterem zeigte sich in explorativer Betrachtung der Einzeltests, dass die Interventionsgruppen beim Test zur Aussagekraft von Zeitzeug*innen besser abschnitten als die Kontrollgruppe (0.160 ≤ β ≤ 0.204, p < .05), ohne sich untereinander zu unterscheiden. Ein ähnliches Muster zeigt bei anderen Teiltests nicht. Insgesamt bietet die groß angelegte, präregistrierte und randomisiert-kontrolliert durchgeführte Interventionsstudie wertvolle Hinweise hinsichtlich der Effekte des Zeitzeug*inneneinsatz im Unterricht.

 
9:00 - 10:407-17: Die Bedeutung des Schulkontexts
Ort: S16
 
Paper Session

Wahrgenommene Diskriminierung und schulische Adaption von Jugendlichen unterschiedlicher ethnischer Herkunftsgruppen: Zur vermittelnden Rolle der Unterrichtsqualität

Jan Scharf1, Birgit Heppt2, Miriam Schwarzenthal3

1DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation; 2Humboldt-Universität zu Berlin; 3Bergische Universität Wuppertal

In Zeiten zunehmender Migration lernen in vielen Ländern, so auch in Deutschland, Jugendliche mit unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten, Ethnien und Migrationsgeschichten im gemeinsamen Klassenkontext. Eine zentrale Aufgabe von Lehrkräften ist es in diesem Zusammenhang, allen Schüler*innen gleiche Bildungschancen zu bieten. Jugendliche mit Migrationshintergrund erzielen jedoch häufig geringere schulische Leistungen als ihre Mitschüler*innen ohne Migrationshintergrund (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2016; Henschel et al., 2019), wobei die Leistungen je nach Zuwanderergeneration und ethnischer Herkunft variieren (vgl. Henschel et al., 2022; Kristen & Granato, 2007).

Als wichtige Faktoren, die zu ethnischen Disparitäten in Aspekten schulischer Adaption beitragen, gelten Stereotypisierung und Diskriminierung im Schulkontext (vgl. Byrd, 2017; Schwarzenthal et al., 2018; Schachner et al., 2021). Aktuelle empirische Ergebnisse verweisen darauf, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund – und hierbei insbesondere türkeistämmige Jugendliche sowie Jugendliche mit einem Migrationshintergrund aus SWANA-Ländern (Südwestasien und Nordafrika) – erstens stärkere Stereotypisierung und Diskriminierung wahrnehmen (vgl. Vietze et al., 2022) und dass dies zweitens mit einer schlechteren schulischen Adaption zusammenhängt (vgl. Civitillo et al., 2022). Über die Mechanismen im Schulklassenkontext, die diesen Zusammenhang erklären, ist jedoch weniger bekannt. Bezugnehmend auf die professionelle Kompetenz von Lehrkräften (Baumert & Kunter, 2006; Hachfeld et al., 2015) kann theoretisch angenommen werden, dass die Werte und Überzeugungen der Lehrkräfte, einschließlich ihrer Stereotype, ihre Wahrnehmungen und Handlungen leiten und sich daher auf die sozialen Interaktionen im Klassenkontext (Denessen et al., 2022) und letztlich auf die schulische Adaption der Jugendlichen auswirken.

Vor diesem Hintergrund untersucht der Beitrag zum einen, wie Schüler*innen unterschiedlicher ethnischer Herkunftsgruppen die stereotypen Überzeugungen von Lehrkräften in Bezug auf ethnische Minderheiten sowie die Unterrichtsqualität in den Dimensionen kognitive Aktivierung, Klassenführung und konstruktive Unterstützung wahrnehmen. Zum anderen werden Zusammenhänge zwischen diesen Wahrnehmungen der Jugendlichen und ihrer schulischen Adaption – operationalisiert über die Lesekompetenz und -motivation sowie das Gefühl der Zugehörigkeit zur Schule (Civitillo et al., 2022) – analysiert. Die übergreifende Fragestellung der Studie lautet demnach: Hängen Stereotype von Lehrkräften mit einer schlechteren Unterrichtsqualität zusammen, und sind dies Hinderungsbedingungen für eine erfolgreiche schulische Adaption von Jugendlichen verschiedener ethnischer Herkunftsgruppen?

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurden die Schüler*innendaten der PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) 2018 aus Deutschland verwendet; die Analysen basieren auf der Stichprobe der Neuntklässler*innen (N=3024), alle einbezogenen Variablen beruhen auf Angaben der Schüler*innen. Die geschachtelte Datenstruktur wurde in den mehrstufigen Regressionsmodellen ebenso berücksichtigt wie zentrale Kovariaten (Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status, zu Hause gesprochene Sprache und besuchte Schulform). Mit der ersten Hypothese wurde angenommen, dass Schüler*innen ethnischer Minderheiten, die in der Gesellschaft ein höheres Maß an Diskriminierung erfahren, auch in der Schule stärkere Stereotype ihrer Lehrkräfte wahrnehmen: Erwartungskonform zeigten die Ergebnisse für türkeistämmige Jugendliche sowie für Jugendliche mit einem Migrationshintergrund aus SWANA-Ländern im Vergleich zu ihren Mitschüler*innen mit einem anderen oder ohne Migrationshintergrund eine größere wahrgenommene Diskriminierung durch Lehrkräfte. Zugleich aber fühlten sie sich stärker zugehörig zu ihrer Schule als ihre Mitschüler*innen mit einem anderen oder ohne Migrationshintergrund. Nahmen Schüler*innen allerdings mehr stereotype Überzeugungen ihrer Lehrkräfte war, waren – im Einklang mit der zweiten Hypothese – sowohl Leseleistung und -motivation als auch das schulische Zugehörigkeitsgefühl geringer. Da mit der dritten Hypothese angenommen wurde, dass der Zusammenhang von wahrgenommener Diskriminierung und geringerer schulischer Adaption durch die Unterrichtsqualität vermittelt wird, wurden im dritten Schritt Mediationseffekte der drei Dimensionen von Unterrichtsqualität geschätzt. Hier zeigte sich, dass die wahrgenommene Diskriminierung mit einer als ungünstiger wahrgenommenen Klassenführung einherging, was wiederum den negativen Zusammenhang mit der Leseleistung und dem Gefühl der Zugehörigkeit zur Schule vermittelte. Im Rahmen des Beitrags werden darüber hinaus umfassendere multivariate Ergebnisse berichtet. Abschließend wird diskutiert, wie Mechanismen, über die sich Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen im Schulalltag vermitteln, künftig noch differenzierter analysiert werden können, um ausführlicher über Bildungsungleichheiten nach ethnischer Herkunft aufklären zu können.



Paper Session

Effekte von Unterricht und Ganztagsangeboten auf Leistungsentwicklung und Leistungsunterschiede nach sozialer Herkunft

Max Nachbauer

Freie Universität Berlin, Deutschland

1 Theoretischer Hintergrund

Die Wirksamkeit von Schule und Unterricht kann sich auf zwei Dimensionen beziehen (Creemers & Kyriakides, 2008). Einerseits kann betrachtet werden, inwieweit der durchschnittliche Lernerfolg der Schüler/innen gesteigert wird (Qualifizierung). Andererseits kann betrachtet werden, inwieweit Unterschiede im Lernerfolg zwischen verschiedenen Schüler/innen abgeschwächt werden (Egalisierung/Entkoppelung). Der zweitgenannte Aspekt ist insbesondere vor dem Hintergrund von systematischen Bildungsungleichheiten von Relevanz. Eine zentrale Problematik stellen Leistungsunterschiede nach der sozialen Herkunft dar (Sirin, 2005). Es stellt sich die Frage, inwieweit Schulen durch die Gestaltung von Unterricht und Ganztagsangeboten neben der durchschnittlichen Leistungsentwicklung auch Leistungsunterschieden nach der sozialen Herkunft beeinflussen. Im vorliegenden Beitrag wird eine empirische Analyse zu dieser Fragestellung berichtet. Als Unterrichtsmerkmale werden Klassenführung, Unterstützung, kognitive Aktivierung sowie Prinzipien der Gruppenbildung (leistungshomogene vs. leistungsheterogene Gruppen) betrachtet. Als Ganztagsangebote werden Förderunterricht, Hausaufgabenbetreuungen und Ergänzungsangebote für leistungsstarke Schüler/innen betrachtet.

2 Fragestellungen

Im Beitrag werden vier Fragestellungen untersucht:

- Welche Effekte haben Unterrichtsmerkmale auf den durchschnittlichen Lernerfolg?

- Welche Effekte haben Unterrichtsmerkmale auf Unterschiede im Lernerfolg nach sozialer Herkunft?

- Welche Effekte haben Ganztagsangebote auf den durchschnittlichen Lernerfolg?

- Welche Effekte haben Ganztagsangebote auf Unterschiede im Lernerfolg nach sozialer Herkunft?

3 Methode

Die Analysen basieren auf Daten der Startkohorte 3 des Nationalen Bildungspanels (Blossfeld & Roßbach, 2019). Es werden Schüler/innen in Gymnasien in ganz Deutschland untersucht. Die Schulform des Gymnasiums wurde ausgewählt, weil die soziale Heterogenität der Schülerschaft in Gymnasien am stärksten ausgeprägt ist (im Vergleich zu Haupt-/Mittelschulen und Realschulen). Die Stichprobe umfasst 1.523 Schüler/innen in 120 Klassen in 71 Schulen.

Als abhängige Variable wird die Entwicklung von Mathematikkompetenz von der fünften bis zur siebten Jahrgangsstufe betrachtet. Mathematikkompetenz wird mit einem standardisierten Leistungstest erhoben (Anfang der fünften Jahrgangsstufe und Anfang der siebten Jahrgangsstufe). Die soziale Herkunft wird durch den höchsten Bildungsstand der Eltern operationalisiert. Weitere Kontrollvariablen auf der Schülerebene sind Geschlecht und Migrationshintergrund. Die unabhängigen Variablen Unterrichtsmerkmale und Ganztagsangebote werden mit Fragebögen für Lehrkräfte und Schulleiter/innen erfasst.

Als Analysemethoden werden Mehrebenenmodelle eingesetzt (zwei Ebenen: Schülerebene und Klassenebene). Spezifisch handelt es sich um Intercept-and-Slope-As-Outcome Modelle (Raudenbush & Bryk, 2002). Der Random Intercept ist ein Indikator für den durchschnittlichen Lernerfolg (mittlerer Zuwachs der Mathematikkompetenz). Der Random Slope der sozialen Herkunft ist ein Indikator für Unterschiede im Lernerfolg nach der sozialen Herkunft (Abhängigkeit des Zuwachses der Mathematikkompetenz von der sozialen Herkunft).

4 Ergebnisse

Bezüglich Effekten von Unterrichtsmerkmalen auf den durchschnittlichen Lernerfolg zeigt sich, dass Klassenführung einen positiven linearen Effekt hat, während kognitive Aktivierung einen positiven linearen und einen negativen quadratischen Effekt hat. Hinsichtlich Effekten von Unterrichtsmerkmalen auf herkunftsbedingte Unterschiede im Lernerfolg wird festgestellt, dass Unterstützung durch die Lehrkraft einen tendenziell signifikanten (p < 0.10) negativen Effekt hat und dass die Bildung von leistungsheterogenen Gruppen einen negativen Effekt hat (negative Effekte bedeuten, dass herkunftsbedingte Unterschiede abgeschwächt werden).

Bezüglich Effekten von Ganztagsangeboten auf den durchschnittlichen Lernerfolg zeigt sich, dass Hausaufgabenbetreuungen einen negativen Effekt haben und dass Ergänzungsangebote für leistungsstarke Schüler/innen einen tendenziell signifikanten (p < 0.10) negativen Effekt haben. Hinsichtlich Effekten von Ganztagsangeboten auf herkunftsbedingte Unterschiede im Lernerfolg wird festgestellt, dass Förderunterricht einen negativen Effekt hat (herkunftsbedingte Unterschiede werden abgeschwächt), während Hausaufgabenbetreuungen und Ergänzungsangebote für leistungsstarke Schüler/innen positive Effekte haben (herkunftsbedingte Unterschiede werden verstärkt).

5 Diskussion

Der vorliegende Beitrag erweitert das Verständnis darüber, wie schulische Lernangebote die Entstehung von Leistungsunterschieden nach der sozialen Herkunft beeinflussen. Es werden sowohl abschwächende als auch verstärkende Effekte ermittelt.

Eine Limitation ist darin zu sehen, dass die Ergebnisse nicht ohne weiteres vom Gymnasium auf andere Schulformen übertragen werden können. Eine weitere Limitation liegt darin, dass Unterrichtsmerkmale und Ganztagsangebote nur durch Befragung von Lehrkräften und Schulleiter/innen erhoben werden. Es wird somit nur eine einseitige und enggeführte Erfassung der schulischen Lernumwelt ermöglicht.



Paper Session

Schulentfremdung – eine Frage der Erfüllung von Basic Needs im Unterrich

Katharina Fuchs1, Lisa Pösse1, Ramona Obermeier2, Hanna Velling1, Michaela Gläser-Zikuda1

1Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland; 2Johannes Kepler Universität Linz, Österreich

Theoretischer Hintergrund

Schulentfremdung stellt ein komplexes Problem mit negativen Folgen für Individuum und Gesellschaft dar. Da viele Schulabbrecher*innen Entfremdungserscheinungen zeigen, kann Schulentfremdung als vorgelagerter Prozess zum Schulabbruch beschrieben werden (Stamm, 2012). Schulentfremdung setzt sich aus kognitiven und affektiven Dimensionen zusammen und kann als negative Einstellung oder dauerhaft negative Disposition gegenüber verschiedenen Aspekten der Schule (Lernen, Mitschüler*innen und Lehrkräfte) verstanden werden (Hascher & Hadjar, 2018).

Schulentfremdung wird durch individuell-schüler*innenbezogene und unterrichtsbezogene Aspekte beeinflusst. Auf individueller Ebene hängen beispielsweise das Geschlecht, Schulleistungen sowie der Migrationshintergrund mit Entfremdung zusammen (Morinaj et al., 2020, Hadjar et al. 2019). Der Zusammenhang zwischen der Unterrichtsqualität und Schulentfremdung lässt sich u.a. durch die Selbstbestimmungstheorie und die dort referierten menschlichen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit erklären (Deci & Ryan, 2000). Diese sind für Konstrukte, die eng mit der Schulentfremdung in Beziehung stehen (z.B. Motivation, Wohlbefinden von Schüler*innen; Morinaj & Hascher, 2019; Niemiec & Ryan, 2009) und auch direkt für das Ausmaß an Schulentfremdung von Schüler*innen relevant (Mahmoudi et al., 2018).

Bislang liegen kaum Studien vor, die Einflussfaktoren von Schulentfremdung mehrebenenanalytisch untersuchen (Hascher & Hadjar 2018). Ebenso fand bislang keine dezidierte Prüfung von Zusammenhängen der wahrgenommenen Befriedigung der Grundbedürfnisse im Unterricht und der Entfremdung vom Lernen auf Individualebene der Schüler*innen statt.

Fragestellung

Folgende Forschungsfragen werden fokussiert:

(a) In welchem Zusammenhang steht die Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse im Unterricht mit der Entfremdung der Schüler*innen vom Lernen?

(b) Wird dieser Zusammenhang durch die Leistung der Schüler*innen moderiert?

Methode

Im Schuljahr 2021/22 wurden online-Fragebogenerhebungen an 38 Sekundarschulen eines deutschen Bundeslands durchgeführt. Die Schüler*innen wurden mit etablierten und standardisierten Fragebogeninstrumenten u.a. nach ihrem Selbstbestimmungserleben, der Abwesenheit sozialer Probleme, ihrem Kompetenzerleben im Unterricht sowie nach der Entfremdung vom Lernen befragt.

Anhand von Daten von N = 1.776 Schüler*innen (Durchschnittsalter: M = 13.16, SD = 3.64; 47.6% weiblich; 14.4% Migrationshintergrun) in 129 Klassen (5. bis 9. Jahrgangsstufe) wurden hierarchische Mehrebenenanalysen mit der Entfremdung vom Lernen als abhängiger Variable durchgeführt. Zunächst wurden das Selbstbestimmungserleben im Unterricht sowie die Abwesenheit sozialer Probleme auf Klassenebene (Level 2) (modelliert als Gruppenmittelwert der Einschätzung aller Schüler*innen einer Klasse) als Prädiktoren ins Modell aufgenommen. Anschließend wurden auf der Ebene der Schüler*innen (Level 1) die individuelle Wahrnehmung von Selbstbestimmung, Kompetenzerleben sowie der Abwesenheit sozialer Probleme in das Modell einbezogen. Die Level 1-Variablen wurden jeweils am Klassenmittelwert zentriert. Schulleistung, Geschlecht, Jahrgangsstufe sowie Migrationshintergrund der Schüler*innen wurden kontrolliert. Ein abschließendes Modell integriert ergänzend zu den Haupteffekten der genannten Prädiktoren Interaktionsterme, um Unterschiede in den Zusammenhängen zwischen Prädiktoren und abhängiver Variable zu untersuchen.

Ergebnisse

Es finden sich verschiedene Zusammenhänge der menschlichen Grundbedürfnisse und der Entfremdung vom Lernen: Auf Individualebene stehen eine höhere Selbstbestimmung (B = -.173, SE = .023), Selbstwirksamkeit (B = -.369, SE = .027) sowie Abwesenheit sozialer Probleme (B = -.369, SE = .027) in einem negativen Zusammenhang mit der Entfremdung vom Lernen. Ein negativer Zusammenhang findet sich auch bezogen auf das Selbstbestimmungserleben auf Klassenebene (B = -.257, SE = .083). Für die Abwesenheit sozialer Probleme auf Klassenebene zeigt sich hingegen kein signifikanter Zusammenhang. Die Interaktionsterme offenbaren, dass der Zusammenhang zwischen der Leistung der Schüler*innen und der Entfremdung vom Lernen signifikant durch die Abwesenheit sozialer Probleme auf Klassenebene moderiert wird (B = -.180, SE = .077). In Klassen mit einer hohen Abwesenheit sozialer Probleme ist der Zusammenhang zwischen der individuellen Leistung der Schüler*innen und der Entfremdung vom Lernen somit schwächer.

Dies zeigt, dass die Möglichkeit der Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse im Unterricht mit der Schulentfremduing der Schüler*innen korrespondiert. Im Rahmen des Vortrags werden die zentralen Ergebnisse der Studie präsentiert sowie insbesondere im Hinblick auf Implikationen für die Unterrichtsgestaltung und die Prävention von Entfremdung vom Lernen diskutiert.



Paper Session

Institutionelles Vertrauen in die Schule: eine Validierungsstudie

Elisabeth Graf1, Julia Reiter2

1Institut für Entwicklungs- und Bildungspsychology, Fakultät für Psychologie, Universität Wien, Österreich; 2Institut für Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Fakultät für Psychologie, Universität Wien

Theoretischer Hintergrund

Schulen sind eine der ersten Institutionen, die intensiv den Alltag von Kindern und Jugendlichen prägen. Die Erfahrungen, die Schüler*innen in Schulen machen, könnten daher bedeutend für die Entwicklung ihres institutionellen Vertrauens sein (Schoon & Cheng, 2011). Das institutionelle Vertrauen in die Schule selbst wurde bislang kaum untersucht. Eine Ausnahme stellt die Skala zu Schulvertrauen von Yeager et al. (2017) dar, die es auf einer interpersonellen Ebene in Bezug auf Fairness erfasst. Für die Entwicklung von Vertrauen ist neben interpersonellen Erfahrungen (kulturelle Theorien) auch die Evaluation von Institutionen in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit relevant (institutionelle Theorien; Schoon & Cheng, 2011). Dieser Beitrag hat das Ziel, Vertrauen in die Schule aus dieser institutionellen Perspektive zu erfassen. Als zentrale Aufgaben von Schulen sehen wir dabei, diese Schüler*innen erfolgreich auf ihren Abschluss vorzubereiten (akademische Vorbereitung), eine sichere Umgebung für das Lernen zu bieten (Sicherheitsgefühl) und sie transparent über Regelungen informieren (Informationsfluss). Dieses Konzept stützt sich auf Arbeiten zu Wohlbefinden und Vertrauen in Schulen während der Pandemie (Schober et al., 2020).

Fragestellung

Dieser Beitrag hat das Ziel, die neu entwickelte Skala zu schulischem Vertrauen zu validieren. Folgende zentrale Fragestellungen wurden dabei untersucht:

  1. Was ist die Faktorstruktur der Skala?
  2. Kann aus den ursprünglich entwickelten 18 Items eine Kurzskala gebildet werden, die eine gute Reliabilität (interne Konsistenz), Inhaltsvalidität (Zusammenhang mit Einzelitem zu Schulvertrauen) und übereinstimmende Konstruktvalidität (Schulvertrauen nach Yeager et al., 2017) aufweist?
  3. Besteht Messinvarianz zwischen Geschlechtern?

Methode

Wir analysierten Daten von 286 Schüler*innen aus der 11. und 12. Schulstufe (MAlter = 17.47, SD = 0.87) an Wiener Gymnasien und berufsbildenden höheren Schulen. Die Skala bestand aus je sechs Items für die Themenbereiche akademische Vorbereitung (z.B., „Ich weiß, dass meine Lehrer*innen es schaffen, mich gut auf Prüfungen vorzubereiten.“), Sicherheitsgefühl (z.B. „Ich muss mir in meiner Schule keine Sorgen um meine Sicherheit machen.“) und Informationsfluss (z.B., „Ich bin mir sicher, dass mir meine Lehrer*innen alle wichtigen Entscheidungen zu Unterricht und Schule mitteilen.“). Mittels Hauptkomponentenanalyse und explorativer Faktorenanalyse identifizierten wir die Faktorenstruktur der 18 Items. Dazu verwendeten wir eine zufällig gezogene Teilstichprobe der Gesamtdaten. Anhand mehrerer Kriterien, inklusive eines „Ameisenalgorithmus“ (ACO, Olaru & Danner, 2021; Olaru et al., 2019), bildeten wir eine Kurzskala mit 9 Items. Die Modellpassung der Kurzskala sowie ihre Reliabilität und Validität wurden mit den bisher noch nicht verwendeten Daten überprüft (mittels Konfirmatorischer Faktorenanalyse [CFA] und bivariaten Korrelationen zu thematisch verwandten Skalen von Köhler et al., 2016; Yeager et al., 2017). Im letzten Schritt wurde die Messinvarianz in Bezug auf Geschlecht mittels Mehrgruppen-CFA basierend auf dem Bayesianischen Informationskriterium (BIC) evaluiert. Die gesamten Analysen wurden vor Datenerhebung präregistriert und in R durchgeführt.

Ergebnisse

Die theoretisch beschriebene Drei-Faktor-Struktur akademische Vorbereitung, Sicherheitsgefühl und Informationsfluss und erzielte sehr gute Modellpassung (CFA; CFI = .988, TLI = .982, RMSEA = .050, SRMR = .039) sowie gute Reliabilität sowohl für Skala als auch Subskalen (McDonald’s Omega ω; gut für die Gesamtskala ω = .88, akzeptabel für die Subskala Vorbereitung (ω = .73), gut für die Subskalen Sicherheitsgefühl (ω = .86) und Informationsfluss (ω = .89)). Die Gesamtskala korrelierte moderat mit einem Einzelitem zu Schulvertrauen (r = .49) und hoch mit der Fairness-Skala von Yeager et al. (r = .69), was auf Augenschein- bzw. Konstruktvalidität hindeutet. Die Subskalen wiesen mittlere bis große Zusammenhänge mit der Fairness-Skala und dem Einzelitem auf (r = [.38 – 68]). Bei den Analysen zu Messinvarianz des finalen Modells in Bezug auf Geschlecht reduzierte sich das BIC bei stärkerer Gleichsetzung der Modelle, dementsprechend schließen wir auf gleichförmige Messmodelle bei männlichen und weiblichen Schüler*innen. Die neu entwickelte Skala erlaubt es zukünftigen Studien, institutionelles Vertrauen ausgehend vom Schulkontext zu untersuchen und bietet dadurch vielversprechende Möglichkeiten für zukünftige Forschung.

 
9:00 - 10:407-18: Methodische Entwicklungen in der empirischen Bildungsforschung
Ort: S22
 
Paper Session

Examining the Analytic Reproducibility of Secondary Data Analyses in Educational Research

Aishvarya Aravindan Rajagopal, Aleksander Kocaj, Malte Jansen

Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Humboldt-Universität zu Berlin

Theoretical background and research questions

Evaluating the reproducibility of research findings is an important step in ensuring sound, efficient, and trustworthy research. There are different approaches to assessing the reproducibility of published results (i.e., the numerical correctness and consistency), depending on whether the data and the analytic code are available (Hardwicke et al., 2018, 2021; Laurinavichyute et al., 2022; Stodden et al., 2018). We use the term analytic reproducibility to refer to re-analyzing published results by an independent research team using the same dataset and applying the same statistical analyses, but without the original code. Using a similar approach, Artner et al. (2021) examined the analytic reproducibility of 46 articles from three psychology journals published in 2012. Overall, they could reproduce 70% (n = 163) of the 232 key statistical claims in the articles. However, the authors described the reproduction process as laborious and time-consuming, involving a lot of trial and error, which was exacerbated by vague documentation of data processing and data analyses in the original manuscripts.

Our study aims to examine the reproducibility of research based on secondary data analysis in education. The project is part of the priority program "META-REP: A Meta-scientific Programme to Analyse and Optimise Replicability in the Behavioural, Social, and Cognitive Sciences," funded by the German Research Foundation (DFG). We aim to test the reproducibility of results from papers based on large-scale school assessment data that are available at the research data centre of the Institute for Educational Quality Improvement (e.g. the data from national and international large-scale assessments in Germany). Between 2012 and 2022, there were 82 publications in peer-reviewed journals based on these datasets.

Method

We selected a sample of 30 articles from those publications to reproduce. Sample selection was based on the reproduction teams’ expertise and familiarity with the research topics, datasets, and statistical methods, which might positively bias our reproduction estimates. Each of the 30 selected articles will be reproduced by a researcher who leads the reproduction (the reproducer). Based on previous research, we anticipate that at least 60% of the central claims should be reproducible (Artner et al., 2021; Hardwicke et al., 2018; Hardwicke et al., 2021).

In the first step of reproduction, key information from the paper will be identified and entered into a template developed for this study. Then, there will be a stepwise reproduction effort, which starts with a trial-and-error phase. Reproduction success will be determined based on the difference between the original and reproduction numerical values associated with the central claims (e.g., regression coefficients, standardized mean differences, correlation coefficients). We will differentiate three levels of reproduction: Precise reproduction (original values and reproduction values match), approximate reproduction (≤10% difference in the estimates between original study and reproduction effort), and non-reproduction (>10% difference between original and reproduction values). When initial results fall under non-reproduction, we will seek author assistance as a next step. The reproduction will be reiterated when the required information is made available to obtain the conclusive outcome.

In the proposed presentation, we will present our study design, template, and the first results of our reproduction efforts. Furthermore, we will discuss multiple error sources of our reproduction approach (e.g., deviations between the analysis code of the original researchers and our interpretation of this code based on the description in the paper). Our results might provide hints on improving the description of the research process (e.g., recommendations for reporting that aid the reproduction of results; Artner et al., 2021).



Paper Session

Heating Up! Using the MAGMA Algorithm to Balance out Complex Study Designs in Educational Field Research

Julian Urban1,2, Markus Daniel Feuchter1, Franzis Preckel1

1Universität Trier; 2GESIS - Leibniz Institut für Sozialwissenschaften

Theoretical background

Many studies in educational contexts are observational without the possibility to randomize study participants. To deal with the resulting lack of experimental control, propensity score matching (PSM; Rosenbaum & Rubin, 1985) has become a common procedure of post-hoc balance control in educational research. It allows accounting for systematic differences in baseline characteristics (i.e., covariates) between treated and untreated subjects by matching them individually, based on a distance measure (i.e., the propensity score; PS).

However, current PSM applications have several limitations. First, PSM is restricted to two-group designs. Secondly, within common matching packages (e.g., MatchIt, Ho et al., 2011), different matching solutions must be extracted and compared successively. Thirdly, beyond comparing pairwise standardized mean differences (i.e., Cohen’s d), a comprehensive framework for evaluating the post matching balance in covariates (i.e., the matching quality) is missing.

To address these limitations, we developed the Many-Group Matching (MAGMA) algorithm and the MAGMA R package (Urban et al., 2023a). MAGMA uses a systematic nearest neighbor matching approach leading to one unambiguous matching solution that can be produced for two or more groups. Furthermore, we developed a balance estimation framework using four balance criteria, namely Pillai’s Trace, d-ratio, mean g, and adjusted d-ratio (Feuchter et al., 2023, Urban et al., 2023b), embedded in the MAGMA package.

Research question

The aim of this study was to (1) validate MAGMA using a two- and a three-group example and to (2) compare matching solutions for the two-group example produced by MAGMA and MatchIt side-by-side.

Methods

We used two data sets taken from longitudinal educational studies conducted in German schools. Data Set 1 (N = 914 five graders, Mage = 10.53 years, SDage = 0.55 years, 41% female) was used as two-group example. The grouping variable coded the differentiation of regular classrooms (RC, n = 631) and gifted classrooms (GC, n = 283). We considered 13 covariates including demographics, achievement tests, IQ-scores, and questionnaire scales (e.g., need for cognition).

Data Set 2 (N = 1,238 five graders, Mage = 10.11 years, SDage = 0 .58 years, 46% female) was used as three-group example. We grouped the students using an IQ-range variable (1 = IQ ≤ 106, n = 453; 2 = 106 < IQ ≤ 115, n = 391; 3 = IQ > 115, n = 394). We considered 32 covariates covering similar constructs as for the two-group example.

We conducted all analyses using R (4.1.2; R Core Team, 2021) and matched the data based on PSs estimated in twang (Ridgeway et al., 2015) using either MatchIt (Ho et al., 2011) or MAGMA (Urban et al., 2023). We extracted respective matching solutions and examined their quality by our four balance criteria. Additionally, we compared the balance criteria for the MatchIt and MAGMA solutions of the two-group example.

Results and discussion

For the two-group example, both algorithms reduced the effects of covariates significantly (e.g., all pairwise effects smaller than |d| < 0.20; Pillai’s Trace reduced from V = .41 to V < .05). However, MAGMA achieved comparable or better balance and produced a higher post-matching sample size than MatchIt. Moreover, MAGMA was able to find a well-balanced solution in the three-group example (e.g., reduced Pillai’s Trace from V = .26 to V = .06). Thus, we found first evidence for the usefulness of MAGMA, which we plan to extend by presenting results with simulated data.

MAGMA does not only address drawbacks of PSM but expands current algorithms to three-groups, four-groups, and 22 designs. This enables applicants to approximate causal inference within more complex, non-randomized research designs in education.



Paper Session

Intensive Longitudinal Methods in School Research: A Systematic Literature Review

Carina Schreiber1, Michael Becker1,2

1TU Dortmund, Deutschland; 2Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), Deutschland

Everyday school life is full of dynamic processes: Students’ emotional and cognitive experiences in the classroom, teacher-student and peer interactions, individual learning processes, changing contexts in different classes, and different teachers and their individual instructional behaviors, to name but a few. These dynamic processes have crucial effects on central factors in the school context such as students’ educational success (Blume et al., 2022), quality of instruction (Janna et al., 2019; Järvinen et al., 2022), or teachers’ well-being (Aldrup et al., 2017; Jõgi et al., 2023). To capture the dynamics of everyday school life, cross-sectional or longitudinal methods do not suffice; researchers have to zoom in on students’ and teachers’ experiences on a finer level. Intensive longitudinal methods such as the Experience Sampling Method, daily diaries, or ambulatory assessments allow researchers exactly that. Over the span of days or weeks, intensive longitudinal studies repeatedly inquire their subjects about their experiences, emotions, cognitions, and behavior as they occur in everyday life. As such, the method allows for innovative ways of data collection and can literally open researchers the door to the classroom and the dynamic processes behind it, opening new approaches for descriptive and causal analyses. With all their benefits and possibilities, it is no surprise that in recent years intensive longitudinal methods have vastly grown in popularity (Kirtley et al., 2021) and have become of interest to various research fields. The design and implementation of these studies, however, require special consideration as they differ from common, more established research methods and might confront researchers new to the method with unknown difficulties. Considering that school research rather recently became aware of the methods’ potential (Zirkel et al., 2015), it is unclear where and how the field is applying intensive longitudinal methods. Furthermore, other research fields, in which these methods have been long established, were still shown to report the method incompletely and to miss rationales for methodological choices (Trull & Ebner-Priemer, 2020) posing a substantial problem for the quality and replicability of research.

The aim of this contribution is to gain a systematic overview of the use of ESM in school research and to point out possibly existing shortcomings and threads in their (reporting of) methodological choices and rationales. We further aim to raise awareness of the central role of appropriate methodological choices and consistent, accurate, and transparent reporting of these choices for the quality and replicability of research and their implication for interpretation. Finally, the present review shall unify and guide the construction of future ESM studies and articles and support school research in making use of the method’s full potential.

This Systematic Literature Review was conducted in line with the Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses (PRISMA; Moher et al., 2009). Accordingly, the databases Web of Science, Scopus, ERIC, and PsychInfo were systematically searched for studies applying intensive longitudinal methods in school research. The literature search yielded 993 papers, of which 288 qualified for full-text screening. These remaining papers are currently examined for eligibility.

We expect the studies to show a wide variety in the application of intensive longitudinal methods with regard to both the constructs under investigation and methodology. Considering that even research fields in which these methods are long-established (Trull & Ebner-Priemer, 2020) methodological choices and their rationales are reported insufficiently, we expect that also in school research a significant number of intensive longitudinal studies will lack transparency in reporting methodological choices and rationales.



Paper Session

Idiografische und nomothetische Netzwerkanalysen zur Integration der Situierten Erwartungs-Wert-Theorie der Leistungsmotivation mit der Kontroll-Wert-Theorie akademischer Emotionen: Erste Ergebnisse aus dem ManyMoments-Projekt

Jessica Baars1, Miriam Francesca Jähne2, Julia Dietrich2, Jana Holtmann1, Martin Daumiller3, Julia Moeller1

1Universität Leipzig, Deutschland; 2Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland; 3Universität Augsburg, Deutschland

Kurzzusammenfassung:

Diese Präsentation stellt Ergebnisse aus einer kollaborativen Datenerhebung, dem ManyMoments-Projekt, vor. Mit der Experience Sampling Methode wurden in universitären Lehrveranstaltungen Daten zu situationsspezifischen akademischen Emotionen und Motivationen nach Pekruns (z.B. 2006) Kontroll-Wert-Theorie und Eccles und Wigfields (z.B. 2002; 2020) Situierter Wert-Erwartungs-Theorie erhoben. Damit wurde das neuentwickelte DYNAMICS-Rahmenmodell empirisch untersucht (Moeller et al., 2022), das methodische Innovationen für die Integration beider Theorien eröffnet (z.B. Einbezug von Netzwerkanalysen, Unterscheidung idiografischer und nomothetischer Modelle, Unterscheidung von State-und Trait-Systemen).

Theoretischer Hintergrund:

Diese Studie integriert zwei Theorien, die teilweise aufeinander aufbauen, erkenntnisreich füreinander sind, aber oft getrennt erforscht wurden: Die Situierte Wert-Erwartungstheorie der Leistungsmotivation („SEWT“; z.B. Eccles & Wigfield, 2002; 2020) und die Kontroll-Wert Theorie akademischer Emotionen („KWT“; z.B. Pekrun, 2006).

Kürzlich wurde zur theoretischen und methodischen Integration der Erkenntnisse aus beiden Theorien das DYNAMICS-Rahmenmodell vorgeschlagen (DYNamics of Achievement Motivation In Concrete Situations; Moeller et al., 2022). Es integriert beide Theorien der mit Konzepten und Methoden aus den dynamischen Systemtheorien und soll letztere fruchtbar machen für die Erforschung von lernrelevanten Motivationskomponenten und Emotionen. Das DYNAMICS-Rahmenmodell beschreibt die Veränderung von Motivationen und Emotionen als komplexes System, in dem zeit- und kontextabhängige Zustände (States) und stabile Personenmerkmale (Traits) miteinander wechselwirken. Zur besseren Beschreibung der Systeme auf Zustands- und Personenebene schlägt das Modell die Verwendung von Netzwerkanalysen vor. Das Rahmenmodell berücksichtigt aktuelle Methodendebatten (z.B. Molenaar, 2004), indem es zwischen personenspezifischen idiographischen Zustands-(„State“-)modellen und generalisierbaren nomothetischen Zustandsmodellen unterscheidet, um dem Problem mangelnder Ergodizität in intensiven Längsschnittdaten (Voelkle et al., 2014) zu begegnen. Dafür wird jeder Zusammenhangskoeffizient zunächst innerhalb jeder Person berechnet, für jede Person ein idiografisches Netzwerk von Zusammenhängen zwischen motivations- und Emotionsfacetten über die Zeit hinweg berechnet, und anschließend analysiert, welche dieser idiografischen Koeffizienten sich wie oft über Personen hinweg generalisieren lassen (siehe Asendorpf, 1993; 2000).

Daten:

Das Forschungsdesign folgt demjenigen von Moeller, Dietrich und Kollegen (2022; 2020; Dietrich et al., 2017; 2019). Hierbei kamen bewährte und etablierte Messinstrumente zum Einsatz. Das kollaborative ManyMoments-Projekt lieferte situationsspezifische Messungen (Experience Sampling Method) der Leistungsemotionen und Lernmotivation. Pro Vorlesung wurden Studierende drei Mal befragt. Daten aus den ersten vier Lehrveranstaltungen (Sommersemester 2022) sind bereits ausgewertet, bis zur Präsentation werden auch die Ergebnisse vorgestellt, die im aktuellen Wintersemester erhoben und bis Februar 2024 ausgewertet werden (Daten aus 11 Vorlesungen und 20 Seminaren an deutschen Hochschulen).

Analysen:

Diese Studie analysiert Assoziationen (Korrelationen, Ko-Okkurrenzen) zwischen Komponenten der SEVT und der KWT. Dazu werden sowohl die Kovarianzen (zero-order-Korrelationen und Partialkorrelationen) als auch die bivariat gemeinsamen Zustimmungen (Ko-Okkurrenzen) zwischen den Facetten der lernrelevanten Motivation und Emotion analysiert, in Netzwerken dargestellt und hinsichtlich ihrer Erkenntnisse verglichen (Abbildung 1: online https://speicherwolke.uni-leipzig.de/index.php/s/aZ4ssLjzsNwNP3C).

Die beiden korrelationsbasierten Netzwerke werden mit Mehrebenenanalysen jeweils auf der intra-individuellen Zustands-Ebene (Level 1) und der inter-individuellen Ebene (Level 2) berechnet, wobei Level 1 die Fluktuationen zwischen Messzeitpunkten repräsentiert und Level 2 die stabileren Unterschiede zwischen Personen. Auf Level 1 wurden für jede Person jeweils ein idiografisches Netzwerk der zero-order-Korrelationen, sowie ein idiografisches Netzwerk der Partialkorrelationen (kontrolliert für den Einfluss aller anderen Variablen im Netzwerk) berechnet. Anschließend wurde mit verschiedenen Methoden überprüft (orientiert an der GIMME-Methode, Beltz et al., 2016), welche der individuellen Pfade sich wie oft über Personen hinweg generalisieren ließen. Aus den generalisierbaren Pfaden wurde das nomothetische Netzwerk (jeweils getrennt für zero-order- und Partialkorrelationen) erstellt.

Die Erkenntnisse wurden jeweils zwischen den beiden kovarianz-basierten Methoden verglichen, da beide Methoden sich hinsichtlich ihrer Erkenntnisse oft unterscheiden (z.B. Jähne et al., in prep.; Kulakow et al., in prep.). Deren Ergebnisse wurden den Ko-Okkurrenz-Netzwerken gegenübergestellt, um herauszufinden, wie oft welche Motivations- und Emotionsfacetten gemeinsam bejaht wurden (siehe Moeller et al., 2018). Der Vergleich der drei Modelltypen liefert differenzielle Einsichten, untersucht das Modell empirisch und bekräftigt das Modell.

 
9:00 - 10:407-19: Der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I
Ort: S23
 
Paper Session

Soziale und migrationsspezifische Ungleichheiten beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule: Die Rolle des Wissens über das Bildungssystem

Melanie Olczyk1, Annabell Daniel2, Hannah Glinka1, Katharina Werner3

1MLU Halle-Wittenberg, Deutschland; 2Ludwig-Maximilians-Universität München; 3ifo Center for Education Economics

Hintergrund und Fragestellung

Das deutsche Schulsystem ist durch ein hohes Maß an Differenzierung und Stratifizierung gekennzeichnet, was zu unterschiedlichen Bildungswegen führt. Diese Wege sind nicht nur mit unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen, Erfolgswahrscheinlichkeiten und Kosten verknüpft, sondern auch mit unterschiedlichen Bildungs- und Karrieremöglichkeiten. Welche Wege eingeschlagen werden, hängt dabei auch von der sozialen Herkunft ab: So besuchen Schülerinnen und Schüler aus sozial weniger privilegierten Familien seltener ein Gymnasium bzw. erlangen seltener das Abitur (Lämmchen et al. 2022). Hingegen treffen Schülerinnen und Schüler aus Zuwandererfamilien bei gleicher Leistung und sozialer Herkunft häufiger ambitionierte Bildungsentscheidungen (Kristen und Dollmann 2010; Segeritz et al. 2010). Besonders ausgeprägt konnte das für türkeistämmige Familien gezeigt werden (Segeritz et al. 2010).

Eine mögliche Erklärung für diese Ungleichheiten bildet die Ausstattung mit Wissen über das Bildungssystem, das eine wichtige Ressource im Bildungsprozess sein kann (Nauck und Lotter 2016; Pfeffer 2008; Forster und van de Werfhorst 2019). Da bildungsferne Familien und Zuwandererfamilien nachweislich weniger gut über das Bildungssystem informiert sind (Kretschmer 2019), könnten diese Unterschiede in der Informiertheit die sozialen und migrationsspezifischen Ungleichheiten beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I verstärken (Forschungsfrage 1). Weiterhin vermuten wir, dass sich Unterschiede im Wissen der Eltern weniger stark auswirken, wenn Bildungsentscheidungen durch den institutionellen Kontext vorstrukturiert werden (Forschungsfrage 2). Damit angesprochen ist die von den Lehrkräften ausgestellte Laufbahnempfehlung am Ende der Grundschulzeit, die in einigen Bundesländern verbindlichen Charakter besitzt und den Entscheidungsspielraum der Familien stärker einschränkt als in anderen Bundesländern.

Daten und Methode

Zur Untersuchung der Zusammenhänge wurden die längsschnittlichen Daten der Startkohorte 2 des Nationalen Bildungspanels ausgewertet (Blossfeld und Roßbach 2019). Im Rahmen der Studie wurde in Klasse 3 (Welle 5) das elterliche Wissen sowohl spezifisch für den Übergang—wie die Zugangsvoraussetzungen für einen Gymnasialbesuch oder die Verbindlichkeit der Laufbahnempfehlung—als auch zum weiteren Bildungssystem und den dortigen Möglichkeiten erfasst (Olczyk und Will 2019).

In die Analysen gingen Informationen zu N = 3,462 Schülerinnen und Schüler ein. Fehlende Werte in den erklärenden Variablen wurden über multiple Imputation berücksichtigt (White et al. 2011).

Im ersten Schritt wurde untersucht, inwieweit soziale und migrationsspezifische Unterschiede im Übergangsverhalten bestehen. Im zweiten Schritt wurde geprüft, welchen Erklärungsbeitrag das elterliche Wissen über das Bildungssystem leistet und inwieweit Unterschiede im Gymnasialübertritt zwischen den sozialen Gruppen hierauf zurückzuführen sind (Forschungsfrage 1). Schließlich wurden Interaktionseffekte zwischen den Wissensindikatoren und der Verbindlichkeit der Laufbahnempfehlung geprüft (Forschungsfrage 2).

Zur Untersuchung der Zusammenhänge wurden lineare Wahrscheinlichkeitsmodelle mit geclusterten Standardfehlern gerechnet. Zur Beantwortung der Forschungsfrage 1 wurde zusätzlich die KHB-Methode genutzt (Breen et al. 2021). In allen Analysen wurde für weitere Hintergrundmerkale der Schülerinnen und Schüler wie beispielsweise ihre Noten in der vierten Klasse oder das Vorhandensein älterer Geschwister kontrolliert.

Ergebnisse und ihre Bedeutung

Unsere Analyseergebnisse bestätigten die in anderen Studien gefundenen Muster: Demnach besaßen Kinder aus bildungsfernen Familien eine geringere Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen. Kinder aus türkeistämmigen Familien und Kinder, deren Familien aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, wiesen hingegen eine höhere Wahrscheinlichkeit auf ein Gymnasium zu besuchen als Kinder der Mehrheitsgesellschaft. Des Weiteren bestand ein positiver Zusammenhang zwischen den Wissensindikatoren und der Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium zu besuchen. Während sich unter Kontrolle der Wissensindikatoren soziale Unterschiede im Übergangsverhalten signifikant verringerten, blieben migrationsspezifische Unterschiede davon unberührt (Forschungsfrage 1). Mit Blick auf Forschungsfrage 2 konnte kein moderierender Zusammenhang nachgewiesen werden—das Wissen über das Bildungssystem erwies sich unabhängig von dem Grad der Verbindlichkeit der Laufbahnempfehlung als relevant für den Besuch eines Gymnasiums.

Die Ergebnisse unterstützen die Annahme, dass das Wissen über das Bildungssystem bedeutsam ist und zumindest zu einer Erklärung sozialer Ungleichheiten beim Übergang in die Sekundarstufe I beiträgt. Die Befunde werden mit Rückbezug zu Theorien der Bildungsentscheidung sowie mit Blick auf bildungspolitische Implikationen diskutiert.



Paper Session

Bildungsentscheidungen von Eltern mit einem Zuwanderungshintergrund am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe in Deutschland

Thomas Zimmermann

Goethe Universität Frankfurt, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe treffen Eltern mit einem Zuwanderungshintergrund in Deutschland oftmals ambitioniertere Bildungsentscheidungen als Familien ohne Zuwanderungshintergrund (Dollmann 2016). Obwohl die Literatur oftmals auf soziologische Varianten der Theorie rationaler Wahlen (RCT) (Breen und Goldthorpe 1997; Erikson und Jonsson 1996; Esser 1999) zur Erklärung positiver sekundärer Herkunftseffekte des Migrationshintergrundes verweist, findet sich für diesen Übergang im deutschen Bildungssystem bislang keine umfassende empirische Überprüfung der theoretischen Annahmen für eine Erklärung sekundärer Herkunftseffekte des Migrationshintergrundes (vgl. Dollmann, 2016).

Nach Erikson und Jonsson (1996) bewerten Eltern die zur Verfügung stehenden Bildungsalternativen anhand der durch sie wahrgenommenen Renditen, Erfolgswahrscheinlichkeiten und Kosten und wählen dann die Alternative mit dem höchsten subjektiven Erwartungsnutzen. Diese Bewertung ist subjektiv und variiert zudem systematisch mit den familiären Ressourcen. Eine wichtige Ressource ist nach Erikson und Jonsson (1996) das familiäre Wissen über das Bildungssystem. Wissens- bzw. Informationsunterschiede werden auch in der Migrationsliteratur als eine Erklärung für unterschiedliche Bildungsentscheidungen angeführt (vgl. Becker und Gresch 2016). Eltern mit einem Zuwanderungshintergrund sind demnach weniger gut über die einzelnen Bildungsgänge wie die mit diesen verbundene Schulbesuchsdauer (Kosten), Qualifikationsanforderungen (Erfolgswahrscheinlichkeiten), und Arbeitsmarktmöglichkeiten (Renditen) informiert. Die (Fehl-)informiertheit von Eltern mit einem Zuwanderungshintergrund leistet dann über die systematisch unterschiedliche Bewertung der Entscheidungsdeterminanten einen Beitrag zu ihren vorteilhafteren Bildungsentscheidungen. Auch diese Annahmen wurden für den betreffenden Übergang bislang nicht umfänglich überprüft.

Fragestellungen:

Forschungsfrage 1: Lassen sich die bei gleicher sozialer Herkunft und schulischen Leistungen der Kinder anzunehmenden ambitionierteren Bildungsentscheidungen von Eltern mit einem Zuwanderungshintergrund durch die Annahmen der RCT erklären?

Forschungsfrage 2: Bestehen Unterschiede in der Wahrnehmung der Determinanten von Bildungsentscheidungen zwischen Eltern mit und ohne Zuwanderungshintergrund und lassen sich diese über Informationsunterschiede erklären?

Methode

Datengrundlage ist die Startkohorte 2 des Nationalen Bildungspanel (NEPS Network 2022). Für den Bildungsübergang von der Primar- zur Sekundarstufe I stehen Daten von insgesamt 2.881 Kindern und ihren Eltern zur Verfügung. Es finden sich Informationen über eine Bewertung der Renditen, Erfolgswahrscheinlichkeiten und Kosten der drei in Deutschland erreichbaren Bildungsabschlüsse (Hauptschulabschluss, Mittlere Reife und Abitur) durch die Eltern. Darüber hinaus bestehen Informationen zum Bildungswissen der Eltern (Olczyk und Will 2019). Differenzierte Analysen nach dem Zuwanderungshintergrund sind ebenfalls möglich (Olczyk et al. 2014). Die Entscheidung der Eltern für den Besuch einer Hauptschule, Realschule oder des Gymnasiums analysieren wir mit konditionalen logistischen Regressionsmodellen. Für die Erklärung von Wahrnehmungsunterschieden in den Renditen, Erfolgswahrscheinlichkeiten und Kosten zwischen Elter mit und ohne Zuwanderungshintergrund verwenden wir hingegen gepoolte lineare Regressionsmodelle.

Ergebnisse und ihre Bedeutung

Literaturkonform weisen unsere Analysen für den Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe auf positive sekundäre Herkunftseffekte des Migrationshintergrundes hin. Im Vergleich zu Eltern ohne Zuwanderungshintergrund entscheiden sich nach Deutschland zugewanderte Eltern unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft und der schulischen Leistung signifikant häufiger für ein Gymnasium anstatt einer Realschule. Zwischen Haupt- und Realschule bestehen keine Unterschiede. Die vorteilhafteren Übergangsentscheidungen zugewanderter Eltern lassen sich vollständig über ihre Abwägung der Arbeitsmarktrenditen, Kosten und Erfolgswahrscheinlichkeiten erklären.

Wir finden zudem Wahrnehmungsunterschiede zwischen Eltern mit und ohne Zuwanderungshintergrund in den Kosten und Erfolgswahrscheinlichkeiten. Die im Vergleich zu Eltern ohne Zuwanderungshintergrund zunächst nachteilige Kostenwahrnehmung von Eltern mit einem Zuwanderungshintergrund wandelt sich unter Berücksichtigung sozialer Herkunftsmerkmale und der Informiertheit in Vorteile. Bei den Erfolgswahrscheinlichkeiten zeigt sich ein weniger eindeutiges Bild. Zentral ist hier, dass sich die durch Eltern mit einem Zuwanderungshintergrund wahrgenommenen Erfolgswahrscheinlichkeiten für das Abitur im Vergleich zu Eltern ohne Zuwanderungshintergrund erhöhen.

Diese Befunde sind bedeutsam, da sich die am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe bestehenden positiven sekundären Herkunftseffekte des Migrationshintergrundes vollständig über die Annahmen der RCT erklären lassen. Zudem können wir zeigen, dass die Erklärung auf eine unterschiedliche Bewertung der Determinanten der Entscheidung, insbesondere der Kosten und Erfolgswahrscheinlichkeiten durch Eltern mit und ohne Zuwanderungshintergrund zurückführbar ist.



Paper Session

Mechanismen sozialer Ungleichheit beim Übergang ins Gymnasium: Welche Rolle spielen Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen?

Markus Lörz1, Anna Bachsleitner1, Marko Neumann1, Michael Becker2

1DIPF Leibniz Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Deutschland; 2TU Dortmund, Deutschland

Forschungslücke: Trotz Bildungsexpansion, intensiver Forschung und bildungspolitischer Initiativen zum Abbau von Bildungsbarrieren bestehen in Deutschland am Übergang ins Gymnasium weiterhin massive soziale Ungleichheiten (Wößmann et al., 2023). Die soziologische, erziehungswissenschaftliche und psychologische Ungleichheitsforschung hat bereits verschiedene Ansatzpunkte zur Erklärung dieses seit Jahrzehnten bestehenden Ungleichheitsphänomens skizziert – dennoch fehlt weiterhin ein systematischer Überblick darüber, welche Rolle den verschiedenen Akteur*innen (Schüler*innen, Eltern, Lehrer*innen) in diesem Ungleichheitsprozess zukommt und über welche genauen Prozesse und Mechanismen die sozialen Ungleichheiten entstehen.

Fragestellung: Der vorliegende Beitrag greift diese (noch) unklare Befundlage auf und versucht über die Integration verschiedener theoretischer Zugänge ein umfassendes Verständnis für die Entstehung sozialer Ungleichheit am Übergang ins Gymnasium zu schaffen. Zentral ist dabei die Frage, über welche Mechanismen soziale Ungleichheiten beim Übergang ins Gymnasium entstehen und welcher Stellenwert den verschiedenen Akteur*innen im Prozess von der Notengebung, Empfehlungsvergabe bis hin zum realisierten Übergang zukommt. Eine Besonderheit des vorliegenden Beitrags ist dabei, dass der breite Kranz an berücksichtigten potentiellen Einflussmerkmalen zur Erklärung der sozialen Herkunftsdifferenzen bei Notengebung, Empfehlungsvergabe und realisiertem Übergang für alle drei Prozessschritte konstant gehalten wird, so dass quantifizierbare Aussagen zur relativen Bedeutung der Merkmale für Ungleichheiten im Übergangsprozess möglich werden.

Theoretischer Hintergrund: Aus Perspektive der Rational Choice Theorie (Boudon, 1974) werden primäre und sekundäre Herkunftseffekte unterschieden und argumentiert, dass herkunftsspezifische Unterschiede beim Übergang ins Gymnasium das Ergebnis unterschiedlicher Schüler*innenleistungen (primäre Effekte) und das Ergebnis unterschiedlicher Kosten-Nutzenüberlegungen der Eltern (sekundäre Effekte) sind. Aus Perspektive institutioneller Effekte (Gomolla & Radtke, 2009) werden darüber hinaus Lehrer*innen – als zentrale Akteur*innen der Wissensvermittlung und -bewertung – ebenfalls hinsichtlich ihrer Einflussnahme auf die Entstehung sozialer Ungleichheit betrachtet. Die drei Erklärungsperspektiven (Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen) werden gerahmt und in Anlehnung an die Überlegungen von Bourdieu (1982) von den kulturellen Ressourcen des Elternhauses beeinflusst.

Daten und Methoden: Für die empirische Überprüfung der theoretischen Überlegungen wird eine repräsentative Panelstudie zu den Bildungsentscheidungen und Bildungswegen von Schüler*innen in Berlin herangezogen. Anhand der BERLIN-Studie ist es möglich, den Übergang ins Gymnasium über den Zeitraum des Übergangsprozesses (Anfang 6. Klasse bis Anfang 7. Klasse) zu betrachten und dabei sowohl die Perspektive der Schüler*innen, der Eltern als auch der Lehrer*innen zu berücksichtigen (inkl. Motivationen, Einstellungen und Bewertungen). Um den Prozess des Übergangs ins Gymnasium genau zu verstehen, wird in der Analyse zwischen Notenerwerb, Empfehlungsstatus und tatsächlichem Übertritt ins Gymnasium unterschieden. Bei der Identifikation der zugrundeliegenden Mechanismen werden logistische Regressionsanalysen und nicht-lineare Kitagawa-Oaxaca-Blinderdekompositionen (Jann, 2008) durchgeführt.

Ergebnisse: Die empirische Analyse zeigt, dass alle drei Akteur*innen bei der Entstehung sozialer Ungleichheiten eine Rolle spielen und die Verzahnung der verschiedenen theoretischen Zugänge ein umfassendes Verständnis für die Entstehung sozialer Ungleichheiten liefert. Die genauen Mechanismen und der Stellenwert der Akteur*innen variiert aber je nach betrachtetem Aspekt des Übergangsprozesses. Von zentraler Bedeutung sind die leistungsbezogenen Unterschiede nach sozialer Herkunft, die sich insbesondere beim Notenerwerb bemerkbar machen und sich von dort aus auf die anderen Erklärungsfaktoren auswirken. Die aus Rational-Choice-Perspektive entscheidende Rolle sekundärer Effekte im Bildungsverlauf bestätigt sich zum Teil in der Entscheidungssituation beim Übertritt ins Gymnasium. Aber auch bei der Notenvergabe und der Gymnasialempfehlung zeigen sich zum Teil elterliche sekundäre Effekte. Die differenzierte Analyse der Elterneinschätzung zeigt, dass die unterschiedliche Wahrnehmung der Erfolgsaussichten den gesamten Übergangsprozess beeinflusst. Die aus institutioneller Perspektive skizzierten Überlegungen, dass Lehrer*innenbeurteilungen zu den Herkunftsunterschieden führen, können mit den vorliegenden Daten nur zum Teil bestätigt werden – bzw. es finden sich nur geringe Hinweise auf einen solchen Zusammenhang. Dennoch zeigt sich, dass Lehrer*innen unabhängig von den tatsächlichen Leistungen Kindern aus Akademikerfamilien höhere Begabungen zuschreiben als Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien. Die aus kulturtheoretischer Perspektive skizzierten Erwartungen spiegeln sich in allen drei Analyseschritten wider – ein großer Teil der kulturell unterschiedlichen Bedingungen spiegelt sich in unterschiedlichen Leistungen und elterlichen Entscheidungsprozessen wider.



Paper Session

Schulische Kontexteffekte an Hamburger Schulen: Eine längsschnittliche Betrachtung der Persistenz von Kontexteffekten anhand des Übergangs von der Grundschule in die Sekundarstufe

Frauke Steinhäuser1, Michael Becker1,2

1Institut für Schulentwicklungsforschung; 2DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation

Schüler:innen sind während der Schulzeit enormen Veränderungen ausgesetzt. Der schulische Kontext und die damit verbundenen Klassenkompositionen zählen dabei als Wirkmechanismen, die bedeutsam hinsichtlich der Einstellungen und Überzeugungen von Lernenden sind (z.B. positive Assimilations- oder negative Kontrasteffekt der Leistungskomposition). Durch diese kontextuellen Einflüsse ergibt sich beispielsweise, dass Schüler:innen ihre Fähigkeiten geringer einschätzen, wenn sie mit vergleichsweise leistungsstärkeren Personen umgeben sind, was als Big-Fish-Little-Pond-Effekt (BFLPE; Marsh, 1987) breit beforscht wurde. Wenig beachtet blieb bislang, ob und wie kontextuelle Effekte der mittleren Leistungskomposition langfristige Auswirkungen auf Einstellungen von Schüler:innen haben und inwiefern schulische Kontexte ebenso Auswirkungen auf das spätere Verhalten von Schüler:innen haben. Diese Betrachtung wäre vor dem Hintergrund relevant, dass bislang weitgehend offen ist, inwieweit sich schulische Kontexte, und BLFPE im Besonderen, nicht nur auf die Überzeugungen und Einstellungen der Schüler:innen, sondern auch auf das Verhalten und Bildungsverläufe von Schüler:innen auswirken (zur Diskussion vgl. Dumont et al., 2017).

Erste Forschungsergebnisse weisen auf eine recht gemischte Befundlage zur Relevanz von längerfristigen BFLPE auf die Entwicklung von Schüler:innen hin (Becker & Neumann, 2016; Dumont et al., 2017; von Keyserlingk et al., 2020). So konnten Becker und Neumann (2016) BFLPE sowohl im Grundschul- als auch im Sekundarschulkontext querschnittlich nachweisen; beim Übergang in die weiterführende Schule war der Effekt nach einem Jahr nicht mehr nachweisbar. Eine andere Studie fand für Schüler:innen in unterschiedlichen Selbstkonzept-Dimensionen querschnittliche Effekte in sowohl der Grund- als auch Sekundarstufe (Becker & Neumann, 2018). Die Effekte des Grundschulkontexts auf das allgemeine Selbstkonzept der Lernenden blieben selbst drei Jahre nach Verlassen der Grundschule bestehen; bei den Selbstkonzepten für Deutsch und Mathematik verblasste in der Sekundarschulzeit der Effekt aus der Grundschule (Becker & Neumann, 2018).

Die Studie von Steinhäuser et al. (2023) prüfte erstmalig, inwiefern sich diese BFLPE jenseits von Einstellungen auch für das Verhalten in der Domäne Politik belegen lassen und welche Bedeutung ihnen somit für längerfristige Entwicklungen über die Lebensspanne zukommt. Einerseits fand die Studie negative Kompositionseffekte der Leistungszusammensetzung auf das Selbstkonzept. Andererseits fand sie auch Hinweise auf positive Kompositionseffekte auf das Verhalten der Schüler*innen. Sie schienen also von leistungsstarken Mitschüler:innen zu profitieren.

In der vorliegenden Studie wurde daher untersucht, inwiefern BFLPE auf die psychosoziale Entwicklung längerfristig und über unterschiedliche schulische Kontexte hinweg persistieren und wie dies für unterschiedliche psychosoziale Konstrukte, von dem Selbstkonzept bis hin zum Lernverhalten, differenziell ausfällt: Es wurde untersucht, inwiefern quer- und längsschnittliche BFLPE für Selbstkonzepte im Bereich des (fächerübergreifenden) Lesens auftreten, und inwiefern sich diese Effektmuster von denjenigen auf Lesemotivation und Leseverhalten unterscheiden. Die Studie stützte sich auf eine Teilstichprobe der längsschnittlichen Schulleistungsstudie Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern (KESS). Die Studie machte sich zunutze, dass sowohl vor als auch nach dem Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe Informationen aus der vierten und siebten Klasse auf Individual- und Klassenebene vorliegen (Bos et al., 2010). Für die Beantwortung der Forschungsfrage wurden latente Strukturgleichungsmodelle spezifiziert.

Die Ergebnisse belegen typische BFLPE auf das Leseselbstkonzept. Zudem zeigt sich der Kompositionseffekt der vierten Klasse auch nach Übertritt in die weiterführende Schule signifikant. Bei der Lesemotivation zeigt sich ein signifikanter BFLPE der Klassenkomposition der vierten Klasse. Dieser negative Effekt der Klassenkomposition der Grundschule bleibt auch in der siebten Klasse signifikant, währenddessen eine hohe Klassenleseleistung der späteren siebten Klassen einen positiven Effekt auf die Lesemotivation hat. Mit Fokus auf das Leseverhalten finden wir einen signifikanten BFLPE der vierten Klasse, der jedoch in der siebten Klasse an Signifikanz verliert. Stattdessen ist hier ausschließlich ein positiver Effekt der Klassenkomposition der siebten Klasse auf das Leseverhalten zu finden. Alle Analysen konnten unter Berücksichtigung der Schulform validiert werden.

Die Ergebnisse werden im Vortrag vorgestellt; die Bedeutung dieser Art von Kompositionseffekten werden vor einem lifespan-theoretischen Hintergrund kritisch diskutiert.

 
9:00 - 10:407-20: Praxiserfahrung im Lehramtsstudium
Ort: S24
 
Paper Session

Soziale Netzwerke und Schlüsselereignisse des Lernens von Lehramtsstudierenden im Schulpraktikum

Marco Galle1, Annelies Kreis1, Sonja Hiebler1, Esther Brunner2, Sanja Stankovic2

1Pädagogische Hochschule Luzern, Schweiz; 2Pädagogische Hochschule Thurgau, Schweiz

In der Lehrpersonenbildung gelten Praktika als bedeutsam für die Entwicklung professioneller Kompetenzen (König & Rothland, 2018). Aus soziokonstruktivistischer Perspektive (Resnick et al., 1991) ergeben sich für Lehramtsstudierende vielfältige kooperative Lerngelegenheiten in der gemeinsamen Bearbeitung beruflicher Aufgaben (Arnold, Gröschner & Hascher, 2014). Ihre Kompetenzentwicklung wird beeinflusst von signifikanten Anderen (z. B. schulbasierte Ausbildner:innen [Praxislehrpersonen]), der Relevanz des Kooperationsgegenstandes sowie den verwendeten Instrumenten (z. B. Kompetenzraster) (Engeström, 1999; Kreis & Brunner, 2022). Solche Lerngelegenheiten werden bezogen auf Unterrichtsbesprechungen (u. a. Kreis & Staub, 2011) oder die kooperative Gestaltung berufspraktischer Lerngelegenheiten zwischen Personen der Hochschule und des Schulfelds (u. a. Beckmann & Ehmke, 2018) untersucht. Diesen Studien ist gemeinsam, dass Forschende die Personen (z. B. Praxislehrpersonen und Studierende) und die Themen (z. B. Unterrichtsbesprechungen zu einem spezifischen Fach) vordefiniert haben. Bisher fehlt ein explorativer Zugang, bei dem Studierende für ihre kooperativen Lerngelegenheiten im Praktikum die Personen selbst bezeichnen, die sie während sogenannter Schlüsselereignisse als bedeutsam für ihre berufspraktische Kompetenzentwicklung einschätzen.

Wir untersuchen, welche Personen in welcher Art an Schlüsselereignissen beteiligt waren. Im Rahmen einer Teilstudie des vom Schweizer Nationalfonds geförderten Projekts DiaMaNt (Kreis & Brunner, 2022) entwickelten wir ein mixed-methodisches Erhebungsinstrument (Galle et al., 2022) zur Erfassung von Lernen in sozialen Netzwerken. Mittels einer standardisierten PowerPoint-Datei führten die Studierenden ihre erlebten Schlüsselereignisse auf (Teil 1). Sie wählten dann das bedeutsamste Ereignis aus und erstellten für dieses eine persönliche Netzwerkkarte (Schritt 2). In dieser Karte ist die berichtende Person in der Mitte positioniert und weitere Personen, die relevant waren, um sie herum (Schritt 2.1). Die räumliche Distanz, unterteilt mit drei konzentrischen Kreisen, zwischen berichtender Person und weiteren Personen stellt die Bedeutsamkeit der weiteren Personen für die eigene berufspraktische Kompetenzentwicklung dar (sehr bedeutsam [Wert = 3], ziemlich bedeutsam [2] und bedeutsam [1]) unterteilt ist (Schritt 2.2). Zusätzlich beschrieben die Studierenden in Stichworten den Kooperationsinhalt mit den entsprechenden Personen (Schritt 2.3). Im letzten Schritt (Schritt 3) stellten sich die Studierenden zu zweit ihre Netzwerkkarten vor und zeichneten dies mit der in PowerPoint integrierten Audiofunktion auf.

Daten liegen von 188 Studierenden der Primarstufe vor (Rücklauf: 75%; Bachelor; 4. Semester), welche im Frühjahrssemester ein vierwöchiges Praktikum absolvierten (Kohorte 1: 2022; Kohorte 2: 2023). Ausgewertet werden die Daten mit einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2022; MAXQDA Version 2022.4). Die ersten Auswertungen der Egonetzwerkkarten (Schritt 2 & 3) zeigen auf, dass die Studierenden sehr vielfältige Schlüsselereignisse erlebten: von einem weinenden Kind im Unterricht, das getröstet wurde, bis hin zur Frage, wie ein fachlicher Input so gestaltet werden kann, dass die Schüler:innen diesen verstehen. In jeder der 188 Netzwerkkarten wurden 1 bis 8 weitere Person(en) eingetragen (M = 2.69; SD = 1.14; Schritt 2.1). Die meisten Studierenden (82 %) nennen ihre Praxislehrperson, 53 % Mitstudierende in derselben Klasse und 52 % Schüler:innen. Am seltensten werden Schulleitende und Eltern (je 2 % der Studierenden) sowie Bekannte und Verwandte der Studierenden (1 %) erwähnt. Am bedeutsamsten (Schritt 2.2) werden von den Studierenden ihre Praxislehrperson (M = 2.54; SD = 0.65) und Schüler:innen (M = 2.54; SD = 0.64) eingeschätzt. Ergebnisse der weiteren Analysen zu den Schlüsselereignissen (Schritt 1), den Unterstützungsleistungen (Schritt 2.3) und einer Aggregierung aller persönlichen Netzwerkkarten werden zusätzlich am Kongress präsentiert.

Diese Studie gibt einen detaillierten Einblick in soziale Netzwerke von Lehramtsstudierenden während eines Praktikums aus deren eigener Perspektive. Darüber hinaus liefert sie neue Ideen für den methodischen Diskurs der Mixed-Methods Social Networks Analysis (Fröhlich, et al., 2020). Insbesondere die Kombination der Netzwerkkarten mit den Audiodateien (Schritt 3) stellt eine dichte, die visuellen Daten vertiefende Informationsquelle dar.



Paper Session

Emotionale Unterstützung von Schüler:innen: Welche Faktoren sagen die studentische Selbsteinschätzung am Ende eines Langzeitpraktikums vorher?

Nicole Bosse1, Bernadette Gold2, Alexander Gröschner1

1Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland; 2Technische Universität Dortmund, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Trotz der Bedeutung des Wissens über eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung für angehende Lehrpersonen (Cornelius-White, 2007) zeigt ein Blick auf den Forschungsstand, dass angehende Lehrpersonen und deren Beziehungsentwicklung zu Schüler:innen ein kaum beforschtes Feld sind. Der Beitrag untersucht daher die studentische Selbsteinschätzung eines Aspektes der Lehrer-Schüler-Beziehung, der emotionalen Unterstützung von Schüler:innen, vor Aufnahme und am Ende eines schulischen Langzeitpraktikums. Vor dem Hintergrund des Einflusses der Lehrerselbstwirksamkeit auf Schüler:innenleistungen und der angenommenen Mediatorrolle emotionaler Unterstützung (Zee & Koomen, 2016) wurde neben der anfänglichen Selbsteinschätzung die Lehrerselbstwirksamkeit für die abschließende Selbsteinschätzung in den Blick genommen. Aufgrund vorliegender Hinweise zum Einfluss der Betreuungsperson (z. B. Gröschner & Seidel, 2012) wurde ebenso deren studentisch wahrgenommene emotionale Unterstützung gegenüber Schüler:innen erhoben. Die Grundlage bilden Befragungsdaten zweier Erhebungszeitpunkte von Lehramtsstudierenden des Grund- und Sekundarschullehramts im Langzeitpraktikum.

Folgende Fragestellungen stehen im Fokus der Studie:

  • Wie verändert sich die Selbsteinschätzung emotionaler Unterstützung im Laufe des Langzeitpraktikums?
  • Inwieweit sagen die anfängliche Selbsteinschätzung sowie die Lehrerselbstwirksamkeit und die wahrgenommene emotionale Unterstützung der Betreuungsperson gegenüber Schüler:innen die Selbsteinschätzung emotionaler Unterstützung am Ende des Langzeitpraktikums vorher?

Methodisches Vorgehen

Die Daten wurden im Rahmen einer Onlinebefragung vor Antritt (t1) und am Ende des Langzeitpraktikums (t2) im SoSe 2021 und WiSe 2021/22 erhoben. In die Auswertung flossen die Daten von N = 199 Studierenden (53.8 % Grundschullehramt; 78.9 % weiblich; Alter: M = 23.17, SD = 2.81) zweier Universitäten ein.

In Anlehnung an Cornelius-White (2007) und Pianta und Kollegen (2012) wurde die Selbsteinschätzung emotionaler Unterstützung zu beiden Messzeitpunkten auf Grundlage von 14 Items mit einer sechsstufigen Likert-Skala erfasst (Bsp.: „In meinem Unterricht achte ich besonders darauf, dafür zu sorgen, dass meine SchülerInnen sich im Unterricht wohl fühlen.“; 1 = „stimme überhaupt nicht zu“ bis 6 = „stimme voll und ganz zu“; αt1 = .87 / αt2 = .88).

Auf gleicher theoretischer Grundlage wurde die wahrgenommene emotionale Unterstützung der Betreuungsperson gegenüber SchülerInnen retrospektiv am Ende des Langzeitpraktikums mit sieben Items erhoben (Bsp.: „In ihrem Unterricht hat meine Betreuungslehrkraft die Bedürfnisse der SchülerInnen berücksichtigt.“; 1 = „stimme überhaupt nicht zu“ bis 6 = „stimme voll und ganz zu“; α = .90). Um den möglichen Einfluss der Praktikumsdauer sowie des schwankenden Verlaufs der Lehrerselbstwirksamkeit zu berücksichtigen (z. B. Pendergast et al., 2016; Schüle et al., 2017), wurde für die Erfassung der Lehrerselbstwirksamkeit ebenfalls der zweite Messzeitpunkt gewählt. Als Instrument diente der mit angehenden Lehrkräften validierte Fragebogen von Pfitzner-Eden (2016, α = .90) mit neunstufiger Likert-Skala (1 = „überhaupt nicht sicher“ bis 9 = „absolut sicher“). Als Kontrollvariablen wurden zudem das Geschlecht und die Schulform erhoben.

Ergebnisse

Die Selbsteinschätzung emotionaler Unterstützung fällt am Ende des Langzeitpraktikums (M = 5.32; SD = .47) zwar signifikant höher aus als zu Beginn (M = 5.26; SD = .45), t(198) = 2.06, p = .041), jedoch mit geringer praktischer Bedeutsamkeit (d = 0.15).

Das Modell der polynomialen Regression mit Bootstrapping hat mit einem R² = .51 (korrigiertes R² = .49) eine hohe Anpassungsgüte (Cohen, 1988). Mit Ausnahme von Geschlecht, Schulform und der wahrgenommenen emotionalen Unterstützung der Betreuungsperson sagen die anfängliche Selbsteinschätzung (B = 0.53, p = < .001) sowie die Lehrerselbstwirksamkeit (B = 0.10, p = < .001) statistisch signifikant die selbsteingeschätzte emotionale Unterstützung am Ende des Langzeitpraktikums vorher, F(6, 192) = 32.92, p < .001.

Die Ergebnisse weisen auf die Bedeutung des Langzeitpraktikums für die Entwicklung der Lehrer-Schüler-Beziehung hin. Dabei scheint die wahrgenommene emotionale Unterstützung der Betreuungsperson eine untergeordnete Rolle zu spielen. Qualitative Daten können Aufschluss über weitere beziehungsförderliche und -hinderliche Faktoren geben.



Paper Session

Ausbildung von zukünftigen Lehrpersonen im Praktikum: die Rolle der Schulleitung

Mirjam Kocher1, Anna Locher2

1Pädagogische Hochschule Zürich; 2Pädagogische Hochschule Zürich

In der einphasigen Schweizer Lehrer:innenbildung haben die schulpraktischen Studien einen besonderen Stellenwert, da mit ihnen die unterrichtspraktische Bewährung der Studierenden im an das (3 - 4.5jährige) Studium anschliessenden Berufseinstieg sichergestellt werden soll. Den Praxislehrpersonen (in Deutschland: Mentor:innen), in deren Klassen Primar- und Sekundarschulstudierende zwischen 3 Wochen und 10 Monaten während ihrer Praktikumsphasen verbringen, kommt daher eine hohe Relevanz als Vorbild, Modell, Anleiter:in, Berater:in und Beurteilende zu (z.B. Oelkers, 2009, Festner u.a., 2020; Košinár et al., 2019a; Kreis et al., 2020). In welchem Verhältnis stehen Schulleitende zu ihren Praxislehrpersonen, und wie können sie diese in der Ausübung ihrer Funktion unterstützen? Im 2022 gestarteten, SNF-geförderten Projekt „Die Praxislehrperson als Lehrerbildner*in: Orientierungen und Handlungspraxis in der Erfüllung des doppelten Berufsauftrags Lehrperson und Ausbildner*in – eine berufsbiographische Längsschnittstudie unter Einbezug der Schulleitungsperspektive” sollen Anforderungen und Entwicklungsaufgaben von Praxislehrpersonen aus ihrer eigenen Perspektive sowie aus derjenigen der Schulleitungen und der Hochschule identifiziert werden. Dieser Beitrag thematisiert das subjektive Rollenverständnis von Schulleitenden bei der Ausbildung von zukünftigen Lehrpersonen. Schulleitungen haben ein umfangreiches Aufgabenspektrum zu bewältigen, das «von Schulverwaltung, Personalentwicklung, Schulentwicklung, regionaler und schulübergreifender Vernetzung bis hin zur Unterrichtstätigkeit» (Lerchster et al., 2020) reicht. Vorliegende Forschungen nehmen vor allem Aufgaben der Führung und Steuerung und den Einfluss der Schulleitung auf die Schule und die Lehrpersonen in den Blick (Huber, 2005; Dadaczynski, 2014; Altrichter & & Kemethofer, 2015; Brauckmann & Eder, 2019; Schoch et al., 2019;), wohingegen die Rolle der Schulleitung in der berufspraktischen Ausbildung bisher nicht thematisiert wird. Die vorliegende Studie geht diesem Desiderat nach und fragt: 1.) Welche Kriterien für die Auswahl von Praxislehrpersonen und welche Qualifizierungsnotwendigkeiten sehen die Schulleitungen? 2.) Welche Aufgaben und Anforderungen schreiben sie der Praxislehrpersonenrolle und -tätigkeit sowie sich selbst im Ausbildungskontext zu?

In einem ersten Schritt wurden 19 strukturierte Experteninterviews mit Schulleitenden durchgeführt. Thematisiert wurden Auswahlkriterien für geeignete Praxislehrpersonen und Massnahmen für die Entwicklung von deren Ausbildungskompetenzen ebenso wie Möglichkeiten der Einbindung von Schulleitungen in die Ausbildung und in die Kooperation mit den Pädagogischen Hochschulen. Anschliessend wurden die Interviews transkribiert und mit genügender Interkoderreliabilität in MAXQDA inhaltsanalytisch (Kuckartz & Rädiker, 2022) anhand eines deduktiv und induktiv entwickelten Kategoriensystem ausgewertet. Es wurden insgesamt ca. 1500 Codes gesetzt. Basierend auf den inhaltsanalytisch aus der Interviewanalyse erarbeiteten Codes wird ein Fragebogen mit Schulleitenden (N = 500) in der Deutschschweiz durchgeführt. Der Fragebogen erörtert die Sichtweise der Schulleitungen zur Auswahl und Qualifikation der Praxislehrpersonen, zu den Anforderungen von Praxislehrpersonen und zu Ihrer Rolle im Ausbildungskontext, ergänzend werden das Personalentwicklungsverständnis (Terhart, 2016; Warwas, 2014) und die Visionen zur Schulentwicklung (Hausen et al., 2019) erfragt. Zudem werden demographische Daten erhoben, die interessante Vergleiche zwischen den Kantonen, verschiedenen Schulstufen und zwischen verschiedenen Formen der Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschulen wie bspw. Partnerschulen (Fraefel et al., 2017; Košinár et al., 2019b) zulässt.
Im Beitrag werden zunächst Befunde aus der Inhaltsanalyse von 19 Experteninterviews mit Schulleiter:innen vorgestellt. Die Ergebnisse zeigen, dass das konkrete Ausbildungshandeln der Praxislehrpersonen den Schulleitungen in der Regel wenig zugänglich ist. Es werden differenzierte Auswahlkriterien für Praxislehrpersonen von den Schulleitungen genannt, wobei von Kriterien der Unterrichtsqualität am häufigsten berichtet wird. Weder geraten die Vielfalt der Aufgaben einer Praxislehrperson noch deren Weiterentwicklung und Unterstützung in ihren Fokus. Auch treten sie gegenüber Studierenden nur punktuell auf, was zumeist mit Zeitmangel oder fehlender Zuständigkeit begründet wird.

Ergänzend werden erste Ergebnisse der quantitativen Fragebogenerhebung vorgestellt, die bis zum Zeitpunkt des Kongresses vorliegen (die Fragebogenerhebung findet im Januar statt).



Paper Session

Schwerpunktsetzung bei der Begleitung von Studierenden im Praxissemester – institutionelle Unterschiede und Ergänzungen

Rosi Ritter, Kathrin Fussangel, Judith Schellenbach-Zell

Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Theoretischer Hintergrund:

In den meisten Bundesländern ist inzwischen ein längeres Schulpraktikum – das Praxissemester – integraler Bestandteil der Lehrkräftebildung. Ziel des Praxissemesters ist es, Theorie und Praxis professionsorientiert miteinander zu verbinden (z.B. Caruso & Goller, 2021); dieses Ziel soll u.a. durch die Begleitung durch Dozierende bzw. Mentor*innen aus Universität, Zentrum für schulpraktische Lehrerbildung (ZfsL) und Schule erreicht werden. Dabei fallen den drei Institutionen unterschiedliche Verantwortungsbereiche bzw. Aufgaben zu: Während die Dozierenden der Universitäten u.a. mit den Studierenden die wissenschaftsbasierte Analyse und Reflexion von Praxissituationen anleiten sollen, sollen Fachleitungen an den ZfsL dazu anregen, Praxiserfahrungen zu reflektieren. Mentor*innen an den Schulen sollen Studierende bei der eigenen Unterrichtsplanung beraten sowie Unterrichtsplanung und -durchführung mit den Studierenden reflektieren (Freimuth & Sommer, 2010).

Obgleich also die Rahmenvereinbarung eine Arbeits- und Aufgabenverteilung zwischen den begleitenden Institutionen vorsieht, bleibt weitgehend offen, welche Lernorte in welcher Form zur Entwicklung welcher Kompetenzen beitragen sollen (Caruso & Goller, 2022). Betreuungsangebote der begleitenden Dozierenden bzw. Mentor*innen unterscheiden sich folglich (Führer & Cramer, 2020), es scheinen insbesondere persönliche Werte, Haltungen und Einstellungen grundlegend für die konkrete Ausgestaltung der Begleitung zu sein (z.B. Schnebel, 2014). Auch eigene Erwartungen und Vorstellungen über das Lernen der Studierenden nehmen Einfluss auf die Betreuungsgestaltung (Maynard & Furlong, 1994).

Die Zusammenarbeit der drei Institutionen im Praxissemester kann aufgrund ihrer Anlage als hybrider dritter Raum konzeptionalisiert werden (Zeichner, 2010), als sozialer Raum also, in dem Personen aus unterschiedlichen ‚Kulturen‘ zusammentreffen. Für die Praxissemester-Studierenden ergibt sich daraus, dass gerade in dieser Phase die Wissensbestände der Universität und die der Praxis aufeinander bezogen werden können. Sind die Begleitpraktiken der Personen aus den drei Institutionen also so gestaltet, dass das Aufeinander-Beziehen gelingt, ergibt sich für die Studierenden ein kohärentes Ganzes; d.h. die von Blömeke et al. (2015) modellierte Disposition kann durch Fokussierung auf die situationsbezogenen Fähigkeiten Wahrnehmung, Interpretation und Entscheidungsfindung in die Performanz geführt werden. Ausschlaggebend dafür ist aber eine Betreuung, die mit den Studierenden sowohl die dispositionsseitigen und situationsspezifischen, als auch die performanzseitigen Fähigkeiten adressiert. Unklar bleibt, ob dies in der Begleitpraxis so geschieht.

Forschungsfragen:

  • Welche Erwartungen haben begleitende Dozierende, Fachleitungen und Mentor*innen an die Praxissemester-Studierenden?
  • Was sehen sie als ihre persönliche Aufgabe bei der Betreuung der Studierenden?
  • Welche Schwerpunkte setzen sie für den Lernprozess der Studierenden?

Methode:

Zur Beantwortung der Fragen wurde eine explorative Studie durchgeführt, in der halbstrukturierte Einzelinterviews mit je einer betreuenden Person aus der Universität, des ZfsL und einer Schule geführt wurden. Mithilfe einer strukturierenden Inhaltsanalyse (Mayring, 2022) wurden die Daten analysiert.

Ergebnisse:

Erwartungsgemäß ergeben sich divergierende Zielsetzungen für die Studierenden, die mit den Eigenlogiken der Institutionen zu begründen sind. So fokussiert die/der Dozierende der Universität stark die theoriebasierte Reflexion von Praxissituationen, während die Fachleitung des ZfsL ins Zentrum stellt, dass die Studierenden die Breite des Berufsfeldes und die damit verbundenen Anforderungen erfassen. Der / die Mentor*in der Schule sieht das Hauptziel darin, dass die Studierenden Ängste und Befürchtungen beim Unterrichten überwinden und Präsenz zeigen.

Die auf den ersten Blick doch divergierenden Wahrnehmungen der eigenen Aufgaben und Ziele im Praxissemesters erweisen sich jedoch im Gesamtbild als stimmig, adressieren sie doch unterschiedliche Facetten eines Gesamtmodells: Während die befragte Person aus der Universität die Wahrnehmung und Interpretation pädagogischer Situationen fokussiert, stellen die Personen aus ZfsL und Schule die performanzseitigen Aspekte wie Unterrichtspraxis, Ermöglichung möglichst vieler Erfahrungen und die Möglichkeit des Berufswahlchecks in den Mittelpunkt.

Diskussion:

Es lässt sich konstatieren, dass die Begleitung im Praxissemester durch die drei beteiligten Institutionen idealiter dazu führt, dass Studierende dabei unterstützt werden, professionelle Handlungskompetenz aufzubauen. Um das aber fundiert und systematisch gewährleisten zu können, sollten die jeweiligen Professionalisierungsziele konkreter zwischen den Institutionen abgestimmt werden, sodass die Bereitstellung von Lerngelegenheiten unabhängiger von persönlicher Schwerpunktsetzung erfolgt.

 
10:40 - 11:10Kaffeepause
Ort: Foyer Haus 6
11:10 - 12:508-01: Teach-R: Simulationsbasierte Lehramtsausbildung in VR
Ort: H05
 
Symposium

Teach-R: Simulationsbasierte Lehramtsausbildung in VR

Chair(s): Axel Wiepke (Universität Potsdam, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Axel Wiepke (Universität Potsdam)

Unterschiedliche Methoden werden im Lehramtsstudium genutzt, um einen Übergang von der Theorie zur Praxis des Lehrens zu unterstützen (Hedtke, 2000). So können zum Beispiel Videomitschnitte als Grundlage zur Reflexion über Unterrichtssituationen dienen (Richter et al., 2022), schriftliche Fallvignetten eine "innere Vorbereitung" auf Unterrichtseinheiten ermöglichen (Lübcke et al., 2019), Unterrichtsplanung und -forschung als Bindeglied fungieren (Gagel, 1983), oder Praktika, sowohl mit als auch ohne eigene Lehrtätigkeit, Einblicke in den Schulalltag bieten (Brocca, 2020). Der praktische Kontakt zu realen Klassen wird oft als entscheidend angesehen, um das theoretische Wissen in der Praxis zu erproben (Hedtke, 2000). Jedoch gehen damit hoher organisatorischer und personeller Aufwand und begrenzte Generalisierbarkeit der Erfahrungen an Schulen einher (ebd.).

Doch auch andere Trainingsmethoden haben Herausforderungen. Beispielsweise fehlt es oft an Interaktivität in Videos und Texten, Datenschutzbedenken können bei der Verwendung von Videos und Praktika auftreten, und es bedarf einer hohen Abstraktionsfähigkeit, um aus Unterrichtsplänen und -forschung Erkenntnisse für die Praxis zu ziehen. Die Übertragbarkeit dieser Methoden in die Praxis kann selten umfassend untersucht werden, aufgrund von mangelnder Wiederholbarkeit und unterschiedlichen Schwerpunkten in der Theorie (z.B. Ökonomie und Effektivität der Lehrmethoden) und der Praxis (Persönlichkeitswerte – Was macht eine "gute Lehrkraft" aus mir?) (Oelkers, 1999).

Ein Ansatz, der sich diesen Herausforderungen widmet, ist die Virtual Reality (VR)-Simulation, wie sie im Projekt "Teach-R" vorgestellt wird (Wiepke et al., 2019a). Teach-R umfasst eine VR-Umgebung und eine Weboberfläche zur Steuerung von virtuellen Schülerinnen und Schüler (vSuS). In der VR-Umgebung können Lehramtsstudierende den Erstkontakt mit einer Klasse von bis zu 30 vSuS in einer realitätsnahen Simulation erleben und praktische Erfahrungen sammeln. Der erste Einsatz erfolgte im Jahr 2018 an der Universität Potsdam im Rahmen eines Kurses zum Umgang mit Unterrichtsstörungen. Seitdem wurde Teach-R weiterentwickelt, unter anderem durch die Möglichkeit von Unterrichtsgesprächen mit den vSuS. Das Projekt bietet eine interdisziplinäre Plattform, die Informatik, Erziehungswissenschaften, Fachdidaktiken und empirische Forschung miteinander verknüpft. Innerhalb der Anwendung können Daten erfasst werden, wie z.B. Bewegungsprofile oder Aufzeichnungen der Nutzenden während der Simulation, die sowohl für die Reflexion als auch für die Forschung genutzt werden können. Über die Webplattform kann ein Coach die Lehrkraft hinsichtlich ihrer didaktischen Methoden bewerten, was bei den vSuS verschiedene, vordefinierte Animationen und Rückmeldungen auslösen kann. Das Verhalten der vSuS kann auch direkt gesteuert oder anhand festgelegter Skripts angepasst werden. Die Lernumgebung kann durch Änderungen des Wetters oder der Lautstärke im Schulgebäude beeinflusst werden (Wiepke et al., 2021). Dadurch lassen sich gezielte Szenarien erstellen und reproduzieren, was sowohl das Training von Lehrmethoden als auch die Erforschung des Verhaltens im virtuellen Unterricht ermöglicht (Huang et al., 2021).

Das Open-Source-Projekt "Teach-R" wird in immer größerem Umfang in Hochschulseminaren eingesetzt, um innovative Lehrmethoden zu erproben und die vermittelten didaktischen Ansätze zu untersuchen. Im Rahmen dieses Symposiums werden einige der bereits existierenden Szenarien aus unterschiedlichen Fachdisziplinen vorgestellt. Dabei werden Lehrformate, anvisierte Kompetenzen und Forschungsschwerpunkte beschrieben, sowie die Erweiterbarkeit und die Anwendung aus technischer Perspektive näher beleuchtet. Es werden Beiträge erwartet aus der Wirtschaftspädagogik, der Sport- und Chemiedidaktik, sowie aus den Erziehungswissenschaften und der Informatik. Die Autorinnen und Autoren der eingereichten Beiträge werden in Gruppen ihre eigenen Erfahrungen mit Teach-R teilen, gemeinsam diskutieren und die Diskussion dann für das gesamte Plenum öffnen. Nach den Präsentationen der Gruppen wird das Symposium mit einer offenen Diskussionsrunde abgeschlossen.

 

Beiträge des Symposiums

 

Teach-R in der Sportlehrkräftebildung

David Wiesche1, Raphael Zender2, Britta Fischer3
1Universität Duisburg-Essen, 2Humboldt-Universität zu Berlin, 3Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Das Ziel des Schulsports ist nicht nur, die Heranwachsenden in die Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur einzuführen und eine Handlungsfähigkeit in dieser Kultur zu ermöglichen, sondern auch einen Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport zu leisten (Kurz, 2008). Die Sportlehrkräftebildung an deutschen Universitäten, die neben theoretischen Inhalten auch sportpraktische Seminare beinhaltet, fokussiert dabei traditionell auf normierte Sportarten oder Bewegungsfelder. Die Verbesserung von Wahrnehmungsfähigkeit und Bewegungskompetenz sind sowohl im Studium, als auch im Schulsport prominente Zielperspektiven. Die Fähigkeit, lernrelevante Unterrichtsereignisse erkennen und theoriebasiert interpretieren zu können (z. B. Meschede et al., 2017), also Wahrnehmungsprozesse, sind für ein professionelles Sportlehrkräftehandeln relevant. Zudem ist auch das Wissen über Wahrnehmungs- bis hin zu Verstehensprozessen von Schülerinnen und Schülern (SuS) bedeutsam.

Die Entwicklung von Medienkompetenzen ist eine Querschnittsaufgabe der Schule, die alle Fächer betrifft. Dabei wird im sportpädagogischen Diskurs vor allem ein Blick auf den Einsatz von digitalen Medien (z.B. Greve et al., 2020) sowie das Lehren und Lernen mit und in digitalen Medien im Sport (Fischer & Paul, 2020) gelegt. Der Proklamation der KMK (2021), dass immersive Technologien wie Virtual Reality (VR) bei der Entwicklung innovativer, digitaler Lernformate im Unterricht zu beachten, zu reflektieren und einzubeziehen sind, wird an wenigen Standorten in Deutschland umgesetzt. Dabei ist Körpererfahrung in VR ein Teil des gesellschaftlichen Transformationsprozesses (Wiesche et al., 2023). Das Potenzial von VR für Körpererfahrung (Bielefeld, 1991) im Sinne eines mehrperspektivischen Sportunterrichts ist noch unerforscht und es bestehen Unsicherheiten aus medizinischer und pädagogischer Perspektive (Zender et al., 2022).

Mit der Teach-R-Sporthalle steht eine Umgebung zur Verfügung, in der Simulationen im Kontext des Sportunterrichts ermöglicht werden. Dabei wird die VR-Sporthalle auf der einen Seite als ein möglicher Raum für Formen von Bewegung, Spiel und Sport verstanden: Wenn körperliche Praktiken im physischen Raum über Interfaces in den digitalen Raum übertragen werden, eröffnet sich ein hybrider Raum, in dem Körpererfahrungen und damit auch eine Reflexion derselben ermöglicht werden, die sowohl für das Verständnis von Körper als auch von Virtualität genutzt werden können.

Auf der anderen Seite sollen in der VR-Sporthalle Simulationen erarbeitet werden, an denen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungskompetenzen in Bezug auf die Qualität der Unterrichtsgestaltung entwickelt werden können. Dabei stehen einerseits die Klassenführung vor dem Hintergrund einer doppelten Verletzbarkeit (Herrmann & Gerlach, 2020), andererseits das Nähe-Distanz Verhältnis zwischen SuS und Lehrkraft als sportpädagogische Themen im Mittelpunkt der Professionalisierung von Sportlehrkräften.

Die Abbildungen 1 und 2 illustrieren den aktuellen Entwicklungsstand der VR-Sporthalle, welche als Erweiterung von Teach-R konzipiert wurde. Diese Erweiterung, realisiert in enger Zusammenarbeit mit dem Teach-R-Team und erfahrenen Sportlehrkräften, berücksichtigt sowohl die Hauptsporthalle als auch zugehörige Nebenräume wie Gerätelager und Umkleidekabinen in seiner Umsetzung. Die Konzeption der Räumlichkeiten orientierte sich dabei an den baulichen Vorgaben für neu zu errichtende Sporthallen in Berlin, sowohl hinsichtlich der Raumgrößen als auch der Anzahl der Räume. Des Weiteren wurden die bewährten Teach-R-Interaktionskonzepte aufgegriffen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind noch keine virtuellen SuS in die VR-Sporthalle integriert.

Im nächsten Schritt sollen virtuelle SuS in die VR-Sporthalle integriert werden, die sich in standardisierten Situationen bewegen. Die Definition dieser standardisierten Situationen bezüglich der Themen (1) Klassenführung sowie (2) Nähe und Distanz werden aktuell erarbeitet. Ziel ist es, ein konsequenzfreies Lernen und Explorieren von Handlungsmustern in der Sporthalle zu ermöglichen.

Aus wissenschaftlicher Perspektive soll darüber hinaus der Frage nachgegangen werden, ob das Erleben von Nähe und Distanz in Teach-R zum Ausgangspunkt für einen Reflexionsprozess bei (angehenden) Lehrkräften genutzt werden kann. Durch phänomenologische Beschreibungen des Erlebten von unterschiedlicher “virtuelle Nähe” in ausgewählten Situationen wie einem Einzelgespräch, bei Hilfestellungen oder in Unterrichtsgesprächen mit SuS-Gruppen können Rückschlüsse auf die Konzeption von möglichen Trainingsszenarien geschlossen werden.

 

Die Potenziale eines virtuellen Klassenzimmers für die Erklärfähigkeit von Lehramtsstudierenden

Jürgen Seifried, Robert Mühldorfer, Christian Mayer
Universität Mannheim

Einleitung

Im Beitrag wird ein Lehrkonzept zur Förderung des Kompetenzerwerbs im Studium der Wirtschaftspädagogik vorgestellt. Das Studium hat das Ziel, angehende Lehrkräfte bestmöglich auf zukünftige Herausforderungen in Schule und Unterricht vorzubereiten bzw. entsprechende Lerngelegenheiten bereit zu stellen. Diesbezüglich ist das Erproben von (fach-)didaktischen Alternativen im Rahmen von authentischen Unterrichtsszenarien bereits im Studium von hoher Bedeutung (Dalgarno et al., 2016; Grossman, 2018). Das virtuelle Klassenzimmer Teach-R (Wiepke et al., 2019) bietet hier die Möglichkeit, dass sich angehende Lehrpersonen gezielt mit der die Gestaltung von Unterrichtserklärungen auseinander setzen.

Theorie

Fehleranfällige Unterrichtserklärungen von Lehramtsstudierenden und angehenden Lehrpersonen sind keine Seltenheit (Borko et al., 1992; Guler & Celik, 2016; Halim & Meerah, 2002; Leinhardt, 1989). Sie haben z. B. Schwierigkeiten, das Vorwissen der Lernenden richtig einzuschätzen (Sánchez et al., 1999) und können bei Rückfragen der Lernenden wenig flexibel reagieren (Borko & Livingston, 1989; Leinhardt, 1989). Schwierigkeiten gibt es auch hinsichtlich der Darstellung von Lerninhalten (Borko et al., 1992; Inoue, 2009; Kinach, 2002; Wheeldon, 2012) und dem Aufzeigen lebensnaher Praxisbeispiele (Borko et al., 1992; Inoue, 2009; Wheeldon, 2012). Als eine Ursache für die mangelnde Erklärfähigkeit werden Defizite beim inhaltlichen Wissen angeführt (Borko et al., 1992; Eisenhart et al., 1993; Halim & Meerah, 2002; Thanheiser, 2009). Allerdings lassen sich entsprechende Fähigkeiten auch fördern. So wies bspw. (Miltz, 1972) in einer der wenigen Experimental-Kontrollgruppenstudien in diesem Bereich nach, dass Trainingseinheiten zum verständlichen Erklären die Erklärfähigkeit signifikant verbessern. Darüber hinaus verbessert Feedback durch Mentor:innen die Fähigkeiten angehender Lehrpersonen (Borko et al., 1992; Eisenhart et al., 1993).

Adressierte Kompetenzen

Im Fokus des Teach-R-Unterrichtsszenarios steht zum einen die Entwickelung der Erklärfähigkeit von Lehramtsstudierenden unter authentischen Bedingungen und zum anderen die Förderung der Reflexionsfähigkeit der eigenen Unterrichtserklärung (Richter et al., 2022). Video-Aufzeichnungen aus dem Unterrichtsszenario dienen den Studierenden als Ausgangspunkt zur Reflexion über ihr unterrichtliches Handeln. Studierenden nutzen die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse von Videodaten zur theoriegeleiteten Analyse von Lehr-Lernsituationen, um ihr eigenes fachdidaktisches Handeln selbständig kritisch zu überdenken.

Lehrformat

Das virtuelle Klassenzimmer (Teach-R) wird Rahmen des Seminars „Reflexion wirtschaftsberuflicher Lernumgebungen“ im Studiengang Wirtschaftspädagogik an der Universität Mannheim eingesetzt. Hierfür wurde ein vorprogrammiertes impulsgesteuertes Unterrichtsgespräch zur Thematik der Nachfrageverschiebung (Volkswirtschaftslehre) entwickelt. Die Simulation wird zu Beginn und zum Ende des Semesters eingesetzt (HTC Vive Pro-Eye). Die Studierenden analysieren das unterrichtliche Handeln anhand gängiger Qualitätsdimensionen zur Analyse von Erklärprozessen (z. B. (Findeisen, 2017): Fachlicher Gehalt, Lernendenzentrierung, Prozessstruktur, Repräsentation und Sprache). Dabei greifen sie die Technik der qualitativen Inhaltsanalyse nach (Mayring, 2022) zurück und arbeiten mit MAXQDA.

Zur Analyse der Erklärfähigkeit wird aktuell ein Versuchs-Kontrollgruppen-Design (Versuchsgruppe: n=16, Kontrollgruppe; n=11) umgesetzt. Beide Gruppen führen eine Unterrichtserklärung zur Nachfrageverschiebung zu zwei Messzeitpunkten durch. Es wird durch die Authentizität und dem Immersionserleben im virtuellen Klassenzimmer (Teach-R) erwartet, dass die VR-Gruppe Vorteile gegenüber der Kontrollgruppe aufweist. Das Projekt befindet sich derzeit in der Erhebungsphase; die Datenerhebung und -analyse wird zur Tagung abgeschlossen sein. Im Zuge der Weiterentwicklung des Lehrkonzepts wollen wir uns verstärkt um gezielt ausgewählte Teilaspekte der Erklärfähigkeit widmen (Huang Y. et al., 2023). So kann die Aufmerksamkeit noch gezielter auf relevante Aspekte gelernt werden. Es wird erwartet, dass so die Potenziale der VR-Umgebung noch besser genutzt werden können.

 

Virtual Reality Teaching Partner: Studie zur Wahrnehmung realer und VR-basierter Unterrichtssimulationen

Eric Richter1, Kira E, Weber2, Lucas J. Jacobsen3, Dirk Richter1, Yizhen Huang1
1Universität Potsdam, 2Universität Hamburg, 3Leuphana Universität Lüneburg

Theoretischer Hintergrund

Unterrichtssimulationen sind fester Bestandteil der Lehramtsausbildung (Grossman, Hammerness, et al., 2009). Diese Art des Lernens ermöglicht es situationsspezifisches Wissen und pädagogische Kompetenzen zu vermitteln, um so Transfer in die spätere Berufspraxis zu erleichtern (Kramer et al., 2020).

Entscheidend für den Lernerfolg in praxisorientierten Lernumgebungen wie Simulationen ist das Ausmaß der wahrgenommenen Authentizität. Dabei handelt es sich um den Grad der Ähnlichkeit zwischen den Merkmalen der Lernumgebung und dem tatsächlichen Kontext in der beruflichen Praxis (Grossman, Compton, et al., 2009; Shavelson, 2012).

Die Bereitstellung authentischer Simulationen in der physischen Realität ist zeit- und ressourcenintensiv. Im Gegensatz dazu lassen sich standardisierte und realistische Simulationen in der virtuellen Realität (VR) leichter durchführen, da sie nicht auf menschliche Akteure angewiesen sind. VR ist eine Sammlung digitaler Technologien, die es ermöglichen, realistische Erfahrungen in virtuellen Umgebungen zu schaffen (McGarr, 2020). Aufgrund ihres hohen Grades an Realismus und Kontrollierbarkeit haben VR-Anwendungen in der Lehramtsausbildung an Bedeutung gewonnen (Huang et al., 2023). Es gibt erste Hinweise darauf, dass VR-basierte Microteaching-Erfahrungen die Selbstwirksamkeit und das Wissen von Lehramtsstudierenden in Bezug auf das Klassenmanagement steigern können (z. B. Seufert et al., 2022). Bislang wurde jedoch nicht untersucht, ob Lehramtsstudierende VR-basierte Microteaching-Erfahrungen ähnlich authentisch wahrnehmen wie reale Unterrichtssimulationen.

Um diese Frage zu beantworten, wurden in der vorliegenden Studie die Einschätzungen von Lehramtsstudierenden zur Authentizität und kognitiven Eingebundenheit von Unterrichtssimulationen in der VR und in der physischen Realität untersucht.

Methode

Diese Studie wurde im Rahmen des bildungswissenschaftlichen Blockseminars "Become a VR Teaching Partner: Unterricht erproben, analysieren und Feedback geben" (ca. 4. Semester) durchgeführt. Während des Seminars wurden Lehramtsstudierende darauf vorbereitet, selbstständig Unterrichtssimulationen für Kommiliton:innen anzubieten, deren Unterricht zu beobachten, zu analysieren und ihren Peers anschließend Feedback zur Qualität des Unterrichts zu geben. Die Unterrichtssimulationen wurden entweder in der VR oder in der physischen Realität angeboten (nVR = 43, nReal = 14). Im Anschluss an diese Peer-Learning-Möglichkeit wurden 57 Lehramtsstudierende, die an der Unterrichtssimulation teilgenommen hatten, gebeten, ihre Erfahrungen mit einer der beiden Simulationen im Hinblick darauf zu bewerten, wie authentisch (Codreanu et al., 2020) und wie kognitiv involvierend (Schubert et al., 2001) die Simulation empfunden wurde.

Die VR-Simulation wurde mit Teach-R (ehemals VR-Klassenzimmer; Wiepke et al., 2019) durchgeführt, welches 30 virtuelle Schüler:innen abbildete. Die Teilnehmer:innen erlebten die Simulation mithilfe des HTC VIVE Headsets, das sie in das virtuelle Klassenzimmer versetzte. Während der VR-Simulation hielten die Teilnehmenden einen vierminütigen Vortrag zu einem vordefinierten Thema und reagierten dabei auf vorprogrammierte Störungen im VR-Klassenzimmer. Die reale Simulation folgte dem gleichen Skript, wurde jedoch von fünf geschulten Schauspieler:innen inszeniert, die die Rollen der fiktiven Schüler:innen übernahmen. Die Lehraufgabe blieb in beiden Simulationsszenarien identisch.

Ergebnisse und Diskussion

Wir verwendeten den Brunner-Munzel-Test - eine robuste Version des Mann-Whitney's U-Tests (Karch, 2021) - um die Verteilungen der Bewertungen von Authentizität und kognitiver Eingebundenheit zwischen den beiden Simulationsbedingungen zu vergleichen. Die Teilnehmenden bewerteten die VR- und die reale Simulation in Bezug auf Authentizität (MVR = 2.93, MReal = 2.98, p = .79) und kognitive Eingebundenheit (MVR = 3.62, MReal = 3.55, p = .69) ohne signifikante Unterschiede.

Die vorliegende Studie zeigt somit, dass Lehramtsstudierende VR-basierte und reale Unterrichtssimulationen in Bezug auf Authentizität und kognitive Eingebundenheit ähnlich erleben. Dieses Ergebnis ist angesichts des Fehlens vergleichbarer Studien zu VR-basierten und realen Unterrichtserfahrungen von Bedeutung. Validierungsstudien wie diese, die die Wahrnehmung von Lehramtsstudierenden in VR- und realen Klassenzimmern vergleichen, sind notwendig, um die ökologische Validität von VR-Anwendungen in der Lehramtsausbildung beschreiben zu können. Unsere Ergebnisse gehören vor diesem Hintergrund zu den ersten, die die Vergleichbarkeit von VR- und realen Unterrichtssituationen empirisch belegen und das Potenzial der Integration von VR-Technologie in die Lehramtsausbildung unterstreichen.

 

Generalisierung spezifischer Entwicklungen der simulationsbasierten Lehre von Teach-R

Axel Wiepke
Universität Potsdam

Verschiedene Fachdisziplinen nutzen simulationsbasierte Lehre durch das Teach-R-Projekt. Hier ist es möglich, verschiedene Lehrinhalte und Schwerpunkte in der Interaktion mit virtuellen Schülerinnen und Schülern (vSuS) in einer Virtual Reality (VR)-Umgebung anzusprechen. Die Vielfalt an Disziplinen führt zu Anforderungen an die Software, die in angepassten Versionen (Derivaten) mit speziellen Funktionen resultieren. Die Funktionen sollen jedoch generalisiert werden, damit andere Disziplinen eigene Inhalte einbinden können. Der Beitrag soll die Spannung zwischen spezifischen Inhalten und generalisierbaren Interaktionen anhand des Entwicklungsprozesses beleuchten.

Teach-R Genese

Die ursprüngliche Version des Projekts (Paulicke & Wiepke, 2018) umfasste ein VR-Klassenzimmer mit frontaler Sitzordnung, einen Avatar für die Lehrkraft und 30 homogenen vSuS. Das Verhalten der vSuS wurde basierend auf disziplinübergreifenden Verhaltensmustern aus realen Unterrichtsvideos modelliert (Paulicke et al., 2015). Folgend wurde je eine der Verhaltensweisen für die sieben Kategorien von Schülerverhalten (Kounin, 2006) exemplarische in eine virtuelle Darstellung überführt. Neben der Steuerung der vSuS über eine Weboberfläche war in VR das Greifen von Objekten und die Bewegung im Raum möglich.

Darauf aufbauend wurden in Forschungsprojekten mit verschiedenen Fachdisziplinen Derivate entwickelt, die sowohl als Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen dienten als auch von den jeweiligen Projektpartnern weiterentwickelt wurden. Zunächst sollte Training des Klassenraummanagements mit den Erziehungswissenschaften ermöglicht werden. Besonderes Augenmerk lag hier auf der Wiederholbarkeit von Unterrichtssituationen. Daraus ergab sich die Funktion des Skripts, das Verhaltensweisen, auslösende vSuS und Zeitpunkt des Verhaltens in einer Textdatei festlegte (Wiepke et al., 2019). Zudem wurden die vSuS vielfältiger gestaltet, und Daten zur späteren Reflexion erfasst. Die Daten umfassten Anzahl der „störenden“ Verhaltensweisen der vSuS, Positionsdaten der Lehrkraft und die zurückgelegten Meter in der VR.

Im zweiten Derivat wurde Teach-R in Zusammenarbeit mit der Geschichtsdidaktik um Unterrichtsgespräche erweitert, in denen Erkenntnisstufen durch ein impulsgesteuertes Unterrichtsgesprächs erreicht werden konnten (Fenn & Arlt, 2023). Dafür wurde der Ablauf des Gesprächs mittels eines Strukturbaums konzipiert, in dem vSuS-Aussagen entworfen wurden, die auf „gelungene“, „akzeptable“ oder „irreführende“ Aussagen der Lehrkraft passten. Entworfen wurden die Bäume mit einer grafischen Oberfläche, um ohne Programmierkenntnisse erweiterbar zu sein. Durch die Geschichtsdidaktik wurden drei Themengebiete inklusive Unterrichtsmaterialien (Poster und Unterrichtspläne) angefertigt und mehrere Audiodateien für jede entworfene vSuS-Aussage aufgenommen. Zudem wurden weitere Sitzordnungen (Fischgräte und Hufeisen) implementiert, die als diskussionsförderlich angesehen wurden.

Das Derivat der Chemiedidaktik adressierte Experimentierphasen im Unterricht und den individuellen Fortschritt der vSuS im Experiment. Die Strukturbäume wurden dafür so verändert, dass jeder einzelne vSuS einen eigenen Zustand hatte. So konnten z.B. einige vSuS das Experiment beendet haben und andere noch immer im Gespräch mit der Lehrkraft ihre Angst vor dem Brenner überwinden (Wiepke et al., 2022). Darüber hinaus wurde auf die zeitkritische Interaktion mit vSuS beim Experimentieren Wert gelegt. Dafür wurde ein realer Raum mit Tischanordnung vermessen und virtualisiert, um Tische und Wände als haptisches Feedback nutzen zu können, wenn das Training in diesem Raum stattfindet.

Generalisierbarkeit spezifischer Entwicklungen

Auch in weiteren Projekten wurden die Bedarfe der jeweiligen Fachdisziplin erhoben und spezifische Erweiterungen vorgenommen. Die Kommunikation der vSuS mit der Lehrkraft wandelte sich so von der Website-Steuerung, zum Skript, zum Klassen-Strukturbaum, zum individuellen Strukturbaum, nun hin zum teilrandomisierten und zeitabhängigen Verhalten von Einzel- und Partnerarbeiten. Dabei bot jeder Schritt der Entwicklung spezifische Lösungen für spezifische Anwendungsfälle, kann jedoch ohne Programmierkenntnisse (mit entsprechendem Aufwand) für weitere Themenbereiche angepasst werden. Dies wird weiter unterstützt durch verschiedene Sitzordnungen und fachspezifische Klassenräume. Es wurden auch weitere Anpassungen und Erweiterungen vorgenommen, die neben der Nutzerfreundlichkeit auch weitere Möglichkeiten im VR Klassenzimmer erschließen, wie z.B. das Präsentieren von Folien, Schreiben an der Tafel, Wettererscheinungen auf dem Schulhof oder eine Pausenklingel.

 

Reflexion durch Teach-R adressieren

Christina Hildebrandt, Amitabh Banerji
Universität Potsdam

Teach-R Variante für die Ausbildung im Fach Chemie: Das Laborklassenzimmer

In der Variante „Laborklassenzimmer“ unterrichten die Studierenden eine Lerngruppe aus virtuellen Schülerinnen und Schülern (vSuS), welche in Partnerarbeit ein Experiment am Gasbrenner durchführt. Die Verhaltensweisen der vSuS und die auftretenden fachspezifischen Störungen (z.B. vSuS haben Angst vor dem Gasbrenner) basieren dabei auf Praxisbeispielen und werden von einem dem Szenario zu Grunde liegenden Strukturmodell gesteuert. Die angehenden Lehrkräfte werden mit diesen fachspezifischen Störungen konfrontiert, die in einem 8- bis 10-minütigen Szenario adressiert werden sollen (Wiepke et al., 2022). Das Szenario wird hierbei vom Lehrpersonal über die Webanwendung eines externen Coachs begleitet. Die vSuS werden über diesen Coach im Hinblick auf die Handlungsentscheidungen der angehenden Lehrkräfte manipuliert und geben somit eine Form des Feedbacks, welches neben der durchgeführten Handlung selbst sowie der Entscheidungsfindung im Nachgang diskutiert und reflektiert werden soll.

Teach-R weist dabei in mehrfacher Hinsicht großes Potential auf, da realistische Trainingssituationen ermöglicht werden, die es zulassen (herausfordernden) Unterrichtssituationen interaktiv zu begegnen, diese zu erproben und prozedurales Wissen zu adressieren (Wiepke et al., 2022). Hierdurch erschließen sich echte Lehr-Lern-Gelegenheiten mit starkem Praxisbezug für die Ausbildung von Lehrpersonal an Hochschule. Der Einsatz moderner digitaler Technik im Rahmen der Lehramtsausbildung markiert hierbei einen wichtigen Schritt im Hinblick auf den digitalen Wandel, der sich bisher vor allem in den Fachwissenschaften sowie in der Ausprägung von Informations- und Kommunikationswegen der Schülerinnen und Schüler rasant vollzieht. So können jedoch auch Lehrkräfte erreicht und Kompetenzen im Sinne des DPaCK-Modells (DPacK: Digitality-related Pedagogical Content Knowledge) aufgebaut und erweitern werden (Huwer et al., 2019).

Forschungsgegenstand: Reflexionskompetenz

Der Lehrberuf ist mit vielfältigen Aufgaben und Kompetenzanforderungen hoch komplex und anspruchsvoll (Henke & Schrader, 2006). Angehende Lehrkräfte müssen deshalb unbedingt befähigt werden, eigene Unterrichtsplanungen und Durchführungen selbstkritisch zu hinterfragen sowie ihr unterrichtliches Handeln zu analysieren, um ihre Kompetenzen weiterentwickeln zu können. Die Reflexionskompetenz besetzt somit hinsichtlich der Verbesserung, Entwicklung und Anpassung von Unterricht eine Schlüsselposition (Helmke, 2012) und muss daher zentraler Bestandteil der Ausbildung sein, welchen es jedoch im Hinblick auf Unterrichtsdurchführung zu schärfen gilt. Denn Studien zeigen, dass Studierende Unterricht oftmals stark deskriptiv, wenig systematisch sowie wenig kritisch-reflektierend analysieren (Rothland & Zorn, 2015; Hatton & Smith, 1995).

Das Teach-R Szenario soll entsprechend einen ersten Reflexionsprozess anstoßen, der für eine zielführende und überlegte Handlung notwendig ist und den es nachfolgend im Rahmen einer Lehrveranstaltung zu erweitern und vertiefen gilt. Reflexion wird somit hinsichtlich der zwei Typen (Reflexion in der Handlung, Reflexion nach der Handlung; (Schön, 1983; Wyss, 2013) fachwissenschaftlich betrachtet. Die Entwicklung eines ersten Konzepts einer das Szenario integrierende Lehrveranstaltung, welche Reflexion am fachdidaktischen Inhalt der fachspezifischen Unterrichtsstörungen ermöglicht um adäquate Handlungsstrategien erproben und im Nachgang diskutieren zu können, ist eines der anvisierten Ziele. Um Reflexionskompetenz potentiell messbar adressieren und erweitern zu können, wird ein Modell zur Reflexion, entwickelt für den Physikunterricht von Nowak et al. zugrunde gelegt und angewendet. Es beschreibt eine ideale vollständige Reflexion über fünf Elemente (potenziell begründete Ausführungen zu Rahmenbedingungen, Unterrichtssituationen, Bewertungen, Alternativen, Konsequenzen) unter Bezugnahme auf die Wissensbasis (untergliedert in CK, PCK, GPK) und ermöglicht die Anwendung als Forschungsinstrument, welches die Untersuchung der Entwicklung der Reflexionsfähigkeit zum Ziel hat. Auch kann es Studierenden als Leitlinie beim Reflektieren und Dozierenden als Instrument zur Einschätzung der Güte der Studierendenreflexionen dienen (Nowak et al., 2019).

Grundlegend soll untersucht werden, ob und inwiefern gezielte und angeleitete Unterrichtsreflexionen ausgehend von einem virtuellen Setting zu einer signifikanten Steigerung der Handlungskompetenz führen und inwiefern sich diese Reflexionen objektiv, reliabel und valide messen lassen.

 
11:10 - 12:508-02: Digitale Kompetenzen von (angehenden) Lehrkräften
Ort: H04
 
Symposium

Digitale Kompetenzen von (angehenden) Lehrkräften

Chair(s): Annika Ohle-Peters (TU Dortmund, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Andreas Lachner (Eberhard Karls Universität Tübingen)

Digitale Kompetenzen gelten als bedeutsame Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts (Vuorikari, Kluzer & Punie, 2022), deren Vermittlung ein wichtiges Ziel schulischer Bildung darstellt, um gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen. Zentrale Voraussetzung für gelingende schulische Lehr-Lernprozesse sind digitale Kompetenzen von Lehrkräften – auch vor dem Hintergrund immer relevanter werdender Digitalisierung von Bildungsprozessen (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2007). Den Beiträgen des Symposiums liegt das Modell professioneller Kompetenz von Baumert und Kunter (2011) zugrunde, wonach Professionswissen, Einstellungen und motivationale Orientierungen maßgebliche Aspekte der Lehrkraftkompetenz darstellen und bezogen auf digitale Kompetenzen aktuelle, relevante Ziele von Lehrkraftaus- und Weiterbildung sind. Forschungsleitend sind in den drei Beiträgen des Symposiums die Fragen, wie diese Kompetenzaspekte in verschiedenen Phasen der Lehrkraftbildung gefördert werden können und welche Bedeutung sie für qualitätvollen Unterricht mit digitalen Medien haben.

Die Studie K4D im ersten Beitrag fokussiert ausschließlich die professionellen digitalen Kompetenzen von Lehramtsstudierenden und deren Förderung. In neun interdisziplinären Projekten wurden Interventionen zu digital-kollaborativem Arbeiten auf Basis gemeinsam entwickelter Designprinzipien entwickelt und in einem quasi-experimentellen Multikohortendesign evaluiert. Erste Ergebnisse von Analysen der Gesamtstichprobe weisen auf die positive Entwicklung kognitiver und motivationaler Kompetenzaspekte bei den Studierenden hin.

Beitrag zwei fokussiert ebenfalls auf die erste Phase der Lehrkraftbildung und wirft einen genaueren Blick auf die Prozesse universitärer Lehr-Lernprozesse und widmet sich der Frage, inwieweit Lehrinhalte und Lehrqualität mit der Entwicklung digitaler Kompetenzüberzeugungen einhergehen. In einem längsschnittlichen Design mit drei Messzeitpunkten innerhalb eines Semesters wurden Lehramtsstudierende in unterschiedlichen Seminaren zu Lernerfahrungen und Kompetenzüberzeugungen befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass Merkmale generischer Unterrichtsqualität positiv mit den Kompetenzerzeugungen der Studierenden in verschiedenen Kompetenzbereichen zusammenhängen.

Im dritten Beitrag wird die dritte Phase der Lehrkraftbildung in den Blick genommen und der Fokus auf Wirkungen digitaler Lehrkraftkompetenzen auf die Qualität von Lernangeboten erweitert. Die zentrale Forschungsfrage ist, inwiefern die Teilnahme an digitalisierungsbezogenen Fortbildungen, die eigenen Kompetenzeinschätzungen sowie Einstellungen der Lehrkräfte bezüglich digitaler Medien mit Nutzungsintentionen und tatsächlicher Nutzung digitaler Medien zur konstruktiven Unterstützung von Lernenden zusammenhängen. Die Ergebnisse der querschnittlich angelegten Studie mit Lehrkräften der Primar- und Sekundarstufe weisen auf einen positiven Zusammenhang der Fortbildungsteilnahme und der (selbstberichteten) technologiegestützten konstruktiven Unterstützung im Unterricht auf. Kompetenzüberzeugungen sowie Einstellungen zu Kosten und Nutzen sind mit Nutzungsintentionen und konstruktiver Unterstützung in erwarteter Richtung assoziiert.

Zusammenfassend liefern die Beiträge dieses Symposiums wichtige Hinweise zur Förderung digitaler Kompetenzen sowohl im Studium als auch später im Lehrdienst. Vor dem Hintergrund der sich schnell entwickelnden digitalen Medienlandschaft und der Heterogenität von Lerngruppen sind Professionswissen, Einstellungen und motivationale Orientierungen (angehender) Lehrkräfte bezüglich des Einsatzes digitaler Medien zentrale Kompetenzen, um Lernende auf die Partizipation in einer digitalen Gesellschaft vorzubereiten. Welche konkreten Implikationen sich für Praxis und Wissenschaft hinsichtlich dieses auch in Zukunft hochrelevanten Themas der empirischen Bildungsforschung ergeben, wird auf der Tagung diskutiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

(Wie) Lassen sich Kompetenzen zu digital-kollaborativem Arbeiten bei Lehramtsstudierenden fördern?

Annika Ohle-Peters, Nele McElvany
TU Dortmund

Theoretischer Hintergrund und Fragestellungen

Kollaboration von Lehrkräften als gemeinsame Aktivitäten zum Lösen von Aufgaben ist ein wichtiges Ziel von Professionalisierungsmaßnahmen aller Phasen der Lehrkraftausbildung (Vangrieken et al., 2015). Kollaboration wird hier in Abgrenzung zu Kooperation als gemeinsamer Lernprozess mit dem Potenzial der gemeinsamen Wissenskonstruktion und Problemlösung verstanden, der sich unter anderem durch Verantwortungsübernahme und Interdependenz auszeichnet (Udvari-Solner, 2012). Die immer stärker an Bedeutung gewinnenden digitalen Lehr-Lernumgebungen bieten neue Potenziale für (angehende) Lehrkräfte, herausfordernde Aufgaben gemeinsam zu bearbeiten, die eigene Professionalisierung voran zu treiben und Lehr-Lernprozesse zu optimieren (García-Martínez et al., 2022). Um diese Potenziale ausschöpfen zu können, müssen dafür not-wendige Kompetenzen bereits in der universitären Lehrkraftausbildung vermittelt werden (Caena & Redecker, 2019), wozu Professionswissen (z.B. technologiebezogenes fachdidaktisches Wissen), Einstellungen (z.B. zu Kosten und Nutzen digital-kollaborativen Arbeitens) und motivationale Orientierungen (z.B. intrinsische Motivation digital-kollaborativ zu arbeiten) zählen (Baumert & Kunter, 2013; Mishra & Koehler, 2006). Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Lehramtsstudiengänge wer-den in diesem Beitrag folgende Forschungsfragen (F) thematisiert:

F1: Wie entwickeln sich die Kompetenzen zu digital-kollaborativem Arbeiten bei Lehramtsstudierenden über ein Semester hinweg unter Kontrolle des Studienganges?

F2: Welche Unterschiede in der Kompetenzentwicklung zeigen sich zwischen Lehramtsstudieren-den, die Veranstaltungen mit expliziter Förderung digital-kollaborativen Arbeitens besuchen (Interventionsgruppe, IG), und Lehramtsstudierenden, die reguläre Veranstaltungen belegen (Kontrollgruppe, KG) unter Kontrolle des Studienganges?

Methoden

In dem BMBF-geförderten Projekt „Kollaboratives Lehren und Lernen mit digitalen Medien in der Lehrer/-innenbildung: mobil – fachlich – inklusiv“ (K4D) wurden Konzepte und Formate zu digital-kollaborativem Arbeiten in insgesamt neun Teilprojekten verschiedener Fachdidaktiken entwickelt und durch ein übergreifendes Evaluationsprojekt begleitet, welches in diesem Beitrag vorgestellt wird. In einem quasi-experimentellen Multikohortendesign wurden zwischen Sommersemester 2021 und Sommersemester 2023 bei insgesamt N = 1.699 Studierenden (IG: n = 1.195, KG: n = 504; 70.2% weiblich; 83.3% Bachelor Lehramt; 33.4% Grundschullehramt, 21.4% Gymnasiallehramt, 19.0% Haupt-, Real- und Gesamtschule, 17.2% sonderpädagogische Förderung, 7.1% Berufskolleg, 1.9% Sonstige) zu Beginn und Ende des Semesters etablierte Fragebogeninstrumente zur Kompetenzerfassung (technologiebezogenes fachdidaktisches Wissen, Einstellungen zu Kosten und Nutzen digital-kollaborativen Arbeitens sowie intrinsische Motivation, digital zu kollaborieren) online administriert. Die Reliabilitäten der eingesetzten Skalen waren für IG und KG zufriedenstellend bis sehr gut (.73 < Cronbach’s Alpha < .90). Die Interventionen in den evaluierten Teilprojekten variier-ten in Intensität, Format und Dauer, basierten jedoch auf gemeinsam entwickelten Designprinzipien (z.B. diskursive Auseinandersetzung der Studierenden mit einem Problemgegenstand mittels digitaler Medien wie beispielsweise Padlet). Als Kontrollgruppe wurden Lehramtsseminare in den gleichen Fächern ausgewählt, in denen die Studierenden keine explizite Förderung in digital-kollaborativem Arbeiten erhielten.

Ergebnisse und Ausblick

Erste Ergebnisse der Varianzanalysen weisen auf signifikante positive Veränderungen der Kompetenzen in der Interventionsgruppe hin. Ein signifikanter Interaktionseffekt ließ sich beim technologiebezogenen fachdidaktischen Wissen zugunsten der Interventionsgruppe nachweisen. Die Befunde liefern erste Evidenz für die Wirksamkeit spezifischer Förderung kognitiver und motivationaler digitaler Kompetenzen von Lehramtsstudierenden; einschränkend sind jedoch fehlende Angaben vor allem zum zweiten Messzeitpunkt am Ende des Semesters zu nennen. Weiterführende Analysen zu Substichproben der Teilprojekte und mit imputierten Daten werden auf der Tagung vorgestellt.

 

Generisch oder fachspezifisch - Welche Strategien tragen zur Entwicklung digitaler Kompetenzüberzeugungen bei Lehramtsstudierenden bei?

Charlott Rubach, Anne-Kathrin Hirsch, Mona Arndt
Universität Rostock

Theoretischer und empirischer Hintergrund

Die Förderung digitaler Kompetenzen bei Lehramtsstudierenden ist bedeutsam, um beispielsweise sicherzustellen, dass die Schulbildung mit den sich wandelnden Anforderungen der Gesellschaft Schritt hält und dass Schüler*innen optimal auf die digitalisierte Welt vorbereitet werden (KMK, 2016). Dies erfordert eine gezielte Ausbildung und Weiterbildung von (angehenden) Lehrkräften in diesem Bereich. Digitale Kompetenz von Lehrkräften umfasst Dispositionen (Wissen, Motivation) und situationsspezifische Fähigkeiten. Dabei werden grundlegende als auch berufsbezogene Kompetenzen unterschieden (Krumsvik, 2014). Die Förderung dieser Kompetenzfacetten ist eine komplexe Aufgabe und erfordert die Identifizierung geeigneter Indikatoren. Bisher konzentrieren sich Studien auf den Inhalt von Lernerfahrungen (Runge et al., 2022), sowie auf Unterrichtsstrategien. Hierbei kann man sich entweder auf generische Merkmale qualitätsvoller Lernerfahrung stützen (Praetorius et al., 2018) als auch auf fachspezifische Merkmale qualitätsvoller Lernerfahrung im Rahmen der Digitalen Bildung (Tondeur et al., 2016, 2018). Aus dem Design von Interventionsstu-dien kann beispielsweise abgeleitet werden, dass fachspezifische Strategien wie authentische Lernerfahrungen und generische Strategien wie kognitive Aktivierung zur Förderung grundlegen-der digitaler Kompetenz beitragen (Esteve-Mon et al., 2021), während Klassenklima als generische Strategie und die Auseinandersetzung mit dem instruktionalen Design und die Abstimmung von Theorie und Praxis als fachspezifische Strategien die Entwicklung berufsspezifischer digitaler Kompetenz begünstigt (Ersoy et al., 2016). Im nächsten Schritt ist Forschung notwendig, die die Bedeutsamkeit unterschiedlicher Strategien im Vergleich für unterschiedliche Facetten digitaler Kompetenz untersucht. Hier setzt die vorliegende Studie an und geht der Frage nach, inwieweit der Inhalt sowie generisch und fachspezifische Merkmale qualitätsvoller Lernerfahrung zur Entwicklung grundlegender digitaler Kompetenz, genauer von Kompetenzüberzeugungen, beitragen.

Methode

Für die vorliegende Studie wurden Daten des andauernden längsschnittlichen SkillfulTeacher2.0 Projektes (Rubach & Arndt, 2023) genutzt. Hierbei wurden Daten von 232 Studierenden aus dem Sommersemester 2023 ausgewertet. Lehramtsstudierende wurden zu drei Messzeitpunkten zu eigenen Lernerfahrungen in verschiedenen Seminaren gefragt. Etablierte Instrumente wurden genutzt, unter anderem zur Erfassung generischer Unterrichtsstrategien (Rubach et al., 2022) und fachspezifischer Unterrichtsstrategien im Rahmen der digitalen Bildung (Knezek et al., 2023). Weiterhin wurden digitale Kompetenzüberzeugungen in sieben Kompetenzbereichen adaptiert von Rubach & Lazarides (2021) genutzt sowie ein selbstentwickeltes Instrument eingesetzt, welches erfasst, ob Studierende sich mit Inhalten in den sieben Kompetenzbereichen grundlegender digitaler Kompetenz auseinandergesetzt haben. Interne Konsistenzen der Instrumente sind zufrieden-stellend (Ω ≥ .70).

Ergebnisse

Ergebnisse der Korrelationen zeigen, dass Strategien der generischen Unterrichtsqualität, genauer Klassenführung, kognitive Aktivierung und Klassenklima, positiv mit Kompetenzüberzeugungen zum ‚Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren‘, ‚Produzieren‘ und ‚Analysieren und Reflektieren‘ zu-sammenhängen. Fachspezifische Unterrichtsstrategien, genauer das Wahrnehmen von Vorbildern, Prozesse der Reflektion, Kooperationsprozesse, authentische Lernerfahrungen und Feedback kor-relieren mit den Kompetenzüberzeugungen in allen Kompetenzbereichen außer dem ‚Bedienen von Hard- und Software‘. Keine Zusammenhänge zeigen sich zwischen der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Inhaltsbereichen und den Kompetenzüberzeugungen der Studierenden. Ergeb-nisse der latent-change-score Modelle werden auf der Konferenz vorgestellt.

Diskussion

Die vorliegende Studie trägt dazu bei, das Verständnis darüber zu vertiefen, wie digitale Kompe-tenzen bei Lehramtsstudierenden gefördert werden können. Zusammenfassend korrelieren gene-rische sowie fachspezifische Unterrichtsstrategien mit verschiedenen digitalen Kompetenzüber-zeugungen und bestätigen damit frühere Befunde (Esteve-Mon et al., 2021; Tondeur et al., 2016, 2018). Daraus können explizite Implikationen für die Lehrerausbildung und die Gestaltung von Lehrprogrammen zur Förderung digitaler Kompetenzen bei Lehramtsstudierenden abgeleitet werden.

 

Welche Faktoren tragen zur qualitätsvollen Nutzung digitaler Medien im Unterricht bei? Lehrkräftefortbildungen, digitale Kompetenzselbsteinschätzungen und Einstellungen von Lehrkräften und ihre Relationen zur qualitätsvollen Unterrichtsnutzung digitaler Medien.

Florian Hebibi1, Isabell Runge1, Katharina Scheiter1, Rebecca Lazarides2
1Universität Potsdam, 2Universität Potsdam und Cluster Science of Intelligence (SCIoI), Technische Universität Berlin

Theoretischer Hintergrund

Das Technologieakzeptanzmodell (TAM) (Davis, 1989; Granić & Marangunić, 2019) beschreibt wahr-genommene Anwendungsfreundlichkeit und Nützlichkeit als wichtige Voraussetzungen für die Bildung einer Nutzungsintention und tatsächlichen Nutzung digitaler Medien. Übertragen auf den schulischen Kontext kann folglich angenommen werden, dass Lehrkräfte digitale Medien im Unterricht nutzen, wenn sie diese auch als nützlich betrachten. Darüber hinaus beschreibt das TAM, dass externale Faktoren ebenso relevant sind für die Anwendung digitaler Medien. Dies bietet dem generalistischen TAM, die Möglichkeit lehrkräfterelevante Faktoren wie Fortbildungen zu berück-sichtigen (Legris et al., 2003). Im Kontext der motivationspsychologischen Theorie des Erwartungs-Wert Modells (EVT; Eccles & Wigfield, 2020) wird zudem der wahrgenommenen Kompetenzselbst-einschätzung, dem Nützlichkeitsempfinden, dem Interesse und den psychologischen Kosten hohe Relevanz für aufgabenbezogene Handlungsintentionen zugeschrieben (Eccles & Wigfield, 2020). Arbeiten, die diese theoretischen Annahmen auf den Bereich der Lehrkräfteforschung übertragen, zeigen, dass besonders Nützlichkeitsempfinden und psychologische Kosten relevant für den unterrichtlichen Einsatz digitaler Medien im Unterricht sind (Eickelmann & Vennemann, 2017; Sipilä, 2011). Die vorliegende Studie führt beide Forschungsrichtungen – das TAM Modell zur Prädiktion von Nutzungsintentionen sowie die Annahmen des Erwartungs-Wert Modells zur Prädiktion von aufgabenbezogenen Handlungsintentionen (Eccles et al., 2020) zusammen. Die Studie untersucht, inwiefern die digitalisierungsbezogene Fortbildungsteilnahme sowie digitale Kompetenzselbsteinschätzungen, operationalisiert über das selbsteingeschätzte technologisch-pädagogische Inhalts-wissen von Lehrkräften (TPACK; Mishra & Koehler, 2006) und die wahrgenommene Nützlichkeit und psychologischen Kosten des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht (EVT; Eccles & Wigfield, 2020) in Zusammenhang mit der Nutzungsintention und konkreten Nutzung digitaler Medien im Unterricht zur konstruktiven Unterstützung von Lernenden zusammenhängen.

Ziel und Fragestellung der vorliegenden Studie

In der vorliegenden Studie wird den folgenden Forschungsfragen nachgegangen:

(F1) Inwiefern hängt die Teilnahme an digitalbezogenen Lehrkräftefortbildungen mit der selbstberichteten technologiegestützten konstruktiven Unterstützung im Unterricht zusammen?

(F2) Inwiefern hängen die TPACK-bezogenen digitalen Kompetenzselbsteinschätzungen und das Nützlichkeits- und Kostenempfinden zum Einsatz digitaler Medien mit der Intention digitale Medien im Unterricht einzusetzen zusammen?

(F3) Inwieweit vermittelt Nützlichkeits- bzw. Kostenempfinden zum Einsatz digitaler Medien den Zusammenhang zwischen TPACK-bezogenen digitalen Kompetenzselbsteinschätzun-gen und der Nutzung digitaler Medien zur Umsetzung der konstruktiven Unterstützung?

Methode

Es wurden Daten von 322 Lehrkräften aus Primär- und Sekundarstufen ausgewertet, die an Schulen in Deutschland tätig sind und im Frühjahr 2023 an einer Onlinebefragung zu digitalen Kompetenzen teilnahmen. In der vorliegenden Studie wurden validierte Skalen zur Erfassung der Teilnahme an digitalbezogenen Lehrkräftefortbildungen (Bos et al., 2012), die TPACK-bezogenen digitalen Kompetenzselbsteinschätzungen (Endberg & Lorenz, 2016), der wahrgenommen psychologischen Kos-ten (Rubach & Lazarides, 2019), dem Nützlichkeitsempfinden (Rubach & Lazarides, 2019), der Nutzungsintention (Venkatesh & Davis, 2000) und der digital gestützten konstruktiven Unterstützung (Rakoczy et al., 2005) verwendet. Die Fragestellungen wurden anhand eines Pfadmodells mit Mplus 8.10 (Muthén & Muthén, 2023) untersucht. Das Geschlecht der Lehrkräfte, die Berufserfahrung und die digitale Schulausstattung wurden als Kontrollvariablen berücksichtigt. Basierend auf den von Kline (2023) vorgeschlagenen Cut-off-Werten wurde der Modellfit bewertet.

Ergebnisse

Das Modell weist einen guten Modelfit auf, χ2 = 7.37, df = 6, CFI = 1.00, RMSEA = 0.03, und

SRMR = 0.02. Die Teilnahme an digitalbezogenen Präsenzlehrkräftefortbildungen hängen positiv mit der selbstberichteten technologiegestützten konstruktiven Unterstützung im Unterricht zusammen (Forschungsfrage 1). Die selbsteingeschätzten digitalen Kompetenzen stehen in positivem Zusammenhang mit Nutzungsintentionen (Forschungsfrage 2). Das Kostenempfinden hängt negativ und das Nützlichkeitsempfinden positiv mit der Nutzungsintention zusammen (Forschungsfrage 2). Das Nützlichkeitsempfinden vermittelt den Zusammenhang zwischen selbsteingeschätzten digitalen Kompetenzen und der selbstberichteten technologiegestützten konstruktiven Unterstützung im Unterricht (Forschungsfrage 3). Die Resultate zeigen zudem, dass die Kovariaten Ge-schlecht und digitale Schulausstattung positiv mit der selbstberichteten technologiegestützten konstruktiven Unterstützung im Unterricht im Zusammenhang stehen.

Relevanz

Die vorgestellten querschnittlichen Daten geben Hinweise darauf, dass eine Zusammenführung von Modellen aus der Wirtschaftsinformatik wie dem TAM mit Modellen aus der Motivationspsychologie wie dem Erwartungs-Wert Modell im Kontext der Lehrkräfteforschung zu digitalen Medi-en im Unterricht zu einem besseren Verständnis der Faktoren beitragen, die zur Nutzung digitaler Medien im Unterricht durch Lehrkräfte beitragen.

 
11:10 - 12:508-03: Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen: Dyadische Interaktionen und ihr zeitlicher Verlauf
Ort: H03
 
Symposium

Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen: Dyadische Interaktionen und ihr zeitlicher Verlauf

Chair(s): Friederike Blume (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Christoph Niepel (Universität Luxembourg)

Theoretische Konzepte und Überlegungen betonen stets die Wichtigkeit von Eigenschaften des Schulkontexts für die Entwicklung und den akademischen Erfolg von Schüler*innen (z.B. Bronfenbrenner & Morris, 2006; McClelland & Cameron, 2011; Thelen & Smith, 1994). Insbesondere den dyadischen Interaktionen zwischen Lehrkräften und einzelnen Schüler*innen im Klassenzimmer wird in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle zugeschrieben (z.B. Pianta et al., 2003; Spilt et al., 2022). Studien zeigten, dass die Qualität dieser Interaktionen bedeutsamen mit akademischen Ergebnissen von Schüler*innen in Zusammenhang steht, wie beispielsweise dem Lernverhalten, dem Engagement im Unterricht, der Motivation, den Emotionsregulationsfähigkeiten und den exekutiven Funktionen (z.B. Birch & Ladd, 1997; Furrer & Skinner, 2003; Roorda et al., 2017; Sankalaite et al., 2021). Empirische Untersuchungen deuten zudem darauf hin, dass die positive Wirkung von qualitativ hochwertigem Unterricht auf die Leistungen der Schüler*innen nur dann zum Tragen kommt, wenn eine gute Beziehung zwischen Schüler*innen und ihrer Lehrkraft besteht (Nguyen et al., 2020). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass qualitativ hochwertige Interaktionen im Unterricht insbesondere für Schüler*innen mit einem erhöhten Risiko für schlechte schulische Leistungen von großer Bedeutung sind (McGrath & Van Bergen, 2015). Die Qualität von Lehrkraft-Schüler*in-Interaktionen nimmt somit eine zentrale Rolle für die schulischen Ergebnisse von Schüler*innen ein.

Dyadische Lehrkraft-Schüler*in-Beziehungen spiegeln die Qualität der Interaktionen innerhalb des Mikrosystems zwischen einer Lehrperson und einem*einer einzelnen Schüler*in wider (Pianta et al., 2003). Um die Interaktionen und ihre Wirkungen zu verstehen, werden verschiedene theoretische Ansätze herangezogen, darunter die Interpersonale Theorie (Horowitz & Strack, 2011; Leary, 1957), die Selbstbestimmungstheorie (Ryan & Deci, 2000) und die Bindungstheorie (Bowlby, 1969). Die Qualität der Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler*in wird, unabhängig vom theoretischen Zugang, als Ergebnis eines dynamischen Zusammenspiels von Merkmalen beider Interaktionspartner auf intrapersonaler, interpersonaler und kontextueller Ebene gesehen (Spilt et al., 2022). Die Beziehungsqualität unterliegt somit einer stetigen Entwicklung, und jede einzelne Messung kann lediglich eine Momentaufnahme darstellen. Die bisherige Forschung hat dem dyadischen Charakter der Lehrkraft-Schüler*in-Beziehung allerdings wenig Aufmerksamkeit geschenkt und sich häufig nur auf das Interaktionsverhalten einer der beiden Partner*innen innerhalb der Dyade konzentriert. Zudem analysierten frühere Studien hauptsächlich Daten, in welchen die Qualität der Lehrkraft-Schüler*in-Beziehung nur einmalig und somit unter Vernachlässigung von Schwankungen über die Zeit erhoben wurde.

Die im vorliegenden Symposium vorgestellten Beiträge gehen diese Schwächen an, indem sie den dyadischen Charakter von Interaktionen zwischen Lehrkräften und ihren Schüler*innen berücksichtigen. Darüber hinaus analysieren zwei der Beiträge Daten, die über mehrere Messzeitpunkte hinweg erhoben wurden. Der erste Beitrag stellt den ersten Fragebogen zur Bewertung dyadischer Lehrkraft-Schüler*in-Beziehung aus der Perspektive der Interpersonalen Theorie sowie die Ergebnisse von zwei Validierungsstudien vor. Der zweite Beitrag berichtet die Ergebnisse einer Studie, welche die Auswirkungen der Adaptivität oder Passung der dyadischen Lehrkraft-Schüler*in-Beziehung in Bezug auf die akademischen Kompetenzen jedes*jeder Schüler*in auf die Qualität ihrer Motivation untersucht hat. Der dritte Beitrag stellt die Ergebnisse einer Studie, die die Beziehungen zwischen der täglich von Schüler*innen wahrgenommenen Befriedigung und Frustration ihrer Bedürfnisse nach Autonomie, Eingebundenheit und Kompetenz (d.h. Qualität der Lehrkraft-Schüler*in-Beziehung aus der Sicht der Selbstbestimmungstheorie), gemessen während 15 aufeinanderfolgenden Schultagen, und dem Zuwachs in der Fähigkeit zur Selbstregulation über einen Zeitraum von fünf Monaten untersucht hat, vor. Im vierten Beitrag werden Ergebnisse aus drei Studien präsentiert, die die kreuzverzögerten Zusammenhänge zwischen dem fachlichen Interesse von Schüler*innen der Begeisterung der Lehrkräfte für den Unterricht untersucht haben. Insgesamt stellen die Beiträge dieses Symposiums eine Vielzahl innovativer und bedeutsamer Erkenntnisse vor, die die bisherige Forschung zu Lehrkraft -Schüler*in-Beziehungen sinnvoll ergänzen und erweitern.

 

Beiträge des Symposiums

 

Zusammenhänge zwischen Lehrkraftverhalten, Lehrkraftemotionen, wahrgenommener Beziehungsqualität zum Kind und den Kompetenzen des Kindes. Vorstellung eines neuen Befragungsinstrumente in dyadischen Lehrkraft-Kind-Beziehungen

Madeleine Kreutzmann, Madita Frühauf, Malte Roswag, Karoline Koeppen
Freie Universität Berlin

Das mehrdimensionale Konstrukt "Lehrkraft-Kind-Beziehung" umfasst neben dem Verhalten auch Emotionen und Wahrnehmungen der Beziehungsqualität (Pianta et al., 2003). In unserer Forschung fokussieren wir auf das Interaktionsverhalten der Lehrkraft, das auf das Lernen des Kindes bezogen ist.

Das interpersonale Verhalten einer Lehrkraft kann gemäß der interpersonellen Theorie (Horowitz & Strack, 2011; Leary, 1957) auf den Dimensionen Agency (Lenkung, Kompetenz) und Communion (Wärme) beschrieben werden. Da beide Dimensionen orthogonal zueinander stehen, bilden sie die Grundlage einer Kreisstruktur, dem sog. interpersonalen Zirkumplex. Bisherige Studien zur Bedeutsamkeit interpersonellen Lehrkraftverhaltens betrachten üblicherweise Lehrkraftverhalten gegenüber der Schulklasse (z.B. Wubbels, 2015). Dabei hat sich eine Kombination aus hoher Communion und moderater Agency als besonders günstig für die motivationale Entwicklung von Schüler:innen erwiesen (Aelterman, et al. 2018). Weitgehend unberücksichtigt blieb bisher, dass Lehrkräfte in pädagogischen Interaktionen gegenüber einzelnen Kindern durchaus unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen können, da sich Verhaltensweisen der Interaktionspartner:innen in einer Dyade wechselseitig bedingen. Genauer besagt das sog. Komplementaritätsprinzip, dass hoch kommunale Verhaltensweisen des einen Interaktionspartners hoch kommunale Verhaltensweisen des anderen begünstigen, während hoch agentisches Verhalten wenig agentisches Verhalten des anderen begünstigt – und umgekehrt (vgl. Sadler et al., 2011). Mit dem neu entwickelten „Fragebogen zum Lehrkraftverhalten in dyadischen Lehrkraft-Kind-Beziehungen“ wenden wir den interpersonalen Zirkumplex und das Komplementaritätsprinzip erstmals zur Beschreibung dyadischer Lehrkraft-Kind-Beziehungen an. In dem Fragebogen beschreibt die Lehrkraft, wie stark unterschiedliche –im Ausmaß von Agency und Communion variierenden– Verhaltensweisen ihr Verhalten gegenüber einem bestimmten Kind beschreiben. Als Beispiel für hohe Agency gelten Verhaltensweisen, mit denen dem Kind beim Lernen klare Strukturen und Anleitung vorgegeben werden. Hohe Communion wird durch Items erfasst, die Zuwendung und Wertschätzung gegenüber dem Kind ausdrücken.

Dieser Beitrag umfasst zwei Studien, in denen wir den neu entwickelten Fragebogen vorstellen, seine strukturelle Validität prüfen und für die Prüfung seiner Konstruktvalidität Zusammenhänge mit Wahrnehmungen zur Beziehungsqualität, Lehrkraftemotionen und den Kompetenzen des Kindes (Komplementaritätsprinzip) untersuchen.

In Studie 1 beantworteten 88 Grundschullehrkräfte den 20 Items umfassenden Fragebogen für jeweils fünf zufällig ausgewählte Kinder (N = 440) ihrer Klasse und machten Angaben zur Beziehungsqualität (Nähe, Konflikt, Abhängigkeit; vgl. Milatz et al., 2014), ihren Emotionen gegenüber dem Kind (Freude, Ärger, Angst; vgl. Frenzel et al., 2016) und dessen Noten in den Fächern Mathematik und Deutsch. Konfirmatorische Strukturanalysen (vgl. Grassi et al., 2010) zeigten eine gute Modellanpassung und bestätigten die (quasi )zirkuläre Struktur des finalen Messinstruments mit insgesamt acht Skalen (χ2 (17) = 141.44, RMSEA = 0.129, GFI = 0.934, AGFI = 0.868). Structural-Summary-Analysen (vgl. Gurtman, 1992) verwiesen auf systematische Korrelationen zwischen Lehrkraftverhalten und Einschätzungen zur Beziehungsqualität und Lehrkraftemotionen. Das Komplementaritätsprinzip bestätigte sich darin, dass sich die Lehrkraft umso agentischer verhielt, je weniger agentischer das Kind war, gemessen durch seine Noten. Zudem waren Verhaltensweisen mit hoher Communion bei gleichzeitig moderater bis niedriger Agency besonders ausgeprägt, wenn die Lehrkraft die Beziehungsqualität zu einem Kind als nah, wenig konflikthaft oder abhängig einschätzte, in der Interaktion mit dem Kind hohe Freude, wenig Ärger oder Angst erlebte.

In Studie 2 werden die Verhaltensbeschreibungen von acht Lehrkräften mit Schüler:innendaten (N = 149) zusammengeführt. Zusätzlich zu den Mathematik- und Deutschnoten wurde diesmal die Sprachkompetenz der Kinder mit einem standardisierten Leistungstest (C-Test; IQB, 2017) erfasst. In der Structural-Summary-Analyse bestätigte sich das Komplementaritätsprinzip durch eine statistisch bedeutsame Korrelation zwischen Agency der Lehrkraft und der Agency des Kindes, hier gemessen über seine Sprachkompetenz: Je höher die Sprachkompetenz des Kindes war, desto weniger agentisch verhielt sich die Lehrkraft.

Die Ergebnisse beider Studien sprechen für die Gültigkeit des Komplementaritätsprinzips in Lehrkraft-Kind-Dyaden und damit für die Konstruktvalidität unseres Instrumentes. Die Vorteile einer Erfassung von Lehrkraftverhaltensweisen auf Ebene von Dyaden werden vor dem Hintergrund diskutiert, dass eine hohe Komplementarität zwischen Lehrkraftverhalten und den Kompetenzen des einzelnen Kindes einer adaptiven Unterrichtspraxis entspricht.

 

Wie Agency und Communion im Lehrkraftverhalten die Motivation des Kindes vorhersagen. Analyse von Befragungsdaten in Lehrkraft-Kind-Dyaden an der Grundschule

Karoline Koeppen, Malte Roswag, Madita Frühauf, Madeleine Kreutzmann
Freie Universität Berlin

Lehrkraftverhalten gegenüber Schüler:innen lässt sich entsprechend der interpersonellen Theorie (Leary, 1957) als Zirkumplex auf zwei orthogonalen Dimensionen beschreiben: die Communion-Dimension bezieht sich dabei auf Qualitäten, die für den Aufbau und die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen erforderlich sind (z. B. Wärme, Herzlichkeit) und die Agency-Dimension auf Qualitäten, die für das Erreichen von Zielen erforderlich sind (z. B. Führung, Anleitung, Kompetenz). Dabei bedingen die Verhaltensweisen von Lehrkraft und Kind einander wechselseitig: stark kommunales Lehrkraftverhalten macht kommunales Verhalten des Kindes wahrscheinlicher, stark agentisches Lehrkraftverhalten macht hingegen schwach agentisches Verhalten des Kindes wahrscheinlicher (sog. Komplementaritätsprinzip, vgl. Sadler et al., 2011). Starke Communion im Lehrkraftverhalten geht mit stärker selbstbestimmten Formen der Motivation bei Schüler:innen einher (Metaanalyse: Roorda et al. 2017). Weniger eindeutig ist, ob ein bestimmtes Ausmaß an Agency besonders motivationsförderlich ist. Aus Sicht der Selbstbestimmungstheorie sollte geringe Agency besonders günstig sein (vgl. Aelterman & VansteenKiste, 2023)

Wir nehmen im Unterschied dazu an, dass die Qualität der Motivation des Kindes von der Adaptivität oder Passung der Lehrkraft-Agency zur individuellen Kompetenz des Kindes (Komplementarität) abhängt: ein Kind mit noch geringen Kompetenzen sollte von Struktur und Anleitung der Lehrkraft profitieren, ein Kind mit gut entwickelten Kompetenzen hingegen von mehr Freiräumen, d.h. von einem weniger agentischen Lehrkraftverhalten.

Um diese Annahme zu prüfen, untersuchten wir das Lehrkraftverhalten innerhalb von Lehrkraft-Kind-Dyaden. Wir befragten Lehrkräfte und ihre Klassen (Klassenstufe 3-6) an 16 Berliner Grundschulen an Tablets bzw. am PC. Die 74 Lehrkräfte beschrieben dabei ihr Verhalten gegenüber jedem Kind ihrer Klasse anhand von 20 Items, die verschiedene Kombinationen von Communion und Agency beinhalten. Die N = 1151 Kinder beschrieben die Qualität ihrer Motivation im Unterricht bei der jeweiligen Lehrkraft (intrinsische, extrinsische Motivation und Amotivation). Um die Adaptivität der Agency des Lehrkraftverhaltens in Abhängigkeit der individuellen Kompetenz des Kindes messen zu können, erfassten wir die Mathematikkompetenz des Kindes anhand eines standardisierten Leistungstest (BEFKI, Schroeders et al., 2020). Wir nutzten den von Madon et al. (1997) vorgeschlagenen Residualansatz, bei dem zunächst Lehrkraft-Agency durch die Mathematikleistungen der Kinder vorhergesagt wurde. Die aus dieser Regression resultierenden Residuen spiegelten die unerklärte Varianz wider und dienten als Maß für Komplementarität (s.a. Gentrup et al., 2020). Unter Berücksichtigung der hierarchischen Struktur der Daten fanden wir in Random Intercept-Modellen (Fixed Slopes) in Übereinstimmung mit den Befunden früherer Studien (Metaanalyse: Roorda et al., 2017), dass stärker kommunales Lehrkraftverhalten stärker ausgeprägte selbstbestimmte Formen der Motivation beim Kind vorhersagte. Gleichzeitig fanden wir weniger ausgeprägte selbstbestimmte Formen der Motivation in dem Maße, in dem die Agency im Lehrkraftverhalten nicht passend zur Kompetenz des Kindes war. Kinder, die im Verhältnis zum gemessenen Kompetenzniveau zu viel Agency durch die Lehrkraft erhielten, berichteten stärkere Amotivation. Die extrinsische Motivation war höher für Kinder, die wenig passende (zu viel oder zu wenig) Agency erhielten. Für die intrinsische Motivation zeigten sich wider Erwarten keine Effekte der Passung der Agency zur Kompetenz.

Unsere Ergebnisse stehen im Einklang mit den Annahmen der Self-Determination-Theory (SDT; Deci & Ryan, 2000), insofern als starke Communion im Lehrkraftverhalten selbstbestimmte Motivationsformen voraussagte. Die Befunde gehen jedoch über die SDT hinaus, indem sie nahelegen, dass die Lehrkraft jedem Kind in Abhängigkeit seines Kompetenzstandes ein unterschiedliches Maß an Autonomie oder Struktur (mehr oder weniger Agency) bieten sollte. Wir diskutieren die Ergebnisse im Hinblick auf Implikationen für eine adaptive Unterrichtspraxis, in der jedem Kind ein Lehrkraftverhalten zuteil wird, das seine individuelle Lernentwicklung optimal fördert.

 

Unlocking potential!? The power of the quality of day-to-day teacher-child relationships in shaping the development of self-regulation

Friederike Blume1, Jantine Spilt2, Dieter Baeyens2
1DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Deutschland, 2KU Leuven

The quality of dyadic teacher-child relationships (TCRs; cf. Spilt et al., 2022) has long been considered key to student development (Bronfenbrenner & Morris, 2006; Thelen & Smith, 1994). Studies evidenced their quality to be linked to students’ academic outcomes, their social skills and learning behaviour, their emotion regulation skills, and their cognitive functioning (Birch & Ladd, 1997; Furrer & Skinner, 2003; Sankalaite et al., 2021). The particular relevance of high-quality TCRs for students at risk for negative developmental and academic outcomes has also been demonstrated (e.g., McGrath & Van Bergen, 2015).

Self-determination theory (SDT) provides one theoretical approach for addressing dyadic TCRs (Ryan & Deci, 2000; Spilt et al., 2022). Research has consistently demonstrated positive associations between the fulfilment of three fundamental psychological needs: autonomy, relatedness, and competence and students’ outcomes (e.g., Skinner & Belmont, 1993; Stroet et al., 2013). Previous research into TCRs has, nonetheless, overlooked the fact that these needs can also be thwarted (e.g., Vansteenkiste & Ryan, 2013). Furthermore, it has not adequately acknowledged that TCRs’ quality may vary from day to day, and longer-term daily evaluations could thus increase the precision of the information provided. Additionally, dyadic TCRs have been insufficiently examined from the students’ point of view (e.g., Spilt et al., 2022). Finally, the significance of TCRs for the development of students’ self-regulation (e.g., McClelland & Cameron, 2011) has yet to be addressed. The present investigation therefore aimed to examine associations between student-perceived need satisfaction and dissatisfaction, as reported by Flemish primary school students over 15 consecutive school days, and the development of students’ parent-reported self-regulation over five months.

Methods

Ninety-six parents (Mage = 9.36 years, SD = 0.83) completed a background questionnaire, providing demographic information and reporting on their child’s self-regulation (SWAN-NL; Greven et al., 2018). They also completed a post-test questionnaire on their child’s self-regulation five months later. Immediately following the background questionnaire, children reported on their daily perceived need satisfaction and dissatisfaction (i.e., the dyadic TCRs) over 15 consecutive school days using items adapted from the Balanced Measure of Psychological Needs Scale (Neubauer & Voss, 2016). To analyse the data, three multiple regression models were estimated. These included students’ age and mean satisfaction and dissatisfaction of a) autonomy, b) relatedness, and c) competence needs over the study period as predictors of change in students’ self-regulation (i.e., difference score post-pre). The predictors were z-standardised.

Results

The satisfactions of the needs for autonomy (β = .18, p > .05), relatedness (β = .14, p > .05), and competence (β = .09, p > .05) were not linked to the growth of students’ self-regulation. The dissatisfactions of the needs for autonomy (β = .27, p < .05), relatedness (β = .26, p < .05), and competence (β = .30, p < .05; curvilinear association) were positively associated with the growth of students’ self-regulation, as was students’ age (all βs > .23, p < .05).

Discussion

The findings were unexpected as they revealed no association between needs satisfaction and the change in students’ self-regulation over five months, but an association with the dissatisfaction of needs. The findings thus suggest that lower, but not higher quality TCRs are linked to more positive development. While this hypothesis is not strongly supported by existing research, the results may indicate that greater dissatisfaction of needs poses a significant challenge to students’ self-regulation, thereby providing a greater prospect for growth. In essence, when students effectively self-regulate despite challenging circumstances, their capacity for self-regulation is more effectively enhanced. Further research is required to investigate this matter, particularly investigations that involve daily associations at the individual level.

 

Wer inspiriert wen? Wechselseitige Beziehungen zwischen dem Enthusiasmus von Lehrpersonen und dem Interesse der Schüler:innen

Alexander Jung1, Tim Fütterer1, Anne Frenzel2, Benjamin Nagengast1, Kou Murayama1
1Universität Tübingen, 2Ludwig-Maximilians-Universität München

Theoretischer Hintergrund. Das fachliche Interesse von Schüler:innen ist eine zentrale Voraussetzung für erfolgreiches Lernen—insbesondere für tiefergehende Verarbeitung von Informationen (für einen Überblick siehe Wigfield & Cambria, 2010). Für die Stimulation des Schüler:innen-Interesses hat sich der Enthusiasmus von Lehrpersonen zu unterrichten als bedeutsame herausgestellt (z.B. Frenzel et al., 2009; Keller et al., 2014; Lazarides et al., 2019; Patrick et al., 2000; für einen Überblick siehe Keller et al., 2016). Allerdings wird der Enthusiasmus von Lehrpersonen bisher meist als zeitlich stabile Eigenschaft (trait) operationalisiert. Lehrpersonen-Enthusiasmus wird dementsprechend häufig nur zu einem Messzeitpunkt erhoben (z.B. Lazarides et al., 2021) und dann der Einfluss von Enthusiasmus auf bspw. das Schüler:innen-Interesse untersucht. Kaum untersucht ist Lehrpersonen-Enthusiasmus jedoch als potentiell variierende Variable (state), weshalb Wechselbeziehungen zwischen dem Lehrpersonen-Enthusiasmus und ihren Schüler:innen bisher nicht im Fokus standen. Seit einigen Jahren wird allerdings verstärkt gefordert, Wechselbeziehungen zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen in den Blick zu nehmen (Fauth et al., 2020; Keller et al., 2016; Nurmi & Kiuru, 2015). Es ist naheliegend, dass der Enthusiasmus zu unterrichten auch davon abhängt, wie interessiert die Schüler:innen am Fach sind und mit wie viel Freude sie am Unterricht teilnehmen.

Fragestellungen. In unserer Studie nehmen wir uns den Wechselbeziehungen zwischen dem beim Unterrichten empfundenen Lehrpersonen-Enthusiasmus und dem fachlichen Schüler:innen-Interesse mit zwei Forschungsfragen (FF) an:

(FF1) Beeinflusst der Lehrpersonen-Enthusiasmus zu unterrichten das fachliche Schüler:innen-Interesse?

(FF2) Beeinflusst das durchschnittliche fachliche Interesse einer Klasse den Lehrpersonen-Enthusiasmus zu unterrichten?

Methode. Um Einflüsse von Lehrpersonen auf Schüler:innen und Einflüsse von Schüler:innen auf Lehrpersonen zu entflechten, ist es notwendig, längsschnittliche Daten zu analysieren. Wir nutzen daher cross-lagged panel-Modelle (CLPMs; siehe Usami et al. 2019) um Beziehungen zwischen dem empfundenen (in Abgrenzung zu dargestelltem; Keller, 2016) Enthusiasmus zu unterrichten und dem über Klassen gemittelten Fachinteresse von Schüler:innen in zwei Datensätzen zu untersuchen (1. Datensatz: NLehrpersonen = 164, NSchüler:innen = 3.924, drei Messungen in Klasse 5, Mathematik; 2. Datensatz: NLehrpersonen = 112, NSchüler:innen = 1.578, zwei Messzeitpunkte in aufeinanderfolgenden Schuljahren in Klassen 5 bis 10, Mathematik und Deutsch). Um Scheinzusammenhänge, die durch Methodeneffekte entstehen könnten, auszuschließen, untersuchen wir Zusammenhänge zwischen von Lehrpersonen geratetem Enthusiasmus zu unterrichten und von Schüler:innen geratetem fachlichem Interesse. Das bedeutet, Prädiktoren und Kriterien wurden jeweils von verschiedenen Personen geratet. Wir modellieren die beschriebenen CLPMs als single-level Strukturgleichungsmodelle unter Verwendung manifester Klassenmittelwerte der Schüler:innen-Ratings und nicht als multi-level Modelle, da zweiteres zu unterschätzen Standardfehlern führen würde (Lüdtke et al., 2008).

Ergebnisse. In Datensatz 1 wird sowohl von Lehrpersonen-Enthusiasmus auf das mittlere Schüler:innen-Interesse einer Klasse als auch in umgekehrter Richtung jeweils einer von zwei getesteten Effekten statistisch signifikant: Zwischen Messzeitpunkt 1 und 2 der Effekt von Lehrpersonen auf Schüler:innen (β = ,22, SE = ,06, p < ,001), zwischen Messzeitpunkt 2 und 3 der Effekt in umgekehrter Richtung (β = ,13, SE = ,06, p = ,035). In Datensatz 2 wird lediglich der Effekt von mittlerem Schüler:innen-Interesse auf den Lehrpersonen-Enthusiasmus statistisch signifikant (β = ,13, SE = ,06, p = ,035).

Diskussion. Die gefundenen Effekte sind als groß einzuordnen (Orth et al., 2012). Während ein kausaler Einfluss von Lehrpersonen-Enthusiasmus auf Schüler:innen-Interesse häufig angenommen wird (z.B. Keller et al., 2014), postulieren wir keine kausalen Einflüsse. Denn es wäre denkbar, dass nicht Schüler:innen-Interesse, sondern ein eng mit Schüler:innen-Interesse korreliertes Konstrukt zu der beobachteten Veränderung im Lehrpersonen-Enthusiasmus führt. Allerdings kontrollieren wir implizit für potenzielle, zeitstabile Störfaktoren (Murayama & Gfrörer, 2022), weil die CLPMs Veränderungen vorhersagen. Gegenseitige Beeinflussungen von Schüler:innen und Lehrpersonen wären damit tatsächlich die plausibelste Erklärung. Die Ergebnisse der Analysen eines dritten Datensatzes werden auf der Konferenz präsentiert und Implikationen (z.B. für Lehrpersonenausbildung) sowie Limitationen werden, unter anderem vor dem Hintergrund der Selbstbestimmungstheorie (Ryan & Deci, 2000), diskutiert.

 
11:10 - 12:508-04: Lehren und Lernen in heterogenen Schulklassen
Ort: H02
 
Symposium

Lehren und Lernen in heterogenen Schulklassen

Chair(s): Camilla Rjosk (Universität Potsdam), Georg Lorenz (Universität Potsdam, Universität Leipzig)

Diskutant*in(nen): Axinja Hachfeld (Universität Konstanz)

Theoretischer Hintergrund

Wie mit wachsender Heterogenität der Schüler:innen in Bildungseinrichtungen umzugehen ist, um individuelle Entwicklung und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, ist eine der zentralen Fragen unserer Zeit. Entwicklungen wie der gestiegene Anteil von Schüler:innen mit Zuwanderungshintergrund und die inklusive Beschulung von Heranwachsenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) haben die Relevanz des Themas in der Bildungspraxis erhöht (Gräsel, Decristan & König, 2017).

Heterogenität beschreibt die Unterschiedlichkeit der Schüler:innen hinsichtlich verschiedener lernrelevanter Merkmale. Zentrale Heterogenitätsdimensionen sind u.a. Leistungsniveau, sozioökonomischer Status, Zuwanderungshintergrund, Mehrsprachigkeit, SPF und Geschlecht (Vock & Gronostaj, 2017).

In der Bildungsforschung existiert eine Reihe von Annahmen dazu, wie sich die Heterogenität im Klassenzimmer auf das Lernen, d.h. Schüler:innenleistung sowie motivationale und psychosoziale Merkmale, auswirken könnte. Diese verweisen teils auf gegensätzliche Effekte und beziehen sich vor allem a) auf Peerprozesse und b) Merkmale und Verhaltensweisen der Lehrpersonen sowie Unterrichtsmerkmale.

Bezüglich der Peerprozesse werden u.a. Vorteile des Lernens in heterogenen Gruppen angenommen, dadurch dass Schüler:innen von Rollenmodelle lernen können (vgl. Bandura, 1971), sich gegenseitig beim Lernen Hilfestellungen geben können (vgl. Kuzmina & Ivanova, 2018) und Schüler:innen mehr Offenheit für den Kontakt mit Personen unterschiedlicher Hintergründe entwickeln (vgl. Allport, 1954). Diesen positiven Effekten könnte jedoch eine Separierung aufgrund von Homophilietendenzen entgegenwirken: Da Personen dazu neigen, Verbindungen mit ihnen ähnlichen Menschen einzugehen (McPherson et al., 2001), könnte Heterogenität in Schulklassen mit geringerem Klassenzusammenhalt, weniger Interaktionen und vermehrten Konflikten einhergehen (Blalock, 1967; Putnam, 2007).

Bezüglich der Merkmale von Lehrkräften und Unterricht wird angenommen, dass Lehrkräfte das Unterrichten als belastend wahrnehmen (z.B. Glock et al., 2019), was ihren Unterricht nachteilig beeinflussen könnte. Das Unterrichten in heterogenen Klassen sei zudem erschwert, da die Anpassung u.a. von Lehrmaterial und Unterrichtsgeschwindigkeit (z.B. Evertson et al., 1981) sowie die emotionale und lernbezogene Unterstützung aller Schüler:innen komplexer ist (Lavy et al., 2011). Gelänge es jedoch durch entsprechende Unterrichtsmethoden wie Differenzierung und Gruppenarbeiten (Lavrijsen et al., 2022; Werning & Avci-Werning, 2015) die angenommenen positiven Peerprozesse für das Lernen nutzbar zu machen, führt das zu Vorhersage positiver Lerneffekte.

Insgesamt ist die Befundlage zur Bedeutung von Heterogenität für das Lehren und Lernen uneinheitlich (vgl. z.B. Rjosk, 2022; Rucinski, 2022). Eine Ursache könnte das unvollständige Wissen über die zugrundliegenden, teilweise gegensätzlichen Prozesse, sein, die bislang nur vereinzelt untersucht wurden (z. B. Unterrichtsgestaltung, siehe Decristan et al., 2017; Lavrijsen et al., 2022).

Ziel des Symposiums

Das vorgeschlagene Symposium trägt aktuelle Erkenntnisse zu den Prozessen von Heterogenitätseffekten auf das Lernen und Lehren in Schulklassen zusammen und berücksichtigt explizit verschiedene Heterogenitätsdimensionen, um den Forschungsstand zu diesem Thema zu erweitern. Die Beiträge fokussieren dabei Peer-Interaktionen, Lehrkraft-Schüler:in-Interaktionen und Unterrichtsmerkmale in unterschiedlich heterogen zusammengesetzten Schulklassen.

Beiträge

Das Symposium besteht aus vier Beiträgen, von denen die ersten beiden stärker Peerprozesse und die letzten beiden stärker die Lehrperson und Unterrichtsmerkmale fokussieren. Der erste Beitrag nimmt durch Inklusion erzeugte Heterogenität in den Blick und untersucht Peer-Interaktionen von Heranwachsenden in inklusiven Klassen. Der zweite Beitrag bezieht sich auf Mehrsprachigkeit als Heterogenitätsdimension und untersucht, inwiefern sich durch Kleingruppenarbeit die Nutzung von unterschiedlichen Familiensprachen als Ressource im Unterricht erhöht. Der dritte Beitrag nimmt multikulturelle Klassenzimmer in den Blick und fokussiert die Beziehungsqualität zwischen Schüler:innen und Lehrkräften in Abhängigkeit des Migrationshintergrunds der Schüler:innen. Der vierte Beitrag berücksichtigt Heterogenität im Klassenzimmer in einem multidimensionalen Ansatz, der Leistung, sozioökonomischen sowie ethnischen Hintergrund umfasst und untersucht, wie diese Heterogenität mit der Belastung von Lehrkräften sowie mit Unterrichtsmerkmalen zusammenhängt.

Die Beiträge nehmen insgesamt somit verschiedene in der Literatur zentral diskutierte Prozesse in heterogenen Klassenzimmern in den Blick. In der abschließenden Gesamtdiskussion werden Bedingungen und Ansätze zur positiven Gestaltung des Lehrens und Lernens in heterogenen Klassen zusammenfassend diskutiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

Inklusion auf dem Pausenhof: Eine empirische Untersuchung von Profilen der Peer-Interaktion und ihren Korrelaten

Hannah Decker1, Katja Scharenberg2, Sebastian Röhl3
1Pädagogische Hochschule Freiburg, 2LMU München, 3Eberhard Karls Universität Tübingen

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung

In inklusiven Schulklassen begegnen sich Schüler:innen mit unterschiedlichen soziokulturellen und leistungsbezogenen Ausgangsbedingungen sowie Schüler:innen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF). Schulische Inklusion impliziert neben Zugang zu gleichen Bildungseinrichtungen auch die gleichberechtigte soziale Partizipation im Sinne der Wahrnehmung, Akzeptanz und Eingebundenheit aller Schüler:innen (Booth & Ainscow, 2003; Werning, 2014). Damit ist auch die Teilhabe an sozialen Interaktionen mit der Schulklasse bedeutsam für eine gelingende Inklusion (KMK, 2011). Verschiedene Studien wiesen jedoch wiederholt auf soziale Ausgrenzungen von Schüler:innen mit SPF in inklusiven Schulklassen hin (z.B. Frostad & Pijl, 2007; Koster et al., 2010). Entsprechende Forschungsarbeiten fokussierten dabei mehrheitlich Schulklassen als soziale Interaktionskontexte, die die sozialen Interaktionen zwischen Schüler:innen rahmen und aufgrund ihrer hohen Dauerhaftigkeit und gegenseitigen Abhängigkeit beeinflussen (Breidenstein, 2008; Herzog, 2011). Während unterrichtliche Interaktionen zwischen Schüler:innen vielfach durch Lehrkräfte vorstrukturiert sind, bestehen auf dem Pausenhof autonomere Interaktionsmuster und -dynamiken: Im Umgang mit Peers können sich durch eigenverantwortete Normen, Hierarchien und Verhaltensmuster Substrukturen herausbilden oder hierarchische soziale Positionen verfestigen (Bennewitz et al., 2016; Oswald & Krappmann, 2004). Hier setzt unser Beitrag an, indem anhand eines explorativen Verfahrens Profile der außerunterrichtlichen Peerinteraktion identifiziert, charakterisiert und schließlich hinsichtlich verschiedener Korrelate des schulischen Lern- und Entwicklungskontextes untersucht werden.

Unser Beitrag verfolgt folgende Fragestellungen:

1. Welche Profile der Peer-Interaktion lassen sich in inklusiven Schulklassen identifizieren und charakterisieren?

2. Inwiefern unterscheiden sich die Profile hinsichtlich ihrer soziodemografischen Zusammensetzung?

3. Inwiefern unterscheiden sich die Profile hinsichtlich der kognitiven Fähigkeiten, Schulzufriedenheit und des akademischen Selbstkonzepts der Schüler:innen?

4. Inwiefern unterscheiden sich die Profile hinsichtlich der selbstwahrgenommenen sozialen Partizipation der Schüler:innen?

Methode

Datengrundlage ist eine repräsentative Stichprobe mit n=821 Schüler:innen (davon n=111 mit SPF) aus 52 inklusiven Schulklassen (Jahrgangsstufen 5–7) an 22 Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg.

Die Pausenhofinteraktion wurde über ein Ratingverfahren zur Interaktionshäufigkeit mit den Mitschüler:innen (Frostad & Pijl, 2007) erfasst. Mittels latenter Profilanalysen (R-Paket tidyLPA; Rosenberg et al., 2018) wurden verschiedene Profile der Peer-Interaktion identifiziert. Zu deren Charakterisierung mittels univariater Varianzanalysen wurden die soziale Herkunft (HISEI; Ganzeboom & Treiman, 2003), kognitive Fähigkeit (KFT 4-12+R; Heller & Perleth, 2000), das Geschlecht und der Migrationsstatus (häuslicher Sprachgebrauch) herangezogen. Als weitere Korrelate der Peer-Interaktionen wurden die Schulzufriedenheit (Kelly, 2003), das akademische Selbstkonzept (Marsh, 1990) sowie die selbstwahrgenommene soziale Partizipation (Koster et al., 2009) erfasst. Fehlende Werte wurden unter Berücksichtigung der genesteten Datenstruktur (Grund et al., 2019; van Buuren et al., 2006) imputiert (R-Package mice; van Buuren et al., 2011).

Ergebnisse

Die latenten Profilanalysen ergaben fünf distinkte Interaktionsprofile, die sich hinsichtlich der Bewertungsmuster (positiv, neutral, negativ) der Peer-Interaktionen unterschieden. Die Varianzanalyse belegte für den SPF einen signifikanten Haupteffekt (F(1)=11.35; p=0.001). Der Anteil der Schüler:innen mit SPF im ersten Interaktionsprofil (ungünstigstes Bewertungsmuster) war dabei mit 37 % besonders hoch.

Es bestanden keine signifikanten Unterschiede zwischen den Interaktionsprofilen hinsichtlich des Geschlechts, Migrationshintergrunds und der sozialen Herkunft (jeweils p>.05).

Die Varianzanalyse zeigte jedoch signifikante Haupteffekte für die kognitiven Fähigkeiten (F(1,628379)=5.62, p=0.018) v.a. zuungunsten der Schüler:innen im ungünstigsten Interaktionsprofil (p<.05).

Schüler:innen mit höherer sozialer Präferenz im Klassenverband wiesen zudem eine höhere Schulzufriedenheit auf (F(1,547798)=9.00, p=0.003). Beim akademischen Selbstkonzept zeichneten sich nur tendenzielle Unterschiede ab (F(1,359850)=3.63, p=0.057).

Die Profilcharakterisierung ergab schließlich eine signifikant höhere selbstwahrgenommene Eingebundenheit in die Pausenhofinteraktionen bei einem günstigeren Peer-Interaktionsrating (F(1, 1.104518E+29)=87.59, p<0.001).

Diskussion

Die Befunde reihen sich einerseits in die empirische Befundlage ein, wonach Schüler:innen mit SPF verglichen mit jenen ohne SPF weniger beliebt, im Klassenverband weniger akzeptiert sind und auch in Peer-Ratingverfahren niedrigere Bewertungen erhalten (z.B. Frostad & Pijl, 2007; Schwab, 2016). Zudem bestand eine weitgehende Übereinstimmung der Selbst- und Fremdwahrnehmung der sozialen Partizipation. Andererseits zeigten sich auch schulart- und altersspezifische Besonderheiten, die auf ein Potenzial von Gemeinschaftsschulen hindeuten und die bisherige Forschungslage um schulpraktisch relevante Erkenntnisse erweitern.

 

Worauf kommt es beim Angebot zur Nutzung von Familiensprachen an?

Valentina Reitenbach1, Jasmin Decristan1, Dominique Rauch2, Katharina Maria Schneider3, Victoria Bertram4
1Bergische Universität Wuppertal, 2Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, DIPF I Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, 3Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, 4DIPF I Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Goethe-Universität Frankfurt

Aus einer kognitiv- bzw. kommunikationsorientierten Perspektive, im Sinne einer Nutzung des gesamtsprachlichen Potenzials für schulisches Lernen (García 2009), ist der Einbezug der Familiensprachen mehrsprachiger Schüler:innen im Unterricht grundlegend. Es nutzen allerdings bei Weitem nicht alle Schüler:innen ihre Familiensprachen als kommunikative Ressource, auch wenn sie ein explizites Angebot dazu erhalten (Meyer & Prediger, 2011). Aus Grosjeans (2020) Theorie zu den Sprachmodi bilingualer Sprecher:innen lassen sich für die (Nicht-)Nutzung des Sprachrepertoires drei übergeordnete Faktoren ableiten: das Individuum selbst (Kompetenzen, Nutzen, Affinität), die Sprachpartner:innen (Kompetenzen, Nutzen, Affinität) und der Unterrichtskontext (z.B. Klassengespräch vs. Kleingruppenarbeit; Deutschunterricht vs. Fremdsprachenunterricht). Diese drei Faktoren zeigen sich empirisch in Selbstberichten von Lernenden (z.B. Binanzer & Jessen, 2020; Reitenbach et al., 2023; Schastak et al., 2017). Insgesamt findet sich hierzu jedoch wenig Evidenz für den Unterrichtskontext. Vor allem die relative Bedeutung der Gründe für die Nutzung von Familiensprachen ist nicht hinreichend empirisch untersucht. Daher wird in diesem Beitrag anhand von Daten aus einer Interventionsstudie untersucht,

(1) welche Gründe die Wahrscheinlichkeit für eine Nutzung von Familiensprachen erhöhen und

(2) inwiefern sich diese in ihrer Vorhersagekraft unterscheiden.

Die Daten stammen aus einer Interventionsstudie zur Leseförderung im Deutschunterricht an Grundschulen. Vor der Intervention besuchten die Lehrkräfte an drei Nachmittagen eine Fortbildung zu den Themen Reziprokes Lehren (Rosenshine & Meister, 1994) in Kleingruppen und Mehrsprachigkeit im Unterricht. Anschließend setzten die Lehrkräfte die Inhalte in ihrem Unterricht um. Mehrsprachige Interaktion wurde mit drei Impulsen stimuliert: 1. Schaffung eines mehrsprachenfreundlichen Klassenklimas (Sprachenporträts; Gogolin & Neumann, 1991); 2. mehrsprachiges Unterrichtsmaterial; 3. Kleingruppenbildung auf Grundlage gemeinsamer Familiensprachen. In den 44 teilnehmenden Grundschulklassen waren 69% der Viertklässler:innen mehrsprachig. In die Analysen gingen 499 Schüler:innen ein. Davon gaben 62% in einer Befragung nach der Intervention an, während der Intervention eine andere Sprache als Deutsch gesprochen zu haben. Es liegen weiterhin Daten zur Sprachkompetenz in der Familiensprache operationalisiert als Wortschatz (BVAT; adaptiert von Muñoz-Sandoval et al., 1998), zum schulischen Nutzen von Mehrsprachigkeit (4-Item-Skala, „Es hilft mir beim Bearbeiten von Aufgaben“, Cronbachs α = .872) zur Einstellung gegenüber Mehrsprachigkeit (4-Item-Skala, „Ich finde es cool, wenn jemand mehr als eine andere Sprache sprechen kann“, Cronbachs α = .694) sowie Angaben zum Kontext: Vorhandensein von mehrsprachigem Material (für 96% der Schüler:innen) und Sprachpartner:innen (für 64% der Schüler:innen) sowie zur Kommunikation in den Familiensprachen in der Klasse vor der Intervention („ja, sehr oft“ = 23.0%, „ja, aber nur manchmal = 56.2%; 3 = „nein, nie“ = 14.2%) vor. Die Analysen erfolgten mittels einer multilevel binär logistischen Regression mit SPSS 28 (Cluster = Kleingruppen), wobei zunächst bivariate Modelle berechnet wurden und in einem zweiten Schritt die signifikanten unabhängigen Variablen in einem gemeinsamen Modell getestet wurden.

Aus den bivariaten Analysen ging hervor, dass Wortschatz und wahrgenommener Nutzen (auf Individual- und Gruppenebene) sowie Material und Sprachpartnerschaften signifikant mit der Nutzung von Familiensprachen zusammenhingen. Die größte Vorhersagekraft hatte das Vorhandensein von Sprachpartner:innen, gefolgt von Nutzen (Individualebene) und Wortschatz (Individualebene). Im gemeinsamen Prädiktionsmodell leisteten Sprachpartner:innen (Koeffizient = .429; p < .001; odd’s ratio = 1.536) und Nutzen auf Individualebene (Koeffizient = .505; p = .005; odd’s ratio = 1.657) weiterhin signifikante Erklärungsbeiträge. Das Modell sagte in 79.1% der Fälle richtig voraus, ob die Familiensprache genutzt wurde oder nicht.

Die Analysen zeigen auf, wo Lehrkräfte niedrigschwellig ansetzen können, um die Nutzung von Familiensprachen in ihren Klassen zu stimulieren. Hierfür ist die Etablierung von Kleingruppenarbeit mit gleichsprachigen Sprachpartner:innen ein wichtiger Schritt. Ebenso bedeutend ist es, dass die Schüler:innen ihre Familiensprachen als nützlich für einen weitestgehend monolingual ausgerichteten schulischen Kontext erleben. Dies können Lehrkräfte im Unterricht aufzeigen, ermöglichen und motivieren, wofür neben Kleingruppenarbeit bereits Ansätze vorliegen (z.B. Oomen-Welke, 2020).

 

Relationship Quality in Student-Teacher-Dyads: Comparing Student and Teacher Determinants in Multicultural Classrooms

Mădălina A. Paizan1, Alison E. F. Benbow2, Peter F. Titzmann2
1Universität Mannheim, 2Leibniz Universität Hannover

Teacher-student-relationship quality is associated with academic success (Roorda et al., 2017), and among minority students, it can protect against discrimination effects (Civitillo et al., 2021). However, most research on teacher-student relationship quality has studied student or teacher reports only and rarely compared minority and majority student-teacher-dyads. For instance, students in 17 schools in Berlin reported 105 countries of origin, which represented 52% of the total student body (Schachner et al., 2021). This educational setting calls for a better understanding of the interactions between teachers and students and a readjustment of teachers’ professional competence in superdiverse schools. This study investigated teacher-student-agreement on relationship quality in minority and majority student-teacher-dyads (i.e., ethnic groups were built based on parents’ country of origin) and tested predictors of relationship quality according to the multicultural education theory (Banks, 2009). Relationship quality was operationalized as higher levels of instrumental help and lower levels of conflict and was measured on a 7-point Likert scale, where a higher score indicates higher levels of relationship quality. The sample comprised 309 minority (Mage = 12.99) and 200 majority students (Mage = 13.50) and their 28 majority teachers (Mage = 45.82). We first established scalar measurement invariance for minority and majority dyads on instrumental help and conflict and tested for group mean differences. The level of agreement between teacher and student reports was tested by strength of the bivariate Pearson correlational associations. Predictors of teacher-student-relationship quality were tested using two-level regression analyses to account for the nested data (Level 1 = students nested in Level 2 = classrooms). To maintain greatest possible parsimony, four individual regressions were conducted for instrumental help as outcome (two per informant per group: minority and majority student-teacher-dyads) and same four regressions for conflict as outcome. All analyses were conducted in Mplus 8 (Muthén & Muthén, 2017). Teachers reported higher levels of instrumental help (Mteachers-majority group = 3.42, SD = 0.36; Mteachers-minority group = 3.14, SD = 0.34) and lower levels of conflict (Mteachers-majority group = 1.81, SD = 0.21; Mteachers-minority group = 2.10, SD = 0.16) than students. Minority students were more likely to ask teachers for help (Mstudents = 2.02, SD = 0.15) and to experience more conflict (Mstudents = 3.22, SD = 0.41) than majority students (Mstudents = 1.94, SD = 0.12 for instrumental help; Mstudents = 2.91, SD = 0.47 for conflict). Correlations between teachers’ and students’ perspectives on relationship quality were similar for both ethnic groups: we found a small agreement in instrumental help and a medium agreement in conflict. Fischer’s Z-tests revealed no significant differences in the strength of associations between minority and majority student-teacher-dyads, Zs ≤ .35, ps ≥ .63. A better school climate, teachers’ awareness of social heterogeneity and culturally responsive teaching predicted relationship quality in student reports, whereas teaching enjoyment predicted relationship quality in teacher reports. In minority dyads, higher student SES and lower levels of discrimination were additional predictors. These findings suggest similarities and differences between teachers and students in how they perceive their relationship quality with each-other. Furthermore, there are additional processes that explain why minority and majority student-teacher-dyads evaluate relationship quality differently. In conclusion, future studies should obtain additional information on the dyadic processes regarding relationship quality not only between teachers and students in general, but also between different student groups. Furthermore, teachers should receive multicultural education training in order to raise awareness about the effects of expectancy stereotypes (e.g., SES) and perceived discrimination on students’ psychosocial outcomes.

 

Lernbedingungen unter der Lupe: Chancen und Herausforderungen beim Unterrichten heterogener Klassen

Svenja Hascher, Camilla Rjosk
Universität Potsdam

Theoretischer Hintergrund

Die Heterogenität der Schülerschaft und ihre Auswirkungen auf das Lernen sind in den Erziehungswissenschaften ein viel diskutiertes Thema. So bestehen beispielsweise zur Frage, wie Heterogenität die unterrichtlichen Lernbedingungen in Schulklassen beeinflusst, unterschiedliche Annahmen. Zum einen werden Herausforderungen für Lehrkräfte und Unterricht diskutiert (z. B. Maestri, 2017). Auf frühere Forschungsergebnisse zum Unterrichten in heterogenen Klassen (Keller-Schneider et al., 2020) und zur Belastung von Lehrkräften (z.B. Glock et al., 2019) aufbauend besteht die Annahme, dass das Unterrichten heterogener Klassen von Lehrkräften als belastend wahrgenommen wird. Da Lehrkräften möglicherweise die erforderlichen Strategien zum Umgang mit heterogenen Klassen fehlen (Martins & Gaitas, 2017, Saloviita, 2018), wird weiterhin angenommen, dass Klassenheterogenität die Unterrichtsqualität beeinflusst. Als wichtige Komponenten der Unterrichtsqualität gelten die kognitive Aktivierung (z.B. Praetorius et al. 2018) und die Klassenführung (Evertson et al., 1981). Forschungsergebnisse verweisen bislang auf negative Auswirkungen von Leistungsheterogenität auf die kognitive Aktivierung (Decristan et al., 2017). Zum anderen wird Heterogenität auch als Chance gesehen, etwa wenn Lehrkräfte in heterogenen Klassen mehr lernförderliche Unterrichtsstrategien wie Differenzierung und abwechslungsreiche Methoden einsetzen (Lavrijsen, 2022).

In bisheriger Forschung zu unterrichtlichen Lernbedingungen wurden ausschließlich durchschnittliche Heterogenitätseffekte, z.B. auf unterschiedliche Unterrichtsmerkmale, untersucht. Informationen darüber, wie unterschiedlich die Lernbedingungen in heterogenen Klassen in der Praxis sind, fehlen.

Fragestellungen

Die vorliegende Studie untersucht, (1) welcher Zusammenhang zwischen Heterogenität im Klassenzimmer und verschiedenen Lernbedingungen (Belastung, Kognitive Aktivierung, Klassenführung, Anzahl und Variabilität von Methoden, Differenzierung) besteht.

Außerdem nimmt die Studie die Vielfalt und das Zusammenspiel verschiedener Lernbedingungen in heterogenen Klassen in den Blick und fragt, (2) ob in besonders heterogenen Klassen bestimmte Muster von Lernbedingungen auftreten.

Dabei erweitern wir das vorherrschende Heterogenitätsverständnis durch die Konzeptionalisierung von Heterogenität als multidimensionales Konstrukt, wie es u.a. in aktuellen erziehungswissenschaftlichen Ansätzen gefordert wird (Tsetsura, 2011, Aguiar & Aguiar 2022).

Methode

Die vorläufigen Analysen vor Datenimputation basieren auf 528 Grundschulklassen und Deutschlehrkräften der 4. Jahrgangsstufe des IQB-Bildungstrend 2016 (Stanat et al., 2019; Schipolowski et al., 2019). Multidimensionale Heterogenität wird pro Schulklasse mit dem Extended Simpson’s Index (Lieberson, 1969) abgebildet. Er bezieht die Heterogenität bezüglich Leistungen, ethnischer sowie sozioökonomischer Hintergründe der Schüler:innen ein. Informationen zu Lernbedingungen stammen aus Lehrkräftefragebögen (Konstrukte: Anzahl angewandter Methoden (0-8), Summenscore zur Methodenvielfalt und Häufigkeit, Skala zur Differenzierung (Nitems=8, =0.69), 7 Einzelitems zur Belastung, Skala zur kognitiven Aktivierung (Nitems=6, = 0.70), Skala zur Klassenführung (Nitems=5, = 0.90)). Die Auswertung erfolgte anhand von Regressionsanalysen (Frage 1) sowie Clusteranalysen in den 50% heterogensten Klassen (Frage 2).

Ergebnisse

(1) In heterogeneren Klassenzimmern fanden sich eine geringfügig gesteigerte Belastung der Lehrkräfte sowie leicht verminderte kognitive Aktivierung und Klassenführung und eine signifikant höhere Vielfalt der angewandten Unterrichtsmethoden. (2) In den besonders heterogenen Klassen zeigten sich drei verschiedene Konstellationen von Lernbedingungen: Im größten Cluster (N= 102) empfanden die Lehrkräfte generell die größte Belastung, einhergehend mit einem niedrigen Wert der Klassenführung, einem durchschnittlichen Wert der kognitiven Aktivierung und überdurchschnittlichen Werten in Bezug auf die Vielfalt und Anzahl angewandter Methoden. Im nächstgrößeren Cluster (N=92) verspürten die Lehrkräfte die größte Belastung durch die Organisation von speziellen Unterrichtsformen, dies zeigte sich auch in der reduzierten Vielfalt und Anzahl angewandter Unterrichtsmethoden und geringer kognitiver Aktivierung. Die Lehrkräfte im dritten Cluster (N=77) fühlten sich am wenigsten belastet. Dies ging einher mit einem hohen Niveau kognitiver Aktivierung und einer hohen Vielfalt und Anzahl angewandter Methoden.

Unsere Studie gibt Hinweise darauf, dass eine erhöhte Belastung der Lehrkräfte in heterogenen Klassen häufig mit verringerter Unterrichtsqualität einhergeht. Hierbei gibt es verschiedene Typen von Belastungen in heterogenen Klassen, die unterschiedliche Auswirkungen auf den Unterricht haben und denen mit verschiedenen Maßnahmen begegnet werden sollte. In weitere Analysen werden wir Hintergrundmerkmale der Lehrkräfte einbeziehen, die möglicherweise das Zustandekommen der verschiedenen Konstellationen erklären könnten.

 
11:10 - 12:508-05: Unterricht auf Wiedergabe: Forschungs- und Nachnutzungspotenziale von Videodaten in der Unterrichtsforschung
Ort: H01
 
Symposium

Unterricht auf Wiedergabe: Forschungs- und Nachnutzungspotenziale von Videodaten in der Unterrichtsforschung

Chair(s): Patick Schreyer (Universiät Kassel), Sonja Bayer (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation)

Diskutant*in(nen): Miriam Hess (Otto-Friedrich-Universität Bamberg)

Videographien nehmen in der empirischen Unterrichtsforschung eine zentrale Rolle ein. Als etablierte Methode in der Forschungspraxis bieten sie tiefe Einblicke in Unterrichtsprozesse und -interaktionen. Ihnen wird ein besonderes Potenzial zugeschrieben, welches darin besteht, Theorien des Unterrichts zu entwickeln (Asbrand & Martens, 2018; Dinkelaker, 2020), sowie Modelle und Hypothesen zu prüfen (Grünkorn et al., 2020; Lotz, 2016).

Dies wird möglich, da Videoforschungsdaten einzigartige Einblicke in den Unterricht als komplexes Interaktionsgeschehen bieten (Herrle et al., 2016). Die besondere Fähigkeit von Videoaufzeichnungen, zeitliche Abfolgen, simultane Geschehnisse, Interaktionen sowie Mimik, Gestik und Körperhaltung der Beteiligten zu erfassen, stellt eine Besonderheit dar (Corsten et al., 2020; Herrle et al., 2016). Die Komplexität von Videos, kombiniert mit der Möglichkeit zur Wiederholung und Anpassung, erleichtert die Analyse des komplexen Unterrichtsgeschehens erheblich und bietet einen bedeutenden Mehrwert gegenüber anderen Datenquellen wie Leistungstests oder Befragungen.

Obwohl das Potenzial für den Erkenntnisgewinn durch die Analyse von Unterrichtsvideos immens zu sein scheint, stellt sich der Zugang zum Feld und die Erhebung dieser Videos als besonders herausfordernd dar. Demzufolge betonen verschiedene Forschungsgemeinschaften, dass ein zentraler Aspekt guter wissenschaftlicher Praxis in der Bereitstellung dieser wissenschaftlichen Daten für die spätere Nachnutzung liegt (DFG, 2019; DGfE et al., 2020). Die Bereitstellung von FAIRen Forschungsdaten gewährleistet nicht nur die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Studienergebnissen, sondern ermöglicht es auch, das volle Potenzial der aufwendig gesammelten Daten auszuschöpfen (Bainter & Curran, 2015; Raffaghelli & Manca, 2019; van der Zee & Reich, 2018).

Das Symposium thematisiert das hohe Nachnutzungspotential von Unterrichtsvideos, trotz bestehender Herausforderungen bei Sekundäranalysen und insbesondere in ihrer Bereitstellung. Es wird zudem auf die Schwierigkeiten und Limitationen eingegangen, die bei der Arbeit mit Videos entstehen können. In diesem Symposium werden Beiträge von Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen und mit unterschiedlichen Perspektiven vorgestellt. Diese Beiträge erstrecken sich über diverse Phasen des Forschungsprozesses – angefangen bei der Planung einer Videostudie bis hin zu den abschließenden Auswertungen und Ergebnissen der jeweiligen Projekte.

  • Im ersten Beitrag (Schreyer) steht die zunehmende Bedeutung von Unterrichtsvideos in der Forschung im Vordergrund, wobei sowohl die Chancen als auch die Grenzen dieser Methode sowie deren Möglichkeiten zur Nachnutzung beleuchtet werden. Es werden Empfehlungen und Überlegungen vorgestellt, um die Videoforschung und deren Weiterverwendung in der Unterrichtsforschung weiter zu verbessern.
  • Im zweiten Beitrag (Bayer et al.) wird ein Augenmerk auf die rechtlichen Aspekte gelegt, die die Erhebung, Weitergabe und Nachnutzung von Unterrichtsvideos betreffen. Dabei werden im Rahmen einer Fallstudie die rechtlichen Vorgaben, Richtlinien und Anforderungen von Unterrichtsvideos, die in Deutschland und Australien erhoben wurden, und die damit einhergehenden forschungspraktischen Implikationen untersucht.
  • Im dritten Beitrag (Schneider) wird die Wiederverwendung bereits vorhandener Unterrichtsvideos diskutiert. Hierbei wird besonders auf bestehende Infrastrukturen eingegangen, die eine effiziente Nutzung dieser Videodatenbestände ermöglichen, um dem Umstand entgegenzuwirken, dass solch wertvolle Daten in der aktuellen Forschungslandschaft bisher nur selten zur (Nach)Genutzt werden.
  • Im vierten Beitrag wird ein Beispiel einer sekundäranalytischen Auswertung von Videodaten aus der deutsch-schweizerischen Studie „Pythagoras - Unterrichtsqualität und mathematisches Verständnis in verschiedenen Unterrichtskulturen“ (Klieme et al., 2009) vorgestellt. Die Auswertung zeigt, wie sich eine Unterstützung metakognitiver Kompetenzen von Lernenden im Unterricht auf die Entwicklung der Mathematikleistung auswirkt. Der Beitrag diskutiert die Bedeutung der Ergebnisse für die Unterrichtspraxis und geht auf Vor- und Nachteile der Re-Analyse von Videodaten ein.
 

Beiträge des Symposiums

 

Der Blick hinter die Kulissen: Technologische und methodologische Herausforderungen von Unterrichtsvideos

Patrick Schreyer
Universität Kassel

In den vergangenen Jahren haben sich Unterrichtsvideos als bedeutsames Datenmaterial in der empirischen Unterrichtsforschung herausgestellt (Corsten et al., 2020; Häusler et al., 2022). Durch die videobasierten Beobachtungsdaten können Forschende tiefgreifende empirische Erkenntnisse über das komplexe Geschehen der Interaktion im Unterricht gewinnen (Herrle et al., 2016). Allerdings bringt die konkrete (Nach)Nutzung von aufgezeichnetem Unterrichtsmaterial in der empirischen Unterrichtsforschung gegenwärtig immer noch einige Herausforderungen mit sich. Im Vergleich zur langen Tradition von textbasierten Erhebungs- und Auswertungsmethoden, wird davon ausgegangen, dass der Diskurs um videogestützte Beobachtungen methodisch sowie methodologisch noch am Anfang steht (Baltruschat & Wagner-Willi, 2018).

Die verstärkte Anwendung von Unterrichtsaufzeichnung hat zudem die Perspektive auf Unterricht maßgeblich beeinflusst (Dinkelaker, 2020). Neben den zwei etablierten Strömungen der Unterrichtsforschung – der videogestützten Unterrichtsqualitätsforschung und der qualitativ-rekonstruktiven Unterrichtsforschung – gewinnt inzwischen auch eine fachdidaktisch orientierte Unterrichtsforschung zunehmend an Bedeutung (Dinkelaker & Herrle, 2009; Riegler & Wiprächtiger-Geppert, 2018). Dabei wurde dieser Wandel teilweise durch die bisherige Vernachlässigung fachlicher Inhalte in Videostudien begünstigt, (Praetorius & Gräsel, 2021). Jedoch findet die Anwendung spezifischer Methoden zur Analyse von Unterrichtsvideos innerhalb dieser einzelnen (Teil)Disziplinen und Strömungen oftmals isoliert und ohne Verbindung zu anderen Ansätzen statt (Gröschner, 2019). Eine integrierte Betrachtung, die die Beziehung zwischen verschiedenen Ansätzen in einem Forschungskontext beleuchtet, fehlt häufig (Syring et al., 2023). Gerade im Hinblick auf die Bereitstellung von Unterrichtsvideos für die Zwecke der wissenschaftlichen Nachnutzung ist es nicht unerheblich, wie die erhobenen Videomaterialien beschaffen sind und in welchem Kontext diese zum Einsatz kommen.

Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag ein detaillierter Blick auf die facettenreichen Anwendungsgebiete von Unterrichtsvideos innerhalb der empirischen Unterrichtsforschung geworfen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie man die verschiedenen Forschungsansätze im Zusammenhang mit Unterrichtsvideos integriert und bewertet. Daher sollen in diesem Beitrag folgende Kernfragen behandelt werden: Wie kann eine integrierte Sichtweise aussehen, die die Beziehung zwischen verschiedenen Forschungsansätzen in der Unterrichtsforschung beleuchtet? Welche Kriterien sind entscheidend für die Qualität und (Nach)Nutzbarkeit des gesammelten Videomaterials?

Ausgehend von zwei großangelegten Videostudien, soll gezeigt werden, wie die Art und Weise der Videoerhebungen die Möglichkeiten der Analyse, bspw. im Hinblick auf die Selektivität, den Blick auf den Unterricht und dadurch auch den Erkenntnisgewinn beeinflussen kann. Aus einer methodischen Perspektive zeigen (Re)Analysen der TALIS-Videostudie und erste methodische Triangulationen auf Basis der Unterrichtsvideos die Potenziale und Begrenzungen einer standardisierten Videoerfassung (Grünkorn et al., 2020; Schreyer, in Vorb.). Im Gegensatz dazu verdeutlichen Analysen der INTERFACH-Videostudie, bei der bis zu 15 Kameras im Klassenraum eingesetzt wurden, dass die Wahl der Kameraperspektive entscheidend für die Einschätzung der Interaktions- und Unterrichtsqualität sein kann (Schreyer, in Druck). Im Weiteren veranschaulicht diese Studie auch einige Grenzen in der praktischen Umsetzung zur Bereitstellung von Unterrichtsvideos.

Abschließend wird diskutiert, wie diese Ansätze die Unterrichtsforschung bereichern können und welche methodologischen Überlegungen und technischen Lösungen notwendig sind, um das volle Potenzial von Unterrichtsvideos auszuschöpfen. Die vorgestellten Ansätze und Erkenntnisse sollen dazu anregen, die Möglichkeiten von Unterrichtsvideos in der Unterrichtsforschung weiter auszuloten und innovative Analysemethoden zu entwickeln, die den vielschichtigen und dynamischen Charakter des Unterrichts adäquat abbilden können.

 

Rechtliche Rahmenbedingungen für das Teilen und Nachnutzen von Unterrichtsvideos. Eine Fallstudie in Australien und Deutschland

Sonja Bayer1, Lisa Gromala2, Maike Porzelt1
1DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, 2Justus-Liebig-Universität Gießen

Videos erfassen neben den interessierenden Unterrichtsprozessen auch Gesichter, Stimmen, persönliche Gespräche und potenziell sensible Informationen wie Migrationshintergründe oder Gesundheitsdaten. Zudem können urheberrechtlich geschützte Elemente in Unterrichtsvideos auftreten, etwa bei der Aufnahme von Lehrmaterialien oder den Produkten der Lernenden. Die Verarbeitung von Unterrichtsvideos ist daher mit rechtlichen Anforderungen verbunden, welche bei der Forschung und dem Teilen der Daten berücksichtigt werden müssen (Scheller, 2017).

In diesem Beitrag werden die rechtlichen Rahmenbedingungen und ihre praktischen Auswirkungen auf die Erhebung, den Austausch und die Wiederverwendung von Unterrichtsvideos anhand einer Fallstudie beleuchtet (Yin, 2018). Die Fallstudie begleitet ein Forschungsprojekt, das Unterrichtsvideos an einer deutschen und einer australischen Schule erhebt, beginnend mit der Planung der Datenerhebung bis hin zur Archivierung der Daten in einem Forschungsdatenzentrum. Dabei werden die rechtlichen Vorgaben, Richtlinien und Anforderungen, die sich direkt auf den Umgang mit den Unterrichtsvideos beziehen, einbezogen.

Die Datenanalyse erfolgt mithilfe der Software MAXQDA und basiert auf der Auswertung von mehr als 200 E-Mail-Korrespondenzen zwischen dem Forschungsprojekt und verschiedenen Akteuren, in denen der Umgang mit den Forschungsdaten ausgehandelt wird. Darüber hinaus gewährt ein Experteninterview mit einer Projektbeteiligten vertiefte Einblicke in die Aushandlungsprozesse. Mit der Methode des thematischen Kodierens (Flick 2014) wurden verschiedene Konfliktarten und Lösungen herausgearbeitet.

Die Analyse zeigt, dass die rechtlichen Bestimmungen in Bezug auf Datenschutz und Urheberrecht in beiden Ländern sehr ähnlich sind. Dennoch variieren die Anforderungen an den Umgang mit den Forschungsdaten erheblich, je nach den genehmigenden Institutionen, was für die Forschenden zusätzliche, teilweise unnötige Hürden schafft. Verzögerungen bei der Datenerhebung ergeben sich aus unklaren Zuständigkeiten und Verfahren der genehmigenden Stellen.

 

Hilfreiche Ressourcen und Arbeitsschritte für die Bereitstellung oder Nachnutzung von Unterrichtsvideos

Jürgen Schneider1, Patrick Schreyer2, Mareike Kunter1, Maike Porzelt1
1DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, 2Universiät Kassel

Eine bedeutende Stärke von Videoforschungsdaten liegt in ihrer Nutzbarkeit zur Beantwortung von Forschungsfragen über Forschungsparadigmen hinweg. Entsprechend gilt die Bereitstellung und Nachnutzung von Unterrichtsvideos als wertvoller Ansatz der Unterrichtsforschung.

Bisher ist es in der Bildungsforschung allerdings nicht gelungen, eine Kultur der Bereitstellung und Nachnutzung von Unterrichtsvideos zu etablieren (Goodey et al., 2022). Von 36 Publikationen (Jahr 2022), die Unterrichtsvideos als Forschungsdaten nutzten, stellte lediglich ein Projekt (Troll, Pietsch & Besser, 2023) seine Videos zur Nachnutzung bereit. Auch bei der Nachnutzung zeigt sich ein ähnliches Bild. Bis 2022 stellte das Forschungsdatenzentrum Bildung am DIPF etwa 2200 Unterrichtsvideos für die Nachnutzung durch Forschende zur Verfügung. Zwischen 2016 und 2022 wurden lediglich 8 Publikationen aus Nachnutzung durch Selbstauskunft von Sekundärforschern und Google Alerts erfasst. Auch wenn diese Erfassung die tatsächliche Nachnutzung etwas unterschätzt (sie deckt etwa 75 % der tatsächlichen Nachnutzung ab; Daniel, 2023), bleibt die Quote dennoch auf einem niedrigen Niveau.

Umfangreiche Erfahrungen bezüglich hilfreicher Ressourcen und essenzieller Arbeitsschritte im Umgang mit Videoforschungsdaten begünstigen den Prozess einer gelingenden Bereitstellung. Diese Ressourcen und Arbeitsschritte wurden allerdings noch kaum in die Forschungscommunity disseminiert. Forschende berichten von Unsicherheiten, offenen Fragen und fehlenden Routinen, die eine Bereitstellung und Nachnutzung verhindern (Steinhardt et al., 2022). Es fehlt also ein Überblick zu Ressourcen und Arbeitsschritten der Bereitstellung und Nachnutzung.

Dabei liegt die Verantwortung für das Gelingen von Bereitstellung und Nachnutzung nicht alleinig bei den wissenschaftlich Forschenden. Die Verantwortung ist in einem “research ecosystem” (Europäische Kommission, 2018, S. 10) zwischen den Forschenden selbst und Forschungsinfrastrukturen, -bibliotheken, sowie -einrichtungen aufgeteilt. Das wissenschaftsunterstützende System (z.B. Forschungsdatenzentren) bietet Ressourcen, die den Prozess des Bereitstellens und Nachnutzens für Forschende deutlich erleichtern. Zudem können sie stellenweise Aufgaben ihres Expertisebereichs übernehmen (z.B. Aufbereitung und Dokumentation der Daten) und so Forschende entlasten. Diese vorhandenen Ressourcen sind bisher allerdings noch wenig disseminiert.

Ziel des Beitrags ist es, Arbeitsschritte und Ressourcen für Forschende bezüglich der Bereitstellung und Nachnutzung von Unterrichtsvideos zu systematisieren. Dies soll Unsicherheiten im Prozess verringern und den Arbeitsaufwand für die Forschenden möglichst reduzieren. Anhand eines Prozessmodells werden wesentliche Arbeitsschritte für eine Bereitstellung oder Nachnutzung beschrieben und jeweilige Ressourcen aufgezeigt.

Der Beitrag schärft das Bewusstsein für die gemeinsame Nutzung von Unterrichtsvideos und stellt deren Attraktivität für die Bildungsforschung und die Forschenden selbst heraus. Gleichzeitig wird aufgezeigt, an welchen Stellen noch Ressourcen und empirische Erkenntnisse fehlen, um eine Kultur der Bereitstellung und Nachnutzung weiter auszubauen.

 

Einfluss der Förderung von Metakognition im Klassengespräch auf die Mathematikleistung

Edyta Nowinska
Universität Osnabrück

Unter Metakognition wird meist das Denken über das eigene Denken und die Regulation des Denkens verstanden (Flavell, 1976, 1979). Seit Flavell (1976, 1979) gilt die Förderung von Metakognition der Lernenden als eine Maßnahme zur Verbesserung des Lernverhaltens und schließlich zur Steigerung der Lernergebnisse. Positive Effekte dieser Förderung wurden in zahlreichen Interventionsstudien nachgewiesen (Depaepe et al., 2010; Mevarech et al., 2010; Mevarech & Kramarski 2014) und durch Metaanalysen (De Boer et al., 2018; Dignath & Büttner, 2008; Verschaffel et al., 2019) bestätigt. Inspiriert durch Interventionsstudien haben Wissenschaftler Empfehlungen für die Förderung von Metakognition auch im regulären Unterricht – insbesondere im Klassengespräch – entwickelt (Veenman et al., 2006; Zepeda et al., 2019; Zion et al., 2005). Bisher fehlt jedoch an Erkenntnissen inwiefern solche Förderungsmaßnahmen im regulären Unterricht die Entwicklung der Mathematikleistung beeinflussen (Kyriakides et al., 2020; Zepeda et al. 2019). Ein Ziel der aktuellen Studie ist, den Einfluss der Förderung von Metakognition im Klassengespräch im regulären Mathematikunterricht auf die Entwicklung der Mathematikleistung unter Kontrolle individueller Merkmale der Lernenden und Merkmale der Klassen zu untersuchen.

Zu diesem Zweck wurden Unterrichtsvideos und Leistungsdaten der Studie „Pythagoras - Unterrichtsqualität und mathematisches Verständnis in verschiedenen Unterrichtskulturen“ Klieme et al., 2009; Klieme & Reusser, 2003; Hugener et al., 2006; Lipowsky et al., 2006) re-analysiert. Der Datensatz besteht aus 40 Klassen (20 Klassen der 9. Jahrgangsstufe aus Deutschland, 20 Klassen der 8. Jahrgangsstufe aus der Schweiz). Diese wurden in drei Unterrichtsstunden zur Einführung in die Satzgruppe des Pythagoras gefilmt. Mit Leistungstests wurde u.a. das Verständnis des Satzes des Pythagoras nach der dritten gefilmten Unterrichtsstunde und das pythagorasspezifische Vorwissen direkt vor der Einführung in das Thema sowie das Beweisverständnis am Ende der gesamten Unterrichtsreihe zur Satzgruppe des Pythagoras und am Anfang des Schuljahres erfasst. Die Förderung von Metakognition im Klassengespräch wurde von zwei geschulten voneinander unabhängigen Ratern mit einem zweistufigen Ratinginstrumentarium mit sieben Items mit hochinferenten Skalen (Nowińska, 2013) erfasst.

Eine Faktorenanalyse ergab, dass sich die sieben Items zu drei Skalen zusammenfassen lassen: (1) metakognitive Qualität des Klassengesprächs (Praktizieren metakognitiver Aktivitäten, Formulieren elaborierter Begründungen zu diesen Aktivitäten und Auseinandersetzung mit dem eigenen Verständnis der Fachinhalte des Unterrichts), (2) diskursive Unterrichtsqualität des Klassengesprächs (Praktizieren diskursiver Aktivitäten z.B. durch genaues Eingehen auf Beiträge von anderen und Bemühungen um ein präzises, gut nachvollziehbares Gespräch), (3) anspruchsvoller Diskurs (Engagement der Lernenden in metakognitive Aktivitäten in einem präzise untereinander geführten Austausch über die Fachinhalte des Unterrichts sowie Engagement in eine Diskussion zu anspruchsvollen Fragen zu diesen Inhalten).

Der Einfluss der Förderung von Metakognition auf die Mathematikleistung wurde mit dem Ansatz der Mehrebenenanalysen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Förderung von Metakognition auch unter Kontrolle individueller Merkmale der Lernenden und Merkmale der Klasse einen positiven Einfluss auf die Mathematikleistung hat und zur Erklärung der Varianz in dieser beiträgt. Der Einfluss auf das Beweisverständnis fällt stärker aus als auf das Verständnis des Satzes des Pythagoras. Im Beitrag wird die Bedeutung der Ergebnisse diskutiert und eine Erklärung dieses Unterschieds vorgenommen.

Am Beispiel der Studie werden Vor- und Nachteile der (Nach)Nutzung von Videos beleuchtet. Insbesondere wird gezeigt, an welchen Stellen in der Auswertung des Videomaterials methodische Herausforderungen zustande kamen und wie diese durch eine erneute Analyse der Videodaten und Anpassungen der Auswertungsmethoden behoben wurden. Die Herausforderungen betreffen u.a. die in den Videos abgebildete Vielfältigkeit des Klassengesprächs und der Interaktionen in ihm und konsequenterweise die Auswahl geeigneter Analyseeinheiten sowie die Aggregation der Ratings über die drei analysierten Unterrichtsstunden. Der Beitrag beleuchtet auch das Potenzial der durchgeführten Videoanalyse zur Erklärung des Einflusses einer metakognitiven Förderung der Lernenden auf die Mathematikleistung.

 
11:10 - 12:508-06: Lernprozesse im Kontext der Digitalisierung – Aktuelle Erkenntnisse aus Large-Scale Assessments
Ort: H08
 
Symposium

Lernprozesse im Kontext der Digitalisierung – Aktuelle Erkenntnisse aus Large-Scale Assessments

Chair(s): Leonard Tetzlaff (DIPF, ZIB), Frank Goldhammer (DIPF, ZIB)

Diskutant*in(nen): Nikol Rummel (Ruhr-Universität Bochum)

Die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche führt auch zu einer Veränderung von Lehr- und Lernprozessen an Schulen in Deutschland (Scheiter, 2021). Diese Entwicklung betrifft sowohl das Lernen mit digitalen Medien, d.h. deren Nutzung zur Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen, als auch das Lernen über digitale Medien, d.h. deren kompetente Nutzung wird zum ausdrücklichen Lernziel (KMK, 2017). Dabei ist die Schule nicht der einzige Kontext, in dem Schüler*innen Kompetenzen im Umgang mit digitaler ICT (Information and Communication Technology) anwenden und erwerben können. Auch in der Freizeit ist die Nutzung von ICT von wachsender Bedeutung (Wößmann et al., 2021) und bietet potentielle Lerngelegenheiten für den kompetenten Umgang mit ICT. Neben Schule und Freizeit ist auch der gezielte Einsatz digitaler Lernumgebungen zum Kompetenzerwerb ein wichtiges Feld, welches ICT-bezogene Kompetenzen sowohl erfordert als auch fördern kann. In all diesen Kontexten finden Lernprozesse statt, die mehr oder weniger erfolgreich ablaufen können.

Faktoren, die zum Gelingen dieser Lernprozesse beitragen, sind vielfältig und sowohl auf Ebene der Schüler*innen, der Lehrkräfte bzw. des Unterrichts als auch der spezifisch verwendeten digitalen Medien zu finden. Um diese Faktoren zu untersuchen bieten sich verschiedene empirische und methodische Zugänge, wie die drei Beiträge des Symposiums zeigen.

Das Symposium stellt aktuelle empirische Forschungsbefunde zur ICT-Nutzung und ICT-bezogenen Lerngelegenheiten Jugendlicher innerhalb und außerhalb des Unterrichts vor. Dabei werden in den Beiträgen verschiedene Perspektiven eingenommen: Die Einbindung von digitalen Medien in die Gestaltung von schulischen Lehr-/Lernprozessen; die Nutzung von digitalen Medien in Schule und Freizeit; sowie selbstgesteuerte Lernprozesse in digitalen Umgebungen. Neben dem Erwerb von ICT-bezogenen Kompetenzen, wird auch der Zusammenhang zwischen der Nutzung von digitalen Medien mit der selbsteingeschätzten ICT-Kompetenz beleuchtet.

Der erste Beitrag befasst sich mit der Gestaltung von Lehr-/Lernprozessen unter den Bedingungen der Digitalität an solchen Schulen, die in der ICILS-2018 Studie unerwartet gut abgeschnitten haben. Insbesondere wird der Forschungsfrage nachgegangen, wie an den resilienten Schulen digital-gestützte Lehr-/Lernprozesse im Hinblick auf die Basisdimensionen guten Unterrichts gestaltet werden. In diesem Beitrag stellt der Erwerb von ICT-bezogenen Kompetenzen also kein explizites Lernziel dar, sondern es steht die Qualität von ICT-gestützten Unterrichtsprozessen im Vordergrund. Die qualitative Studie analysiert dazu Unterrichtsvideos sowie Interviews mit Schüler*innen und Lehrkräften.

Der zweite Beitrag stellt international vergleichend Befunde zur Mediennutzung von 15jährigen in Schule und Freizeit vor. Zudem untersucht die Studie, wie die schulische und außerschulische Nutzung digitaler Medien mit Lesekompetenz, selbsteingeschätzte Kompetenz und Lernmotivation im Umgang mit digitalen Medien zusammenhängt. Dieser Beitrag betrachtet die Nutzung von ICT als Faktor im Lernprozess, als auch ICT-Kompetenz als Lernziel. Für den internationalen Vergleich mit Deutschland werden Fragebogendaten der aktuellen PISA 2022 Erhebung herangezogen.

Der dritte Beitrag nimmt die Modellierung von erworbenem Wissen in der innovativen PISA 2025-Domäne – Lernen in der digitalen Welt (LDW) – in den Blick. Untersucht wird, welche Schüler*innen besser abschneiden, als man es aufgrund ihrer Vorkenntnisse erwarten würde, und ob diese Leistungen als das Resultat erfolgreicher Lernprozesse interpretiert werden können. In diesem Beitrag ist der Erwerb von ICT-bezogenen Kompetenzen ein explizites Lernziel. Dabei werden sowohl Leistungs- als auch Verhaltensdaten aus der nationalen Begleitforschung in Ankopplung an PISA 2022 analysiert.

Das Symposium schließt mit einer Diskussion der einzelnen Beiträge und einer Einordnung der präsentierten Ergebnisse.

 

Beiträge des Symposiums

 

Effekte der schulischen und außerschulischen Nutzung digitaler Medien auf Lesekompetenz, selbsteingeschätzte Kompetenz und Lernmotivation im Umgang mit digitalen Medien - Ein internationaler Vergleich anhand von PISA 2022

Stephanie Moser1, Tamara Karstoff2, Doris Lewalter2
1TUM, 2ZIB

Die Nutzung digitaler Medien hat sowohl im Unterricht als auch in der Freizeit von Jugendlichen weltweit enorm an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie (Wößmann et al., 2021). Ziel der schulischen Nutzung digitaler Medien in Deutschland ist unter anderem die Entwicklung und Förderung der ICT (Information and Communication Technology) Literacy der Schüler*innen. So sollen diese die notwendigen Kompetenzen erwerben, um digitale Medien sicher und zielgerichtet als Lernwerkzeuge zu verwenden, sich zu informieren, zu kommunizieren und zu kooperieren und Informationen zu produzieren und zu präsentieren und dabei ihr Tun sowie die digitalen Medien kritisch zu reflektieren und zu bewerten (Kultusministerkonferenz [KMK], 2017, 2021). Darüber hinaus kann die schulische Nutzung von digitalen Medien das Leseverständnis begünstigen (z. B. Moran et al., 2008). Diesen Zielsetzungen stehen große Herausforderungen auf Seiten der Schulen und Lehrkräften gegenüber, einen effektiven Einsatz digitaler Medien im Unterricht zu realisieren (Scheiter, 2021). Neben der quantitativen Ausstattung mit digitalen Medien spielt insbesondere deren gezielter lernförderlicher Einsatz im Unterricht eine große Rolle, sowohl für den fachlichen als auch den medienbezogenen Kompetenzerwerb. Zu dieser Thematik wurde in der PISA 2022 Studie u.a. der Einsatz digitaler Medien im Unterricht sowie deren Nutzung durch die Schüler*innen erfasst.

Im Rahmen des Beitrags werden Daten der PISA 2022 analysiert, die auf Antworten von über 20.000 Schüler*innen und über 7.500 Lehrkräften beruhen. Um einen Einblick in die aktuelle Nutzung digitaler Medien im Unterricht zu erhalten, werden Befunde zur Nutzungshäufigkeit digitaler Tools im Unterricht aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland sowie im internationalen Vergleich (Österreich, Schweiz, Dänemark) präsentiert. Diesen Befunden wird die Nutzungshäufigkeit digitaler Medien aus Sicht der Schüler*innen gegenübergestellt und ebenfalls international eingeordnet. Dazu wird die Häufigkeit des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht sowie die Häufigkeit verschiedener Nutzungsformen, wie beispielsweise Multimedia-Präsentationen erstellen oder digitale Lernspiele spielen berichtet. Ergänzend werden die Häufigkeit und Art der Nutzung digitaler Medien in der Freizeit vorgestellt. Basierend auf diesen Befunden werden Analysen zur selbsteingeschätzten Kompetenz in Bezug auf ICT-Literacy, und Lernmotivation im Umgang mit digitalen Medien sowie die fachliche Kompetenz im Bereich Lesen der Schüler*innen vorgestellt und mithilfe von Regressionsanalysen zur Mediennutzung in Schule und Freizeit in Bezug gesetzt. Hierbei werden sowohl die Zusammenhänge für die Schüler*innen in Deutschland als auch in ausgewählten OECD-Staaten (Österreich, Schweiz, Dänemark) berichtet. Abschließend werden die Befunde mit Blick auf den aktuellen Stand digitalisierungsbezogener Lerngelegenheiten an Schulen in Deutschland und mögliche Implikationen für deren Weiterentwicklung und Praxis diskutiert.

Auf Grund des bis 5.12.2023 bestehenden OECD-Embargos für die PISA 2022 Daten können die Befunde der Analysen zum Zeitpunkt der Beitragseinreichung nicht berichtet werden.

 

Modellierung von erworbenem Wissen in der innovativen PISA-Domäne – Lernen in der digitalen Welt (LDW)

Leonard Tetzlaff1, Lothar Persic-Beck1, Ulf Kröhne2, Carolin Hahnel3, Daniel Schiffner2, Frank Goldhammer1
1DIPF,ZIB, 2DIPF, 3Ruhr-Universität Bochum

Hintergrund

Die innovative PISA-Domäne „Lernen in der digitalen Welt (LDW)“ integriert die Erfassung des Vorwissens mit Möglichkeiten zum Wissenserwerb. Die bereitgestellte digitale Umgebung enthält Lernressourcen sowie Lern- und Testaufgaben zur Erfassung der Kompetenz, komplexe Systeme mit Hilfe digitaler Werkzeuge zu modellieren und algorithmische Probleme zu lösen. Dabei durchlaufen die Schüler*innen einen Prozess des selbstgesteuerten Lernens, in dem sie die Lösung von komplexen Problemstellungen erarbeiten.

Um konstituierende Faktoren dieses Lernens zu untersuchen, ist es notwendig den Teil der Leistung, der auf bestehende Fertigkeiten und Wissensstrukturen zurückgeht, von dem Teil zu trennen, der sich durch Fertigkeiten und Wissensstrukturen ergibt, die während der Bearbeitung der Lernaufgaben erworben werden.

Fragestellung

1) Gibt es systematische interindividuelle Unterschiede in der finalen Testleistung, die sich nicht durch Vorkenntnisse der Teilnehmenden erklären lassen?

2) Können diese Unterschiede als im Lernprozess erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten interpretiert werden?

Methode

In der Studie wurden sechs Lerneinheiten des Typs „Systemmodellieren“ bzw. „Blockbasiertes Programmieren“ verwendet. Die Schüler*innen bearbeiteten jeweils zwei Einheiten (eine je Typ), wobei eine Einheit ca. 30 Minuten dauerte. Innerhalb einer Einheit erhielten sie zunächst eine Einführung in die Umgebung, gefolgt von einem Test zur Erfassung des für die Einheit spezfischen Vorwissens. Danach durchliefen die Schüler*innen eine Reihe interaktiver Lernaufgaben, in denen sie sich schrittweise Lösungen erarbeiten und in der Lernumgebung angebotenen Lernmaterialien und Hilfen nutzen konnten.

Dabei wurde die Nutzung der zur Verfügung stehenden Lernmaterialien als Verhaltensindikator für „Lernen“ erfasst. Abschließend wurden die Schüler*innen in einer „Big Challenge“-Aufgabe, welche alle Anforderungen der vorhergegangenen Lernaufgaben integrierte, getestet. Die Leistung in dieser Aufgabe wurde als Indikator für die Kombination aus Vorwissen und erworbenem Wissen erfasst und als abhängige Variable für die weiteren Analysen verwendet.

Zur Validierung der Interpretation dieser Indikatoren wurden Intelligenz (BefKi, Wilhelm et al., 2014), Komplexes Problemlösen (Microdyn, Krieger et al., 2021) und Lernzielorientierung (Spinath et al., 2012) in Form von Leistungstests und Selbstauskünften miterhoben.

An der Studie nahmen 737 Schüler*innen der Deutschen PISA 2022-Stichprobe teil.

Die Frage, inwieweit Schüler*innen in der „Big Challenge“ gemessen an ihrem Vorwissen besser bzw. schlechter als erwartet abschneiden (Fragestellung 1), wurde per Strukturgleichungsmodell untersucht, in dem das Vorwissen die „Big Challenge“-Leistung vorhersagt und die unerklärte Varianz einer neuen Residualvariable zugewiesen wird. Dadurch wird nur der Teil der Leistung, der linear unabhängig vom Vorwissen ist, von der Residualvariable repräsentiert. Um unspezifische Vorkenntnisse im komplexen Problemlösen zu kontrollieren, wurde in einem weiteren Modell für dieses – analog zum spezifischen Vorwissen – kontrolliert. Die zugrundeliegende Annahme ist dabei, dass die Problemlösekompetenz relevant für das Bearbeiten der Aufgabe ist, nicht aber für den Lernprozess.

Um die Interpretation der Residualvariablen als „erworbenes Wissen“ zu validieren (Fragestellung 2), kann diese von diversen Kovariaten erklärt werden. Dazu wurden Effekte von Intelligenz als Lernvorrausetzung und der Nutzung angebotener Lernressourcen als lernbezogenes Verhalten geprüft.

Ergebnisse

Nach der Vorhersage der Performanz in der „Big Challenge“ durch das Vorwissen und die Problemlösekompetenz verblieb eine signifikante Residualvarianz von 21%. Es gibt also systematische Unterschiede zwischen Schüler*innen über ihr spezifisches Vorwissen und ihre Problemlösekompetenz hinaus.

Das Residuum konnte signifikant durch die Nutzung von angebotenen Lernressourcen (β = .58) sowie die Intelligenz der Schüler*innen (β = .50) erklärt werden.

Die Nutzung der angebotenen Lernressourcen konnte signifikant durch die Lernzielorientierung der Schüler*innen erklärt werden, wobei der positive Effekt der Lernzielorientierung auf das Residuum komplett durch die Nutzung der Lernressourcen mediiert wurde. Dies unterstützt die Interpretation des Indikators als lernbezogenes Verhalten.

Zusammen liefern diese Befunde Evidenz dafür, dass tatsächlich ein Lernprozess bei der Bearbeitung LDW-Einheiten stattfindet und dass die Residualvariable auf interindividueller Ebene anteilig als Indikator für „erlerntes Wissen“ interpretiert werden kann. Diese Erkenntnisse liefern die Basis für weitere Untersuchungen von Vorrausetzungen und Prozessen erfolgreichen Lernens in digitalen Umgebungen.

 

Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen unter den Bedingungen der Digitalität an organisational resilienten Schulen –qualitative Analyse der ICILS-2018-Vertiefungsstudie UneS unter Berücksichtigung der Basisdimensionen guten Unterrichts

Birgit Eickelmann, Kerstin Drossel, Anna Oldak
Universität Paderborn

Hintergrund

Die Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche stellt Schulen vor neue Herausforderungen (Eder, Scheiter & Lachner, 2023; Scheiter, 2021). Um auf die veränderten gesellschaftlichen Anforderungen angemessen zu reagieren, gilt es, digitale Medien in unterrichtlichen Lehr- und Lernprozessen so zu nutzen, dass sie zu einem (über)fachlichen Kompetenzerwerb aller Schüler:innen und damit zur Förderung der Chancengerechtigkeit beitragen (KMK, 2021). Bezogen auf die digitalen Kompetenzen hat sich empirisch international und für Deutschland gezeigt, dass diese vergleichsweise hohen sozialen Disparitäten unterliegen (Senkbeil et al., 2019). Dennoch lassen sich auch in Deutschland Schulen identifizieren, deren Schüler:innen trotz herausfordernder Schülerkomposition überdurchschnittliche digitale Kompetenzen erreichen (Drossel et al., 2020). Diese Schulen können für den Bereich der digitalen Kompetenzen, anknüpfend an Studien für andere Kompetenzbereiche (Schelvis et al., 2014), als organisational resilient bezeichnet werden. Studien, die fachspezifische Kompetenzen fokussieren, zeigen, dass diese Schulen gemeinsame Merkmale aufweisen, die sich insbesondere auch auf die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen beziehen (Agasisti et al., 2018). Unter Rückbezug auf Merkmale guten Unterrichts mit digitalen Medien (Lachner, Scheiter & Stürmer, 2020) geht der vorliegende Beitrag anknüpfend an die ICILS-2018-Studie mit einer vom BMBF geförderten qualitativen Vertiefungsstudie der Forschungsfrage nach, wie digital-gestützte unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse im Hinblick auf die Basisdimensionen guten Unterrichts an empirisch identifizierten organisational resilienten Schulen gestaltet werden.

Methode

Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden Daten des Projektes ‚Unerwartbar erfolgreiche Schulen im digitalen Wandel – eine qualitative Vertiefungsstudie zu ICILS 2018’ (UneS-ICILS 2018; Laufzeit 2020-2023) herangezogen. Schulen werden als ‚unerwartbar erfolgreich‘ identifiziert, wenn der mittlere sozioökonomische Status (SES) der Achtklässler*innen in den Daten der Studie ICILS 2018 unterdurchschnittlich ausfiel (untere 40% im HISEI) und gleichzeitig die mittleren, in ICILS 2018 gemessenen digitalen Kompetenzen (5 Plausible Values, Eickelmann et al., 2019) sich überdurchschnittlich in der repräsentativen Gesamtverteilung für Deutschland einordnen lassen (Drossel et al., 2019). Dieses zweiteilige Kriterium erfüllen in Deutschland 17% (N=36) der ICILS-2018-Schulen (Drossel et al., 2020).

In die Analysen gehen videobasierte Unterrichtsanalysen (N=12 an 4 Schulen), Lehrkräfteinterviewdaten (N=22 an 11 Schulen) sowie Schüler:innengruppeninterviewdaten (N=7 an 4 Schulen) ein. Die Auswertung der videographierten Unterrichtsstunden erfolgt mittels quantitativer Videoanalyse (Riordan, 2022; 1=‚trifft nicht zu‘ bis 4=‚trifft im hohen Maße zu‘) unter Berücksichtigung der Intraklassenkorrelation (Rauin et al., 2016). Die einbezogenen Interviews werden inhaltsanalytisch untersucht (Mayring, 2010).

Ergebnisse und ihre Bedeutung

Die Videoanalysen zeigen, dass eine effiziente Klassenführung besonders häufig zu beobachten ist. Die beobachteten Klassen zeigen einen routinierten Umgang mit digitalen Medien (M=3.50, SD=0.87), effiziente Lösungen mit technischen Störungen (M=3.28, SD=0.92) und Lehrkräfte nutzen zudem häufig digitale Medien zur Unterrichtsorganisation (M=3.60, SD=0.48). Die Ergebnisse zur kognitiven Aktivierung zeigen hingegen, dass digitale Medien selten für die Herstellung ein tieferes Verständnis genutzt (M=1.60, SD=0.76) und zudem die Potenziale neuartiger Aufgabenformate wenig ausgeschöpft werden (M=2.10, SD=0.91). Bezüglich der konstruktiven Unterstützung zeigt sich eine respektvolle gegenseitige Unterstützung zwischen Schüler:innen und Lehrkräften (M=2.10, SD=1.30). Demgegenüber werden digitale Medien selten differenzierend (M=1.20, SD=0.05) und für kollaboratives Arbeiten (M=1.10, SD=0.48) eingesetzt. Diese Beobachtungen entlang der drei Basisdimensionen decken sich mit den Ergebnissen der Analysen der Schüler:innengruppeninterviews. Betrachtet man hingegen die Aussagen der Lehrkräfte, wird ersichtlich, dass diese die Umsetzung der drei Basisdimensionen deutlich positiver einschätzen.

Folgt man den Ergebnissen und zieht hinzu, dass Lehrkräfte die ‚key stone species‘ für die erfolgreiche Implementierung digitalen Lernens in Schulen sind (Davis et al., 2014), könnte an der aus den Interviews ersichtlichen positiven Sichtweise der Lehrkräfte angeknüpft werden, um im Sinne eines Transfers die Gestaltung unterrichtlicher Lehr- und Lernprozesse unter den Bedingungen der Digitalität an Schulen mit benachteiligter Schülerkomposition zu verbessern. Die UneS-Studie macht deutlich, dass LSA (hier ICILS) ein Ausgangspunkt für die Analyse von Lernen in der Digitalität sein können, aber gleichzeitig ein vertiefender qualitativer Blick wichtig ist, um Bildungsprozesse zu verstehen.

 
11:10 - 12:508-07: Kognitive Aktivierung in den Fachdidaktiken: von einem besseren Verständnis des Konstrukts hin zur Instrumentenentwicklung
Ort: S18
 
Offenes Beitragsformat

Kognitive Aktivierung in den Fachdidaktiken: von einem besseren Verständnis des Konstrukts hin zur Instrumentenentwicklung

Stefan Daniel Keller1, Anna-Katharina Praetorius2, Mirjam Steffensky3, Benjamin Fauth4, Christian Herrmann1, Christiane Bertram4, Iris Winkler5, Patrick Schreyer6, Anke Lindmeier5, Sandy Taut7

1Pädagogische Hochschule Zürich, Schweiz; 2Universität Zürich, Schweiz; 3Universität Hamburg; 4Universität Tübingen; 5Schiller Universität Jena; 6Universität Kassel; 7Bayrisches Landesamt für Schule

1. Einleitung

Als kognitiv aktivierend wird Unterricht in der Unterrichtsqualitätsforschung dann verstanden, „wenn er Lernende zum vertieften Nachdenken und zu einer elaborierten Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand anregt“ (Lipowsky, 2020, S. 92). Das Konstrukt wurde ursprünglich im Rahmen der TIMSS-Videostudie entwickelt (Klieme et al., 2001), wird aber in den letzten Jahren in unterschiedlichen Fachdidaktiken verwendet und unterschiedlich konzeptualisiert (Praetorius et al. 2020). Eine zentrale Frage dabei ist, in welchem Umfang kognitive Aktivierung als generisches Konstrukt verstanden werden kann und in welchem Umfang es Unterschiede zwischen verschiedenen Fächern und Lerngegenständen gibt.

Eine Arbeitsgruppe des Leibniz-Netzwerks Unterrichtsforschung bemüht sich um ein gemeinsames Verständnis von kognitiver Aktivierung über verschiedene Fachdidaktiken hinweg. Ein solches Verständnis und stärkere Klarheit über fach- und lerngegenstandsspezifische Unterschiede würde es erleichtern, Forschungsergebnisse besser in Beziehung zu setzen und damit zu kumulativem Erkenntnisgewinn beizutragen. Ein gemeinsames Verständnis könnte zudem eine Chance für die Unterrichtspraxis darstellen, wenn zentrale Konstrukte wie die kognitive Aktivierung kohärenter beschrieben und genutzt werden (z.B. in der Ausbildung von Lehrpersonen, Diskussion von Unterricht, usw.). In diesem Zusammenhang interessiert primär die Frage, welche Gültigkeit fächerübergreifende Unterrichtsqualitätsmodelle für verschiedene Fächer besitzen, wenn man berücksichtigt, dass sich die Lernziele, Lerngegenstände und fachliche Lernmodelle sowie Lehrmodelle teils stark unterscheiden (z.B. Inquiriy Based Learning in den Naturwissenschaften, motorisches Lernen im Sport, usw.).

In dem hier vorgeschlagenen, Workshop will die Gruppe unterschiedliche Perspektiven auf kognitive Aktivierung in einem interdisziplinären Setting diskutieren und damit Ideen generieren, wie erste Schritte für die Entwicklung eines über Fächer hinweg einsetzbaren Instrumentes zur Erfassung kognitiver Aktivierung aussehen könnte.

Ablauf

1. Teil: Kognitive Aktivierung in sechs Schulfächern: where we are now? (ca. 15 Min.)

Im ersten Teil des Workshops sollen die konzeptuellen Überlegungen zum Konstruktverständnis über verschiedene Fächer hinweg vorgestellt werden, das in der Arbeitsgruppe über die letzten Monate erarbeitet wurde. Zentral dabei ist ein vergleichender Überblick über das Konstruktverständnis in sechs Schulfächern, welcher von Fachdidaktik-Expert*innen erarbeitet wurde. In dieser Analyse werden zentrale Bildungsziele sowie Lerntheorien in diesen Fächern aufgezeigt. Darauf aufbauend wird vorgestellt, welche fachspezifischen Formen der kognitiven Aktivierung sich aus diesen Bildungszielen ergeben und was zentrale Lerngegenstände sind, auf welche sich die kognitive Aktivierung bezieht. Daraus lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede in den Konzeptualisierungen erkennen, welche in den verschiedenen Fächern für das Konstrukt der kognitiven Aktivierung existieren.

Für diese Analyse haben wir Fächer ausgewählt, welche ein breites Spektrum der schulischen Aufgabenfelder und damit auch zentrale «Modi der Weltbegegnung» (Baumert, 2002) abdecken: Mathematik und Naturwissenschaften (primär der «kognitiv-instrumentellen Rationalität» zugeordnet); Deutsch, Englisch und Sport (primär der «ästhetisch-expressiven Rationalität» zugeordnet, Sport im Sinne leiblicher Expressivität) sowie Geschichte (primär der «moralisch-evaluativen Rationalität» zugeordnet).

2. Teil: Kognitive Aktivierung in den Sprachen und den Naturwissenschaften: Same same but different? (ca. 15 Minuten)

In zweiten Teil des Workshops werden die Konzeptualisierungen der kognitiven Aktivierung in zwei Fächern bzw. Fächergruppen exemplarisch vertieft, welche auch unterschiedliche „Modi der Weltbegegnung“ repräsentieren: Deutsch und Naturwissenschaften. Dabei werden Übereinstimmungen und Unterschiede aufgezeigt und auf konkrete Lerngegenstände in den jeweiligen Fächern bezogen. Diese vertiefende Darstellung geschieht auch mit Hinblick auf ein mögliches Beobachtungsinstrument für kognitive Aktivierung. Für die beiden Fächer soll exemplarisch herausgearbeitet werden, welchen Ansprüchen ein solches Instrument genügen müsste, um Gemeinsamkeiten zwischen den Fächern aufzuzeigen, und gleichzeitig an fachspezifische Konzepte anschlussfähig zu sein. Dabei werden folgende Fragen diskutiert:

- Welche Subdimensionen oder Facetten eines solchen Instruments könnten zwischen den Fächern identisch sein?

- Wo gibt es Reibungsflächen und wo liegen fachspezifische Unterschiede?

- Wie könnte mit solchen Unterschieden bei der Instrumentenentwicklung umgegangen werden (z.B. bei der Formulierung von Items)?

In diesem Teil findet also der Übergang von der konzeptuellen Diskussion hin zu einer Instrumentenentwicklung statt, welche die Gruppe als nächsten Projektschritt anstrebt. Diese Entwicklungsperspektive soll anschliessend auch im Fokus der Diskussion mit den Teilnehmenden stehen.

3. Teil: Ein fächerübergreifendes Instrument zur Beschreibung von Unterrichtsqualität: what are next steps? (ca. 60 Min.)

In diesem Teil sollen mögliche Entwicklungsperspektiven für den nächsten Projektschritt konkret mit den Teilnehmer:innen des Workshops diskutiert werden, wobei der Fokus besonders auf einem möglichen Instrument zur Erfassung von kognitiver Aktivierung gelegt wird. Ziel des Austausches ist es, die Ideen und Wünsche der Workshopteilnehmenden aus deren spezifischen Blickwinkeln abzuholen für das geplante open access Instrument:

(A) Externe Rückmeldung zur Projektidee

- Welche Chancen und Potentiale sehen die Teilnehmenden in dem Projekt?

- Wie ist mit eingangs skizzierten Herausforderungen umzugehen (z.B. fachspezifische Unterschiede)?

(B) Ansprüche an ein mögliches Beobachtungsinstrument

- Welche Ansprüche würden die Workshopteilnehmer:innen aus ihrer Perspektive an ein solches Beobachtungsinstrument formulieren?

- Welchen Anforderungen müsste dieses genügen, um in verschiedenen Fächern oder Kontexten (z.B. Forschung, Lehrpersonenbildung) einsetzbar zu sein?

Diese Fragen werden in einem Padlet vorstrukturiert und anschliessend im Plenum diskutiert und ausgewertet.

Bedeutung

Wir betrachten diesen Workshop als Fortsetzung des seit einigen Jahren verstärkt stattfindenden interdisziplinären Dialogs in der Unterrichtsqualitätsforschung. Im Kern steht die bisher wenig untersuchte Frage, ob sich hinter verschiedenen Konzeptionen des zentralen, bislang aber nur unscharf konzeptualisierten Konstrukts kognitiver Aktivierung in unterschiedlichen Fächern ein gemeinsamer Kern verbirgt, und wo fach- oder lerngegenstandsspezifische Unterschiede liegen. Diese Frage soll zunächst konzeptuell ausgeleuchtet werden, um anschliessend auf mögliche Instrumentenentwicklungen zu fokussieren. In diesem Sinne passt sich der geplante Workshop exzellent in das Tagungsmotto „Bildung verstehen • Partizipation erreichen • Transfer gestalten“ ein.

 
11:10 - 12:508-08: „Leistung macht Schule“(LemaS): Ausgewählte Ergebnisse aus Phase I des Bund-Länder-Projekts
Ort: H06
 
Symposium

„Leistung macht Schule“(LemaS): Ausgewählte Ergebnisse aus Phase I des Bund-Länder-Projekts

Chair(s): Miriam Vock (Universität Potsdam, Deutschland), Gabriele Weigand (PH Karlsruhe)

Diskutant*in(nen): Dirk Richter (Universität Potsdam)

Das Symposium stellt ausgewählte Ergebnisse der ersten Phase des interdisziplinären, vom BMBF geförderte Forschungsverbund „Leistung macht Schule“ (LemaS) vor. Der LemaS-Verbund nahm im Jahr 2018 im Rahmen der auf 10 Jahre angelegten Bund-Länder-Initiative seine Arbeit auf. Beteiligt waren in der ersten, fünfjährigen Förderphase Forschendenteams von 18 Universitäten. Das Ziel der Arbeit bestand darin, Konzepte, Strategien, Maßnahmen und Materialien (sog. P3rodukte) für eine begabungs- und leistungsfördernde Schulentwicklung und die Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler im Unterricht forschungsbasiert zu entwickeln. Diese Entwicklungsarbeit erfolgte gemeinsam mit Lehrkräfteteams aus 122 Grundschulen und 178 weiterführenden Schulen aus dem gesamten Bundesgebiet (Weigand et al., 2020; Weigand et al., 2022).

Ausgangspunkt für das Projekt war die Erkenntnis, dass Schulen in Deutschland Schülerinnen und Schüler im oberen Teil des Leistungsspektrums oft nicht hinreichend fördern. Zwar entwickelten die Länder in den vergangenen Jahren zunehmend Förderangebote für Hochbegabte oder sehr Leistungsstarke und besonders Motivierte, diese erfolgten jedoch in der Regel in separaten Settings wie Spezialschulen/Spezialklassen, durch akzelerative Maßnahmen oder in Form von außerunterrichtlichen Zusatzangeboten (z. B. Ferienprogramme, Schülerwettbewerbe) (vgl. Vock, Preckel & Holling, 2007; Preckel & Vock, 2020). Für die Schulentwicklung und die Weiterentwicklung der Schulen und des Unterrichts zur differenzierten Förderung der Leistungsstarken und potenziell besonders Leistungsfähigen fehlte es jedoch an wissenschaftlich basierten und praxiserprobten Ansätzen. Zugleich zeichnet sich in der Begabungsforschung ein Paradigmenwechsel sowohl hin zu einer chancengerechten Potenzial- und Leistungsförderung für alle Kinder, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status über alle Schularten hinweg (Weigand, Preckel & Fischer, 2022) als auch hin zu einer Talententwicklungsperspektive ab (Dai & Chen, 2013), welche die Diagnostik und Förderung von Begabungen dynamischer und domänenspezifischer begreift (Preckel et al., 2020). Diese beiden Perspektiven spiegeln sich auch in den in LemaS entwickelten Konzepten.

Der LemaS-Forschungsverbund hat sich zum Ziel gesetzt, Konzepte für die Entwicklung schulischer Leitbilder und für die Unterrichtsentwicklung zu erarbeiten, letztere sowohl fachübergreifend als auch fachspezifisch in den Bereichen MINT und Sprachen. Der Forschungsverbund strukturierte sich in der ersten Förderphase in 22 Teilprojekte mit je pädagogischer, fachdidaktischer oder pädagogisch-psychologischer Ausrichtung. Im Symposium werden im ersten Beitrag zunächst die Anlage, Ziele und ausgewählte Ergebnisse des LemaS-Verbunds präsentiert. In den Beiträgen 2 bis 5 werden Ergebnisse aus ausgewählten Teilprojekten vorgestellt:

Beitrag 2 stellt Erkenntnisse zu Gelingens- und Hinderungsfaktoren für die Implementation und den Transfer des LemaS-diFF-Projekts (diagnosebasiertes individualisiertes Fordern und Fördern) der Universität Münster dar, das sich an die Jahrgangsstufen 3 bis 6 richtet. Berichtet wird über eine Interviewstudie mit den 32 an diFF beteiligten Projektschulen.

In Beitrag 3 berichtet das Team der Humboldt-Universität zu Berlin über ihr Projekt zur Anregung begabungsförderlicher Schulentwicklungsprozesse. Im Fokus ihrer Studie mit leitfadengestützten Fokusgruppeninterviews mit 16 am Projekt beteiligten Grund- und weiterführenden Schulen stehen Fragen nach günstigen Rahmenbedingungen und der Art der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis.

In Beitrag 4 wird über die Erfahrungen mit der Implementation der Lesson Study Methode an 19 Projektgrundschulen berichtet. Vorgestellt werden Ergebnisse aus einer Fragebogenstudie des Projekts der Universität Potsdam, in der die Lehrkräfte nach fünf Jahren Erfahrung mit der Methode danach gefragt wurden, inwieweit sich ihre Motivation für das Unterrichten leistungsstarker und potenziell leistungsstarker Kinder sowie ihre Einstellung zu Kooperation verändert hat.

Beitrag 5 nimmt die fachbezogene Begabungsförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht in den Blick. Es wird eine qualitativ angelegte Studie des Teams der Universität Hamburg vorgestellt, die zum Ziel hat, Leitlinien für Fortbildungen zu fachbezogener Unterrichtsentwicklung zu entwickeln. Ausgehend vom Modell der Didaktischen Rekonstruktion für die Lehrkräftebildung werden Vorstellungen von Lehrpersonen erhoben und analysiert. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Perspektiven aus Schulpraxis und Wissenschaft sowie deren Bedeutung für die Gestaltung von Professionalisierungsangeboten im Kontext fachbezogener Potenzial- und Begabungsförderung werden diskutiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

LemaS: Anlage, Ziele und erste Erkenntnisse des Bund-Länder-Projekts

Gabriele Weigand1, Miriam Vock2
1PH Karlsruhe, 2Universität Potsdam

In diesem Teilbeitrag wird zunächst die Gesamtanlage von LemaS kurz erläutert. Anschließend werden Grundlinien und Ziele von LemaS sowie zentrale Begrifflichkeiten und die besondere Art der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis in Research-Practice-Partnerships (auch: Wissenschaft-Praxis-Brücke) vorgestellt. Schließlich werden ausgewählte Ergebnisse aus der verbundübergreifenden Enderhebung unter der Frage: „Was bedeutet eigentlich Gelingen für LemaS?“, auch mit Blick auf die Transferphase, zur Diskussion gestellt.

„Leistung macht Schule“ (LemaS) gründet auf einer gemeinsamen Initiative von Bund und Ländern aus dem Jahr 2016 und ist ein auf insgesamt zehn Jahre angelegtes Projekt zur begabungs- und leistungsfördernden Schul- und Unterrichtsentwicklung (BMBF/KMK, 2016). Gerahmt von BMBF und den Kultusministerien der 16 Länder hat der interdisziplinäre Forschungsverbund LemaS, bestehend aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Erziehungswissenschaft, empirischer Bildungsforschung, (Pädagogischer) Psychologie und Fachdidaktiken der am Projekt beteiligten Schulfächer (Deutsch, Englisch, MINT), in der 1. Phase des Projekts (1/2018-6/2023) mit 300 Schulen aller Schularten bundesweit an der Entwicklung und Optimierung von begabungs- und leistungsförderndem Unterricht und einer entsprechenden Gestaltung ihrer Schulkultur zusammengearbeitet. Dabei wurden Strategien, Konzepte, Maßnahmen und Materialien (sog. P3rodukte) erarbeitet, auf Praxistauglichkeit erprobt und formativ evaluiert. Diese sollen in der 2. Phase des Projekts (7/2023-12/2027) in Kooperation mit den 16 Ländern in bis zu 1000 weitere Schulen übertragen werden, wobei es hier insbesondere um die Beforschung der Transferprozesse geht.

LemaS geht bildungs- und lerntheoretisch davon aus, dass Potenzialentfaltung und Leistungsförderung für alle Schülerinnen und Schüler, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status ein selbstverständlicher Auftrag jeder Schule sind (vgl. auch KMK, 2016). Als Ausgangspunkt schulischen Denkens und Handelns wird die Person des einzelnen Kindes und Jugendlichen und deren individueller Lern- und Bildungsweg betrachtet, wobei ein besonderer Fokus auf Schülerinnen und Schüler mit besonderen Begabungen und Leistungsstärken gelegt wird.

Um den Kindern und Heranwachsenden in ihrer Diversität und (Lern- und Leistungs-)Heterogenität (Vock & Gronostaj, 2017) gerecht zu werden und dem Ziel von begabungs- und leistungsfördernden Schulen näher zu kommen, hat sich LemaS in einem intensiven interdisziplinären Diskurs mit den beiden Grundbegriffen Begabung und Leistung, beides soziokulturelle Konstrukte (Müller-Oppliger & Weigand 2021), auseinandergesetzt und sich schließlich auf einen mehrdimensionalen, entwicklungsbezogenen Begabungs- und Leistungsbegriff verständigt (LemaS Forschungsverbund, o. J.). Dabei werden die Begriffe Begabung und Leistungspotenzial gleichgesetzt, indem Begabung als leistungsbezogenes Potenzial definiert wird (vgl. iPEGE 2009).

Eine Besonderheit von LemaS und der gesamten Initiative ist die Etablierung und Pflege einer kontinuierlichen Wissenschaft-Praxis-Brücke und einer besonderen Form von Research Practice Partnerships (Biesta, 2007; Coburn & Penuel, 2016). Wissenschaft und Praxis sind zwar zwei unterschiedliche Domänen mit je unterschiedlichen „Sprachspielen“ (Wittgenstein 1998, PU 7), in ihrer wechselseitig aufeinander abgestimmten Expertise zielen sie jedoch auf möglichst nachhaltiges Gelingen im Sinne eines „continuous improvement“ (Yurkofsky et al. 2020).

Der Einblick in ausgewählte Ergebnisse aus den verbundübergreifenden Erhebungen, insbesondere der Enderhebung (2022), an den 300 Schulen zeigt Befunde aus Schulsicht zum Erreichen der Ziele und zu förderlichen und hinderlichen Bedingungen für die Arbeit in der Initiative – auch mit Blick auf die Transferphase.

 

Gelingensbedingungen und Hinderungsfaktoren in der Projektdurchführung diagnosebasierter Förderformate – ein Blick zurück nach vorn

Steffen Janke1, Christiane Fischer-Ontrup2, Christian Fischer1
1Universität Münster, 2Universitä Münster

Theoretischer Hintergrund

Im Projektverbund der Teilprojekte 4-6 entstand in der ersten Förderphase das „diFF“-Projekt. Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 3-6 haben im „Rahmen adaptiver Formate des diagnosebasierten individualisierten Forderns und Förderns (diFF)“ die Möglichkeit, „mit Blick auf die subjektive Bedeutsamkeit des Lerngegenstandes (…) ein Thema oder eine Forschungsfrage ihrer Wahl [zu] benennen und sich diesem/dieser selbstreguliert forschend anzunähern“ (Fischer et al., 2021, S. 77). 32 der 300 LemaS-Schulen absolvierten die erste Förderphase im diFF-Projekt. Viele dieser Schulen stehen in der zweiten Förderphase (2023-2027) vor einem Perspektivwechsel und werden zukünftig eine Multiplikatorenrolle übernehmen. Hierbei werden sie neue Netzwerkschulen in der Durchführung des diFF-Projektes begleiten. Ziel dieser Transferphase ist es, die bisherigen LemaS-Ergebnisse und Produkte zu transferieren, „wobei die erfolgreich erprobten und evaluierten Konzepte, Maßnahmen und Strategien in die Breite getragen werden“ (LemaS Forschungsverbund, 2023).

Einen zentralen Bestandteil der ersten Förderphase bildete die enge Zusammenarbeit zwischen dem diFF-Team (Universität Münster), das die wissenschaftliche Begleitung gestaltete, und den Lehrkräften der 32 Projektschulen, an denen die Projektdurchführung umgesetzt wurde. Im Kontext einer Wissenschafts-Praxis-Brücke (Coburn & Penuel, 2016) und mit dem Ziel einer ko-konstruktiven Zusammenarbeit auf Augenhöhe (Bietz et al., 2020) scheint es besonders wichtig, neben den Produkten die zentralen Erkenntnisse und Erfahrungen der bisher beteiligten Projektlehrkräfte zu erfassen, zusammenzutragen und in die Breite zu transportieren. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, zentrale Aspekte zu generieren, die von den projektdurchführenden Lehrkräften als förderlich (Gelingensbedingungen) oder hinderlich (Hinderungsfaktoren) für die Projektdurchführung der ersten Förderphase beschrieben wurden. Somit sollen individuelle Erfahrungen, die von den jeweiligen Lehrkräften in den eigenen Schulen gemacht wurden, gesammelt analysiert und im Sinne eines „Erfahrungskataloges“ zur gelingenden Unterrichts- und Schulentwicklung zusammengetragen werden, um auf dieser Basis wichtige Implikationen für die Akteur*innen der Transferphase sowie eine Weiterentwicklung von Fortbildungsmaterialien und -inhalten zu gestalten.

Fragestellung

Um Erkenntnisse der ersten Förderphase für den Transfer in der zweiten Förderphase aktiv zu nutzen und diesen gemeinsam mit den Multiplikatoren zu gestalten, wird in diesem Beitrag folgenden Forschungsfragen nachgegangen:

(1) Welche Gelingensbedingungen und Hinderungsfaktoren benennen Lehrkräfte des schulinternen LemaS-Teams der ersten Förderphase für eine gelingende Durchführung des diFF-Projektes?

(2) Wie können die berichteten Gelingensbedingungen und Hinderungsfaktoren für die Gestaltung der Transferphase (beispielsweise für die Fortbildung neuer Netzwerkschulen) genutzt werden?

Methode

Die an 32 Schulen tätigen projektdurchführenden Lehrkräfte sowie in Teilen auch die zuständigen Schulleitungen bildeten die Zielgruppe der vorliegenden Erhebung. Die Datengrundlage wurde in einer Vollerhebung in Form leitfragengestützter Interviews (N = 32) mit Akteur*innen aller beteiligten diFF-Schulen der ersten Förderphase in der ersten Hälfte des Jahres 2023 generiert und durchgeführt. Insgesamt entstanden über 23 Stunden Interviewmaterial, das transkribiert und mit Hilfe von MAXQDA (2022) computergestützt qualitativ-inhaltsanalytisch (MAXQDA 2022) ausgewertet wurde. Das Prinzip der Kategorienbildung folgt grundlegend einem deduktiven A-priori-Ansatz (Kuckartz, 2018, S. 63).

Ergebnisse

Insbesondere die Rolle der Schulleitung sowie der Rückhalt im Kollegium stellen zentrale Gelingensbedingungen für die Durchführung des diFF-Projektes in Rahmen der ersten Förderphase dar. Außerdem weisen die Ergebnisse darauf hin, dass zeitliche, personelle und räumliche Ressourcen wichtige Faktoren bilden. Als hinderlich für die Projektdurchführung wurden hingegen vor allem die Corona-Pandemie sowie der fehlende Rückhalt von Kollegium und Schulleitung beschrieben. Die Auswertung einzelner Subkategorien differenziert die jeweiligen Gelingensbedingungen und Hinderungsfaktoren zudem. Die vorliegenden Ergebnisse bieten, neben einem konzentrierten Blick in die Umsetzungs-Praxis des Projektes aus der Perspektive schulseitiger Akteur*innen, zahlreiche Implikationen für die Gestaltung der Transferphase an. So führten die ausgewerteten Rückmeldungen der schulinternen Projektlehrkräfte und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zu ersten Anpassungen in der Fortbildungsgestaltung sowie zur Erstellung von weiterführenden Materialien für die Multiplikator*innen, um die erhobenen Erkenntnisse für alle (zukünftigen) Projektschulen sichtbar zu machen und somit für die Transferphase gezielt zu nutzen.

 

(Was) Kann wissenschaftliche Beratung zur Entwicklung innovativer Schulpraxis beitragen?

Frederik Ahlgrimm, Ricarda Albrecht, Carolina Claus
Humboldt-Universität zu Berlin

Theoretischer Bezugsrahmen

Untersucht werden Entwicklungsprozesse, die Begabungsförderung in Schulen zum Ziel haben und im Rahmen des Forschungsverbundprojektes Leistung macht Schule (LemaS) wissenschaftlich begleitet wurden (Weigand et al. 2022). Begabungsförderliche Schulentwicklung wird verstanden als die systematisierte Weiterentwicklung von Einzelschulen mit dem Ziel, dass Begabungen der Schüler*innen besser erkannt und gefördert werden können. Unter Schulentwicklung wird eine bewusste und absichtsvolle Veränderung verstanden, die von den Mitgliedern der Einzelschulen selbst vorgenommen wird (Dedering 2012).

Angenommen wird, dass die wissenschaftliche Begleitung von Schulentwicklungsmaßnahmen dazu beitragen kann herauszustellen, inwiefern die angewandten Ansätze effektiv und langfristig Wirkung entfalten (können) und tatsächlich zur Verbesserung der Bildungsqualität beitragen (für erste Befunde siehe Hennen 2021, S. 71) – wobei dies gleichsam mit Herausforderungen verbunden ist (siehe dazu Buchberger et al. 2023). Im Rahmen von LemaS wurde die externe Schulentwicklungsberatung über einen Zeitraum von fünf Jahren von ausgewählten Hochschulen durchgeführt; die involvierten Wissenschaftler*innen wurden im Zuge dessen als „schulferne Berater*innen“ tätig (Dedering et al. 2022, S. 349). In der Praxis stellt dieses Vorgehen eine Ausnahmeerscheinung dar. So bestehen Forschungsdes¬iderate nicht nur im Hinblick darauf, welche Faktoren Prozesse der Schulentwicklungsberatung begünstigen oder beeinträchtigen (Dedering et al. 2022, S. 358), sondern ferner, inwiefern insbesondere eine wissenschaftliche Begleitung zum Gelingen begabungsförderlicher, innovativer Schulentwicklung beiträgt.

Fragestellung

In der vorliegenden Studie wurde untersucht, welche innovativen Entwicklungen sich in den beteiligten Schulen ergeben haben. Dabei wird diskutiert, welche Rahmenbedingungen und Maßnahmen begabungsförderliche Schulentwicklungsprozesse unterstützt und/oder beeinträchtigt haben. Zudem wird herausgearbeitet, welche Bedeutung die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen in LemaS hatte. LemaS eröffnet einen geeigneten Rahmen, diese Fragestellungen zu untersuchen, da das Verbundprojekt eine „Wissenschaft-Praxis-Brücke“ (Weigand et al. 2022, S. 20) schafft, in dessen Rahmen wissenschaftliche Forschung und schulische Praxis auf eine langfristig angelegte Weise zusammengebracht und eine engmaschige Zusammenarbeit ermöglicht werden.

Methode

Im Zuge der Studie wurden an 16 Grund- und weiterführenden Schulen insgesamt 18 leitfadengestützte Fokusgruppeninterviews geführt (Döring & Bortz 2016, S. 361ff.). Interviewt wurden Lehrpersonen und Schulleitungen, die zum Zeitpunkt der Erhebungen (2020 und 2021) in Steuer- oder Arbeitsgruppen in die Prozessdurchführung involviert waren. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgte gemäß der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2008).

Ergebnisse

Die befragten Lehr- und Schulleitungspersonen nannten förderliche und hinderliche Bedingungen, die insgesamt acht Dimensionen zugeordnet wurden; diese wiederum wurden unterschieden in projektbezogene und schulinterne Bedingungen. Unter den schulinternen Bedingungen wurden etwa die strukturell sinnvolle Verortung des Themas in der Schule, spezifische, fokussierte Arbeitsweisen aller Beteiligten, Charakteristika des Schulleitungshandelns sowie ausreichende zeitliche und personelle Ressourcen genannt. Unter den projektbezogenen Bedingungen wurden eine stärkenorientierte, wertschätzende Prozessberatung, innovative inhaltliche Impulse, verbindliche Arbeitsweisen sowie Möglichkeiten zum Praxis- und Erfahrungsaustausch zwischen Schulen angeführt. Die besondere Rolle von Wissenschaftler*innen in der Beratung und Begleitung der Schulen wird vor dem Hintergrund dieser empirischen Ergebnisse zur Schulentwicklungsberatung diskutiert. Die Befunde weisen unter anderem darauf hin, dass die wissenschaftliche Begleitung vermag, nicht allein Räume – in und zwischen Schulen – für innovative Entwicklungsprozesse zu (er)öffnen und aufrechtzuerhalten, sondern darüber hinaus Verbindlichkeiten zwischen den Beteiligten herzustellen, derer es im Hinblick auf Kontinuität in der Schulentwicklungsarbeit bedarf. Resümiert wird schließlich, dass Entwicklung und Einführung begabungsförderlicher Maßnahmen sich nicht grundlegend von anderen pädagogischen Innovationsprozessen in Schulen unterscheiden. Abgeleitet werden Schlussfolgerungen sowohl zur Schulentwicklungsberatung als auch zur Gestaltung wissenschaftlicher Beratung und Begleitung in Modellprojekten.

 

Kooperative Unterrichtsentwicklung durch Lesson Study: Effekte auf die berufsbezogene Motivation und Einstellungen zur Kooperation von Lehrkräften

Swantje Bolli, Klara Kager, Julian Bucher, Eva Kalinowski, Miriam Vock
Universität Potsdam

Theoretischer Hintergrund

Im Teilprojekt 22 wurde die Methode Lesson Study, eine Form der kollegialen Unterrichtsentwicklung, an 19 Grundschulen des LemaS-Projekts eingeführt, um begabungs- und leistungsförderlichen Unterricht umzusetzen und zu erproben. Lesson Study stammt ursprünglich aus dem japanischen Bildungskontext und bietet einen systematischen Rahmen für Lehrkräfte, um selbstgesteuert und kontinuierlich den eigenen Unterricht im Team weiterzuentwickeln (Lewis, 2009). Dazu formuliert ein Team von 3–6 Lehrkräfte eine Leitfrage, plant gemeinsam eine Unterrichtsstunde, unterrichtet und hospitiert diese Stunde und reflektiert anschließend im Team, wie Schüler*innen in der Unterrichtsstunde gelernt haben. Lesson Study umfasst daher eine Vielzahl von Aspekten, die als wesentliche Merkmale effektiver Fortbildung von Lehrkräften gelten (Lipowsky, 2014). Laut dem adaptierten Angebots-Nutzungs-Modell für die Evaluierung von Lesson Study (Kalinowski et al., 2021) lässt sich durch die Teilnahme an Lesson Study ein positiver Effekt auf die affektiv-motivationalen Merkmale von Lehrkräften vermuten. Verschiedene Studien konnten einen positive Effekte auf die Selbstwirksamkeitserfahrung (Schipper et al., 2018) und die Kooperationsbereitschaft von Lehrkräften (Quaresma & Da Ponte, 2021) durch die Teilnahme an Lesson Study zeigen.

Fragestellungen

Ziel der vorliegenden quantitativen Evaluation des Teilprojekts ist es, die von Lehrkräften wahrgenommene Veränderung zur Einstellung zur Kooperation und deren berufsbezogene Motivation seit der Einführung von Lesson Study zu erfassen. Die Forschungsfrage lautete daher: Wie schätzen Lehrkräfte die Veränderung von a) Aspekten ihrer berufsbezogenen Motivation sowie b) ihrer Einstellungen zur Kooperation seit Einführung von Lesson Study an ihrer Schule ein?

Methode

Die Datenerhebung erfolgte von Dezember 2022 bis März 2023 als Online-Befragung per standardisiertem Fragebogen an allen 19 Projektschulen und adressierte alle Lehrpersonen und Schulleitungen, die an Lesson Study beteiligt waren. Die Teilnahme an der Befragung war freiwillig und die Analysestichprobe umfasst N = 37 Personen. Die berufsbezogene Motivation von Lehrkräften wurde anhand von Skalen zur Selbstwirksamkeit für das Unterrichten Leistungsstarker (adaptiert nach Hachfeld et al., 2012), zum Enthusiasmus für das Unterrichten Leistungsstarker (adaptiert nach Hachfeld et al., 2012) und zur kollektiven Selbstwirksamkeit (Jerusalem et al., 2009) erhoben (je fünfstufiges Antwortformat). Die Einstellung zur Kooperation seit der Einführung von Lesson Study wurde durch adaptierte Skalen zur Teamorientierung (Hossiep & Paschen, 2003) und zur Kooperationsbereitschaft (Eder et al., 2011) erfasst.

Ergebnisse

Erste Ergebnisse zeigen, dass Lehrkräfte sowohl ihren Enthusiasmus für das Unterrichten Leistungsstarker (M = 3.64; SD = 0.72) und ihre Selbstwirksamkeitserwartung für das Unterrichten Leistungsstarker (M = 3.68; SD = 0.58) als auch ihre kollektive Selbstwirksamkeitserwartung (M = 3.49; SD = 0.47) nach der Teilnahme an Lesson Study mindestens eher höher als zuvor einschätzen. Die Teamorientierung wurde von Lehrkräften als eher hoch eingeschätzt (M = 3.75; SD = 1.1); die Kooperationsbereitschaft hingegen unverändert und als lediglich mittelstark ausgeprägt (M = 2.51; SD = 1.1).

Die Ergebnisse deuten somit erwartungsgemäß darauf hin, dass die Teilnahme an Lesson Study eine positive Wirkung auf Lehrkräfte im Hinblick auf ihre Selbstwirksamkeit für das Unterrichten von leistungsstarken Schüler*innen und ihren Enthusiasmus sowie die Motivation haben kann. Die Bereitschaft der Lehrkräfte, mit Kolleg*innen zusammenzuarbeiten, scheint sich jedoch weder in positiver noch in negativer Hinsicht zu verändern. Implikationen für Lesson Study als Fortbildungskonzept in der zweiten LemaS-Projekt Phase werden diskutiert.

 

Potenzial- und Begabungsförderung im Biologieunterricht – Wissenschaftliche Perspektiven und Lehrpersonenperspektiven im Vergleich und Konsequenzen für die Konzeption von Professionalisierungsangeboten

Julia Schwanewedel, Lilith Koch, Norma H. Martins
Universität Hamburg

Schulleistungsstudien haben eindrücklich aufgezeigt, dass in Deutschland ein Nachholbedarf im Erkennen und Fördern leistungsstarker und potenziell leistungsfähiger Schüler:innen besteht (Vock et al., 2020). Diese Aufgabe kommt Schule als Ganzes, aber auch dem Fachunterricht zu (Weigand et al., 2022). Für den naturwissenschaftlichen Unterricht liegen Ansätze wie das Forschende Lernen als didaktische Leitideen für die Potenzial- und Begabungsförderung nahe. Jedoch haben sich diese Ansätze bisher nicht in der Unterrichtspraxis etabliert (Bruckermann et al., 2017; Käpnick, 2022). Um potenzial- und begabungsfördernde Ansätze im naturwissenschaftlichen Unterricht zu implementieren müssen konkrete Konzepte und Materialien entwickelt und erprobt werden. Zudem ist eine umfassende Professionalisierung der Lehrpersonen unerlässlich. Erfolgreiche Professionalisierungsangebote knüpfen dabei an den Wissensstand, die Vorstellungen, Einstellungen und Überzeugungen von Lehrpersonen an (Desimone, 2009).

Die Entwicklung- und Forschungsarbeiten in Lemas-Bio zielten deshalb darauf ab (1) fundierte Konzepte und Materialien für den Fachunterricht partizipativ mit Lehrpersonen zu entwickeln und zu erproben und (2) Erkenntnisse zur Gestaltung von Professionalisierungsangeboten zu gewinnen. Im Vortrag wird der Fokus auf eine Studie gelegt, die Ziel (2) fokussiert. Ziel ist die Entwicklung von Leitlinien für Professionalisierungsangebote, wobei das Modell der Didaktischen Rekonstruktion für die Lehrkräftebildung als Forschungsrahmen dient (Engelmann & Woest, 2021). Das Modell umfasst drei iterativ verbundene Untersuchungsaufgaben: fachliche Klärung der wissenschaftlichen Perspektiven, Analyse der Vorstellungen von Lehrpersonen, Didaktische Strukturierung (Konzeption von Leitlinien für die Professionalisierung).

Orientiert an diesen Aufgaben standen folgende Forschungsfragen im Fokus:

(1 und 2): Welche Vorstellungen (Wissen, Einstellungen und Überzeugungen) lassen sich bei Lehrpersonen (1) sowie in wissenschaftlichen Quellen (2) zu Begabung und Begabungsförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht und in Bezug auf fachdidaktische Ansätze zum Erkennen und Fördern von Begabungen identifizieren?

(3) Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden beim Vergleich zwischen den Perspektiven der Lehrpersonen und der Wissenschaft deutlich?

(4) Welche didaktisch-methodischen Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Vergleich beider Perspektiven für die Strukturierung und Entwicklung von Professionalisierungsangeboten ableiten?

Methode

Zur Erfassung der Lehrpersonenvorstellungen wurden problemzentrierte, leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Der Interviewleitfaden umfasste u.a. Fragen zu (fachbezogener) Begabung und Begabungsförderung, Diagnose von Begabungen, begabungsförderlichen Haltungen und zum Forschenden Lernen im Kontext der Begabungsförderung.

Die Interviews dauerten 54 -144 Minuten (M = 107.53 min, SD = 23.55). Die Stichprobe bestand aus N = 15 Lehrpersonen (12 weiblich, M = 44, SD = 8.70, 30-60 Jahre) mit den Fächern Sachunterricht oder Biologie. Die Lehrpersonen verfügten über 2-39 Jahre Berufserfahrung (M = 15.6, SD = 10.03). Die Fachliche Klärung umfasste die Analyse von N = 21 einschlägigen wissenschaftlichen Quellentexten (national/international) aus den Bereichen Begabungsforschung, Psychologie, Erziehungswissenschaft und Naturwissenschaftsdidaktik.

Die Interviews wurden transkribiert und redigiert und wie die wissenschaftlichen Quellen mittels einer inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) computergestützt mit MAXQDA2022 ausgewertet.

Ergebnisse

Zentrale Ergebnisse sind auf beiden Seiten ein überwiegend breites Begabungsverständnis sowie Parallelen in den Vorstellungen zur Begabungsförderung und zum Forschenden Lernen, die auf eine Befürwortung des Forschenden Lernens zur Begabungsförderung schließen lassen. Dennoch weisen beide Perspektiven auf Herausforderungen beim Einsatz Forschenden Lernens hin. Die interviewten Lehrpersonen scheinen überwiegend über ein mehrdimensionales Begabungsverständnis zu verfügen, allerdings zeigt die Analyse Unterschiede: während neben der Mehrdimensionalität in der wissenschaftlichen Perspektive der dynamische Charakter von Begabung beschrieben wird (z.B. Stöger et al., 2018), zeigt die Analyse der Vorstellungen der Lehrkräfte eine eher statische Begabungsvorstellung. Unterschiede werden auch beim Verständnis Forschenden Lernens deutlich: während in der Perspektive der Wissenschaft das Forschende Lernen als Ansatz gesehen wird, der wissenschaftliches Denken fördert und Lernen über wissenschaftliche Methoden und die Nature of Science ermöglicht (z. B. Crawford, 2007), stellt er für die meisten Lehrpersonen ein offenes pädagogisch-didaktisches Konzept dar, dass Lernenden interessengeleitetes Arbeiten ermöglicht. Es werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Wissenschaft und Lehrpersonen dargestellt sowie deren Bedeutung für die Gestaltung von Lehrkräftefortbildungen im Kontext fachbezogener Potenzial- und Begabungsförderung diskutiert.

 
11:10 - 12:508-09: MINT-Bildung am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe fördern – Verschiedene Perspektiven auf das Potential außerschulischer Lernorte und den Einsatz digitaler Medien
Ort: S17
 
Symposium

MINT-Bildung am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe fördern – Verschiedene Perspektiven auf das Potential außerschulischer Lernorte und den Einsatz digitaler Medien

Chair(s): Eva Blumberg (Universität Paderborn, Deutschland), Katrin Temmen (Universität Paderborn, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Kim Lange-Schubert (Universität Leipzig, Deutschland)

Sowohl die MINT-Bildung als auch die Medienbildung bei Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu stärken, sind zentrale bildungspolitische Forderungen und aktuelle Herausforderungen für Schule und Unterricht (BMBF, 2019; KMK, 2016, 2019). Adressiert wird dabei nicht nur die Ebene der Schüler*innen, sondern auch die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte und im MINT-Bereich besonders die Förderung von Mädchen und Frauen. Im Sinne einer „Scientific Literacy“ (Bybee, 1997; AAAS, 2009) bzw. „ICT-Literacy“ (International ICT Literacy Panel, 2007) geht es zentral um den Aufbau anwendungsbezogener fachlicher und überfachlicher Kompetenzen bei gleichzeitiger Stärkung motivational-affektiver und selbstbezogener Dimensionen wie Motivation, Interesse, Selbstwirksamkeit und Selbstkonzept. Einer solchen frühen multikriterialen Zielerreichung (Blumberg, 2008, 2020) wird vor allem in der Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen immer mehr Bedeutung zugemessen, v.a. für ein erfolgreiches weiterführendes und lebenslanges Lernen (Schiepe-Tiska et al., 2019). Nicht zuletzt um den aktuellen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts u.a. im Kontext von Nachhaltigkeit und Klimawandel (BMZ, 2021) gewachsen zu sein, ist die frühe Anbahnung einer naturwissenschaftlich-technischen und medialen Grundbildung unabdingbare Voraussetzung für alle Kinder und Jugendlichen.

Die internationalen Schulleistungsstudien TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) und PISA (Programme for International Student Assessment) bescheinigen Deutschland jedoch nach wie vor einen erheblichen Optimierungsbedarf beim naturwissenschaftlichen Lernen (Schwippert et al., 2020a; Reiss et al., 2019): Dies zeigt sich zusammenfassend u.a. nicht nur in einem defizitären Kompetenzniveau sowohl bei Grund- als auch Sekundarstufenschüler*innen, sondern auch im Hinblick auf eine Interessensabnahme und einen Bruch in der Unterrichtsgestaltung am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe (Möller, 2014; Schiepe-Tiska et al., 2016; 2019; Steffensky et al., 2020). Darüber hinaus wurden Defizite bei den Schüler*innen im Kontext der digitalen Testdurchführung offensichtlich, während Sachunterrichtslehrkräfte sich äußerst selten zum Einsatz digitaler Medien fortbilden (Guill & Wendt, 2020; Schwippert et al., 2020b).

Eine bislang in den TIMSS- und PISA-Studien unbeachtete Möglichkeit stellen außerschulische Lernorte dar, die eine besonders motivierende und kognitiv stimulierende Anregungsqualität einhergehend mit einer Interessenssteigerung aufweisen, wie verschiedene Studien belegen (Henriksson, 2018; Füz, 2018; Schiefer et al., 2020). Die Nutzung dieser Chancen außerschulischen Lernens in Kombination mit digitalen Medien zur Optimierung des Übergangs beim naturwissenschaftlich-technischen Lernen von der Primar- in die Sekundarstufe stellt jedoch ein Forschungsdesiderat wie Praxisproblem dar. Entsprechende empiriebasierte praxisorientierte Beispiele zur Verzahnung naturwissenschaftlich-technischen Lernens am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe fehlen.

Auf diese Forschungslücken reagiert das BMBF geförderte Forschungsprojekt „transMINT4.0“ (https://www.bildung-forschung.digital/digitalezukunft/de/bildung/mint-forschung/transmint4_0.html), das im Fokus dieses Symposiums steht und dessen übergreifendes Ziel es ist, durch die Einbindung außerschulischer Lernorte sowie den unterstützenden Einsatz digitaler Medien langfristig die MINT-Bildung von Kindern und Jugendlichen am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe zu optimieren.

Das im Mixed-Methods-Design angelegte Kooperationsprojekt der naturwissenschaftlichen Sachunterrichtsdidaktik und Technikdidaktik verfolgt dazu drei Forschungslinien: (1) ein quer- und längsschnittlich angelegtes quasi-experimentelles Vergleichsgruppendesign in der Primarstufe mit quantitativen und qualitativen Erhebungen auf Schüler*innen- und Lehrkräfte-Ebene, (2) eine qualitative Interview- und Beobachtungsstudie in der Sekundarstufe und (3) eine empiriebasierte Zusammenführung der Forschungsergebnisse zur Entwicklung schulstufenübergreifender naturwissenschaftlich-technischer Lernmodule.

Im Rahmen dieses Symposiums werden erste Ergebnisse aus den Primar- und Sekundarstufenteilstudien vorgestellt und im Hinblick auf die verschiedenen Perspektiven diskutiert:

Im ersten Beitrag werden Ergebnisse aus den schriftlichen quantitativen Prä-Post-Befragungen von Viertklässler*innen (N = 101) zu motivationalen und selbstbezogenen Effekten im Rahmen der quasi-experimentellen Unterrichtsstudie am außerschulischen Lernort zum Thema „Ressourcenschonender Umgang mit Wasser“ vorgestellt.

Im zweiten Beitrag werden Ergebnisse einer qualitativ angelegten leitfadengestützten Interviewbefragung bei Sachunterrichtslehrkräften (N = 18) berichtet, die die Einschätzungen der Lehrkräfte zum Einsatz digitaler Medien an außerschulischen Lernorten aufzeigen.

Im dritten Beitrag werden Ergebnisse aus der ersten im Sekundarstufenbereich qualitativ angelegten Teilstudie berichtet, in der die Moderator*innen eines Workshops (N = 8) des mobilen Paderborner Schüler*innenlabors „coolMINT“ zu ihren ortsabhängigen Erfahrungen leitfadenstützt befragt hat.

 

Beiträge des Symposiums

 

Auswirkungen außerschulischen Lernens auf die MINT-Bildung von Grundschüler*innen – Differentielle Analysen zu motivationalen und selbstbezogenen Zieldimensionen

Jan Roland Schulze, Annkathrin Wenzel, Ricardo Puppe, Eva Blumberg
Universität Paderborn, Deutschland

Die MINT-Bildung bei Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu stärken, ist nicht zuletzt aufgrund des bestehenden Fachkräftemangels nach wie vor ein zentrales Thema der Bildungspolitik. Die frühe Förderung einer naturwissenschaftlich-technischen Grundbildung im Sinne der internationalen Rahmenkonzeption der „Scientific Literacy“ (Bybee, 1993; AAAS, 2009) gilt als konsensfähig. Sie stellt mehr denn je eine zwingend erforderliche Voraussetzung dar, um den aktuellen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gemäß der AGENDA 2030 (BMZ, 2021) im Kontext von Nachhaltigkeit und Klimawandel, wie z.B. die umweltschonende Nutzung erneuerbarer Energien oder ein verantwortungsvoller und ressourcenschonender Umgang mit Wasser, gewachsen zu sein. Neben dem Aufbau fachlicher Kompetenzen wird diesbezüglich im Sinne einer multikriterialen Zielerreichung (Blumberg, 2008, 2020) der Förderung überfachlicher „21st century skills“ (OECD, 2019) wie Kooperations- und Problemlösekompetenzen und der Stärkung motivational-affektiver und selbstbezogener Dimensionen wie Motivation, Interesse, Selbstwirksamkeit und Selbstkonzept in der Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen immer mehr Bedeutung zugemessen, v.a. für weiterführendes und lebenslanges Lernen (Schiepe-Tiska et al., 2019).

Angesichts der nachgewiesenen Bedeutung selbstbezogener Kognitionen auf das Interesse (Krapp & Prenzel, 2011) ist die nachhaltige Förderung von Selbstkonzepten im MINT-Bereich notwendig. Schüler*innen interessieren sich tendenziell wahrscheinlicher für Themengebiete, in denen sie stärkere Fähigkeitsselbstkonzepte zeigen. In Bezug auf die naturwissenschaftliche Interessenentwicklung lässt sich generell ein negativer Trend im Entwicklungsverlauf verzeichnen (z.B. Jacobs et al., 2002; Krapp, 2002), u.a. zurückzuführen auf zunehmende akademische Ansprüche und strengere Benotung an weiterführenden Schulen (Eccles & Midgley, 1989). Gegenwärtige Forschungsergebnisse unterstreichen ein abnehmendes Interesse im Zusammenhang mit naturwissenschaftlichem Lernen und eine geschlechterabhängige Interessendiskrepanz von Schüler*innen im MINT-Bereich (Oppermann et al., 2020).

Eine kaum beachtete Möglichkeit zur Förderung des naturwissenschaftlich-technischen Lernens und Interesses bieten außerschulische Lernorte (ASL) (Guderian, 2007). ASL zeichnen sich daraus aus, Schüler*innen zu motivieren und kognitiv zu stimulieren, letztendlich resultierend in einer Interessensförderung (Henriksson, 2018; Füz, 2018; Schiefer et al., 2020).

An diesem Punkt setzt unsere quasi-experimentelle Studie im Rahmen des transMINT4.0-Forschungsprojekts an. Viertklässler*innen partizipieren an einer naturwissenschaftlich-technischen Lehr-Lerneinheit im Sachunterricht zum Thema „Ressourcenschonender Umgang mit Wasser“. Diese besteht aus zwei 90-minütigen Unterrichtssequenzen plus der Besuch eines außerschulischen Lernorts. An einem Vormittag besuchen die Schüler*innen-Gruppen das Paderborner Wasserwerk, durch das sie ein Vor-Ort-Experte anhand eines didaktisch aufbereiteten Angebots führt. Durch Prä- und Postfragebögen erfassen wir die multiplen Lerneffekte der Viertklässler*innen.

Das vorliegende Projekt zielt darauf ab, den Übergang des naturwissenschaftlich-technischen Lernens von der Primar- zur Sekundarstufe durch die Symbiose von ASL und dem Unterricht im Klassenraum zu optimieren.

An unserer Studie haben insgesamt N = 101 Viertklässler*innen (M = 10,71 Jahre, SD = 0,76 Jahre) teilgenommen. Prä- und postexperimentell haben wir die Viertklässler*innen gebeten, einen Fragebogen zu unterschiedlichen Domänen des bereichsspezifischen Selbstkonzeptes im Sachunterricht („In diesem Sachunterricht gehöre ich zu den besten Schüler*innen“; Alpha = .84/.85) und zum Fähigkeitsselbstkonzept in Bezug auf das Thema „Ressourcenschonender Umgang mit Wasser“ („Über dieses Thema weiß ich eine Menge“; Alpha = .68/.71) auszufüllen.

Die ersten Ergebnisse unserer Studien zeigen eine deutliche Geschlechterdiskrepanz im Hinblick auf die unterschiedlichen Domänen des bereichsspezifischen Selbstkonzeptes im Sachunterricht von Viertklässler*innen. So starten Jungen mit signifikant höheren Selbstkonzeptwerten als Mädchen. Außerdem zeigen die teilnehmenden Viertklässler ein signifikant höheres Fähigkeitsselbstkonzept in Bezug auf das Thema „Ressourcenschonender Umgang mit Wasser“ als die teilnehmenden Viertklässlerinnen. Allerdings zeigen die ersten Ergebnisse unserer Intervention auch, dass unabhängig vom Geschlecht eine statistisch signifikante Zunahme der unterschiedlichen bereichsspezifischen Selbstkonzepte durch den Besuch des außerschulischen Lernortes „Wasserwerk“ nicht bedingt werden kann.

Die gegenwärtigen Forschungsergebnisse bestätigen bestehende Befunde, dass Mädchen in einigen MINT-Bereichen ein negativeres Fähigkeitsselbstkonzept vorweisen als Jungen (Jansen et al., 2014). Dies hat negative Auswirkungen auf ihr Interesse für MINT-Themen (Krapp & Prenzel, 2011). Die von uns registrierten Befunde unterstreichen eine geschlechterabhängige Diskrepanz im Hinblick auf selbstbezogene Kognitionen im Sachunterricht von Grundschüler*innen im Übergang zur Sekundarschule.

 

Der Einsatz digitaler Medien an außerschulischen Lernorten – Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie mit Sachunterrichtslehrkräften

Annkathrin Wenzel, Eva Blumberg
Universität Paderborn, Deutschland

Die zunehmende Verbindung von schulischen und außerschulischen Lernorten stellt eine charakteristische Veränderung der modernen Schule in Deutschland dar (Budde & Hummrich, 2016). Dies ist insbesondere für den naturwissenschaftlich-technischen Sachunterricht in der Grundschule erforderlich (Blaseio, 2016).

Zudem ist die Digitalisierung omnipräsent und der Zugang zu Informationen, Kommunikationsmöglichkeiten und die Teilhabe an der Gesellschaft wird durch die digitalen Möglichkeiten und Angebote maßgeblich kanalisiert. Aus diesem Grund ist eine qualifizierte Medienkompetenz von Schüler*innen unumgänglich, damit sie als sichere Akteur*innen digitale Medien handlungssicher nutzen können (Medienberatung NRW, 2020). Vogelsang et al. (2019) konnten zeigen, dass Lehrkräfte mit mindestens einem naturwissenschaftlichen Fach wenig Hintergrunderfahrung mit digitalen Tools haben. Insgesamt kommt jedoch der Vermittlung von Medienkompetenz in der Grundschule eine wegweisende Rolle zu, da sie den Grundstein für die weitere Medienbildung legt.

Der Umgang mit digitalen Medien und Medienkompetenz kann in verschiedenen Lernkontexten erlernt werden (Süss, Lampert & Trültzsch-Wijnen, 2018), somit auch an außerschulischen Lernorten. Die Bedeutung der außerschulischen Lernorte für die Bildung in Deutschland wird seit den ersten PISA-Ergebnissen 2001 deutlich hervorgehoben. Für den Besuch eines außerschulischen Lernortes werden zahlreiche Vorteile gesehen.

Sowohl digitale Medien als auch außerschulische Lernorte haben einen hohen Stellenwert in der deutschen Schulpolitik. Allerdings gibt es kaum Forschung darüber, wie die beiden Konzepte miteinander kombiniert werden können.

Forschungsfragen:

Da es bisher keine Studien gibt, die sich mit den Meinungen und Einstellungen von Sachunterrichtslehrkräften zum Thema digitale Medien an außerschulischen Lernorten beschäftigen, wurde im Rahmen des vom BMBF geförderten Forschungsprojekt „transMINT4.0“ eine Studie mit folgenden Forschungsfragen entwickelt:

1) Welche Möglichkeiten sehen Sachunterrichtslehrkräfte für digitale Medien an außerschulischen Lernorten?

2) Welche Hindernisse und Nachteile sehen sie für digitale Medien an außerschulischen Orten?

Methode:

Die Interviews (N = 18) wurden anhand eines selbst entwickelten Interviewleitfadens durchgeführt, der Fragen zu verschiedenen Aspekten digitaler Medien und des außerschulischen Lernorts. Die Methode des Leitfadeninterviews wurde gewählt, weil sie eine allgemeine Struktur für das Interview vorgibt, aber dennoch Raum für Flexibilität im Prozess lässt (Döring & Bortz, 2016).

Das Datenmaterial wurde mit der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Rädiker (2022) ausgewertet. Dabei wurden alle Prozessschritte durchlaufen und durch Iterations- und Feedbackschritte ergänzt. Die Bildung der Kategorien erfolgt induktiv und anschließend wird ein Codebuch zur Fixierung erstellt. Zur Überprüfung der Qualität wird die Intercoder-Reliabilität ermittelt (in vergleichbaren Studien lag Cohens Kappa bei .80).

Ergebnisse:

Die ersten Ergebnisse zeigen, dass die befragten Lehrkräfte eine positive Einstellung zu digitalen Medien haben. Zudem würden die meisten Lehrkräfte diese auch am außerschulischen Lernort einsetzen. Insgesamt nennen die Lehrkräfte verschiedene Einsatzmöglichkeiten der digitalen Medien am außerschulischen Lernort, wie die Dokumentation von Ergebnissen mithilfe von Fotos oder Videos sowie die Recherche von Informationen. Diese Einsatzmöglichkeiten sind allerdings nicht besonders divers, sodass viele Kompetenzen des Medienkompetenzrahmens (Medienberatung NRW, 2020) nicht berücksichtigt und die Potenziale der digitalen Medien am außerschulischen Lernort nicht ausgeschöpft werden. Jedoch ist die Mediennutzung am außerschulischen Lernort für einige Lehrkräfte eine wichtige Ergänzung zum Unterricht, da dort andere Möglichkeiten realisiert werden können. Dabei werden beispielsweise die (bessere) Medienausstattung sowie die Betreuung durch Expert*innen genannt. Neben diesen und weiterer Vorteile werden auch Nachteile benannt, dazu zählt unter anderem der mögliche Verlust der originalen Begegnungen der Schüler*innen am außerschulischen Lernort. Ähnliche Ergebnisse konnten bereits in einer Studie mit Lehramtsstudierenden aufgezeigt werden.

 

Gelingensbedingungen non-formalen Lernens an außerschulischen Lernorten – Eine qualitative Interviewstudie mit Workshop-Moderator*innen

Eileen Reckmann, Nesil Dogan, Katrin Temmen
Universität Paderborn, Deutschland

Unsere Gesellschaft ist durch Naturwissenschaften und Technik geprägt (Prenzel et al., 2003), sodass der MINT-Bildung von Schüler*innen besondere Bedeutung zukommt. Da sich Interesse an einem Lerngegenstand u.a. positiv auf den Lernerfolg und eine langfristige Auseinandersetzung damit auswirkt (Blankenburg & Scheersoi, 2018), ist die Förderung der Schüler*innen-Interessen im MINT-Bereich besonders wünschenswert. Allerdings scheint es nach wie vor einen Interessenverlust der Schüler*innen am Übergang von der Grund- zur weiterführenden Schule im Bereich der MINT-Fächer zu geben (Kleickmann, 2011; Möller, 2014). Zu einer Förderung von Interesse können außerschulische Lernorte wie Schüler*innenlabore auf verschiedenen Ebenen beitragen (Brandt, 2005; Guderian, 2007; Pawek, 2009).

Im Rahmen des Projektes „tranMINT4.0“ soll die MINT-Bildung von Kindern und Jugendlichen daher u.a. durch die Einbindung außerschulischer Lernorte am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe optimiert werden. Für Schüler*innen der Sekundarstufe I wurden hierzu im Rahmen des MINT-Clusters MINT4.OWL (https://www.mint4owl.de/) bestehende Workshop-Angebote des Paderborner Schüler*innenlabors coolMINT (https://www.coolmint-paderborn.de/) als mobile außerschulische Lernorte weiterentwickelt, sodass sie an für die Jugendlichen vertrauten Orten (z.B. Jugendzentren, Bibliotheken) durchgeführt werden können. Die Jugendlichen-Gruppen buchen diese Angebote aus eigenem Interesse und nehmen somit freiwillig daran teil. Durchgeführt werden diese mobilen Workshops von studentischen Mitarbeitenden der AG Technikdidaktik der Universität Paderborn.

Das Angebot und die Evaluation solcher speziellen außerschulischen Lernorte stellt ein Forschungsdesiderat dar, das im Rahmen dieser Teilstudie des transMINT4.0-Projekts bearbeitet wird.

Fragestellung

Um erste Erkenntnisse zu erlangen, wird in der vorliegenden Untersuchung folgender Fragestellung nachgegangen:

Welche Gelingensbedingungen liegen dem non-formalen Lernen an mobilen außerschulischen Lernorten aus Sicht der Workshop-Moderator*innen zu Grunde?

Methode

Hierzu wurden im Juni und Juli 2023 mit acht Workshop-Moderator*innen leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Die Methode des leitfadengestützten Interviews wurde gewählt, da sie einerseits Struktur, andererseits Möglichkeiten zu flexiblen Handlungen während der Erhebung bietet (Döring & Bortz, 2016). Der für die Studie neu entwickelte Interviewleitfaden umfasst zwei große Themenblöcke: lern- und Interessensfördernde Merkmale potenzieller außerschulischer Lernorte und Gelingensbedingungen non-formalen Lernens an temporären außerschulischen Lernorten. Die Datenauswertung erfolgte mit einem kombiniert deduktiv-induktiven Vorgehen anhand der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2022). Für die Hauptuntersuchung wurden deduktiv acht Oberkategorien gebildet, die im Verlauf der Auswertung durch 24 induktiv gebildete Unterkategorien ergänzt wurden.

Ergebnisse

Laut der Moderator*innen ist es möglich, alle Institutionen öffentlichen Lebens mit passender Ausstattung zu mobilen außerschulischen Lernorten werden zu lassen. Den Kompetenz- und Wissenserwerb der Lernenden schätzen die meisten Moderator*innen jedoch im Schüler*innenlabor höher ein, da dieser für sie einen untergeordneten Stellenwert an den mobilen außerschulischen Lernorten einnimmt und sie nicht das Gefühl haben, Erwartungen von Lehrkräften erfüllen zu müssen. Die individuelle Ausrichtung und Gestaltung, angepasst an die Wünsche der Lernenden, an den mobilen Standorten wurde häufig hervorgehoben. Die mobilen außerschulischen Lernorte seien mehr auf freies Ausprobieren ausgelegt unter weniger Leistungsdruck. Die Teilnehmer*innen seien dort häufiger motivierter und interessierter. U.a. kann dies auch mit der unterschiedlich gewählten Sprache der Moderator*innen im Schüler*innenlabor und beim mobilen außerschulischen Workshopangebot zusammenhängen. Als gelungen betrachtet wird ein durchgeführter Workshop an einem mobilen außerschulischen Lernort zumeist, wenn die Teilnehmenden Spaß und Freude empfunden haben. Außerdem gaben die Moderator*innen an, einen schulischen Charakter vermeiden zu wollen.

Auf Grundlage der Ergebnisse wird davon ausgegangen, dass grundlegende psychologische Bedürfnisse an mobilen außerschulischen Lernorten befriedigt werden können, positive wertebezogene und emotionale Valenzen begünstigt werden sowie eine bereits höhere motivationale Disposition der Teilnehmenden anzunehmen ist.

 
11:10 - 12:508-10: Die Studiensituation internationaler Studierender in Deutschland – (institutionelle) Rahmenbedingungen, Unterstützungsangebote der Hochschulen und ihre Bedeutung für den Studienerfolg
Ort: S26
 
Symposium

Die Studiensituation internationaler Studierender in Deutschland – (institutionelle) Rahmenbedingungen, Unterstützungsangebote der Hochschulen und ihre Bedeutung für den Studienerfolg

Chair(s): Julia Zimmermann (FernUniversität in Hagen, Deutschland), Knut Petzold (Hochschule Zittau/Görlitz – University of Applied Sciences)

Diskutant*in(nen): Christian Imdorf (Leibniz Universität Hannover)

Internationale Studierende, d.h. Studierende ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben, sind mit einem Anteil von 12% eine bedeutende Gruppe an deutschen Hochschulen, die die Heterogenität der Studierendenschaft maßgeblich prägt (DAAD & DZHW, 2023). Jedoch sind sie im Vergleich zu einheimischen Studierenden seltener erfolgreich in ihren Bemühungen, einen Studienabschluss zu erlangen (Heublein et al., 2022). Trotz einer Intensivierung der Forschungsaktivitäten in den vergangenen Jahren (z.B. Pineda et al., 2022; Wisniewski et al., 2022) liegen im Vergleich zum internationalen Forschungsstand weiterhin vergleichsweise wenige empirische Erkenntnisse zur Studiensituation und den Bedingungsfaktoren des Studienerfolgs dieser Studierenden vor. Im Vergleich zu deutschen Studierenden sind internationale Studierende mit vielfältigen zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert (Pineda et al., 2022). Fast die Hälfte der internationalen Studierenden berichtet beispielsweise Schwierigkeiten bei der Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten wie der Wohnungssuche (DAAD & DZHW, 2019).

Wenngleich viele Hochschulen sich um die gezielte Unterstützung internationaler Studierender bemühen, fehlt es an systematischen Überblicken bzgl. der Angebotsstrukturen und der Wirkung von hochschulseitigen Angeboten, wie z.B. Buddy- und Mentoring-Programmen auf Studienerfolg und Wohlbefinden der Studierenden. Auch die Bedeutung außeruniversitärer Faktoren, wie z.B. der Wohnsituation, für die erfolgreiche Gestaltung des Studienverlaufs wurde bislang nicht systematisch untersucht.

Im Rahmen des Symposiums werden drei Beiträge präsentiert, die diese Fragen aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen (Psychologie und Soziologie) adressieren. Die quantitativ-empirischen Forschungsarbeiten bilden sowohl die individuelle als auch die institutionelle Perspektive ab und nutzen komplexe Verfahren der (längsschnittlichen) Datenanalyse.

Der erste Beitrag widmet sich hochschulexternen Rahmenbedingungen der Studienerfahrung und adressiert die Bedeutung von Wohnformen und sozialen Kontakten für Studienerfolg und Wohlbefinden internationaler Studierender in Deutschland. Mittels Mediationsanalysen in einer Stichprobe von (N = 3,738) internationalen Studierenden wird der Frage nachgegangen, ob vermehrte Kontakte zu unterschiedlichen Studierendengruppen (host nationals, co-nationals und internationals) positive Effekte von Wohnformen, die das Zusammenleben mit Peers implizieren (Flurgemeinschaft im Wohnheim, Wohngemeinschaft im oder außerhalb des Wohnheims), im Verlgeich zum Alleinwohnen vermitteln.

Im zweiten Beitrag liegt der Fokus auf der Bedeutung institutioneller Unterstützungsmaßnahmen für internationale Studierende. Hier wird der Einfluss von Buddy- und Mentoring-Programmen auf die soziale Integration, das akademische Selbstkonzept und die Studienzufriedenheit internationaler Studierender in Deutschland mittels propensity score-Analysen anhand von Daten aus dem International Student Survey (Falk et al., 2021) untersucht.

Der dritte Beitrag adressiert aus einer organisations- und institutionentheoretischen Perspektive die Frage, inwieweit Hochschulen Unterstützungsangebote zum Arbeitsmarkeintritt internationaler Studierender unterbreiten, wie sie diese ausgestalten, in ihren Selbstdarstellungen begründen und welche Bezüge zu den institutionellen und regionalen Kontextbedingungen bestehen. Dazu wird ein paralleles Mixed-Methods-Studiendesign eingesetzt (Kelle, 2008), das sowohl die explorative Auswertung quantitativer Informationen zu allen Hochschulen in Deutschland und ihren Standorten mithilfe einer multiplen Korrespondenzanalyse (Blasius, 2001), als auch eine qualitative Inhaltsanalyse der Internetseiten ausgewählter Fallhochschulen (Mayring, 2022) umfasst.

Die Beiträge werden abschließend durch den benannten Diskutanten diskutiert und hinsichtlich des theoretischen Erkenntnisgewinns und ihrer praktischen Implikationen reflektiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

Die Bedeutung von Wohnformen und sozialen Kontakten für Studienerfolg und Wohlbefinden internationaler Studierender in Deutschland

Hüseyin Hilmi Yildirim, Julia Zimmermann, Judith Sarah Preuß, Kathrin Jonkmann
FernUniversität in Hagen

Die Gestaltung der Wohnsituation wird von vielen internationalen Studierenden in Deutschland als eine zentrale Herausforderung erlebt (DAAD & DZHW, 2019; Zimmermann et al., 2021). Die Wahl einer Wohnform wird dabei nicht nur durch Persönlichkeitsmerkmale (Jonkmann et al., 2014) und individuellen Präferenzen (Wank et al., 2009), sondern auch durch die Bedingungen des Wohnungsmarktes (DAAD & DZHW, 2019) beeinflusst. Gemäß der 22. Sozialerhebung leben 38% der internationalen Studierenden in Deutschland in einer Wohngemeinschaft, demgegenüber gaben 31% an, allein zu wohnen (Kroher et al., 2023).

Flade (2020) beschrieb unterschiedliche Wohnformen mit Bezug zu ihrer Funktion in der Bedürfnisbefriedigung: Die Wohnung bietet Schutz und Sicherheit, ist ein Ort zu Regeneration und Stressabbau und soll Privatheit ebenso wie auch Aktivitäten ermöglichen. Mit Blick auf das Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit bieten verschiedene Varianten von geteiltem Wohnraum (z.B. Zusammenleben mit Peers in einer Flurgemeinschaft im Wohnheim oder in einer Wohngemeinschaft innerhalb oder außerhalb des Wohnheims) unterschiedliche Kontaktmöglichkeiten. Soziale Kontakte stellen ein grundlegendes menschliches Bedürfnis dar, das Fehlen interpersonaler Beziehungen hat demzufolge negative Konsequenzen für das Wohlbefinden (Baumeister & Leary, 1995). Dementsprechend zeigte eine Studie zur Wohnsituation Studierender in Großbritannien (Easterbrook & Vignoles, 2015), dass Studierende in Wohnheimen mit Gemeinschaftsräumen gegenüber denjenigen, denen diese nicht zur Verfügung standen, mehr Kontakte berichteten, was in positivem Zusammenhang mit ihrem Wohlbefinden stand.

Für die internationalen Studierenden lassen sich der funktionalen Netzwerktheorie zufolge verschiedene Gruppen von Kontakten unterscheiden, d.h. Kontakte zu Studierenden des Gastlandes (host nationals), zu anderen Studierenden aus dem eigenen Herkunfstland (co-nationals) sowie zu internationalen Studierenden aus Drittländern (internationals) (Bochner, 2006). Kontakte zu Personen aus dem Herkunftsland (co-nationals) haben eine starke emotionale Komponente (Berry, 2006) und stellen zudem eine Ressource in Form von informeller Unterstützung dar, besonders in der Anfangsphase des Aufenthaltes im Gastland (Kim, 2005). Kontakten der Kategorie internationals wird eine wichtige Funktion bei der Freizeitgestaltung zugeschrieben wohingegen Kontakte zu host nationals vor allem für Unterstützung in akademischen Belangen relevant sein sollen (Bochner, 2006).

In Anbetracht der dargestellten Bedeutung der Wohnform für die Gestaltung sozialer Kontakte und der spezifischen Funktionen, die verschiedenen Gruppen von Kontakten im Hinblick auf das Wohlbefinden sowie die Bewältigung der Studienanforderungen zugeschrieben werden, ging die vorliegende Studie der Frage nach, ob unterschiedliche Wohnformen mit Wohlbefinden, Studienzufriedenheit und Studienabbruchintentionen assoziiert sind und ob diese Effekte über vermehrte Kontakte zu verschiedenen Kontaktgruppen vermittelt werden. Es wurde erwartet, dass Wohnformen, die das Zusammenleben mit Peers implizieren (Flurgemeinschaft im Wohnheim, Wohngemeinschaft innerhalb oder außerhalb des Wohnheims), im Vergleich zum Alleinwohnen zu vermehrten host national, co-national und international Kontakten führen. Den spezifischen Kontaktfunktionen entsprechend, wurden zudem indirekte Effekte dieser Wohnformen auf Wohlbefinden (vermittelt über vermehrte co-national-Kontakte), Studienzufriedenheit und Abbruchintentionen (vermittelt über vermehrte host-Kontakte) angenommen. Es bestanden keine spezifischen Hypothesen hinsichtlich der Bedeutung der Wohnform „Wohnen mit Familienangehörigen“ sowie der Funktion internationaler Kontakte.

Die Hypothesen wurden anhand der Daten (N = 3,738) aus der ersten Erhebungswelle des International Student Survey (Falk et al., 2021) geprüft. Mediationsanalysen mit der Software Process (Hayes, 2018) ergaben, dass das Wohnen in einer Flurgemeinschaft im Wohnheim oder in einer Wohngemeinschaft innerhalb oder außerhalb des Wohnheims indirekt – vermittelt über spezifische Kontaktmuster – mit höheren Ausprägungen in Studienzufriedenheit und Wohlbefinden sowie geringeren Abbruchintentionen im Vergleich zum Alleinwohnen assoziiert ist. Die Zusammenhänge wurden über vermehrte Kontakte zu anderen internationalen Studierenden (alle Outcomes) und über vermehrte Kontakte zu co-nationals (nur Wohlbefinden) vermittelt. Es ergaben sich keine Unterschiede zwischen Studierenden, die mit Familienangehörigen lebten und den Alleinwohnenden.

Die Befunde werden abschließend hinsichtlich ihrer Implikationen für das theoretische Verständnis der Funktion verschiedener Kontaktgruppen internationaler Studierender sowie der Bedingungsfaktoren ihrer erfolgreichen psychologischen und akademischen Adaptation reflektiert. Des Weiteren werden praxisbezogene Schlussfolgerungen hinsichtlich der Gestaltung von Wohnraumangeboten für Studierende diskutiert.

 

Der Einfluss von Buddy- und Mentoring-Programmen auf die soziale Integration, das akademische Selbstkonzept und die Studienzufriedenheit internationaler Studierender in Deutschland

Theresa Thies, Jonathan Koop, Susanne Falk
Bayerisches Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung (IHF)

Buddy- und Mentoring-Programme (sog. Peer-Pairing Programme) sind eine beliebte und vergleichsweise kostengünstige Maßnahme an Hochschulen weltweit, um internationale Studierende mit einheimischen Studierenden in Kontakt zu bringen, den sprachlichen und kulturellen Austausch zwischen den Studierenden zu fördern und den Studienerfolg zu steigern. Bisherige internationale Studien zeigen, dass Peer-Pairing Programme den Studienerfolg internationaler Studierender erhöhen können (z. B. Westwood & Barker, 1990; Herrmann-Werner et al. 2018). Obwohl viele Hochschulen in Deutschland diese Programme anbieten, gibt es bislang keine hinlängliche Evidenz der Wirksamkeit dieser Programme für die soziale und akademische Integration und die Studienzufriedenheit internationaler Studierender.

Im Zentrum der Studie steht daher die Frage, ob die Teilnahme an einem Buddy- oder Mentoring-Programm mit einer höheren sozialen Integration, einem höheren akademischen Selbstkonzept und einer höheren Studienzufriedenheit bei internationalen Studierenden einher geht. Datengrundlage ist das International Student Survey, eine Online-Panelbefragung von internationalen Bachelor- und Masterstudierenden an über 100 Hochschulen in Deutschland, die eine ausländische Staatsbürgerschaft und Hochschulzugangsberechtigung haben (Falk et al. 2021). Um für die Selektion der Teilnahme an einem Buddy- oder Mentoring-Programm zu kontrollieren, wenden wir Matching-Verfahren an, um die unterschiedliche Verteilung von Studierenden in die Treatment-Gruppe (Teilnahme an Buddy- und Mentorenprogramm) und Kontrollgruppe (keine Teilnahme) auszugleichen. Mittels OLS-Regressionen wird für die ersten drei Wellen des Panels untersucht, ob die Teilnahme an Buddy- oder Mentoring-Programmen die soziale oder akademische Integration (im Sinne des akademischen Selbstkonzepts) stärkt oder mit einer Verbesserung der Studienzufriedenheit einhergeht.

Bei der Schätzung der Propensity Scores basierend auf zeitkonstanten, voruniversitären Merkmalen zeigt sich, dass das Informationsverhalten vor dem Studium, aber auch der Migrationsgrund (z. B. Verbesserung von Sprachkompetenzen, ein fremdes Land kennenlernen), frühere Bildungswege und Abschlüsse sowie viele weitere Variablen mit der Teilnahme an den Peer-Pairing Programm korrelieren. Durch das Matching wurde die Balance zwischen Treatment und Kontrollgruppe substantiell in Bezug auf die Selektionsvariablen verbessert. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass die Teilnahme an Buddy- oder Mentoring-Programmen in den ersten drei Semestern mit einer höheren Studienzufriedenheit einher geht. Insbesondere Studierende aus Asien und Pazifik und der Ingenieurwissenschaften profitieren von der Teilnahme an diesen Programmen. Auf Basis der Ergebnisse kann empfohlen werden, Buddy- und Mentoring-Programme an Hochschulen beizubehalten oder diese bereits bei Studienbeginn einzuführen.

 

Die institutionelle Unterstützung internationaler Graduierter beim Arbeitsmarkteintritt. Eine Mixed-Methods-Studie zu Initiativen deutscher Hochschulen

Knut Petzold, Franz Fregin
Hochschule Zittau/ Görlitz – University of Applied Sciences

Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand

Unter dem Eindruck des demographischen Wandels (Destatis, 2019; IAB, 2021) und dem damit einhergehenden sinkenden Anteil qualifizierter Fach- und Führungskräfte in verschiedenen Wirtschaftssektoren gerät die Zuwanderung über die Hochschulen zunehmend in den Fokus. Um internationale Studierende nach ihrem Hochschulabschluss für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen, müssen diese jedoch auch im Land verbleiben. Die Rahmenbedingungen dafür werden in der empirischen Forschung zunehmend adressiert. Dabei wurden in erster Linie bislang individuelle sozioökonomische Merkmale und Einstellungen der Studierenden auf der gesellschaftlichen Mikroebene in den Blick genommen (z.B. Hooijen et al., 2017; Koenings et al., 2020; Sykes & Chaoimh, 2012). Darüber hinaus weisen einige Befunde auf die sozialen Beziehungen (z.B. Cheung & Xu, 2015; Wut et al., 2022) und ökonomischen Entwicklungsmöglichkeiten in den Herkunftsländern auf der Makroebene (z. B. Avivor et al., 2022; Thies, 2022) für Migrationsabsichten hin. Demgegenüber liegen nur sehr wenige Befunde zu den organisationalen und regionalen Bedingungen eines Verbleibs vor, wobei insbesondere die institutionelle Unterstützung und berufliche Erfahrungen in der Region betont werden (z. B. Nachatar, 2022; Niebuhr et al., 2022).

In der vorliegenden Studie wird daher die neben der Mikro- und der Makroebene relevante Mesoebene gesellschaftlicher Institutionen in den Blick genommen. Zusätzlich zu den Graduierten und den potentiell Arbeitgebenden werden die Hochschulen als kollektive Akteure in den Sphären von Bildungssystem und Arbeitsmarkt identifiziert und deren Angebote für internationale Studierende bei der Arbeitsmarktvermittlung beleuchtet. Dabei wird einerseits eine organisations- und institutionentheoretische Perspektive eingenommen (Wilkesmann, 2019) und andererseits ein multimethodisches Forschungsdesign eingesetzt.

Fragestellung

Es wird konkret gefragt, inwieweit Hochschulen Unterstützungsangebote unterbreiten, wie sie diese ausgestalten, in ihren Selbstdarstellungen begründen und welche Bezüge zu den institutionellen und regionalen Kontextbedingungen bestehen.

Methode

Zur Beantwortung der Fragestellung wird ein paralleles Mixed-Methods-Studiendesign eingesetzt (Kelle, 2008), das sowohl die explorative Auswertung quantitativer Informationen zu allen Hochschulen in Deutschland und ihren Standorten mithilfe einer multiplen Korrespondenzanalyse (Blasius, 2001), als auch eine qualitative Inhaltsanalyse der Internetseiten ausgewählter Fallhochschulen (Mayring, 2022) umfasst. Die zugrundeliegenden standardisierten Daten basieren auf einer Vollerhebung ausgewählter Merkmale aller zum Jahresbeginn 2023 aktiven N = 425 Hochschulen in Deutschland. Die institutionellen Merkmale der Hochschulen wurden mittels Internetrecherche zusammengetragen. Die regionalen Kontextmerkmale entstammen der INKAR-Datenbank.

Die explorativen Analysen, erlauben die Abschätzung der Muster institutioneller und regionaler Bedingungen, unter denen Hochschulen als Agentinnen der Studierenden verschiedene Unterstützungsangebote unterbreiten. Die zusätzliche qualitative Inhaltsanalyse baut systematisch darauf auf, bereichert die Interpretation der quantitativen Ergebnisse und sichert diese ab. Auf diese Weise wird ein fundierter Einblick in bestehende Angebotsstrukturen für internationale Studierende durch Hochschulen in Deutschland gewonnen.

Ergebnisse und ihre Bedeutung

Die Korrespondenzanalyse ermöglicht es, verschiedene statistische Kategorien in einen zweidimensional aufgespannten Raum zu projizieren, sodass neben der statistischen Überprüfung des Zusammenhangs eine Visualisierung erfolgt. So werden, neben der Dimension der Organisationsgröße der Hochschulen, Eigenschaften einer Region mittels Regionaldaten, wie Arbeitslosenquote, die Einwohnerzahl oder der Ausländeranteil abgebildet. Auf Grundlage dieser Projektion wurden 20 Fallhochschulen ausgewählt und eine qualitative Inhaltsanalyse der Leitbilder und Selbstverständnisse, welche über die öffentlich zugänglichen Webseiten der Hochschulen zu finden waren, durchgeführt. Neben typischen Angebotsstrukturen für internationale Studierende, konnten auch regionale Besonderheiten oder Limitationen kontrastierend herausgearbeitet werden.

Es werden verschiedene implizite Strategien identifiziert, wie Hochschulen unterschiedlicher

Standorte in Deutschland entweder einen allgemeinen Beitrag zur Internationalisierung in Deutschland leisten oder z. B. mittels spezieller Studien-, Berufsvorbereitungs- und Kulturangebote als gezielten Beitrag zur Integration internationaler Studierender in den deutschen Arbeitsmarkt und darüber hinaus in Deutschland ermöglichen. Der Beitrag der Studie liegt insbesondere darin, über die Bedeutung individueller Merkmale der internationalen Studierenden hinauszugehen und die unterbelichtete Perspektive der Hochschulen als Agenturen näher auszuleuchten.

 
11:10 - 12:508-11: Beiträge zur Perspektive kleiner Kinder in der Sozial- und Bildungsberichterstattung
Ort: S27
 
Symposium

Beiträge zur Perspektive kleiner Kinder in der Sozial- und Bildungsberichterstattung

Chair(s): Susanne Kuger (Deutsches Jugendinstitut, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Christine Sälzer (Universität Stuttgart)

Die Aufgabe der Bildungs- und Sozialberichterstattung ist es, fortlaufend gesellschaftliche Phänomene und Wandlungsprozesse im Allgemeinen sowie diese im Kontext von Bildung im Besonderen zu beobachten. Dabei werden die Berichtsthemen und –gegenstände nicht beliebig ausgewählt, sondern danach, welche Strukturen und Rahmenbedingungen, Prozesse und Verläufe sowie Resultate und Erträge (Purves, 1987, Scheerens, 1990) gesellschaftlich und politisch von besonderer Relevanz sind (Kuger & Klieme, 2016). Im Vordergrund der Berichterstattung stehen ebenso die Beschreibungen von (Un-)Gleichheiten wie die Bedeutung von Mechanismen in Ursache-Wirkungszusammenhängen für das Zusammenwirken von Faktoren in den beteiligten (komplexen) Systemen. Daher widmet sie sich ihrer Aufgabe deskriptiv, analytisch und evaluierend (Maaz & Kühne, 2018).

Die Themenfelder der Bildungs- und Sozialberichterstattung sind vielfältig und berühren die Belange von Kindern in verschiedenster Weise. Es ist nicht unüblich, dass die thematisch sehr breit angelegten regelmäßigen Berichtsformate eine thematische Zuspitzung oder Schwerpunktlegung erhalten (etwa „Digitalisierung“, „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“). Die Auswahl des jeweiligen Schwerpunktthemas signalisiert dabei besonderes Erkenntnisinteresse und fällt zumeist auf ein zeitgeschichtlich besonders relevantes Thema. Von besonderer Bedeutung aufgrund der ihnen zukommenden Aufmerksamkeit, ihrer Reichweite und thematischen Breite, vor allem aber den möglichen praktischen Implikationen für das konkrete Alltagsleben von Kindern sind wohl der Nationale Bildungsbericht sowie der Kinder- und Jugendbericht und der Familienbericht der Bundesregierung. Die Bildungs- und Sozialberichterstattung bearbeitet so Themen, die für das Leben von Kindern zentral sind, die Kinder im Alltag erfahren und erleben, zu denen Kinder eine Meinung haben können und die das zukünftige Leben von Kindern beeinflussen.

Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention sichert Deutschland zu, die Meinung des Kindes in allen es betreffenden Entscheidungen angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife zu berücksichtigen. Trotzdem spielt die Sichtweise von Kindern in den genannten Berichten aus verschiedenen Gründen bisher kaum eine relevante Rolle. Besonders häufig wird als Grund angeführt, dass die Befragung von kleinen Kindern den hohen Standards, die an die Datengrundlagen für die Berichterstattung angelegt werden nicht genügen (Vogl, 2021). Zugleich gibt es in unterschiedlichen Disziplinen und aus verschiedenen Begründungszusammenhängen heraus umfassende Erfahrungen mit den Besonderheiten und dem Wert der direkten Erfassung von Informationen von (kleinen) Kindern selbst (Lipski, 2000). Darunter fallen etwa die medizinische, pädagogische und psychologische Diagnostik (z.B. pädiatrische Untersuchungen, Einschulungsuntersuchung, Sprachstandsfeststellung) oder Gutachten und Zeugenaussagen in juristischen Verfahren (z.B. in Kinderschutzverfahren, beim Familiengericht, als Unfallzeugen).

Um die Sichtweise von Kindern in der Bildungs- und Sozialberichterstattung adäquat einfließen zu lassen, müssen daher Methoden gefunden werden, mithilfe derer die generierten Daten diesen Standards entsprechen. Das Symposium stellt vier Studien vor, die in standardisierten Vorgehensweisen (kleine) Kinder, z.T. ab vier Jahren, zu ihrer Perspektive auf Bildungsthemen befragen, um die Daten in die Berichterstattung einfließen zu lassen. Anhand dieser Studien werden verschiedene Aspekte der Reliabilität und Validität von Kinderbefragungen untersucht sowie traditionelle und neuere Ansätze und Themenbereiche der Befragung diskutiert. Die Studien decken dabei unterschiedliche Bildungskontexte und –phasen, zu denen befragt wird, ab. Beitrag 1 untersucht mit den AID:A-Daten Auskünfte von ab fünf Jahren alten Kindern zum kindlichen Wohlbefinden, speziell zu ihren Familien, Freunden und formalen Lernkontexten (Kindergarten, Schule), d.h. überblickt formale, informelle und non-formale Kontexte. In Beitrag 2 stellt eine Studie Ergebnisse zu Reliabilität und Validität einer bundesweit repräsentativen Befragung von 4- bis 6-jährigen zu der von den Kindern wahrgenommenen Qualität im Kindergarten vor. Beitrag 3 ergänzt um den biografisch nachfolgenden formalen Kontext der Grundschule und berichtet von einem Perspektivenabgleich zwischen Eltern- und Kindersicht. Im Zentrum steht die prädiktive Validität der beiden Informationsquellen. Schließlich geht Beitrag 4 auf neuere Ansätze ein, die technologische Hilfsmittel einsetzen, mithilfe derer die Befragungen noch spielerischer ablaufen können.

 

Beiträge des Symposiums

 

Mit den Augen eines Kindes sehen: die Zuverlässigkeit von Kinderaussagen zum Wohlbefinden in non-formalen und informellen Aufwachsens-Kontexten am Beispiel von AID:A

Inga Simm, Anja Linberg, Thorsten Naab
Deutsches Jugendinstitut, Deutschland

Die Kindheit ist eine entscheidende Entwicklungsphase, in der zentrale Grundlagen für den Bildungsweg, die gesellschaftliche Teilhabe und das Wohlbefinden eines Kindes gelegt werden (Heckman & Masterov, 2007). Die Selbstbestimmungstheorie setzt das Wohlbefinden von Kindern in engen Zusammenhang zu zentralen Bedürfnissen nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit in verschiedenen Kontexten wie Familie, Schule und Freundeskreis (Deci und Ryan, 2002). Die Herausforderung besteht darin, das Wohlbefinden von Kindern in groß angelegten Studien zu erfassen, die derzeit hauptsächlich auf Informationen von Auskunftspersonen über Kinder basieren.

Im Vergleich zu Erwachsenen gelten die Aussagen jüngerer Kinder entwicklungsbedingt oft als weniger zuverlässig. Um Kinder als aktive Gestalter ihrer Umwelt anzuerkennen und ihr Potenzial zu nutzen, bedarf es entsprechender Methoden. Es gilt zu berücksichtigen, dass die Vorstellungen von Kindern gerade beim Wohlbefinden von Erwachsenen abweichen können (Punch, 2002). Die Erkenntnisse aus der medizinischen und pädagogisch-psychologischen Diagnostik und Kompetenzmessung geben bereits Hinweise darauf, wie Befragungen die Entwicklung jüngere Kinder angemessen berücksichtigen können (u.a. Niehaus et al., 2017; Dunn, 2019).

Unklar ist dabei jedoch, (1) welche Methoden sich für die Erfassung des kindlichen Wohlbefindens in large-scale Studien eignen und (2) welche Zusammenhänge sich zwischen Kind- und Elternaussagen beim kindlichen Wohlbefindens finden lassen.

Die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A; Rauschenbach et. al., 2021) liefert seit vielen Jahren bevölkerungsrepräsentative Daten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Die Selbstauskünfte sowie die Angaben von Auskunftspersonen aus dem gleichen Haushalt fließen regelmäßig in verschiedene Sozial- und Bildungsberichte ein.

In der AID:A 2023-Studie werden erstmals Kinder ab fünf Jahren selbst befragt. Die Fragen zum Wohlbefinden von Kindern zwischen fünf und acht Jahren orientieren sich an dem bestehenden Befragungsprogramm für andere Altersgruppen und enthalten auch spezielle Fragen für diese Altersgruppe. Das Instrument wurde umfassend getestet und in Vorstudien mit Kindern reflektiert. Die Befragung selbst wurde für 5 - bis 8Jährige durch einen Interviewer durchgeführt und die Antwortskalen kindgerecht visualisiert (z.B. Smileys, Daumen). Ab 9 Jahren hatten Kinder auch die Möglichkeit auf selbstausfüllende Methoden auszuweichen.

Der Beitrag untersucht die Selbstauskünfte von etwa 1000 Kindern im Alter von 5-11 Jahren sowie die Angaben ihrer Eltern zum Wohlbefinden in drei zentralen Lebensbereichen: Familie (Familienklima, Beziehungsqualität), Schule (Schulzuneigung, Zufriedenheit mit Betreuung) und Freundeskreis (Häufigkeit der Freundeskontakte, Beziehungsqualität). Darüber hinaus werden Aussagen der Interviewer (z.B. Störungen, Anwesenheit der Eltern) berücksichtigt.

Erste Ergebnisse zeigen keine Abbrüche und eine hohe wahrgenommene Motivation der jüngeren Kinder. Der Beitrag wird detailliertere Informationen über altersspezifische Unterschiede und Vergleiche mit den Eltern liefern. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass keine Aussage als valider angesehen wird als die andere, sondern fokussiert darauf, welche zusätzlichen Erkenntnisse durch Selbstaussagen gewonnen wird. Dies erweitert nicht nur Erkenntnisse der Kindheitsforschung, sondern trägt auch zur Weiterentwicklung von Methoden zur Erfassung der kindlichen Perspektive bei.

 

Methode und Belastbarkeit von quantitativer Kinderbefragung – exemplarisch anhand der Daten von 4-7-jährigen für das Monitoring zum KiQuTG

Magdalena Molina Ramirez, Theresia Pachner
Deutsches Jugendinstitut, Deutschland

Im System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung nehmen Kinder einerseits als Adressaten, andererseits als Akteure, die den Betreuungsalltag aktiv mitgestalten, eine zentrale Rolle ein. Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder das Recht, an Entscheidungen beteiligt zu werden, die sie betreffen. Demnach sollen kindliche Sichtweise, Meinungen, Erfahrungen und Vorschläge eingeholt werden, wenn Angelegenheiten, die die Kinder betreffen, geplant und umgesetzt werden. Kindheitsforscher sind zunehmend davon überzeugt, dass man die Aufwachsensbedingungen von Kindern nur dann verstehen und verbessern kann, wenn man Kinder selbst dazu befragt (Ben-Arieh, 2014). Trotzdem wird ihre subjektive Sichtweise in der Sozial- und Bildungsberichterstattung bislang nicht systematisch einbezogen. Denn methodische und forschungsethische Herausforderungen, die mit der Befragung der Sichtweise von Kindern verbunden sind, sind unbestritten (Vogl, 2015). Spricht man jedoch Kindern ihr Recht zu als Experten ihrer Erfahrungswelt zu gehört zu werden, so erscheint es unumgänglich, die Kinderperspektive zukünftig systematischer und selbstverständlicher in die Sozial- und Bildungsberichterstattung einzubeziehen. Dies bedarf einer sorgfältigen Reflexion (Nentwig-Gesemann & Mackowiak, 2012).

In den letzten Jahren wurden vermehrt qualitative Studien durchgeführt, die zeigen, welche Aspekte der Kindertagesbetreuung Kindern wichtig sind (z.B. Nentwig-Gesemann, Walther, Bakels & Munk 2021). Quantitative Studien, die bundesrepräsentative Aussagen erlauben, existieren jedoch bislang nicht. Der Beitrag geht deshalb der Frage nach, mit welcher Methode Kinder befragt werden können und wie reliabel ihr Antwortverhalten ist.

Das Monitoring zum KiQuTG berücksichtigt im Rahmen des ERiK Projekts, neben den Sichtweisen weiterer relevanter Akteure im Feld, auch die Aussagen von Kindern, die selbst in den Kindergarten gehen. Im Sommer 2022 wurde eine persönliche Befragung mit n=479 bundesweit repräsentativ gezogenen Kindern im Alter von 4 bis einschließlich 7 Jahren durchgeführt. Dazu wurde im Rahmen mehrerer Vorstudien eine Befragung entwickelt, die die Sichtweise von Kindern zur Qualität in ihrem Kindergarten einholt. Die Befragung selbst ist als Brettspiel konzipiert, bei der die Kinder mit einer Spielfigur über verschiedene Felder eines abgebildeten Kindergartens ziehen und Fragen zu den folgenden Themenbereichen beantworten: eigenes Wohlbefinden, Räume, Raumnutzung und Bewegungsmöglichkeiten, Freundschaften und Peers, Bewertung der Beziehung zu Fachkräften, positive und negative Aspekte der Kinderbetreuung sowie Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten. Ergänzend wurden die Eltern der teilnehmenden Kinder online befragt, um Informationen zur Betreuungshistorie und Soziodemografie sowie der elterlichen Wahrnehmung der Betreuungssituation zu erhalten. Des Weiteren wurden im Rahmen des ERiK Projekts pädagogische Fachkräfte dieser Kinder zu zum Teil vergleichbaren Themen befragt (vgl. Molina Ramirez et al., in Druck).

Zusätzlich wurde ein kleine Test-Retestbefragung von Kindern in der Pfalz durchgeführt, um zu analysieren, wie robust das Antwortverhalten der Kinder ist. Dabei konnten vom selben Interviewer n=17 Kinder in 3 verschiedenen Kitas im Abstand von ca. 3 bis 4 Wochen zweimal befragt werden.

Erste deskriptive Auswertungen der bundesweit repräsentativen Kinderstichproben n=479 zeigen zum Teil hohe Übereinstimmungen der Sichtweisen von Kindern und pädagogischen Fachkräften: Sowohl Kinder als auch pädagogische Fachkräfte schätzen beispielweise bei der Itembatterie Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Kinder die Items „mit wem spielen“, „was spielen“ und „wo spielen“ am höchsten ein. Erste Reliabilitätsauswertungen (Kendalls Tau bzw. Pearson Korrelation) mit der kleinen Zusatzstichprobe von n=17 Kindern zeigen hohe Übereinstimmungen bei der Frage nach den Freunden im Kindergarten (r=.5) und den Fragen nach der Fachkraft-Kind-Interaktion (Werte zwischen τ=.5 und τ=.8), was auf ein reliables Antwortverhalten der Kinder in diesen Bereichen schließen lässt.

Diese und weitere Ergebnisse werden eingeordnet und vor dem Hintergrund methodischer Limitationen, die vor allem für die Befragung von Kindern gelten, diskutiert.

 

Besitzt die Kindperspektive prädiktiven Mehrwert? Erklärungsbeiträge von Lernfreude aus multiplen Perspektiven für Noten in der Grundschule

Markus Vogelbacher, Manja Attig
Leibniz-Institut für Bildungsverläufe

Die Berücksichtigung der Kindersicht in der empirischen Bildungsforschung bietet neben der Möglichkeit, die Perspektive von Kindern deskriptiv zu repräsentieren auch Potenziale für erklärende Analysen. Die Sicht der Kinder kann neben dem Explanandum also auch das Explanans für weitere Faktoren darstellen. Demnach bietet die Erhebung von Selbstauskünften in quantitativen Studien die Möglichkeit, erklärende Analysen mit Prädiktoren aus Kindperspektive aufzuwerten. Allerdings unterliegen gerade groß angelegte längsschnittliche Bildungsstudien zeitliche und finanzielle Restriktionen und stellen hohe Standards an die Datenqualität. Vogl (2021) verweist darauf, dass standardisierte Befragungen ab ca. 10 Jahren sinnvoll sind. Bei jüngeren Kindern wird demnach häufig auf eine Befragung der Eltern zurückgegriffen. Inwieweit die Kindperspektive einen analytischen Mehrwert zu Auskünften von Dritten (Lehrer oder Eltern) besitzt, ist daher (insbesondere bei jungen Kinder) eine noch nicht ausreichend geklärte Frage. Der vorliegende Beitrag beleuchtet diese Fragestellung beispielhaft am prädiktiven Effekt von Lernfreude der Kinder für Schulnoten und berücksichtigt die Eltern- und Kindperspektive.

Lernfreude stellt einen Ausdruck intrinsischer Motivation (Gottfried, 1990) und damit eine zentrale Funktion beim Kompetenzerwerb dar (Hagenauer & Itter, 2023) und sollte sich somit auch auf die Leistungsbewertung niederschlagen (Gottfried, 1990; Taylor et al., 2014). Da Lernfreude über ihre emotionale Qualität motivational wirksam wird, können in der Eigenperspektive der Kinder hier endogen emotionale Aspekte in die Bewertung einfließen, die über die Beobachtungsperspektive der Eltern nicht abbildbar sind (vgl. Helm & Huber, 2022).

Mit der Hilfe von kindgerechten Instrumenten ist das Selbstkonzept von Kindern bereits ab 6 Jahren reliabel über Selbstauskunft erfassbar (Davis-Kean & Sandler, 2001; Harter, 1996). Selbstbezogene Einschätzungen und Verhalten stehen dann ab ca. 8 Jahren in Zusammenhang (Davis-Kean, Jager & Collins, 2009). Dies lässt vermuten, dass die Eigenperspektive der Kinder auf Lernfreude auch in der Prädiktion von Verhalten und Verhaltensfolgen, die durch Lernfreude beeinflusst werden – z.B. Lernverhalten, Kompetenzerwerb und Leistungsbewertung (Taylor et al., 2014) – einen Mehrwert zur Fremdeinschätzung durch die Eltern aufweist.

Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, inwieweit die Selbsteinschätzung der Lernfreude durch Kinder im Alter von 9 und 10 Jahren eine von der Elterneinschätzung der kindlichen Lernfreude unabhängige Rolle für die Erklärung der Halbjahresnoten in Deutsch, Mathematik und Sachunterricht besitzt.

Die Fragestellung wird mit Daten der Startkohorte 1 des NEPS untersucht (Attig, Vogelbacher & Weinert, 2023). Die Halbjahresnoten (nur Eltern) und die Einschätzung der Lernfreude (Eltern und Kinder) wurden zu zwei Messzeitpunkten (2021 und 2022) in standardisierten Interviews erhoben (Eltern: CATI; Kinder: CASI), als die meisten Kinder die 3. und 4. Klasse besuchten (N=1577/1457; Alter ca. 9 und 10 Jahre). Zur Erhebung der Lernfreude wurden Items des Forschungsprojekts BiKS (Lorenz et al., 2013) verwendet, welche in Anlehnung an eine Subskala des „Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Grundschulkindern dritter und vierter Klasse“ (FEESS 3-4; Rauer & Schuck, 2003) weiterentwickelt wurden. Die Forschungsfrage wird über regressionsanalytische Ansätze und Strukturgleichungsmodellierungen untersucht. Kontrollvariablen, wie der sozio-ökonomische Hintergrund der Familien, werden berücksichtigt.

Erste korrelative Analysen zeigen einen Zusammenhang der selbsteingeschätzten Lernfreude der Kinder mit den Schulnoten von r=-,13 bis -,20 im Alter von 9 Jahren und von -,15 bis -,20 im Alter von 10 Jahren, abhängig vom jeweiligen Fach. Der Zusammenhang der Noten mit der von den Eltern eingeschätzten Lernfreude ist vergleichbar (r=-,18 bis -,30 je nach Fach und Messzeitpunkt). Regressionen der Halbjahresnote in Deutsch auf Lernfreude aus Eltern- und Kindperspektive im Alter von 9 Jahren zeigen signifikante Effekte für Eltern- und Kindauskunft (ß=-,18/-,12), ebenso im Alter von 10 Jahren (-,26/-,09). Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Prädiktion der Halbjahresnote in Deutsch im Alter von 10 mit der Lernfreude im Alter von 9 Jahren (-,22/-,10). Die Ergebnisse werden im Hinblick der Bedeutung der kindlichen Perspektive für die Bildungsforschung diskutiert.

 

Zum Einsatz von Audiostiften zur Unterstützung von Befragungen mit Kindern im Vor- und Grundschulalter

Thorsten Naab, Inga Simm, Moritz Abraham
Deutsches Jugendinstitut, Deutschland

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in zahlreichen Disziplinen der Kindheitsforschung ein Paradigmenwechsel von der Forschung über Kinder hin zur Forschung mit Kindern vollzogen (Büker et al., 2018; Weise et al., 2020). Anstatt Kinder als passive Teilnehmende der Gesellschaft zu betrachten und sich an Sorgen und Interessen von Erwachsenen zu orientieren, sieht die heutige Forschung Kinder immer stärker als aktive Gestalter:innen ihrer eigenen Umwelt. Dementsprechend versucht die Kindheitsforschung, den gesellschaftlichen Ansprüchen an die Berücksichtigung von kindlicher Agency, Autonomie und Selbstbestimmung gerecht zu werden (Hammersley, 2017; Sutterlüty & Tisdall, 2019). Hierzu versuchen Forschenden die Perspektive von Kindern auf für sie relevante Themen sichtbar zu machen, indem sie sie dazu befragen.

Insbesondere bei standardisierten Befragungen kommen dabei jedoch nicht alle Kinder gleichermaßen zu Wort. Während Kinder, die über grundlegende Lese- und Schreibkenntnisse verfügen, vergleichsweise häufig befragt werden (Lorenz et al., 2021), kommen jüngere Vor- und Grundschüler:innen, die diese Kompetenzen nicht besitzen, in quantitativen Erhebungen kaum zu Wort. Grund dafür sind die methodischen Herausforderungen, die mit der Befragung von jüngeren Kindern einhergehen. Zum einen müssen Forschende Erhebungsinstrument und -situation an die individuellen Bedürfnisse von Kindern und ihren kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklungsstand anpassen (Lorenz et al., 2021). Gerade jüngere Kinder können sich in ihrem Entwicklungsstand stark voneinander unterscheiden, so dass sich standardisierte Erhebungsinstrumente nur mit Einschränkungen umsetzen lassen. Zum anderen sind insbesondere jüngere Kinder im Vergleich zu älteren stärker auf die Unterstützung von Eltern, Fachkräften oder Interviewenden (z.B. beim Lesen eines Fragebogens) angewiesen, um bei einer Befragung mitmachen zu können. Dies birgt für Forschende jedoch die Gefahr einer unbewussten oder bewussten Einflussnahme, die das Antwortverhalten der Kinder verändert, weshalb in der Befragungssituation bestehende und wahrgenommene Abhängigkeits- und Autoritätsverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern sowie Aspekte sozialer und personaler Erwünschtheit zu berücksichtigen sind (Bell, 2007; Punch, 2002; Vogl, 2015).

Der vorliegende Beitrag adressiert zunächst die beschriebenen methodischen Herausforderungen bei der standardisierten Befragung von Kindern im Vor- und Grundschulalter. Als Lösungsansatz wird die Adaption eines Computer-Assisted-Self-Interview-Fragebogens (CASI) mithilfe eines Audio-Stifts vorgeschlagen.

Audio-Stifte sind audiodigitale Lern- und Kreativsysteme, die im Kern aus Speichermedium, Infrarot-Scanner und Audioausgabe sowie bei einigen Versionen einem Mikrofon bestehen (SCHAU HIN!, 2022). Kinder können mit dem Stift bei kompatiblen Büchern, Spielen und Spielzeugen durch Antippen ergänzende Audioinhalte abspielen. Darüber hinaus sind in zahlreichen Büchern, Spielen und Spielzeugen interaktive Elemente integriert, bei denen Kinder aufgefordert werden, bestimmte Felder bzw. Bilder auszuwählen und anzutippen. Durch quelloffene Drittanbietersoftware lassen sich die Funktionen von Audio-Stiften für eigene Digitalprojekte (Breitner, 2019, 2020) und damit zur Umsetzung einer Befragung nutzen.

Dadurch können Audiostifte Forschenden helfen, entwicklungsbedingte Zugangsvoraussetzungen für Kinder zu reduzieren. So lässt sich mithilfe von Audiostiften die Lesebarriere eines Fragebogens durch das Abspielen von Fragen im Audioformat nivellieren. Bei der Fragebogengestaltung lassen sich, analog zu den Angeboten der Audiostift-Anbieter, Bilder, grafische Darstellungen oder Spielfiguren durch Forschende in den CASI-Kontext einbinden.

Darüber hinaus kann die Verwendung von Audiostiften im Rahmen von Kinderbefragungen helfen, die Einflüsse von anwesenden Erwachsenen sowie der Interviewsituation auf das Antwortverhalten der befragten Kinder zu minimieren. Da Audiostifte unter vielen Kindern bekannt sind, sind auch jüngere Kinder im Vergleich zu Tablet, App oder Smartphone relativ geübt im selbstständigen Umgang damit ohne eine erwachsene Bezugsperson (Pfost & Becker 2020; Pfost, Freund & Becker 2018). Dies gilt insbesondere auch für Kinder bildungsferner Elternhäuser (Pfost & Becker 2020). Schließlich wird durch die spielerische Gestaltung der Befragung die für Kinder ungewohnte Befragungssituation aufgebrochen. Gerade bei Kindern im Vorschulalter besteht dabei eine gute Passung zum familialen und institutionellen Kontext, in dem Kinderbefragungen üblicherweise stattfinden.

Zusammengenommen hat der Einsatz von Audiostiften bei Kinderbefragungen das Potential die Validität und Reliabilität von Studien zu stärken und Einflüsse der Erhebungssituation sowie anwesender Dritter zu minimieren.

 
11:10 - 12:508-12: Fachliche Perspektiven auf Kulturelle Bildungsforschung
Ort: S19
 
Symposium

Fachliche Perspektiven auf Kulturelle Bildungsforschung

Chair(s): Caroline Theurer (Julius-Maximilians-Universität Würzburg), Nicole Berner (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Katrin Rakoczy (Universität Giessen)

Evidenzbasierte Forschung zur Kulturellen Bildung erfuhr in den vergangenen Jahren zunehmende Aufmerksamkeit (Scheunpflug & Prenzel, 2013; Pürgstaller, Konietzko & Neuber, 2020). In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen war ein vermehrtes Interesse und eine entsprechende Aktivität erkennbar, die sich auch in mehreren Förderlinien widerspiegelte. Wird Kulturelle Bildung spartenübergreifend definiert, wird sie meist als Sammelbegriff für vielfältige Bildungsangebote für Menschen jeder Altersgruppe in verschiedenen Sparten wie Bildende Kunst, Musik, Literatur, Tanz und Theater verstanden (Fuchs, 2009). Ausdrücklich wird von vielen Akteur:innen im Feld auch Sport und Bewegung als kulturell-ästhetische Sparte eingeschlossen (z.B. Pürgstaller et al., 2020). Ästhetische Komponenten Kultureller Bildung bieten ergänzende Lerngelegenheiten, bei denen nicht nur fachliche Aspekte erlernt werden können, sondern gleichermaßen die Persönlichkeitsentwicklung angesprochen wird. So erfordern kulturell-ästhetische Tätigkeiten Durchhaltevermögen und Persistenz in der Ausübung, bieten Offenheit und Mehrperspektivität durch sinnliche Erfahrungen und können so auch zur Identitätsbildung und Stärkung des Selbstkonzepts von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beitragen. Kulturelle Bildung stellt im Kontext allgemeiner Bildung einen festen Bestandteil schulischer wie außerschulischer Bildung dar (vgl. Keuchel, 2013) und wird für die kulturelle Teilhabe der Heranwachsenden sowie für die Förderung von Kreativität als relevant erachtet (vgl. Kultusministerkonferenz, 2013; Liebau, 2008; Winner, Goldstein & Lancrin, 2013), Sogenannte Transfereffekte Kultureller Bildung auf die Persönlichkeit, kognitive Maße oder sogar Lernleistungen (Hamer, 2014; Rittelmeyer, 2010) stellen einen eigenen Forschungsbereich innerhalb Kultureller Bildungsforschung dar und können im schulischen Bereich oder außerschulischen Bereichen verortet werden. Derartige Transfereffekte können weiterhin spartenübergreifend betrachtet werden (z.B. Moga et al., 2000; Winner et al., 2013; Rogh et al., 2017) oder aber fachspezifische Blicke auf Wirkungen Kultureller Bildung werfen (z.B. Berner, Jacobi-Theurer & Rogh, 2019; Hetland & Winner, 2001 Rakoczy et al., 2022). Die hier vorgestellten Beiträge geben aus den drei verschiedenen Sparten Kultureller Bildung Musik, Tanz und Bildende Kunst Einblicke in aktuelle empirische Forschungsprojekte zur Konzeptualisierung und Förderung von Kreativität.

Johannes Hasselhorn fragt danach, wie Kreativität in Musik erkannt, gemessen und diagnostiziert werden kann. Es wird ein theoretisch begründetes Modell kreativer Kompetenz (in Musik) vorgestellt, das auch auf pädagogisches Handeln anwendbar ist, indem Professionswissen zur Förderung kreativer Fähigkeiten ableit-bar wird, sodass Lehrkräfte über potenziell kreativitätsfördernde Aufgaben hinaus ihr Handeln reflektieren können. Perspektivisch dient dieses Modell auch der Instrumentenentwicklung.

Esther Pürgsteller analysiert, welche Relevanz Tanzlehrkräfte der Kreativitätsförderung beimessen und wie die beigemessene Relevanz mit kreativitätsfördernder Unterrichtspraxis korrespondiert. Genutzt werden Daten der Studie „Tanz- und Bewegungstheater – Ein künstlerisch-pädagogisches Projekt zur Kulturellen Bildung in der Ganztagsgrundschule“ (Stern et al., 2017) im Rahmen derer u.a. Videoanalysen eingesetzt wurden, um die methodisch-didaktische Praxis der Tanzlehrkräfte systematisch zu beschreiben.

Nicole Berner und Caroline Theurer widmen sich basierend auf Daten der längsschnittlich angelegten KuBiK5-Studie (Theurer et al., 2023) dem bildnerisch-künstlerischen Fähigkeitsselbstkonzept als Teil des kreativen Selbstkonzepts von Schüler:innen im Bereich der Bildenden Kunst und untersuchen, inwiefern diese selbstbezogenen Kognitionen vom individuellen Interesse an Bildender Kunst sowie schulischen und außerschulischen Tätigkeiten, wie z.B. dem Besuch von Jugendkunstschulen, abhängig sind.

Das interdisziplinäre Symposium rahmt damit Studien, die sich aus ihrer jeweiligen Fachdisziplin heraus mit pädagogisch-didaktischen Einflüssen auf die Lernentwicklung von Heranwachsenden auseinandersetzen. Damit wird mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Thematiken und methodischen Herangehensweisen auch die Frage adressiert, wie (in den jeweiligen Domänen) gute unterrichtliche Angebote aussehen müssten (Praetorius & Gräsel, 2021; Rakoczy, Wagner & Frick, 2021), damit sie wirksam sein können. Die vorgestellten Studien werden von Katrin Rakoczy zusammenfassend diskutiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

Entwicklung eines Modells zur Erfassung kreativer Kompetenz in Musik

Johannes Hasselhorn
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland

Hintergrund

Kreativität und kreative Entwicklung sind von der UNESCO als Menschenrecht definiert (UNESCO, 2006). Kreativität gilt außerdem als ein „Leitbegriff für musik-pädagogisches Denken und Handeln“ (Stöger, 2018). Der Bildungsbericht 2012 kam zu dem Schluss, dass es in diesem Bereich „an einer outcomeorientierten Forschung“ fehle (Autorengruppe Bildungsbericht, 2012, S. 198), obwohl frühe Vorarbeiten aus dem Bereich der psychologischen Intelligenzforschung vorliegen (z.B. Guilford, 1950). Dieser Umstand ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass es nach wie vor einen Mangel an geeigneten Messinstrumenten gibt, die zur Erfassung und Dokumentation von Entwicklungsständen von Kreativität (in Musik) bei Schüler:innen geeignet sind (vgl. Ryan & Brown, 2012).

Ausgehend von Guilford (1950), auf den sich fast alle Kreativitätsmodelle und -theorien beziehen, haben sich vier unterscheidbare „Typen“ von Kreativitätsmodellen herauskristallisiert: produkt-, persönlichkeits-, prozess- und umfeldorientierte Ansätze (vgl. Stöger, 2018). Neuere Ansätze scheinen sich dabei nicht mehr auf einen dieser Ansätze zu fokussieren, sondern folgen in der Regel einer Verknüpfung mehrerer Ansätze (vgl. Lubart et al., 2011). Dabei spielt auch häufig das kognitive Spiel zwischen divergentem und konvergentem Denken eine zentrale Rolle, wie auch im Modell kreativen Denkens in Musik (Webster, 2003). Kreativität zeigt sich dabei in der gleichzeitigen Erfüllung zweier Bedingungen: Zum einen ist Neuheit bzw. Originalität wichtig, die sich in einem Produkt oder in einem Lösungsweg zeigt, zum anderen Angemessenheit bzw. Brauchbarkeit dieses Produkts oder Lösungswegs (Barron, 1955; Groeben, 2014; Stein, 1953).

Aufgrund der großen quantitativen und qualitativen Heterogenität künstlerisch-kultureller Aktivitäten wird in der Literatur in Zusammenhang mit schulischer Bildung eine Unterscheidung zwischen den künstlerischen Fächern empfohlen (Weishaupt & Zimmer, 2013). Das bezieht sich auch auf Kreativität, die nach aktuellem Stand der Forschung zwar auf einer generellen, fachunabhängigen Kreativitätskomponente beruht, sich allerdings bedingt durch fachspezifische Kompetenzen und situationsspezifischen Aufgabenmotivationen in fachspezifisch unter-scheidbaren Ausprägungen manifestiert (z.B. im Modell nach Amabile, 1996).

Fragestellung

Die Messung von Kreativität in Musik stellt eine große Herausforderung dar, was auch eine noch fehlende theoretische Konzeptionalisierung zurückführbar ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie kreative Kompetenz in Musik model-liert und erfasst werden kann. Dieser Fragestellung wird sich im Vortrag gewidmet.

Methode

Die Forschungsfrage wird in dieser Projektphase analytisch-literaturbasiert bear-beitet. Es liegen verschiedene Tests vor (z.B. TTCT [Torrance, 1998], EPoC [Lubart et al, 2011], MMPS [Vold, 1986], MCSM [Wang, 1985], MCTM [Webster, 1984]), die jedoch keine zufriedenstellenden Gütekriterien hinsichtlich Reliabilität und Validität erreichen. Weitere Versuche der Messung musikalischer Kreativität stützen sich auf nicht standardisierte Verfahren mit offenen Aufgabenformaten in einge-grenzten Inhaltsbereichen wie beispielsweise der Komposition (z.B. Hickey, 2001) oder zu spontanen Verhaltensweisen bei nicht angeleiteten Erstbegegnungen mit Musikinstrumenten (z.B. Young, 2003). Diese Verfahren sind kaum ökonomisch einsetzbar und wurden daher nach ihrer Publikation kein zweites Mal eingesetzt.

In Verbindung mit dem auf Weinert (2001) aufbauenden und im überwiegenden Teil der empirischen Bildungsforschung verwendeten Kompetenzansatzes (Klieme et al., 2003), wird nun der eher strukturierende Modellansatz von Amabile (1996) mit dem eher prozessorientierten Ansatz von Webster (2003) zu einem Kompetenzstrukturmodell von Kreativität zu verbunden.

Ergebnisse

Es entsteht ein dreidimensionales Strukturmodell, in dem (A) kreative Prozesse in die Subdimensionen divergente und konvergente Denkprozesse unterteilt sind, (B) domänenspezifische Komponenten in Fachwissen und Expertisegrad und (C) Motivation in Leistungsmotivation und Aufgabenmotivation (vgl. Hasselhorn, 2022). Das so resultierende Modell hat vorbehaltlich seiner empirischen Validierung das Potential, in unterrichtlichen Kontexten evaluativ eingesetzt zu werden und so eine inhaltlich detailliertere Antwort auf Fragen nach gezieltem Förderbedarf einzelner Schüler:innen zu geben. Darüber hinaus bietet das Modell die Möglichkeit den konkreten Inhaltsbereich einfach zu variieren, sodass kreative Kompetenz verschiedener Domänen ökonomisch erfasst und verglichen werden kann.

 

Ist die Förderung von Kreativität relevant? Der Zusammenhang zwischen der Bedeutung, die Tanzlehrkräfte Kreativitätsförderung beimessen, und ihren methodisch-didaktischen Handlungsweisen

Esther Pürgstaller
Universität Potsdam

Theoretischer Hintergrund

Kreativität gilt in der Schule als wichtiges Bildungsziel. Sie kann als Fähigkeit verstanden werden, viele (Produktivität), unterschiedliche (Problemlösungsfähigkeit) und unkonventionelle, neuartige Ideen (Originalität) zu generieren (Pürgstaller, 2020). Die Kreativitätsentwicklung wird von internen und externen Faktoren beeinflusst (Theurer, 2014). Zu letzteren zählen Aktivitäten, die Erfahrungs- und Möglichkeitsräume bieten, in denen (un)bekannte (Bewegungs)Muster entdeckt und durchbrochen werden können (Klinge, 2010). Kreativer Tanz stellt einen derartigen Erfahrungsraum dar. Im Kreativen Tanz liegt der Schwerpunkt auf der Förderung individueller Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten (Chappell, 2007). Da-für kommen methodisch-didaktische Handlungsweisen zum Einsatz, die als besonders förderlich für die Kreativitätsentwicklung gelten, wie (schüler:innenorientierte) Sozialformen, Unterrichtsmethoden (z.B. Improvisation) oder Aufgabenstellungen mit teiloffenen und offenen Freiheitsgraden (vgl. u.a. Cropley, 1992; Berner & Lotz, 2015; Sowden et al., 2015). Insofern bietet Kreativer Tanzunterricht besondere Anknüpfungspunkte für die Kreativitätsförderung. Forschungsergebnisse zei-gen jedoch, dass Tanzlehrkräfte wenig Raum für kreative Erfahrungen lassen (Watson, Nordin-Bates & Chappell, 2012) und selten kreativitätsfördernde methodisch-didaktische Handlungsweisen in ihrem Unterricht einsetzen (Chappell et al., 2011). Einer der Gründe könnte an ihren persönlichen Werteüberzeugungen und Einstellungen liegen (Aljughaiman & Mowrer-Reynolds, 2005; Theurer, Freytag & Hein, 2018)), z. B. in der widersprüchlichen Bedeutung, die sie Kreativitätsförderung beimessen (Kettler et al., 2018).

Fragestellung

Bisher berücksichtigen nur wenige Studien zu kreativitätsfördernder Unterrichtspraxis die Relevanz, welche Tanzlehrkräfte Kreativitätsförderung . Vor diesem Hintergrund zielt der Beitrag auf die Frage ab, ob die von Tanzlehrkräften zugeschriebene Bedeutung gegenüber Kreativitätsförderung ihre methodisch-didaktische Praxis beeinflusst.

Methode

Das Forschungsvorhaben ist eingebettet in die Studie „Tanz- und Bewegungstheater – Ein künstlerisch-pädagogisches Projekt zur Kulturellen Bildung in der Ganztagsgrundschule“, bei der Indikatoren des Selbstkonzepts, der emotionalen Kompetenz sowie der Kreativität bei Grundschulkindern erhoben wurden (Stern et al., 2017). Den Kern der quasi-experimentellen Längsschnitt-Studie im Kontrollgruppendesign bildet ein dreimonatiges künstlerisch-pädagogisches Tanz- und Bewegungstheater-Angebot, das von Tanzlehrkräften an zehn Mainzer Grundschulen durchgeführt wurde. Für die vorliegende Studie wurden während des Tanzprojektes sechzehn 90-minütige Unterrichtseinheiten von vier erfahrenen Tanzlehrkräften (M = 18.7 Jahre) videographiert. Um Rückschlüsse auf die Unterrichtsgestaltung ziehen zu können, analysierten zwei geschulte Kodierer den Unterricht über ein eigens entwickeltes niedrig-inferentes Kategoriensystem hinsichtlich der methodisch-didaktischen Inszenierung (Lektionsdauer, Sozialform, Unterrichtsmethoden, Freiheitsgrad der Aufgabenstellung, kreativitätsfördernde Aufgabenstellungen) (Pürgstaller, 2020). Zudem wurden Daten aus 131 Fragebögen ausgewertet, welche die Tanzlehrkräfte nach jeder Unterrichtseinheit ausfüllten. Neben Fragen zu ihrem methodisch-didaktischen Ansatz schätzten sie auf einer 4-stufigen Likert-Skala u.a. die Bedeutung der Kreativitätsförderung in der jeweiligen Unterrichtseinheit ein.

Ergebnisse

Die deskriptiven Ergebnisse deuten darauf hin, dass Tanzlehrkräfte der Kreativitätsförderung generell einen hohen Stellenwert einräumen, wobei die Förderung der Kreativitätsfacette Produktivität den höchsten Stellenwert einnimmt. Aus der Analyse der videobasierten Unterrichtsbeobachtung geht jedoch hervor, dass ihre Unterrichtspraxis nur teilweise durch kreativitätsfördernde methodisch-didaktische Handlungsweisen gekennzeichnet ist. Regressionsanalysen zeigen weiterhin, dass die Bedeutung, die die Tanzlehrkräfte Kreativitätsförderung beimessen, ein statistisch signifikanter Prädiktor für das zeitliche Ausmaß ist, das sie für kreativitäts-fördernde methodisch-didaktische Handlungsweisen aufwenden.

 

„Kunst kann ich nicht!“ – Zum Fähigkeitsselbstkonzept und Interesse im Bereich Kunst von Fünftklässlern und wie kulturelle Bildung dazu beitragen kann

Nicole Berner1, Caroline Theurer2
1Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Hintergrund

Der schulische Kunstunterricht kann einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Teil-habe leisten (Kirchner & Kirschenmann 2015, Weishaupt et al., 2011). Dabei dürfte es entscheidend sein, ob es gelingt, Schüler:innen für Kunst und Kultur zu interessieren und nachhaltige Entwicklungen anzustoßen. Künstlerischen Prozessen wird in Zusammenhang der Entwicklung bildnerischer Fähigkeiten seitens der kunstdidaktischer Theoriebildung einen wichtigen Einfluss auf die Identitätsbildung und Selbstkonzeptentwicklung zugeschrieben (Kirchner 2014). Das Fähigkeits-selbstkonzept ist neben dem sozialen, emotionalen und körperlichen Selbstkonzept ein Teil des globalen Selbstkonzepts (Shavelson et al. 1979) und beeinflusst damit die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen (Feng, Wang & Rost, 2018). Es ist weitgehend hierarchisch gegliedert und differenziert sich im Laufe des Lebens aus. Insbesondere Fähigkeitsselbstkonzepte (auch als akademische Selbstkonzepte bezeichnet) entwickeln sich entlang verschiedener Domänen bzw. bestimmter Teilbereiche innerhalb von Domänen (Möller & Trautwein, 2020). Während die Erfassung von domänenspezifischen Selbstkonzepten in den Bereichen Lesen, Schreiben oder Rechnen mittlerweile bereits im Grundschulalter als etabliert angesehen werden kann (z.B. Hellmich, 2011), ist es noch weitaus unüblicher Fähigkeitsselbstkonzepte in künstlerischen Domänen zu erfassen (Theurer et al., i.V.) und zu anderen Variablen in Beziehung zu setzen. Als Determinanten der Selbstkonzeptgenese werden sowohl individuelle als auch soziale Einflüsse be-schrieben (Möller & Trautwein, 2020). Demnach müssen Individuen zunächst Erfahrungen mit dem jeweiligen Gegenstand machen können um domänenspezifische Selbstkonzepte zu entwickeln. Bislang fehlen fachdidaktische Studien, die klären, inwieweit hier Wechselbeziehungen zwischen dem künstlerischen Fähigkeitsselbstkonzept und schulischen wie außerschulischen künstlerischen Bildung bestehen.

Fragestellung

Im Vortrag wird die Dimension des künstlerisch-bildnerischen Fähigkeitsselbstkonzept als ein Bereich des kreativ-kulturellen Selbstkonzept (Theurer et al., i.V.) be-leuchtet. Die zentralen Fragestellungen des Vortrags lauten: Wie entwickelt sich das künstlerische Selbstkonzept im Verlauf des fünften Schuljahres? Welche Erfahrungen und Einflüsse im schulischen wie außerschulischen Bereich nehmen Einfluss auf diese Entwicklung?

Methode

Zur Beantwortung der Fragestellungen werden Daten aus dem Projekt KuBiK5 (Kulturelle Bildung und Kreativität im fünften Schuljahr; Theurer, Berner, Wemmer-Rogh & Lipowsky, 2023) genutzt. Zu Beginn des fünften sowie zu Beginn des sechsten Schuljahres wurden über 1000 Kinder u.a. per Fragebogen zu ihren Selbstkonzepten in verschiedenen kreativ-kulturellen Bereichen (z.B. Kunst, Literatur, Tanz, Theater, Musik), ihren kreativ-kulturellen Interessen sowie (potenziell) kulturell bildenden Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Schule befragt.

Als Indikator schulischer künstlerischer Bildung werden Angaben zum Kunstunter-richt sowie zu künstlerischen Schulprojekten genutzt und zu einem Index zusammengefasst. Als Indikator außerschulischer künstlerischer Bildung wird ein Index aus den folgenden Angaben generiert: Besuch einer Kunstschule, Häufigkeit des freizeitlichen Malens oder Zeichnens sowie Häufigkeit von Museumbesuchen. Kontrollierend wird der sozioökonomische Status der Familien über den HISEI nach Ganzeboom, Graaf und Treiman (1992) betrachtet. Deskriptive sowie Zusammenhangsanalysen beantworten die Forschungsfragen.

Ergebnisse

Deskriptive Analysen belegen eine Mittelwertstabilität des künstlerischen Fähigkeitsselbstkonzepts (T1: M=2.67; SD=0.67, T2: M=2.63; SD=0.67, jeweilige Range: 1-4), wobei Korrelationsanalysen (r=.55; p<.01) intraindividuelle Veränderungen innerhalb des fünften Schuljahres offenbaren. Interkorrelationsmatrizen zeigen schwache bis mittlere Zusammenhänge des Selbstkonzepts mit künstlerischen Aktivitäten (.19 < Kendalls τ < .29). Die künstlerischen Aktivitäten hängen nur zu T1 schwach mit dem HISEI zusammen (.07 < Kendalls τ < .09). Intraklassenkorrelationen belegen, dass kaum Varianz in den Selbstkonzeptunterschieden auf die Klassenzugehörigkeit zurückführbar ist. Lineare Regressionen zeigen weiterhin, dass unter Kontrolle des vorherigen Selbstkonzepts (β=.46, p<.001) sowie des HISEIS (β=.05, p=.17) lediglich die außerschulischen Aktivitäten zu Messzeitpunkt 2 (β=.21, p<.001) Einfluss nehmen auf das künstlerische Selbstkonzept zum zweiten Messzeitpunkt.

Die Ergebnisse beleuchten einen bislang wenig beachteten Diskurs zum Fähigkeitsselbstkonzept im künstlerischen Bereich und schulischer wie außerschulischer künstlerischer Bildung. Vor dem Hintergrund außerschulischer Aktivitäten und de-ren Einfluss auf das künstlerische Fähigkeitsselbstkonzept gilt es den schulischen Kunstunterricht in seiner Wirkmächtigkeit auf kulturelle Teilhabe näher zu beleuchten und die Ergebnisse zu diskutieren.

 
11:10 - 12:508-13: Persönlichkeit im Studium und jungen Erwachsenenalter
Ort: S28
 
Paper Session

Die Rolle von Persönlichkeitseigenschaften für die Studienintention von Studienberechtigten aus unterschiedlicher sozialer Herkunft

David Nika, Dr. Michael Grüttner, Prof. Dr. Sandra Buchholz

Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Die Erforschung sozialer Ungleichheiten ist ein zentraler Bestandteil bildungssoziologischer Forschung. Hauptsächlich fokussiert sich diese Forschung auf die Erklärung sozialer Ungleichheiten, z.B. warum bestimmte soziale Gruppen häufiger in ein Studium übergehen als andere (Becker, 2017). Auch wenn sich die Chancengleichheit für den Übergang in hochschulische Bildung in Deutschland mit der Zeit verbessert hat, bestehen weiterhin Ungleichheiten zwischen den sozialen Herkunftsgruppen (Becker & Lauterbach, 2016). So liegt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit für ein Kind aus einer Familie mit niedrigem sozioökonomischen Status in ein Studium überzugehen bei 64%, während sie bei solchen aus Familien mit mittlerem oder hohem Status bei 72% bzw. 82% liegt (Quast et al., 2023).
Während es immer noch Ungleichheiten beim Hochschulzugang zwischen diesen sozialen Gruppen gibt, bleibt dennoch die Frage offen, wie es Kindern aus sozial schwächeren Familien gelingt, trotz der Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Gruppe, erfolgreich in die höhere Bildung überzugehen (success against the odds). Daher erweitern wir die soziologische Ungleichheitsperspektive und argumentieren mit der „resource substitution hypothesis“ (Mirowsky & Ross, 2003), dass bestimmte Ressourcen für Kinder niedriger sozialer Herkunft wichtiger beim Übergang in ein Studium sind als für Kinder hoher sozialer Herkunft, da ihnen weniger alternative Ressourcen zur Verfügung stehen. Wir argumentieren, dass Persönlichkeitseigenschaften (McCrae & Costa, 1996, 1999) eine solche Ressource sind, mit denen potentiell soziale Ungleichheiten überwunden werden können.

Fragestellung

Welche Rolle spielen Persönlichkeitseigenschaften beim Übergang in ein Studium für Studienberechtigte aus unterschiedlicher sozialer Herkunft?
Methode
Zur Beantwortung dieser Frage, verwenden wir Daten des DZHW Studienberechtigtenpanels 2018. Das zugrundliegende Sample beruht auf einer nach Bundesland und Hochschulart disproportionalen, zufallsbasierten Klumpenstichprobe von Studienberechtigten, welche im Schuljahr 2017/2018 ihre Hochschulreife an einer allgemeinbildenden oder beruflichen Schule erlangt haben. Derzeit liegen Daten aus zwei Erhebungswellen vor, welche jeweils ein halbes Jahr vor und nach dem Schulabschluss erhoben wurden. Durch die Erhebung von Persönlichkeitseigenschaften, Kosten-, Erfolgs- und Ertragsaussichten eines Studiums sowie Plänen und Entscheidungen hinsichtlich des zukünftigen Bildungs- und Berufswegs, bieten diese Daten eine ideale Grundlage zur Analyse der Forschungsfrage.
Im ersten Schritt operationalisieren wir primäre und sekundäre Herkunftseffekte (Boudon, 1974) als soziologische Konzepte zur Erklärung sozialer Ungleichheiten für Bildungsentscheidungen. Im zweiten Schritt erweitern wir dieses Modell um die Big Five Persönlichkeitseigenschaften (McCrae & Costa, 1996, 1999) als non-kognitive Ressourcen, um ihre Rolle beim Studienübergang zu analysieren und ob sie zur Minderung von sozialen Herkunftsunterschieden beitragen. Dabei nehmen wir an, dass sich die Persönlichkeitseigenschaften sowohl direkt als auch indirekt über Leistung sowie Kosten-, Nutzen- und Erfolgsaussichten auf die Studienintention auswirken (siehe u.a. Andersen et al., 2020; Corazzini et al., 2021; Palczyńska & Świst, 2018; Rammstedt et al., 2017). Diese Annahmen werden mittels eines Strukturgleichungsmodells (SEM) überprüft. Der Vorteil von SEM gegenüber der herkömmlichen logistischen Regressionsmodelle besteht darin, dass hiermit direkte, indirekte und totale Effekte (Hayes, 2009) von Persönlichkeitseigenschaften auf die Studienintention für Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft gleichzeitig geschätzt werden können. Darüber hinaus können Kovarianzen zwischen den unabhängigen Variablen im Modell berücksichtigt werden.

Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigen, dass sich neben der sozialen Herkunft auch die Persönlichkeitseigenschaften signifikant auf den Notendurchschnitt sowie die Erfolgs-, Ertrags- und Kostenerwartungen eines Studiums auswirken. Insgesamt zeigt sich, dass Studienberechtigte niedriger sozialer Herkunft eine geringere Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaften Offenheit und emotionale Stabilität haben, diese sich aber insbesondere bei dieser Gruppe besonders positiv auf die Studienintention auswirken
(strukturelle Amplifikation / Ross & Mirowsky, 2011). Folglich spielen diese Eigenschaften eine wichtigere Rolle beim Übergang in ein Studium für diese Gruppe als für Kinder aus sozial stärkeren Familien und könnten so einen Beitrag zur Verringerung von sozialen Ungleichheiten beim Studienübergang leisten.



Paper Session

Caught between two stools: Effect of higher education dropout on big five personality traits

Johann Carstensen, Frauke Peter, Fabian Trennt

Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), Deutschland

Up to 30% of all German bachelor degree students leave higher education (HE) without
obtaining a degree; most of them within the first four semesters (Heublein et al., 2017).
While dropout from HE is mostly seen as a waste of public resources (Schneider et al.,
2019; Behr et al., 2020) more recent research is asking whether dropouts may have at
least acquired some skills that might be beneficial in subsequent vocational education
and training (VET) (Bröder et al., 2021). Comparatively low monetary returns (Heigle
and Pfeiffer, 2020; Berlingieri and Bolz, 2020) and mixed results concerning hiring chances
for an apprenticeship (Neugebauer and Daniel, 2022; Daniel et al., 2019) seem to support
the first perspective. However, this support rests on two assumptions: 1) earnings reflect
skills and 2) skills acquired in HE are compatible with skill demand in VET. Thus, in
order to examine whether HE dropout is indeed a bad investment, we directly address
the question whether a relatively brief exposure to HE affects skills. Thereby, we focus on
non-cognitive skills (i.e., personality traits, perseverance, self-efficacy) as those are highly
relevant for success in the labour (see for example, Judge et al., 1999; Fletcher, 2013;
Blanden et al., 2007; Heckman et al., 2013; Caliendo et al., 2015; Prevoo and ter Weel,
2015) as well as the apprenticeship market (Protsch and Solga, 2015).

In order to answer this question, we compare HE dropouts to apprentices with respect
to personality traits 2.5 years after leaving school. We only include individuals holding
an HE entrance certificate in both groups. Building on social investment theory (Roberts
et al., 2005) that emphasises the influence of social contexts on personality, we argue that
each context (VET vs. HE) develops its own professional roles according to respective
domain-specific demands to which new entrants have to adopt. While VET often prepares
for well-defined tasks in a highly labour-divided economy, HE rather prepares for less
narrowly defined occupations, non-routine and creative tasks (Hanushek et al., 2015).
Therefore, we expect that HE dropouts and apprentices differ in personality traits that
complement the respective demands.

We use data from a nationwide panel study, namely the DZHW panel of school leavers
with HE entrance qualification (cohorts graduating in 2015 & 2018) and apply entropy
balancing (Hainmüller, 2012) – a weighting-based matching approach – to possibly identify
a causal effect of HE dropout on personality traits.

Our analysis shows that HE experience without graduation does not have a significant
effect on four out of five personality dimensions. However, for conscientiousness, we find a significant negative effect of HE dropout (i.e., dropouts being less conscientious
compared to apprentices). Although being less conscientious is generally detrimental to
educational (Poropat, 2009) and labour market performance (Judge et al., 1999; Fletcher,
2013; Blanden et al., 2007), there are also hints that too much of conscientiousness might
not be beneficial in complex work contexts for which HE prepares its students. For
example, being more conscientious is less important in complex compared to routine jobs
(Shaffer and Postlethwaite, 2013), not relevant for managerial performance (Robertson
et al., 2000) and creativity (Reiter-Palmon et al., 2009) and even negative for adaptability
in changing contexts (Le Pine et al., 2000). Finally, while being more conscientious
predicts working in craft occupations (a typical destination for VET graduates), less
conscientious individuals rather select themselves into professional occupations (John and
Thomsen, 2014).

Therefore, leaving HE education without obtaining a degree is not necessarily a bad
investment, because HE dropouts have acquired non-cognitive skills during their time in
HE. However, these skills are probably more complementary to the demand for skills in
the HE labour market and less so in the VET sector.



Paper Session

Prokrastinationstendenzen im jungen Erwachsenenalter: Zum Co-Development zwischen Prokrastination, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus sowie Assoziationen mit zukünftigen Lebensereignissen

Lisa Bäulke1, Brent Roberts2,1, Benjamin Nagengast1,3, Ulrich Trautwein1

1Universität Tübingen, Deutschland; 2University of Illinois Urbana-Champaign; 3Korea University

Prokrastination – ein freiwilliger Handlungsaufschub einer geplanten Tätigkeit, trotz Antizipation negativer Konsequenzen – ist ein weit verbreitetes Phänomen, das insbesondere im akademischen Kontext auftritt (vgl. Steel, 2007). Doch stellt sich die Frage, ob Menschen, die Anfälligkeiten für Prokrastination zeigen, im Laufe ihres Lebens diese Neigung überwinden können. Obwohl Prokrastination als ein dysfunktionales Konzept mit erheblicher Relevanz für die Bildung angesehen wird, gibt es bisher keine ganzheitliche Betrachtung über die Lebensspanne hinweg.

Prokrastination wurde vorwiegend aus einer sozio-kognitiven Perspektive betrachtet (Sirois & Pychyl, 2013; Steel & König, 2006) und auf Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus zurückgeführt (van Eerde, 2003). Zudem zeigt bisherige Forschung, dass Prokrastination sowohl mit negatven Konsequenzen im akademischen Kontext (z.B., Abbruchsintentionen, verringerte Leistung, Bäulke et al., 2021; Kim & Seo, 2015) als auch im Arbeitskontext (z.B., emotionale Erschöpfung, reduzierte Performanz, Metin et al., 2018; Roster & Ferrari, 2020) in Verbindung gebracht wird. Bislang fehlt jedoch Wissen über die Kontinuität des Konstrukts sowie über das Zusammenspiel zwischen Prokrastination, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus. Weiterhin ist unklar, welche Einflussfaktoren auf die Entwicklung wirken und inwiefern Prokrastination mit zukünftigen Lebensereignissen assoziiert ist.

Um diese Forschungslücken zu adressieren, wird mit vervoliegenden Studie das Ziel verfolgt, die allgemeine Entwicklung von Prokrastination umfassend zu untersuchen. Dabei werden die folgenden Fragen adressiert: (1) Wie entwickelt sich Prokrastination im Verlauf des jungen Erwachsenenalters? (2) Wie steht die Entwicklung von Prokrastination im Zusammenhang mit Gewissenhaftigkeit sowie Neurotizismus? (3) Steht der Übergang vom Studium in den Beruf mit der Entwicklung von Prokrastination im Zusammenhang? (4) Welche Auswirkungen hat Prokrastination auf zukünftige Lebensereignisse?

Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden Daten der ersten acht Erhebungswellen einer fortlaufenden Längsschnittstudie analysiert (TOSCA – Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren, Trautwein et al., 2010). Die erste Erhebung erfolgte im letzten Schuljahr vor dem Abitur, gefolgt von fünf weiteren Erhebungswellen im Zweijahresrhythmus und zwei weiteren Erhebungswellen im Vierjahresrhythmus. Die Studie umfasst folglich eine Zeitspanne von 18 Jahren, der achte Messzeitpunkt erfolgte während der COVID-19 Pandemie. Die Ausgangsstichprobe bestand aus 3023 Schüler:innen (58% weiblich; 42% männlich; Durchschnittsalter = 19.55 Jahre; SD= .78) mit einem Dropout von 41% von Erhebungswelle 1 bis 8. Um dies in den Analysen zu berücksichtigen, wurde für die Teilnahmehäufigkeit kontrolliert. Die Daten wurden mittels Mehrebenenanalysen (Messzeitpunkte genestet in Personen) analysiert.

Die Ergebnisse zeigen, dass erhebliche Varianzanteile von Prokrastination auf Unterschiede zwischen Personen zurückgehen (ICC = .63, p < .001). Ein Unconditional Growth-Modell zeigte eine lineare Abnahme von Prokrastination über die Zeit hinweg (b = –.15, p < .001) mit signifikanter Slope-Varianz zwischen Personen (Var = .05, p < .001). Um die Zusammenhänge zwischen Prokrastination, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus untersuchen zu können, wurde zunächst die Faktorstruktur überprüft. Fit Indizes verwiesen auf eine faktorielle Trennbarkeit von Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Prokrastination. Zur Analyse des Co-Developments wurden bivariate latente Wachstumskurvenmodelle berechnet. Ergebnisse verweisen auf komplexe Zusammenhänge zwischen den Konstrukten. Zudem hing Prokrastinationsentwicklung negativ mit einem Transit in den Beruf zusammen (r = –.11, p < .01). Abschließend zeigten sich insbesondere negative Zusammenhänge zwischen Prokrastination und beziehungs- sowie gesundheitsbezogenen Variablen.

Die vorliegende Studie bestätigt die postulierten Hypothesen und deutet auf eine allgemeine Abnahme von Prokrastination über das junge Erwachsenenalter hin. Die Ergebnisse legen nahe, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus im Zusammenhang mit Prokrastinationstendenzen stehen. Die abnehmende Entwicklung von Prokrastination scheint mit dem Übergang vom Studium in den Beruf zusammenzuhängen. Zudem weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Prokrastination langfristig nachteilige Auswirkungen auf Beziehungsaspekte und die physische sowie mentale Gesundheit hat. Zusammenfassend liefert die vorliegende Studie erstmalig Erkenntnisse zur Kontinuität von Prokrastinationstendenzen aus einer entwicklungsbezogenen Perspektive und ermöglicht somit ein besseres Verständnis der Entstehung und Auswirkungen dieses dysfunktionalen Verhaltens.

 
11:10 - 12:508-14: Inklusion
Ort: H07
 
Paper Session

Sitzordnung und soziales Netzwerk: Zur Rolle der Sitzordnung im Intergruppenkontakt

Corinna Hank, Philipp Nicolay, Christian Huber

Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Soziale Eingebundenheit gilt als psychologisches Grundbedürfnis (Deci & Ryan, 2000). Der schulische Kontext als formbarer sozialer Schutzraum steht vor der Herausforderung, soziale Integration für alle Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten. Zur schulischen Förderung sozialer Integration werden dabei verschiedene Ansätze diskutiert (Garrote, Sermier Dessemontet & Moser Opitz, 2017; Huber, 2019). Huber (2019) führt dabei drei zentrale Akteure und Mechanismen auf. Zum einen werden Schülerinnen und Schüler als Akteure diskutiert, die über eine Steigerung der eigenen sozialen Kompetenzen die eigene soziale Integration fördern können (Asher, Renshaw & Hymel, 1982). Zum anderen könnten Lehrkräfte über ihr Feedbackverhalten die soziale Integration ausgegrenzter Schülerinnen und Schüler begünstigen (Spilles, Huber, Nicolay, König & Hennemann, 2023).

Die Peers, bzw. die Klassengemeinschaft, spielen dabei eine gesonderte Rolle, da sie integrationsfördernd agieren können, aber auch die integrationsgebende Instanz darstellen. Ausgehend von der Intergroup-Contact Theory (Allport, 1954; Pettigrew & Tropp, 2006) können Kontakterfahrungen zwischen Schülerinnen und Schülern dazu führen, dass ausgrenzungsüberwindende Beziehungen entstehen. Engmaschig strukturierte Kontakte, wie sie im Kooperativen Lernen bestehen, konnten entsprechende Effekte aufzeigen (Hank, Weber & Huber, 2023). Studien, die über die die integrationsfördernden Effekte von Unterrichtsmethoden fokussieren, schaffen häufig auch über die Zusammensetzung neuer Gruppen und Teamkonstellation neue Kontakterfahrungen. Ob erste Effekte bereits durch die Veränderung der Sitzordnung hervorgerufen werden, ist bis dato wenig untersucht worden.

Diese Studie hat es sich zum Ziel gemacht, die Sitzordnung als kontaktstiftendes und netzwerkförderliches Element zu untersuchen, das von der Lehrkraft legitimiert und gesteuert werden kann (Farmer, McAuliffe Lines & Hamm, 2011). Rohrer, Keller und Elwert (2021) konnten die Rolle der Sitznachbarschaft für die Entwicklung von Freundschaften aufzeigen. Diese Studie möchte diesen Befund ergänzen, indem sie überprüft, inwiefern das soziale Netz der Klasse bei einer randomisierten Veränderung der Sitzordnung beeinflusst wird.

Die Forschungsfrage lautet wie folgt:

Inwiefern nimmt eine randomisierte Veränderung der Sitzordnung Einfluss auf das soziale Gefüge einer Klasse?

  • Hypothese 1: Klassen, in denen eine randomisierte Veränderung der Sitzordnung vorgenommen wurde, entwickeln eine höhere soziometrische Dichte.
  • Hypothese 2: Schülerinnen und Schüler, die sozial ausgegrenzt werden, weisen nach einer randomisierten Sitzordnungsveränderung eine verbesserte soziale Integration auf.

Methode:

Mithilfe von zunächst N = 440 Schülerinnen und Schülern (49 % weiblich) aus 24 Klassen der 3. bis 6. Jahrgangstufe (MAlter = 9.46; SDAlter = 1.29) wurde eine Interventionsstudie (12 Interventionsklassen) im Prä-/Postdesign durchgeführt. Nach dem ersten Messzeitpunkt wurde in den Interventionsklassen eine zufällige neue Sitzordnung umgesetzt, bei denen Sitznachbarschaften nicht den zuvor bestandenen entsprechen sollten. Nach vier Wochen wurde die Post-Erhebung durchgeführt. Die Datenerhebung erfolgte im Klassenkontext durch geschulte Versuchsleitungen.

Das soziale Netzwerk der Klasse wurde soziometrisch erfasst (Moreno, 1974). Für die Auswertung von Hypothese 1 wurde eine mixed ANOVA berechnet, für Hypothese 2 wurde eine längsschnittliche Mehrebenenregressionsanalyse mittels des R-Pakets lme4 (Bates, Mächler, Bolker & Walker, 2015) durchgeführt.

Ergebnisse:

Die Analyse der ersten Daten ergab in Bezug auf Hypothese 1 einen nicht signifikanten Interaktionseffekt aus Zeit und Gruppenzugehörigkeit (F = 1.50; p = .233), der auf deskriptiver Ebene zugunsten der Interventionsgruppe verläuft.

Für Hypothese 2 erreichte die Dreifachinteraktion aus Zeit, Gruppe und Ausgangsniveau sozialer Integration keine Signifikanz (β = -.12; p = .073). Eine Ergänzung der Stichprobe um weitere Klassen steht an.

Diskussion:

Die Hypothesen konnten anhand der vorliegenden Stichprobe nicht bestätigt werden. Die Veränderung der Sitzordnung scheint somit keine bedeutsamen Auswirkungen auf das Netzwerk der Klassengemeinschaft zu haben. Die Ergebnisse werden vor dem Hintergrund der Intergroup-Contact-Theory diskutiert.



Paper Session

Die Rolle von Empathie für die Einstellungen von Grundschulkindern gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten im inklusiven Unterricht

Marwin Felix Löper, Frank Hellmich

Universität Paderborn, Deutschland

Die soziale Partizipation aller Kinder gilt als ein zentrales Qualitätsmerkmal inklusiven Unterrichts. Lehrkräfte stehen demzufolge vor der großen Herausforderung, ihren inklusiven Unterricht so zu gestalten und umzusetzen, dass allen Kindern die Möglichkeit geboten wird, positive soziale Kontakte, Freundschaften und Beziehungen aufzubauen und sich in der Klassengemeinschaft wohl und akzeptiert zu fühlen (Koster, Nakken, Pijl & van Houten, 2009). Allerdings weisen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) im Vergleich zu ihren Peers ohne SPF meist eine niedrigere soziale Partizipation im inklusiven Klassenzimmer auf: Sie verfügen über weniger Freundschaften, fühlen sich seltener in der Klassengemeinschaft angenommen und werden von ihren Mitschüler*innen weniger sozial akzeptiert (z. B. Avramidis, Avgeri & Strogilos, 2018). Dies trifft in besonderer Weise auf Kinder mit emotional-sozialen Schwierigkeiten zu (Krull, Wilbert & Hennemann, 2018), die vermehrt von sozialer Ausgrenzung und Viktimisierung im inklusiven Klassenzimmer betroffen sind (Leeuw, Boer & Minnaert, 2018).

Den Einstellungen von Grundschulkindern – als zentraler Indikator für die Akzeptanz von Kindern mit SPF in der Klassengemeinschaft – wird in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle für die erfolgreiche soziale Partizipation von Kindern mit SPF im inklusiven Unterricht zugesprochen. Die Einstellungen von Grundschulkindern geben Aufschluss darüber, ob und inwiefern sie ihren Peers mit SPF im inklusiven Unterricht annehmend oder ablehnend begegnen (Eagyl & Chaiken, 1993). Empirische Studien (z. B. Freer, 2021) konnten hierzu bereits belegen, dass Grundschulkinder im Allgemeinen neutral bis moderat positiv gegenüber Peers mit SPF eingestellt sind, ihre Einstellungen gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten allerdings signifikant niedriger ausgeprägt sind als gegenüber Peers mit anderen Schwierigkeiten (z. B. körperlich-motorischen). Als ein wichtiger Erklärungsfaktor für die Einstellungen von Grundschulkindern haben sich (positive und negative) Kontakterfahrungen mit Peers mit SPF erwiesen (Schwab, 2017). Folgt man dem theoretischen Modell von Davis (2018) ist darüber hinaus anzunehmen, dass die Empathie (Fürsorglichkeit/Perspektivenübernahme) und das soziale Selbstkonzept von Kindern eine entscheidende Rolle in der Vorhersage von Einstellungen gegenüber Peers mit SPF spielen. Studien (z. B. Armstrong et al., 2016) konnten diese Annahme bereits für Schüler*innen im Jugendalter bestätigen. Für Grundschulkinder stehen entsprechende Untersuchungen derzeit noch aus. In unserer Studie gehen wir daher der Frage nach, ob und inwiefern sich die Einstellungen von Grundschulkindern gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten durch ihre Empathie (Fürsorglichkeit/Perspektivenübernahme), ihre Kontakterfahrungen zu Peers mit SPF und ihr soziales Selbstkonzept erklären lassen. Basierend auf dem dargestellten theoretischen und empirischen Hintergrund nehmen wir folgende Forschungshypothese an:

  • Die Einstellungen von Grundschulkindern gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten können signifikant durch ihre Empathie (Fürsorglichkeit/Perspektivenübernahme), ihre Kontakterfahrungen und ihr soziales Selbstkonzept erklärt werden.

An unserer Studie haben N=512 Kinder der dritten und vierten Jahrgangsstufe teilgenommen und einen Fragebogen zu ihren Einstellungen gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten (10 Items; M=3,30; SD=0,99; a=.93), ihren Kontakterfahrungen (7 Items; M=2,45; SD=1,16; a=.90), ihrer Empathie (Fürsorglichkeit: 5 Items; M=4,22; SD=0,66; a=.75/Perspektivenübernahme: 4 Items; M=3,45; SD=0,86; a=.74) und ihrem sozialen Selbstkonzept (4 Items; M=3,73; SD=0,75; a=.72) beantwortet. Die Antwortskala reichte jeweils von 1 „stimmt überhaupt nicht“ bis 5 „stimmt genau“. Die Ergebnisse aus einem Strukturgleichungsmodell (χ2=1921,59; df=1181; χ2/df=1,63, p≤.001; RMSEA=.04, CI [.032–.038]; pclose=1,00; CFI=.95; TLI=.94; SRMR=.05) belegen, dass die Einstellungen der Kinder gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten (R2=.32; p≤.001) zwar durch ihren bisherigen Kontakt zu Kindern mit SPF (β=.38; p≤.001) und ihre Fürsorglichkeit (β=.32; p≤.001) erklärt werden können, jedoch nicht durch ihre Perspektivenübernahme oder ihr soziales Selbstkonzept.

Insgesamt geben die Ergebnisse unserer Untersuchung wichtige Hinweise darauf, dass sowohl das Fürsorglichkeitsempfinden als auch die Kontakterfahrungen von Grundschulkindern eine zentrale Rolle bei der Ausbildung von Einstellungen gegenüber Peers mit emotional-sozialen Schwierigkeiten spielen und ermöglichen somit die Identifikation von Ansatzpunkten für die gezielte Förderung der sozialen Partizipation von Kindern mit SPF im inklusiven Unterricht beispielsweise mithilfe von SEL-Interventionen (sozial-emotionales Lernen).



Paper Session

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) aus Sicht von Schulen – Häufigkeiten, negative und positive Aspekte und spezifische Förderung

Timo Hennig1, Marie-Luise Schütt2, Gabi Ricken2

1Universität Potsdam, Deutschland; 2Universität Hamburg, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Kinder, die eine Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erfüllen, zeigen dauerhafte und im Altersvergleich übermäßig starke Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität (Falkai et al., 2020). ADHS ist mit einer Prävalenz von ca. 5-7 % sehr häufig (Thomas et al., 2015). ADHS-Symptome korrelieren häufig mit Schulschwierigkeiten (Arnold et al., 2020) und weiteren Problemen wie Depressivität und niedriger Lebenszufriedenheit (Hennig et al., 2017). Lehrkräfte erleben Schüler:innen mit ADHS-Symptomen als weniger sympathisch (Abelein & Holtmann, 2021), häufiger störend (Lauth & Mackowiak, 2004) und den Unterricht als stressreicher (Anderson et al., 2017).

Obwohl evidenzbasierte Empfehlungen und Förderprogramme vorliegen, ist fraglich, ob diese in der Schulpraxis umgesetzt werden (Ruhmland & Christiansen, 2017), also der erwünschte Transfer gelingt. Die vorliegende Studie soll passend zum Motto des GEBF-Kongresses 2024 dazu beitragen, Bildungsprozesse besser zu verstehen, Partizipation zu verbessern (hier speziell für Schüler:innen mit ADHS) und Transfer zu gestalten.

Fragestellung

Angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten ist davon auszugehen, dass ADHS die Schulen vor einige Herausforderungen stellt. Was in der schulischen Praxis aktuell mit der Diagnose assoziiert wird – ob bzw. welche Probleme wahrgenommen werden oder ob eine positive Sichtweise vorherrscht – soll genauer und aktuell von Schulen erhoben werden. Die Fragestellung des vorliegenden Beitrags ist daher: „Wie präsent ist ADHS an Schulen, welche negativen und positiven Aspekte werden im Zusammenhang damit gesehen und welche spezifische Förderung wird umgesetzt bzw. als hilfreich eingeschätzt?“

Methode

Es wurde eine anonyme Online-Umfrage durchgeführt, zu deren Teilnahme alle 411 allgemeinbildenden Hamburger Schulen eingeladen wurden. Pro Schule sollte nur eine Person an der Umfrage teilnehmen, die eine Aussage über das Thema ADHS an der betreffenden Schule treffen konnte. Die Umfrage bestand aus vier Fragen mit geschlossenem Antwortformat zum Auftreten von ADHS an der eigenen Schule (u.a. geschätzte Häufigkeit), vier Fragen mit offenem Antwortformat (um die Antworten in keine Richtung zu lenken) zu Einschätzungen über die Beschulung von Schüler*innen mit ADHS (u.a. Schwierigkeiten und positive Aspekte) und drei Fragen zu allgemeinen Angaben. Die Fragen mit geschlossenem Antwortformat wurden deskriptiv ausgewertet, die Fragen mit offenem Antwortformat inhaltsanalytisch. Dazu wurden alle Antworten zu jeweils einer Frage zusammengefügt und datengesteuert zusammenfassende Kategorien gebildet, das nach einigen Überarbeitungsschritten eine gute Interkoderreliabilität erreichte (Kappa = 0.87).

Ergebnisse

Antworten von 111 Schulen wurden erfasst. Die Schulen schätzen, dass bei 4,36 % Schüler*innen eine ADHS-Diagnose gestellt wurde, tatsächlich aber 8,74 % betroffen seien. Während die Diagnosehäufigkeit an Förderschulen/ReBBZ auf 18.00 % geschätzt wird, liegt die Schätzung an Gymnasien nur bei 2,44 %. Die Schule erfahre von einer ADHS-Diagnose fast immer durch ein ärztliches/psychologisches Gutachten (in 96,4 % der Fälle) und/oder von den Eltern (in 85,6 % der Fälle). In der offenen Frage nach Schwierigkeiten wurden am häufigsten fehlende Ressourcen genannt, die Unterrichtsgestaltung sowie Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Fachkräften. Die offene Frage nach positiven Aspekten ergab weniger Antworten als nach Schwierigkeiten, 28 % der Befragten nannten keinen positiven Aspekt. Die Antworten bezogen sich auf positive Eigenschaften (z.B. schnelle Auffassungsgabe und Kreativität) sowie das Verständnis von Diversität als Herausforderung und Chance. Bei den offenen Fragen nach ADHS-spezifischer Förderung und förderlichen Bedingungen wurden u. a. Trainingsansätze genannt (insbesondere allgemeine Ansätze wie Lerntraining, nur dreimal speziell für ADHS entwickelte Programme) sowie Aspekte der Gestaltung von Unterricht (z.B. Strukturierung) und der Lernumgebung (z.B. spezieller Sitzplatz).

Es zeigt sich in dieser Umfrage, dass Schulen mit dem Thema ADHS einige Schwierigkeiten in Verbindung bringen. Positive Aspekte werden deutlich weniger, teilweise gar nicht benannt. Wissenschaftlich speziell für ADHS entwickelte Interventionen werden in der Schulpraxis kaum eingesetzt. Insgesamt zeigt sich weiterer Forschungs- und Handlungsbedarf zur Verbesserung des Transfers und der Kooperation zwischen Wissenschaft und (Schul-)Praxis.



Paper Session

Binnendifferenzierung als Schlüssel für die Leistungsentwicklung im inklusiven Grundschulunterricht?

Jenny Lenkeit, Nadine Spörer, Anne Hartmann, Michel Knigge, Antje Ehlert

Universität Potsdam, Deutschland

Die schulische Leistungsentwicklung von Schüler*innen wird von einer Vielzahl von Faktoren wie z.B. ihren individuellen motivationalen und kognitiven Lernvoraussetzungen und ihrem sozialen Hintergrund (SES) beeinflusst (Baumert et al., 2006; Maaz et al., 2014). In inklusiven Lehr- und Lernsettings wurden weiter negative Effekte des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) auf die Leistung dokumentiert (Kocaj et al., 2020). Um der leistungsbezogenen Heterogenität in inklusiven Lehr- und Lernsettings zu begegnen, wird insbesondere die Binnendifferenzierung im Unterricht als bedeutsam betrachtet (Gehrer & Nusser, 2020; Lindner et al., 2021). Damit verbunden, ist die Annahme, dass ein differenziertes Lernangebot an den unterschiedlichen Lernausgangslagen der Schüler*innen anknüpft und so besser die individuelle Entwicklung der Leistung stützen kann (Helmke, 2017).

Für die postulierten positiven Effekte von Binnendifferenzierung auf die fachspezifische Leistungsentwicklung im inklusiven Grundschulunterricht gibt es bislang insbesondere für Deutschland nur wenige und divergierende Befunde (Deunk et al., 2018; Förster et al., 2018; Pozas et al., 2021). Nicht untersucht bleibt bislang ebenfalls, ob Binnendifferenzierung zentrale Zusammenhänge zwischen individuellen Schüler*innenmerkmalen (SES, SPF) und Leistungsentwicklung moderiert und so Schereneffekte in inklusiven Settings verringert.

Vor diesem Hintergrund überprüft der Beitrag zwei Hypothesen:

  1. Je häufiger im Mathematik- (a) oder Deutschunterricht (b) differenziert wird, desto höher ist die Leistungsentwicklung von Schüler*innen.
  2. Je häufiger im Mathematik- (a) oder Deutschunterricht (b) differenziert wird, desto schwächer ist der Zusammenhang des individuellen SPF und SES mit der Leistungsentwicklung.

Daten entstammen einer längsschnittlichen Untersuchung zu den Herausforderungen und Gelingensbedingungen inklusiv arbeitender Schulen aus den Jahren 2018-2020. Folgende Variablen und Skalen wurden operationalisiert:

Leistungsentwicklung von Schüler*innen der 2. und 3. Jahrgangsstufe in Mathematik (Heidelberger Rechentest (HRT 1-4; Haffner et al., 2005) und im Leseverständnis (ELFE; Lenhard & Schneider, 2006): Erfasst über drei Messzeitpunkte in zwei Schuljahren.

SES: Angaben der Eltern zum Bildungsabschluss und beruflichen Status, operationalisiert als höchster ISEI beider Elternteile (Ganzeboom 2010).

SPF: Angaben der Klassenleitungen zu jedem Lernenden, ob ein festgestellter oder vermuteter SPF vorliegt.

Binnendifferenzierung: Informationen von 33 Mathematik- und 34 Deutschlehrkräften zur differenzierenden Unterrichtsgestaltung in 267 Deutsch- und 281 Mathematikstunden, erfasst über ein standardisiertes Logbuch (Eigenentwicklung) im ersten Schulhalbjahr. Lehrkräfte machten über einen Zeitraum von vier Wochen Angaben zu je 2 Unterrichtsstunden pro Woche zu quantitativen (3 Items, Bsp. „Schüler*innen erhielten unterschiedliche Zeitvorgaben.“) und qualitativen (4 Items, Bsp.: „Schüler*innen bearbeiteten Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad.“) Differenzierungen je in Einzel- (EA) oder Gruppenarbeitsphasen (GA). Die Angaben wurden über vier Skalen operationalisiert: EAQuantitativ α = 0.50 , EAQualitativ α = 0.57, GAQuantitativ α = 0.60, GAQualitativ α = 0.74 und pro Lehrkraft über die Unterrichtsstunden gemittelt.

Zusammenhänge wurden mithilfe von hierarchisch linearen Regressionsmodellen in MPlus geprüft. Aufgrund der Gerichtetheit der Hypothesen werden Ergebnisse mit p < 0.10 als signifikant bewertet. Messzeitpunkte wurden in Schüler*innen und diese in Lehrkräfte geschachtelt. Die Leistungsentwicklung wurde durch die individuellen Schüler*innenmerkmale und die vier Formen der Differenzierung vorhergesagt. Letztere wurden ebenfalls auf die Zusammenhänge zwischen SES und SPF mit der Leistungsentwicklung regressiert (Interaktionseffekt). Modelle wurden separat für Mathematik und Deutsch berechnet.

Die Leistungsentwicklung in Mathematik und im Leseverständnis wird jeweils signifikant durch den SPF und den SES der Schüler*innen vorhergesagt (je p < 0.05).

Hypothese 1a wird bestätigt: Je häufiger in EA quantitativ differenziert wird, desto stärker die Leistungsentwicklung in Mathematik (p = 0.056).

Hypothese 2b wird für SPF bestätigt: Je häufiger in GA qualitativ differenziert wird, desto schwächer ist der Zusammenhang zwischen SPF und Leistungsentwicklung im Leseverständnis (p = 0.069).

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass verschiedene Formen von Binnendifferenzierung unterschiedlich auf Leistungsentwicklung wirken können und dass qualitative Differenzierung prinzipiell SPF-bedingte differenzielle Leistungsentwicklung abmindern kann.

 
11:10 - 12:508-15: Bildungsverläufe in der beruflichen Bildung
Ort: S14
 
Paper Session

Berufliche Reorientierung oder räumliche Mobilität bei der Ausbildungssuche? Veränderungen im Bewerberverhalten unversorgter Jugendlicher im regionalen Kontext

Linda Hoffmann1, Alexandra Wicht1,2

1Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn; 2Universität Siegen Department für Erziehungswissenschaft, Siegen

Theoretischer Hintergrund

Nicht allen Jugendlichen gelingt ein unmittelbarer Übergang in die Berufsausbildung, was folgenreich für ihren individuellen Lebensverlauf sein kann (Schoon, 2021). Zugleich bleiben zahlreiche Ausbildungsstellen unbesetzt (BIBB, 2021), wodurch auf gesellschaftlicher und betrieblicher Ebene Ressourcen verloren gehen. Beide Phänomene haben gemein, dass sie regional variieren und teils zeitgleich auftreten, was auf Passungsprobleme hindeutet (Matthes et al., 2014). Unversorgte Jugendliche sind somit oft gezwungen ihre beruflichen Orientierungen an die gegebenen Opportunitäten anzupassen und Kompromisse einzugehen (Schels & Abraham, 2023). Neben beruflichen Reorientierungen kann auch räumliche Mobilität eine Strategie darstellen, um einen erfolgreichen Übergang in Ausbildung zu ermöglichen (Jost et al., 2019). So hat bisherige Forschung gezeigt, dass Ausbildungsanfänger:innen mit längerer Suchdauer und aus ungünstigen Regionen eher mobil für die Ausbildung sind (Hoffmann & Wicht, 2023).

Nach der Circumscription and Compromise Theory (Gottfredson, 1981) entwickeln Jugendliche im Zuge ihrer Sozialisation eine „Zone akzeptabler Berufsalternativen“, die während der Ausbildungsplatzsuche mit den tatsächlichen Opportunitäten abgeglichen und angepasst wird. Im Falle längerer erfolgloser Ausbildungsplatzsuche sollten Bewerber:innen demnach ihre beruflichen Alternativen ausweiten, um ihr Erfolgschancen zu erhöhen. Person-environment Fit Theorien (Edwards et al. 2002; Holland 1997) betonen zudem die Passung zwischen individuellen beruflichen Orientierungen und regionaler Gelegenheitsstrukturen für Berufsentscheidungen. Bei mangelnder Passung in der Heimatregion gibt es zwei theoretische Adaptionsstrategien: Anpassung der beruflichen Orientierung an die regionale Lage oder Ausweitung der Mobilitätsbereitschaft (Windzio, 2008). Inwieweit solche Anpassungsprozesse im Kontext regionaler Gelegenheitsstrukturen stattfinden, ist bislang eine offene Frage. Für Politik und Praxis ist es wichtig, diese Frage zu beantworten, um geeignete Maßnahmen zur Integration von Jugendlichen in die Berufsausbildung zu entwickeln.

Fragestellung

Wir gehen zwei Fragen nach: (1) Verändern unversorgte Jugendliche während der Ausbildungsplatzsuche ihre Zone beruflicher Alternativen und/oder ihre Mobilitätsbereitschaft? (2) Welche Rolle spielen hierbei neben individuellen Ressourcen räumliche Gelegenheitsstrukturen?

Methode

Wir verwenden repräsentative Längsschnittdaten des Nationalen Bildungspanels (NEPS, Startkohorte 4) (Blossfeld & Roßbach, 2019), um das Ausbildungssuchverhalten unversorgter Jugendlicher bis zu drei Jahre zu analysieren. Die Mobilitätsbereitschaft und die Zone beruflicher Alternativen werden anhand jährlicher Informationen zum Bewerberverhalten (Entfernung; Anzahl unterschiedlicher Berufe) erfasst. Um Veränderungen im Bewerberverhalten über die Zeit zu analysieren, verwenden wir Wachstumskurvenmodelle. Neben individuellen Faktoren haben wir in vorläufigen Analysen Unterschiede zwischen Ausbildungssuchenden aus Ost- und Westdeutschland untersucht. Um jedoch die regionalen Gelegenheitsstrukturen genauer zu erfassen, werden wir in weiteren Analysen Indikatoren (u.a. zur Verfügbarkeit des Wunschberufes; Hoffmann & Wicht, 2023) auf der Ebene von Landkreisen und kreisfreien Städte heranziehen, die an die Individualdaten des NEPS herangespielt werden können. Des weiteren werden wir mittels Cross-lagged Panel-Modellen mögliche Wechselwirkungen der Veränderungen der Mobilitätsbereitschaft und der Zone beruflicher Alternativen über die Zeit analysieren.

Ergebnisse

Erste Ergebnisse zeigen, dass über alle Zeitpunkte hinweg eine durchschnittlich höherer Mobilitätsbereitschaft mit einer höheren Anzahl beruflicher Alternativen einhergeht und umgekehrt. Zudem steigt die Bereitschaft zur Mobilität mit der Dauer der erfolglosen Ausbildungsplatzsuche, unabhängig von der Anzahl beruflicher Alternativen. Bezüglich der Zone beruflicher Alternativen zeigt sich jedoch entgegen den Erwartungen eine Verringerung der Anzahl unterschiedlicher Berufe über die Zeit, unabhängig von der Mobilitätsbereitschaft. Es konnten keine Unterschiede in der Anzahl unterschiedlicher Berufe zwischen Bewerber:innen aus Ost- und Westdeutschland festgestellt werden. Bezüglich der Mobilitätsbereitschaft hingegen zeigt sich, dass Jugendliche aus Ostdeutschland zu Beginn der Ausbildungsplatzsuche eine höhere Mobilitätsbereitschaft aufweisen als Jugendliche aus Westdeutschland. Über die Zeit hinweg erhöhen Jugendliche aus Westdeutschland jedoch ihre Mobilitätsbereitschaft, während Jugendliche aus Ostdeutschland eine Verringerung der Mobilitätsbereitschaft nach längerer Suchdauer aufweisen.

Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass bei längerer erfolgloser Ausbildungsplatzsuche Anpassungsprozesse im Bewerberverhalten über die Zeit stattfinden und ungünstige räumliche Gelegenheitsstrukturen entscheidend für die Mobilitätsbereitschaft ausbildungssuchender Jugendlicher sind. Die gegenläufigen Veränderungen in Ost- und Westdeutschland legen eine genauere Betrachtung der Wirkmechanismen regionaler Kontexteffekte nahe, insbesondere vor dem Hintergrund persistierender regionaler Passungsprobleme zwischen Ausbildungsangebot und -nachfrage.



Paper Session

Abbruchintention zu Beginn der beruflichen Ausbildung – eine längsschnittliche Untersuchung von persönlichen, betrieblichen und berufsschulischen Einflussfaktoren

Elisabeth Maué, Stephan Schumann

Universität Konstanz, Deutschland

Nicht nur der Rückgang der beruflichen Ausbildung von Fachkräften und die hohe Zahl an unbesetzten Ausbildungsstellen (BIBB, 2023) führt zu einem „Fachkräftenachwuchsmangel“ (f-bb, 2018), sondern auch der mit 27% hohe Anteil an vorzeitigen Lehrvertragsauflösungen (BIBB, 2023). Diese Dropouts erfolgen vorrangig im ersten Ausbildungsjahr, was mit hohen individuellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten einhergeht (Stalder & Schmid, 2006). Zudem besteht für ca. 1/3 derjenigen, die ihre Ausbildung ohne Abschluss vorzeitig beenden, das Risiko, dauerhaft außerhalb des Bildungs- und Erwerbssystems zu bleiben (Michaelis & Richter, 2022). Für Lehrvertragsauflösungen und Ausbildungsabbrüche gibt es vielfältige Gründe und Motive, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind (Böhn & Deutscher, 2022). Dennoch liegt der Fokus oft auf den Auszubildenden (z.B. mangelnde Passung; Jüttler et al., 2020). Berufsspezifische und organisationale Bedingungen, wie die soziale Integration (Findeisen et al., 2022) oder die Ausbildungsqualität (Negrini et al., 2016), werden dagegen seltener betrachtet (Böhn & Deutscher).

Diesem Desiderat begegnen wir mit einer längsschnittlichen Untersuchung des Einflusses persönlicher, betrieblicher und berufsschulischer Faktoren auf die Abbruchintention von Auszubildenden nach Abschluss der Probezeit. Die Daten entstammen einem interdisziplinären Projekt, in dem deutschlandweit Auszubildende verschiedener Branchen längsschnittlich über den Ausbildungsverlauf app-basiert befragt werden: vor Ausbildungsbeginn im Sommer 2021, wöchentlich in den ersten 12 Wochen nach Ausbildungsbeginn, im Anschluss an die 12 Wochen alle drei Monate. Ergänzend wurden Ausbilder:innen und Mitarbeitende der Personalabteilung befragt. Die Analysen des vorliegenden Beitrags berücksichtigen Daten der Erhebung vor Ausbildungsbeginn (t0) und nach drei Monaten (t13). Die Stichprobe umfasst 266 Auszubildende (Alter: M=21.2 Jahre, SD=4.73; Geschlecht: 53% Männer; Migrationshintergrund: 46% 1. oder 2. Generation) aus 90 Betrieben des kaufmännischen Bereichs (43%), des Handwerks (37%) und des Bereichs Pflege/Medizin/Erziehung (20%). Als abhängige Variable wird die Abbruchintention nach 12 Wochen (t13; Einzelitem) verwendet. Als unabhängige Variablen (je 5-stufige Likertskala) fungieren die erwartete Passung Person-Ausbildung (t0; 3 Items, α=.60), das Vorwissen bezüglich der Ausbildung (t0; 1 Item), der Wunschberuf (t0; 1 Item), die Beziehung zu:m Ausbilder:in (t13; 6 Items, α=.88), die soziale Integration (t13; 4 Items, α=.89), die Diskriminierung (t13; 4 Items, α=.83), die organisationale Identifikation (t13; 4 Items, α=.76), die task mastery im Betrieb (t13; 3 Items, α=.64), die Zielerreichung im Betrieb (t13; 1 Item), die Leistungen in der Berufsschule (t13; 3 Items, α=.83), die physische Gesundheit (t0; 1 Item), die psychische Gesundheit (t0; 1 Item) sowie die Zufriedenheit mit der Ausbildung (t0; 1 Item).

Drei Monate nach Beginn der Ausbildung haben 42% bereits ernsthaft überlegt, die Ausbildung abzubrechen (n=264; M=1.62, SD=0.65). Regressionsanalytisch (R2=.41) zeigt sich hinsichtlich der Vorhersage der Abbruchintention unter Kontrolle von Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund der Einfluss der Arbeitszufriedenheit (β=-.49; p<.001), der wahrgenommenen Diskriminierung (β=.15; p<.01) und der Identifikation mit dem Betrieb (β=-.13; p<.01). Das Vorwissen bezüglich der Ausbildung (β=-.10; p<.10) sowie mit kontraintuitivem Vorzeichen die erwartete Passung zwischen Person und Ausbildung (β=.13; p<.10) lassen sich nur gegen das 10%-Niveau absichern. Weitere persönliche Faktoren (Ausbildung im Wunschberuf, physische und psychische Gesundheit) betriebliche Faktoren (soziale Integration, Beziehung zu Ausbilder:in, task mastery, Zielerreichung) sowie die Leistungen in der Berufsschule weisen keine signifikanten Einflüsse auf. Weitergehende Befunde unter Einbezug einer zweiten Kohorte von Auszubildenden werden auf der Tagung vorgestellt.

Bereits kurz nach Beginn der Ausbildung sind somit betriebliche und tendenziell persönliche Faktoren für die Ausbildungsabbruchintention bedeutsam. Als besonders einflussreich erweist sich die Zufriedenheit mit der Ausbildung (auch Etzel & Nygy, 2021). Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Frage der Passung zwischen Person und Ausbildung/Ausbildungsbetrieb (z.B. Findeisen et al., 2022; Nägele & Neuenschwander, 2014, 2015) besteht Handlungsbedarf, etwa durch eine adäquate Berufsorientierung im Vorfeld der Ausbildung, um über relevantes Vorwissen zur Ausbildung zu verfügen (Stalder & Schmid, 2006) und die „richtige“ Wahl treffen zu können, sowie hinsichtlich betrieblicher Unterstützung (z.B. onboarding) und Schutz vor Diskriminierung.



Paper Session

Berufliche Kompetenzen: Wie entwickeln sie sich in der Ausbildung und welchen Effekt haben der Schulabschluss, kognitive Voraussetzungen und der soziale Hintergrund?

Jennifer Schauer1, Stephan Abele1, Julian M. Etzel2

1Technische Universität Dresden, Deutschland; 2Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN), Kiel

Der Erwerb beruflicher Kompetenzen steht im Zentrum der Berufsausbildung: Auszubildende sollen dort sowohl berufsspezifische(s) Fachwissen als auch Problemlösekompetenz erwerben, um ihre spätere berufliche Tätigkeit kompetent ausüben zu können. Um die Leistungsfähigkeit der Berufsausbildung feststellen, Handlungsbedarfe eruieren sowie die Berufsbildungspraxis entsprechend gestalten zu können, braucht es differenzierte Befunde zur Entwicklung dieser Dimensionen beruflicher Kompetenzen im Ausbildungsverlauf. Inwiefern sie sich in der Berufsausbildung entwickeln, welche Unterschiede zwischen Auszubildenden zu beobachten und Prädiktoren bedeutsam sind, ist mangels längsschnittlicher Analysen und angesichts diskrepanter Befunde bisher allerdings weitgehend unklar (z.B. Abele, 2014; Atik & Nickolaus, 2016; Nickolaus et al., 2010).

In unserem Beitrag untersuchen wir dies am Beispiel angehender Kfz-Mechatroniker:innen. Unsere Analysen basieren auf Daten der ManKobE-Studie (Retelsdorf et al., 2013). Das Fachwissen (n=473) und die Problemlösekompetenz der Auszubildenden – operationalisiert als Diagnosefähigkeit (n=198) – wurden am Ende des 2. und 3. Ausbildungsjahres (AJ) erhoben. In Latent Change Score Analysen untersuchten wir die mittlere intraindividuelle Entwicklung (μ) sowie interindividuelle Entwicklungsunterschiede (σ²). Als potenzielle Prädiktoren berücksichtigten wir (a) den Schulabschluss der Auszubildenden, (b) ihre kognitiven Voraussetzungen gemessen an fluider Intelligenz und Physikkompetenzen sowie (c) den sozialen Hintergrund, genauer den sozioökonomischen Berufsstatus der Eltern und Migrationshintergrund der Auszubildenden. Alle Prädiktoren wurden am Ausbildungsbeginn und mittels etablierter Instrumente erfasst.

Unsere Analysen zeigten einen mittleren Zuwachs im Fachwissen (μ= .41, p≤ .001). Gleichzeitig fanden wir, dass sich Auszubildende signifikant in der Fachwissensentwicklung unterschieden (σ² = .89, p≤ .001). Der Wissenszuwachs erwies sich dabei umso ausgeprägter, je höher das Vorwissensniveau am Ende des 2. AJ war (β2.AJ= .33, p≤ .001). Im Fachwissen leistungsstärkere Auszubildende zeigten also höhere Wissenszuwächse – die Leistungsunterschiede in der Kohorte nahmen zu, d.h. die Leistungsschere ging auf. Für die Diagnosefähigkeit stellten wir dagegen im Mittel keine Entwicklung fest (μ= .13, p>.05). Aber auch hier fanden wir Unterschiede zwischen Auszubildenden (σ² = .77, p≤ .001). Das Ausgangsniveau am Ende des 2. AJ war ebenfalls prädiktiv, allerdings in entgegengesetzter Richtung: In der Diagnosefähigkeit leistungsstärkere Auszubildende zeigten eine geringere Entwicklung im 3. AJ (β2.AJ = -.48, p≤ .001), Leistungsunterschiede in der Kohorte verringerten sich.

Von den untersuchten Prädiktoren erwiesen sich die kognitiven Voraussetzungen als bedeutsam: Fluide Intelligenz (βfluid1= .19, p<.01) und Physikkompetenzen (βphy1 = .36, p≤.001) beeinflussten das Fachwissensniveau am Ende des 2. AJ positiv. Zusätzlich zeigte sich die fluide Intelligenz prädiktiv für die Entwicklung im 3. AJ (βphy = .27, p<.01). Bei der Diagnosefähigkeit wirkten die Physikkompetenzen zwar ebenfalls prädiktiv auf das Niveau am Ende des 2. AJ (βphy1= .27, p<.05), darüber hinaus aber nicht auf die weitere Entwicklung. Der Schulabschluss und soziale Hintergrund erwiesen sich unter Berücksichtigung der kognitiven Voraussetzungen weder für die Entwicklung des Fachwissens noch der Diagnosefähigkeit als bedeutsam.

Unsere Ergebnisse weisen auf differenzielle Entwicklungen der Kompetenzdimensionen und Leistungsunterschiede in der Berufsausbildung hin: Progression und Scherenentwicklungen im Fachwissen, Stagnation und Homogenisierung in der Diagnosefähigkeit. Die Studie legt in Übereinstimmung mit bisherigen Befunden nahe, dass die kognitiven Voraussetzungen der Jugendlichen auch im späteren Ausbildungsverlauf noch (indirekt) bedeutsam sind (z.B. Abele, 2014). Implikationen u.a. zur Gestaltung der Berufsbildungspraxis und Limitationen der Studie werden diskutiert.



Paper Session

Regionalentwicklung durch die strukturelle Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung – ein Einblick in das Modellprojekt AbiturPLUS

Christina Sotiriadou, Bernd Zinn

Universität Stuttgart, Deutschland

Vom Fachkräftemangel sind insbesondere der ländliche Raum sowie natur- und technikwissenschaftliche Berufsgruppen betroffen (Kräußlich/Schwanz 2017). Bildungspolitik, Wirtschaft und Wissenschaft stehen in der Verantwortung, regionale Ressourcen und Potenziale aktiv zu nutzen und regionale Förderangebote für eine kontinuierliche Berufs- und Studienorientierung zu gestalten. Außerschulische kooperative Bildungsangebote, welche berufliche und arbeitsweltbezogene Praxiserfahrungen ermöglichen, haben sich dabei als besonders effektiv erwiesen (z. B. Driesel-Lange et al. 2011). Das Modellprojekt AbiturPLUS stellt in diesem Kontext ein regionales berufsbildendes Förderprogramm an einem allgemeinen Gymnasium dar, das neben dem Abitur den parallelen Erwerb eines vollwertigen beruflichen Abschlusses zum/zur Zerspanungsmechaniker*in ermöglicht.

Die vorliegende Untersuchung fokussiert das Forschungsdesiderat eines Beschreibungswissens, inwiefern derartige regionale Bildungsangebote wirksame Fördermaßnahmen zur beruflichen Orientierung gymnasialer Schüler*innen darstellen. Konkret interessieren die nachfolgenden Forschungsfragen:

FF1 Welches akademische Selbstkonzept und welche bereichsspezifischen sowie beruflichen Interessen charakterisieren die teilnehmenden Schüler*innen des regionalen Förderkonzepts?

FF2 Welche Unterschiede lassen sich im Vergleich zu nicht teilnehmenden Schüler*innen in Bezug auf die o. a. Merkmale identifizieren?

Den theoretischen Hintergrund bilden zentrale Determinanten der Berufsorientierung und der Berufswahl (Brüggemann et al. 2017), einschließlich des modernen Interessenskonstrukts (Krapp 1992), den beruflichen Interessensorientierungen gemäß des RIASEC-Modells (Holland 1997) und des akademischen Selbstkonzepts unter Bezugnahme auf das Erwartung x Wert-Modell (Eccles 2005).

Die Stichprobe umfasst insgesamt N = 79 (w = 37, m = 42) Schüler*innen eines allgemeinbildenden Gymnasiums in Baden-Württemberg, wovon n = 37 Projektteilnehmer*innen (AbiturPLUS) darstellten und n = 42 Schüler*innen die Vergleichsgruppe ohne Teilnahme bildeten. Das Untersuchungsdesign beinhaltet zwei Studien. Für die Fragebogenstudie wurden teilnehmende sowie nicht teilnehmende Schüler*innen zu ihren bereichsspezifischen und beruflichen Interessen, ihrem akademischen Selbstkonzept sowie den beruflichen Plänen befragt. Die zweite Studie ist eine leitfadengestützte halbstrukturierte Interviewstudie mit teilnehmenden Schüler*innen sowie Absolvent*innen, in welcher die subjektive Bewertung des Modellprojekts sowie wahrgenommene projektbedingte Veränderungen, insbesondere im Kontext schulischer Interessen, der Freizeit und beruflicher Aspirationen thematisiert wurden. Um Gruppenunterschiede zu identifizieren, wurde der Welch-Test oder der Mann-Whitney-U-Test herangezogen. Die Analyse der Interviews erfolgte mithilfe der strukturierten qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) mit der Software MAXQDA 12 (N = 277 Codes).

Die Befunde der Untersuchungen liefern erste Hinweise, dass sich das vorgestellte regionale Bildungsprojekt als berufsorientierende Maßnahme mit regionaler Bindungswirkung eignet. Im Vergleich zu nicht-teilnehmenden Schüler*innen erwerben die Projektteilnehmer*innen berufliche Kompetenzen. Aber auch das akademische Selbstkonzept, das Interesse für MINT-Fächer sowie für praktisch-handwerkliche Tätigkeitsfelder werden gestärkt und eine Berufswahlentscheidung im MINT-Bereich positiv beeinflusst. Die qualitativen Interviewdaten untermauern die Schlussfolgerung, dass die Arbeit im regionalen Ausbildungsunternehmen und die damit verbundenen praktischen Erfahrungen die Interessens- und Selbstkonzeptentwicklung der Projektteilnehmer*innen maßgeblich prägt. Besonders die kontinuierliche Auseinandersetzung mit berufsschulischen Themen, die Verknüpfung zwischen Gymnasium, Berufsschule und Betrieb sowie der praktische Anwendungsbezug scheinen eine vielversprechende Grundlage zu schaffen, um das fachspezifische Interesse zu fördern und die wahrgenommenen Fähigkeiten in den Fächern Mathematik und Physik zu steigern. Die Daten legen außerdem die Notwendigkeit einer demografiesensiblen Bildungspolitik nahe und untermauern deren Erfolgsaussichten. Geschlechtsspezifische Analysen zeigen, dass alle aufgeführten Gruppenunterschiede bei Schülern bestehen, während nahezu alle gruppenspezifischen Unterschiede bei alleiniger Betrachtung von Schülerinnen keine statistische Signifikanz aufweisen: Teilnehmende Schüler berichten ein höheres Fähigkeitsselbstkonzept in Mathematik und Physik, stärkere Interessen für MINT-Schulfächer sowie für praktisch-technische und intellektuell-forschende Tätigkeitsbereiche. Außerdem streben sie häufiger ein Studium oder einen Beruf im MINT-Bereich an. Teilnehmende Schülerinnen berichten lediglich von geringeren sprachlich-literarisch-künstlerischen Interessen und einer höheren praktisch-technischen Interessensorientierung im Vergleich zu nicht-teilnehmenden Schülerinnen.

Im Vortrag erfolgt die Einordnung der Ergebnisse ausgehend vom theoretischen Hintergrund und vom Forschungsstand sowie die Ableitung von Implikationen für die Anlage ähnlicher Förderprogramme in Bezug auf deren Administration und schulische Umsetzung.

 
11:10 - 12:508-16: Frühe Bildung
Ort: S15
 
Paper Session

Bereitschaft pädagogischer Fachkräfte, frühes naturwissenschaftliches Lernen verbal zu unterstützen

Lukas Schmitt1, Anke Maria Weber2, Miriam Leuchter1

1RPTU Kaiserslautern-Landau, Deutschland; 2Université de Luxembourg, Luxemburg

Theorie

Dispositionen von pädagogischen Fachkräften (PFK) wie z.B. Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und Lehr- Lernüberzeugungen werden gemäß Kompetenzmodellen ein Einfluss auf die lernunterstützende Handlung von PFK in zugeschrieben (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al., 2011). Die Qualität und Häufigkeit der Lernunterstützung variiert jedoch stark zwischen PFK, u.a. auch in naturwissenschaftlichen Lehr- Lernangeboten (Cabell et al., 2013). Darüber hinaus ist verbale Lernunterstützung (Scaffolding) in alltagsnahen Situationen (z. B. Bauspiel) eher selten zu beobachten (Cabell et al., 2013; von Suchodoletz et al., 2014). Dies könnte auf Unterschiede im Fachwissen, im fachdidaktischen Wissen bzw. in Lehr-Lernüberzeugungen zwischen PFK zurückzuführen sein, die wiederum in unterschiedlichem Maße handlungsleitend sein können. Um die Lücke zwischen Dispositionen und Handlungen zu schließen, wird in diesem Beitrag die Willingness-Komponente aus der Theorie des geplanten Verhaltens (Fishbein & Ajzen, 2010) herangezogen, welches in unserem Kontext die persönliche Bereitschaft von PFK erfasst, ein naturwissenschaftliches Lernangebot mit Diagnostik oder Scaffolding anzureichern.

Das Ziel dieser Studie ist die Validierung eines Messinstruments zur Erfassung von Willingness, um diagnostische und lernunterstützende Aktivitäten in naturwissenschaftlichen Lernsituationen anzuwenden, sowie die Analyse verschiedener Prädiktoren. Es wird eine dreidimensionale Struktur von Willingness (Diagnostik, Scaffolding, Inaktivität) angenommen und ihr Zusammenhang zur Praxis untersucht.

Fragestellungen

1. Ist der dreidimensionale Ansatz zur Messung von Willingness faktoriell valide?

2. Welche Variablen sagen Willingness zum Einsatz diagnostischer Maßnahmen bzw. Scaffolding in naturwissenschaftlichen Lernsituationen vorher? Gibt es einen Zusammenhang zur verbalen Lernunterstützung während des Bauspiels?

Methode

An der Fragebogenstudie nahmen 151 PFK (M = 35.76, SD = 13.18, 87% weiblich) teil. Zusätzlich wurden von N = 73 PFK Episoden freien Bauspiels zwischen PFK und einer Kleingruppe von Kindern (max. 5) videografiert.

Fachwissen im Bauspiel wurde über den „Center-of-Mass-Test“ ([Author] & [Author], 2020) erfasst, bei dem die Stabilität von 16 Bauklotzanordnungen bewertet werden muss (α=.83). Fachdidaktisches Wissen wurde über eine selbstentwickelte Skala mit 10 Items erfasst. PFK mussten die Angemessenheit fachdidaktischer Maßnahmen (z.B. Förderung numerischer Kompetenzen im Bauspiel) auf einer vierstufigen Likertskala einschätzen (1 = gar nicht angemessen, 4 = sehr angemessen, α=.85). Die Willingness der PFK zur Lernunterstützung wurde mit einem vignettenbasierten Ansatz erfasst (siehe Abbildung 1). Es wurden 5 Vignetten präsentiert und eine dreidimensionale Faktorstruktur angenommen (Diagnostik: „Ich würde aufmerksam verfolgen, was die Kinder gerade tun.“, α=.97; Scaffolding: “ Ich würde die Kinder dazu anregen, nächste Schritte in ihrem Tun auszuprobieren”, α=.85; Inaktivität: “ Ich würde die Kinder in Ruhe lassen“, α=.93). Lehr-Lernüberzeugungen wurden über 12 Items (Schmidt und Smidt, 2021) auf einer fünfstufigen Likertskala erfasst (Ko-Konstruktion, α=.77; Autonomie, α=.57; Instruktion, α=.78). Die Häufigkeit der verbalen Lernunterstützung im freien Bauspiel (Videoanalyse) wurde von zwei unabhängigen Ratern auf einer vierstufigen Likertskala bewertet (1 = sehr selten, 4 = sehr häufig, ICC = .99).

Ergebnisse

Die konfirmatorische Faktorenanalyse zeigte einen guten Fit für die dreidimensionale Faktorstruktur (χ2(6) =15.68, p=.016; CFI=.99; TLI=.97; RMSEA=.10; SRMR=.04; siehe Abbildung 2). Es zeigten sich positive Korrelationen zwischen Willingness für Diagnose mit Ko-Konstruktion, Autonomie und fachdidaktischem Wissen. Willingness für Scaffolding war positiv mit Ko-Konstruktion und fachdidaktischem Wissen korreliert. Multiple Regressionen zeigten, dass Ko-Konstruktion (B = 0.89, p ≤ .001) und fachdidaktisches Wissen (B = 0.34, p ≤ .001) inkrementelle Validität bei der Vorhersage von Willingness zur Diagnose hatten. Für die Vorhersage von Willingness zu Scaffolding hatte nur fachdidaktisches Wissen (B = 0.36, p ≤ .001) inkrementelle Validität. Keine der Aspekte der Willingness zeigten Zusammenhänge zur verbalen Lernunterstützung im freien Bauspiel. Lediglich das Alter war positiv mit der Häufigkeit verbaler Lernunterstützung korreliert (r = .46).

Diskussion

Unsere Forschung weist auf die Bedeutung fachdidaktischen Wissens für die Vorhersage von Willingness zu Diagnose und Scaffolding hin. Die Ergebnisse zeigen aber, dass weitere Analysen notwendig sind, um die Bedeutung von Willingness als Brücke zwischen Dispositionen und Handlungen zu klären.



Paper Session

Zusammenarbeit in Kita-Teams- Untersuchungen zur Selbsteinschätzung teamrelevanter Aspekte

Carolin Rauhöft, Melissa Pepper, Dr. Dagmar Nuding, Prof. Dr. Gernot Aich

Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Die weiter steigende Verweildauer von Kindern in Kindertageseinrichtungen führt zu einem zunehmenden Einfluss dieser auf die kindliche Entwicklung (Bock-Famulla et al., 2022). Pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen arbeiten in einem Team und eine gute Zusammenarbeit im Team wird von den Fachkräften als wichtige Bedingung für ihre Arbeit eingeschätzt (Wertfein, Wirts & Wildgruber, 2015). Dabei beeinflusst das Klima entscheidend die Arbeitsleistung (Hegen, 2005). Die Herstellung eines partizipativen Arbeitsklimas bildet die Grundlage für einer am Kind orientierten partizipativen Bildungsarbeit, da Partizipation die Konfliktlösekompetenz, Empathie, Kompromissbereitschaft und Frustrationstoleranz erhöht (Rutter, 2012).

Bisher wurde in Untersuchungen zu möglichen Zusammenhängen ein signifikanter Einfluss extern beobachteter Teamqualität nachgewiesen (Wertfein et al., 2013). Für Teamklima als subjektives Konstrukt ist eine individuelle Bewertung bedeutsam, um Folgerungen für Teamentwicklungsmaßnahmen treffen zu können (van Dick & West, 2005).

Fragestellungen

Im vorliegenden Beitrag werden erste Ergebnisse zur Selbsteinschätzung der partizipativen Zusammenarbeit in Kita-Teams vorgestellt. Konkret stehen in diesem Beitrag folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie gestaltet sich die partizipative Zusammenarbeit im Team in den am Projekt teilnehmenden Einrichtungen? Wie hängen die einzelnen teamrelevanten Aspekte zusammen? Gibt es Aspekte der Teams oder der Personen, die Unterschiede der Selbsteinschätzung erklären?

Methode

Insgesamt wurden 205 Fachkräfte in 29 Einrichtungen befragt. Dazu werden Daten aus dem Ich bin Ich 3.0 Projekt herangezogen. Das durch die aim (Akademie für Innovative Bildung und Management Heilbronn-Franken gGmbH) geförderte dreijährige Projekt hat das Ziel, das Selbstkonzept von Kindern im Kita-Alltag zu stärken. Hierfür kamen verschiedene Skalen zur Anwendung, unter anderem der Fragebogen zur Arbeit im Team (Kauffeld, 2004), Teilskalen vom Landauer Organisations- und Teamklimainventar (Müller, 2002), Teilskalen der AQUA Studie (Schreyer et al., 2013) und die Intragroup Conflict Scale (Lehmann-Willenbrock et al., 2011). Neben der deskriptiven Auswertung wurden Korrelationsanalysen zwischen einzelnen Subskalen und varianzanalytische Gruppenvergleiche mit SPSS durchgeführt.

Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigen sehr positive Bewertungen der jeweiligen Leitungskräfte (M=3,38 - 3,44, Skala 1-4). Es werden insgesamt eher wenige Konflikte wahrgenommen (Aufgabenkonflikte: M=4,27 Beziehungskonflikte M=4,17, Skala 1-6). Das Teamklima wird allgemein positiv bewertet. Am geringsten wird der Bereich Verantwortungsübernahme (M=3,63) bewertet und am höchsten die Zielorientierung im Team (M=3,99). Aufgabenorientierung (M=3,81) und Zusammenhalt (M=3,81) (Skala jeweils 1-4) werden ebenfalls gut bewertet.

Die verschiedenen Skalen zeigen hoch signifikante Zusammenhänge. Im Vortrag werden die Ergebnisse zudem in Hinblick auf einrichtungsspezifische Merkmale wie zum Beispiel Gruppenform und Teamgröße dargestellt sowie Gruppenunterschiede innerhalb der Einrichtungen aufgezeigt.

Diskussion und Implikation für Theorie und Praxis

Die Ergebnisse geben Anhaltspunkte zur Weiterentwicklung und Förderung der Zusammenarbeit im Team und können eingesetzt werden, um eine Verbesserung der partizipativen Arbeitssituation herbeizuführen. Somit können sie für Teamentwicklungsprozesse genutzt werden. Im weiteren Verlauf sollte untersucht werden, wie die einzelnen teamrelevanten Aspekte innerhalb der individuellen Teams zusammenhängen und wie sich die Teams zusammensetzen. Zusätzlich sollte untersucht werden, wie hoch die Kohärenz in den Teams ist und inwieweit diese mit der Arbeitsleistung zusammenhängt.



Paper Session

Multiprofessionelle Kooperation beim Schuleintritt von Kindern mit Beeinträchtigungen

Daniel Then, Sanna Pohlmann-Rother

Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Deutschland

Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule ist ein bedeutender Meilenstein in der Bildungsbiografie eines Kindes (Wildenger, 2011). Um Übergangsprozesse erfolgreich zu gestalten, ist nach einem ökosystemischen Verständnis die Kooperation der AkteurInnen zentral (Rimm-Kaufman & Pianta 2000). Die multiprofessionelle Kooperation, d.h. die Zusammenarbeit der professionellen AkteurInnen im Übergang, spielt dabei eine Schlüsselrolle (Griebel & Niesel, 2020). Dies gilt auch und insbesondere für Kinder mit Beeinträchtigungen. So eröffnet die multiprofessionelle Kooperation die Möglichkeit, unterschiedliche Expertisen in den Übergangsprozess zu integrieren (Sands & Meadan, 2022) und den spezifischen Bedürfnissen dieser Kinder im Übergang passgenau zu begegnen. Entscheidend ist die Frage, inwieweit neben den frühpädagogischen Fachkräften und Lehrkräften auch externes Unterstützungspersonal (z.B. HeilpädagogInnen, SchulpsychologInnen) am Übergangsprozess beteiligt wird (Albers & Lichtblau, 2014). Besonders für den inklusiven Übergang, d.h. den Übergang in die allgemeine Grundschule, ist dies relevant (Then & Pohlmann-Rother, 2023). Wie die multiprofessionelle Kooperation beim Übergang von Kindern mit Beeinträchtigungen im Einzelnen gestaltet ist, ist bislang dennoch wenig erforscht. Vorliegende Forschungsarbeiten fokussieren hauptsächlich Kooperationen im Kita-Alltag (z.B. Kißgen et al., 2021; Peucker et al., 2017) und zeigen, dass u.a. die Beratung der Fachkräfte durch externes Unterstützungspersonal eine bedeutende Kooperationsaktivität ist (Wölfl et al., 2017). Spezifisch zur Kooperation beim Übergang liegt nur geringe Evidenz vor. Kiso und Lotze (2015) zeigen etwa, dass Fach- und Lehrkräfte um intensive Kooperation bemüht sind, wenn ein Kind mit Beeinträchtigungen den Schuleintritt vollzieht. Dagegen mangelt es an explorativen Studien, welche die Kooperationsaktivitäten sowie die einzelnen Professionen im Übergang dezidiert beschreiben. Hier setzt die vorliegende Studie an. Ziel ist es, die Kooperationsaktivitäten beim Übergang von Kindern mit Beeinträchtigungen in die Grundschule sowie die verschiedenen Professionen zu identifizieren, die an der Kooperation beteiligt sind.

Die Datenbasis der Studie bilden qualitative, leitfadengestützte Interviews mit n=22 frühpädagogischen Fachkräften, da diese –und folglich ihre Kooperationsbeziehungen– für die Übergangsgestaltung zentral sind (Pohlmann et al., 2009). Das Sampling wurde auf Basis eines qualitativen Stichprobenplans realisiert (Döring & Bortz, 2016), für den drei Merkmale herangezogen wurden: 1) die Berufserfahrung der Fachkräfte, die für ihre Kooperationspraxis relevant ist (Meyer-Siever, 2015); 2) das pädagogische Profil der Kindertageseinrichtungen (inklusiv vs. nicht-inklusiv), da in inklusiven Einrichtungen umfassender mit anderen Professionen kooperiert wird als in nicht-inklusiven Einrichtungen (Hensen et al., 2016); 3) die Lage der Kindertageseinrichtungen (im Einzugsgebiet vs. nicht im Einzugsgebiet einer Schule mit inklusivem Profil), da die Etablierung von Kooperationsbeziehungen in Schulen mit inklusivem Profil eine besondere Rolle spielt (Heimlich, 2020). Die Datenauswertung erfolgte deduktiv-induktiv mittels Verfahren der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2022) durch zwei unabhängige CodiererInnen (Cohen’s Kappa=.86).

Im Ergebnis zeigt sich, dass die Fachkräfte beim Übergang von Kindern mit Beeinträchtigungen neben den anderen Fachkräften und den Lehrkräften der aufnehmenden Schulen mit einer großen Bandbreite an Professionen kooperieren. Vor allem Professionen mit medizinisch-therapeutischem Schwerpunkt (HeilpädagogInnen, ErgotherapeutInnen, Logopä­dInnen) sind bedeutende KooperationspartnerInnen, während mit MitarbeiterInnen der zuständigen Behör­den wenig zusammengearbeitet wird. Bemerkenswert ist, dass Fachkräfte aus inklusiven Einrichtungen dabei nicht grundsätzlich von umfassenderen Kooperationsbeziehungen mit externem Unterstützungspersonal berichten, wie es vorliegende Forschungsbefunde (z.B. Hensen et al., 2016) nahelegten.

Die Kooperationsaktivitäten, die berichtet werden, zielen insbesondere auf eine Kommunikation zwischen den AkteurInnen (z.B. Austauschgespräche) sowie eine gemeinsame pädagogische Begleitung des Kindes im Übergangsprozess. Letzteres umfasst sowohl Maßnahmen der Diagnostik (z.B. gemeinsame Beobachtungen) als auch der Förderung (z.B. Durchführung von Unterstützungsmaßnahmen). Auffällig ist die Vielzahl an individualisierten Kooperationsaktivitäten, die insbesondere von Fachkräften aus inklusiven Einrichtungen berichtet werden. Während sich die Zahl der KooperationspartnerInnen zwischen den Einrichtungsarten nicht zwangsläufig unterscheidet, deuten sich in der Art der Kooperation also Unterschiede an. Von gemeinsamen Professionalisierungsmaßnahmen (z.B. Fortbildungen) wird ausschließlich mit den Grundschullehrkräften berichtet. Auf Basis der Ergebnisse wird ein Modell vorgestellt, welches die Formen der Kooperation beim Übergang von Kindern mit Beeinträchtigungen systematisiert.



Paper Session

Die Entwicklung exekutiver Funktionen im Kindergarten: Spielt es eine Rolle, ob Kinder mehr Zeit in kindzentrierten im Vergleich zu lehrkraftgeleiteten Aktivitäten verbringen?

Janina Eberhart1, Donna Bryce2, Sara Baker3

1Universität Tübingen, Deutschland; 2Universität Augsburg, Deutschland; 3University of Cambridge, UK

Theoretischer Hintergrund

Exekutive Funktionen sind kognitive Fähigkeiten, die für die Schulreife, die schulischen Leistungen und die sozial-emotionalen Fähigkeiten von Kindern entscheidend sind (Blair, 2002; Blair & Razza, 2007; Riggs et al., 2006). Daher wird versucht zu verstehen, wie kindliche exekutive Funktionen gefördert werden können (Takacs & Kassai, 2019). Bildungseinrichtungen bieten dafür eine gute Möglichkeit (Yoshikawa et al., 2013). Exekutive Funktionen sind eine Komponente der Selbstregulation. Um ihr Verhalten regulieren zu lernen brauchen Kinder zunächst die Unterstützung von Erwachsenen oder erfahreneren anderen Kindern (Fremdregulation); mit der Zeit lernen Kinder dann, ihr Verhalten ohne externe Unterstützung zu regulieren. Kinder profitieren von Aktivitäten, in denen sie diese Fähigkeiten üben können. Es wird davon ausgegangen, dass kindzentrierte Aktivitäten, in denen Kinder ihr eigenes Verhalten steuern müssen, Selbstregulation mehr fördern als lehrkraftgeleitete Aktivitäten, in denen Kinder hauptsächlich Instruktionen folgen. Im Kindergarten (Reception in England) verbringen Kinder ihre Zeit in Aktivitäten mit unterschiedlichem Unterstützungsgrad, darunter Aktivitäten in der ganzen Gruppe, Aktivitäten in kleinen Gruppen, Übergängen und im freien Spiel. Bei Aktivitäten in der ganzen Gruppe und in kleinen Gruppen erhalten die Kinder in der Regel Instruktionen und Anleitungen von Lehrkräften. In kindzentrierten Aktivitäten hingegen müssen die Kinder ihr Verhalten selbst steuern und regulieren.

Fragestellung

In dieser Studie untersuchen wir, ob der Anteil der Zeit, die Kinder in verschiedenen Aktivitäten im Kindergarten verbringen, mit der Entwicklung der kindlichen exekutiven Funktionen zusammenhängen. Wir stellen die Hypothese auf, dass Kinder, die mehr Zeit in kindzentrierten Aktivitäten verbringen, bei denen sie ihr eigenes Verhalten steuern und regulieren müssen, mehr Zuwachs in der Entwicklung ihrer exekutiven Funktionen zeigen als ihre Altersgenossen, die weniger Zeit in kindzentrierten Aktivitäten verbringen.

Methode

Die Stichprobe dieser Studie umfasste 207 Kinder (MAlter = 5.25 Jahre) aus 32 Kindergartengruppen und 14 Einrichtungen in England. Die meisten Einrichtungen befanden sich in sozial benachteiligten Gegenden. Die exekutiven Funktionen der Kinder wurden zu Beginn und am Ende des Kindergartenjahres mit fünf Aufgaben erhoben. Die Aufgaben erfassten das Arbeitsgedächtnis, die Inhibition und die kognitive Flexibilität. Außerdem wurden die Sprachkenntnisse der Kinder, ihr nonverbales Denken und ihr familiärer Hintergrund erhoben. Im Frühjahr wurde in jeder Kindergartengruppe eine eintägige Beobachtung mit dem Beobachtungsinstrument COPTOP (COPTOP; Bilbrey et al., 2017; Farran, 2017) durchgeführt, um die Aktivitäten der Kinder und die Abläufe im Kindergarten zu erfassen. Der COPTOP bildet zyklische Momentaufnahmen von Aktivitäten und dem Verhalten der Kinder über den Tag hinweg ab. Auf Grundlage dieser Beobachtungen wurde die Zeit berechnet, die die Kinder in verschiedenen Aktivitäten verbrachten. Die Zeit, die Kinder in kindzentrierten und lehrkraftgeleiteten Aktivitäten verbrachten, war von besonderem Interesse. Außerdem wurde die Zeit in Übergängen ermittelt, d. h. Zeiten, in denen Kinder auf den Beginn von Aktivitäten warteten oder von einer Aktivität zur nächsten wechselten.

Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigten, dass die Kinder im Durchschnitt mehr Zeit in kindzentrierten als in lehrerkraftgeleiteten Aktivitäten verbrachten. Interessanterweise zeigten unsere Erhebungen, dass Übergänge, also Zeiten ohne Lerninhalte, wie z. B. in der Schlange stehen oder Warten, einen beträchtlichen Zeitanteil des Tages einnahmen. Die Analyse zeigte, dass Kindmerkmale wie die exekutiven Funktionen der Kinder zu Beginn des Kindergartenjahres, ihr nonverbales Denken und ihre Wortschatzkenntnisse die exekutiven Funktionen der Kinder am Ende des Kindergartenjahres vorhersagten. Der Anteil der Zeit in kindzentrierten und lehrkraftgeleiteten Aktivitäten war nicht mit den exekutiven Funktionen der Kinder am Ende des Kindergartenjahres assoziiert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die untersuchten Zeitanteile der Kindergartengruppen in verschiedenen Aktivitäten für die Entwicklung der kindlichen exekutiven Funktionen eine untergeordnete Rolle spielten. Stattdessen waren Merkmale des Kindes für die Entwicklung der exekutiven Funktionen wichtig. Es werden alternative Interpretationen dieser Ergebnisse sowie Implikationen für Bildungseinrichtungen diskutiert.

 
11:10 - 12:508-17: Reflexion im Bildungskontext
Ort: S16
 
Paper Session

Der Selbstbezug innerhalb von Reflexionen im pädagogischen Kontext

Gerlinde Lenske1, Alexandra Merkert2, Hendrik Lohse-Bossenz3, Elisabeth Seethaler4

1Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland; 2Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau, Deutschland; 3Universität Greifswald, Deutschland; 4Pädagogische Hochschule Salzburg, Österreich

Theoretischer Hintergrund

Reflexion eigener oder fremder Erfahrung wird zur Verbindung von Theorie und Praxis im Rahmen der Lehrer:innenbildung als zentral erachtet (z. B. Schön, 1987; Calderhead, 1989; Zeichner & Liston, 1987; Hatton & Smith, 1995; Korthagen & Vasalos, 2005; Lenske & Lohse-Bossenz, 2023). Videos bilden in der praxisärmeren ersten Phase der Lehrer:innenbildung ein Fenster zur Praxis und ermöglichen es, Unterrichtssituationen theoriebasiert zu analysieren und Fremderfahrungen als eine Art stellvertretende Erfahrung auf die eigene Person zu beziehen. Obwohl der Begriff Reflexion im Rahmen der Bildungsforschung sehr häufig verwendet wird, lassen sich im Bereich der Reflexionsforschung noch zahlreiche Desiderate identifizieren (Lenske & Lohse-Bossenz, 2023). So ist beispielsweise die Komponente des Selbstbezugs im Rahmen von Reflexionen noch wenig erforscht, wenngleich der Selbstbezug als wichtiges Merkmal von Reflexion beschrieben (z. B. Aeppli & Lötscher, 2016; Korthagen & Vasalos, 2005) oder gar als obligatorisches Merkmal von Reflexion definiert wird (siehe Lenske & Lohse-Bossenz, 2023). Unklar ist bislang, welche Dimensionen hinsichtlich des Selbstbezugs unterschieden werden können und inwiefern es Lehramtsstudierenden bereits zu Beginn ihres Studiums gelingt, einen Selbstbezug (vertieft) herzustellen. Es ist anzunehmen, dass sich das situationale Interesse in Bezug auf die Beschäftigung mit einem Unterrichtsvideo sowie die Motivation, einen Selbstbezug herzustellen, auf die Qualität des Selbstbezugs auswirken (Merkert et al., 2023). Das heißt, dass Personen, die hinsichtlich der Aufgabe interessiert und motiviert sind, eher vertiefte Selbstbezüge herstellen. Darüber hinaus gibt es empirische Evidenz, dass das Wissen über den zentralen Reflexionsinhalt die Reflexion beeinflusst (z. B. Weber et al., 2023). Ebenso kann angenommen werden, dass auch der Selbstbezug als Teil der Reflexion bei höherem Wissen mehr Tiefgang aufweist.

Forschungsfrage

Hier setzt die vorliegende Studie an. Sie befasst sich mit dem Selbstbezug im Rahmen von videobasierten Reflexionen mit Fokus auf Klassenführung bei Studienanfänger:innen. Im Zentrum steht dabei die Frage, welche Dimensionen des Selbstbezugs sich empirisch abbilden lassen. Im Sinne einer konvergenten Validierung soll der erfasste Selbstbezug auf theoretisch erwartbare Zusammenhänge mit a) dem situationalen Interesse, b) der Motivation einen Selbstbezug herzustellen und c) dem Vorwissen zu Klassenführung empirisch überprüft werden.

Methode

Die Stichprobe umfasst 133 Lehramtsstudierende im Bachelor (2. Semester), welche im Rahmen einer Vorlesung aufgefordert wurden, mehrere Videovignetten mit dem Fokus auf Klassenführung zu reflektieren. Zur Beantwortung der zugrundeliegenden Forschungsfrage wurden die schriftlichen Selbstbezüge zu einer ausgewählten Vignette auf Basis der strukturierenden skalierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2022) ausgewertet. Hierbei wurden die Kategorien zunächst deduktiv aus der Theorie abgeleitet (z. B. Korthagen & Vasalos, 2005) und im Rahmen der Codierschleifen induktiv adaptiert.

Das situationale Interesse wurde per Fragebogen direkt nach der Videobetrachtung, aber vor der Reflexion erfasst (11 Items, 7-stufige Likertskala, IMI, siehe u. a. McAuley et al., 1989; Ryan, 1982); ebenso die Motivation, einen Selbstbezug herzustellen (9 Items, 5-stufige Likertskala, Eigenentwicklung). Das Klassenführungswissen wurde mittels standardisiertem Test ca. eine Woche vor der videobasierten Reflexion erhoben (Papier-Bleistift-Test, Seethaler & Lenske, 2022). Die jeweiligen Zusammenhänge wurden auf Basis von Korrelationsanalysen ermittelt.

Ergebnisse

Im Zuge der Analysen wurden fünf Dimensionen des Selbstbezugs klassifiziert und empirisch besetzt (1. Kompetenzen, 2. Passung und Identifikation, 3. Werte und Überzeugungen, 4. persönlicher Lerneffekt und 5. Emotionen). Neben der Breite des Selbstbezugs wurde auch die Tiefe erfasst. Erwartungsgemäß verfassten situational stärker interessierte und zur Herstellung eines Selbstbezugs motivierte Studierende tendenziell umfangreichere (r=.206, p=.018 bzw. r=.191, p=.028) und tiefer gehende Selbstbezüge (r=245, p=.005 bzw. r=.264, p=.002). Das Vorwissen korreliert ebenfalls signifikant positiv mit der Selbstbezugstiefe (r=.212, p=.046). Die Resultate stehen (unter Berücksichtigung des Ausbildungsstands der Studierenden) im Einklang mit den theoretischen Annahmen und leisten einen Beitrag, das Forschungsdesiderat um den Selbstbezug innerhalb von Reflexionen, insbesondere hinsichtlich seiner Messbarkeit, zu reduzieren. Im Rahmen des Vortrags werden Limitationen diskutiert und Implikationen für Theorie und Praxis aufgezeigt.



Paper Session

Reflexion und Reflexionskompetenz im Kontext von Unterricht – Ein Scoping-Review

Katrin Arendt, Lisa Stark, Anja Friedrich, Robin Stark, Roland Brünken

Universität des Saarlandes, Deutschland

Reflexion von Unterricht, deren Verankerung in der Lehramtsausbildung besonders gefordert wird (Buschor & Kamm, 2015; Roters, 2012), ist ein vielfach diskutiertes Konzept. Der aktuellen Forschung mangelt es vor allem an einem gemeinsamen Begriffsverständnis (Clará, 2015; Häcker, 2019; Wyss, 2013). Auch die Konzeptualisierung und Operationalisierung von Reflexionskompetenz sind nicht einheitlich. Hier werden meist verschiedene Inhaltsbereiche der Reflexion betrachtet, zudem unterscheiden sich oft zugrundeliegende Reflexionsmodelle und Messverfahren (Tripp & Reich, 2012). An einer Abgrenzung von Reflexion bzw. Reflexionskompetenz von anderen Konzepten im Zusammenhang mit der Professionalisierung von Lehrkräften (z.B. Professionelle Unterrichtswahrnehmung), fehlt es ebenfalls.

Um bisherige Forschungsergebnisse zu bündeln und hinsichtlich ihrer theoretischen Rahmungen besser einordnen zu können, wurde ein Scoping-Review durchgeführt (Levac et al., 2010). Das Ziel bestand darin, die Unterschiede in zugrundeliegenden Definitionen und theoretischen Modellen aufzuzeigen sowie das Verständnis der Begriffe Reflexion und Reflexionskompetenz im Kontext von Unterricht je zu einer Definition zusammenzuführen und mögliche Forschungslücken aufzuzeigen. Die übergeordnete Fragestellung des Scoping-Reviews lautet: Was weiß man aus der aktuellen Forschung über die Reflexion von Unterricht und Reflexionskompetenz von Lehrkräften bzw. Lehramtsstudierenden?

Nach der Methodik für Scoping-Reviews von Levac et al. (2010) wurde zunächst ein passender Suchterm formuliert. Dieser wurde in den Datenbanken Web of Science und ERIC eingesetzt, da diese als relevant für das Feld der empirischen Bildungsforschung angesehen werden (Newman & Gough, 2020). Zusätzlich wurde die Suche zeitlich auf die letzten 20 Jahre und auf Zeitschriftenartikel eingeschränkt. Dieses Scoping-Review schließt nur deutsch- und englischsprachige Zeitschriftenartikel ein, die sich auf Studien in den deutschsprachigen Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz beziehen, da die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern weltweit variiert. Es wird angenommen, dass aufgrund dieser Einschlusskriterien eine für weitere Forschungen sinnvolle Definition von Reflexion und eine Operationalisierung von Reflexionskompetenz vorgenommen werden kann.

Durch die Datenbanksuche wurden n=597 Artikel gefunden. Nach Entfernen von Duplikaten verblieben n=592 Artikel in der Vorauswahl. Davon wurden in einem Titel- und Abtractscreening aufgrund der zuvor definierten Kriterien n=531 ausgeschlossen (z.B. Die Stichprobe des Artikels beinhaltet Personen aus nicht-deutschsprachigen Regionen oder der Artikel bezieht sich auf andere Kontexte als die Reflexion von Unterricht in der Schule). Die verbliebenen n=61 Volltexte wurden im Anschluss auf Eignung beurteilt. Kriterien für den Ausschluss innerhalb des Volltextscreenings waren z.B. die Studie bezieht sich nicht auf die Reflexion von Unterricht durch Lehrkräfte bzw. Lehramtsstudierende oder Reflexion steht nicht im Fokus bzw. wird in den Forschungsfragen nicht untersucht. Am Ende wurden n=25 Artikel in das Review eingeschlossen. Sowohl für das Titel- und Abstract- als auch für das Volltextscreening wurde die Beurteilerübereinstimmung zweier unabhängiger Rater berechnet (κTitel/Abstract=0.90, κVolltext=1.00).

Die Definitionen von Reflexion und Reflexionskompetenz in den einzelnen Artikeln sowie weitere Aspekte, wie z.B. die aufgeführten Reflexionsmodelle und Messverfahren wurden systematisch dargestellt. Zusätzlich wurden die Artikel hinsichtlich unterschiedlicher Merkmale, wie dem Einsatz von Videos für die Reflexion oder auf Grundlage der betrachteten Inhaltsbereiche der Reflexionen (z.B. Umgang mit Unterrichtsstörungen, Klarheit der Instruktion, etc.) gegenübergestellt. Mithilfe von Grafiken wurden weitere Verbindungen zwischen den Artikeln dargestellt. Beispielsweise wurde verdeutlicht, wie sich die Anzahl der Publikationen entwickelt hat. Hier zeigte sich eine Zunahme der Artikelzahl im Laufe der Jahre. Weiterhin wurden Netzwerke dargestellt, die die Kooperationen der AutorInnen untereinander beinhalten. Die meisten Autorengruppen bleiben eher unabhängig von anderen Forschenden und es bilden sich eher kleinere Netzwerke. Außerdem wurden die Artikel hinsichtlich Ihrer Gemeinsamkeiten untersucht und Gruppierungen der Artikel wurden genauer betrachtet. Die Artikel wurden nach der Betrachtung der reflexionsbezogenen Dispositionen, der Reflexionsperformanz und des Reflexionsprozesses eingeordnet.

Eine gemeinsame Definition für Reflexion sowie für Reflexionskompetenz wurde herausgearbeitet und diskutiert, Forschungslücken wurden erörtert und Implikationen für die weitere Forschung zur Reflexion von Unterricht wurden dargestellt.



Paper Session

Reflexion und Kollaboration in agentenbasierten Simulationen: Effekte auf die Qualität diagnostischer Ergebnisse

Constanze Richters1, Matthias Stadler2, Anika Radkowitsch3, Martin Fischer2, Ralf Schmidmaier4, Frank Fischer1

1Department of Psychology, LMU Munich, Munich, Germany; 2Institute of Medical Education, LMU University Hospital, LMU Munich, Munich, Germany; 3Department of Mathematics Education, IPN Leibniz Institute for Science and Mathematics Education, Kiel, Germany; 4Department of Medicine IV, LMU University Hospital, LMU Munich, Munich, Germany

Agentenbasierte Simulationen bieten Studierenden die Möglichkeit, wiederholt wissensreiche kollaborative Fähigkeiten wie das kollaborative Diagnostizieren zu üben (Chernikova et al., 2020; Graesser et al., 2018). Angeleitete Reflexion kann dabei den Diagnoseprozess unterstützen (Mamede & Schmidt, 2017; Richters et al., 2023). Es wird angenommen, dass durch die Reflexion individueller Verdachtsdiagnosen kognitive Fallrepräsentationen umstrukturiert werden (Mamede & Schmidt, 2022). Bisherige Studien legen nahe, dass diese Form der Reflexion ein ausreichendes Maß an Vorwissen erfordert (Chernikova et al., 2020; Richters et al., 2022). In professionellen kollaborativen Diagnosesituationen (z. B. in der Medizin mit Personal aus anderen Fachbereichen) ist das Ziel der Kollaboration, zusätzliches Wissen in den Diagnoseprozess einzubringen (Radkowitsch et al., 2022). Dies könnte auch die kognitive Fallrepräsentation verändern. In diesem Beitrag wird daher in einer agentenbasierten Simulation untersucht, inwiefern Lernende in Abhängigkeit ihres Vorwissens durch Reflexion und Kollaboration ihre aktuellen kognitiven Fallrepräsentationen verändern.

N = 79 Medizinstudierende (Nweiblich= 56) ab dem 5. Studienjahr bearbeiteten konsekutiv drei Patient:innenfälle in der Rolle von Internist:innen mithilfe einer agentenbasierten Radiologin. Im ersten Teil erhielten die Studierenden eine Patient:innenakte mit relevanten klinischen Informationen (Symptome und Befunde). Danach wurden sie durch gezielte Fragen zur Reflexion über aktuelle Verdachtsdiagnosen angeregt: Die aktuelle Verdachtsdiagnose sollte angegeben und unterstützende, widersprechende sowie fehlende klinische Informationen benannt werden. Bis zu fünf weitere mögliche Verdachtsdiagnosen konnten angegeben und mit den gleichen Schritten reflektiert werden. Abschließend sollten alle Verdachtsdiagnosen der Wahrscheinlichkeit nach sortiert werden. Im zweiten Teil stellten alle Studierenden (bis zu zehn) radiologische Untersuchungsanforderungen und begründeten diese mit klinischen Informationen und Verdachtsdiagnosen. Unzureichend begründete Anforderungen erhielten Rückmeldung und konnten überarbeitet werden. Bei ausreichender Begründung teilte die Radiologin ihre Untersuchungsergebnisse (neue Informationen). Alle Studierenden schlossen den Fall mit Abgabe einer finalen Verdachtsdiagnose ab. Als Indikator für die kognitive Fallrepräsentation wurde die Akkuratheit der Verdachtsdiagnose anhand der Richtigkeit der Verdachtsdiagnose (inkorrekt, niedrig spezifiziert korrekt, hoch spezifiziert korrekt) pro Person und Fall zu drei Zeitpunkten erfasst (Ω = .79): Vor der Reflexion, nach der Reflexion (vor der Kollaboration) und nach der Kollaboration (finale Diagnose). Vor dem Experiment wurde das inhaltliche Vorwissen (Innere Medizin und Radiologie) der Studierenden mittels Single-Choice- und Key-Feature Fragen erhoben. Die Analyse erfolgte mittels Rangkorrelationen und logistischer Regression.

Bei fast 90 % der Studierenden führte die Reflexion zu keiner Veränderung der Akkuratheit der Verdachtsdiagnose. Die entsprechend starke positive Korrelation zwischen der Akkuratheit der Verdachtsdiagnose vor und nach der Reflexion (ρ= .84, p <.001) war nicht durch das Vorwissen moderiert (b = -7.10, p = .269, OR = 0.49). Von den Studierenden mit inkorrekter oder niedrig spezifizierter korrekter Verdachtsdiagnose nach der Reflexion verbesserten sich 75 % durch die Kollaboration. Die vergleichsweise schwache positive Korrelation zwischen der Akkuratheit der Verdachtsdiagnose nach der Reflexion und der finalen Diagnose nach der Kollaboration (ρ = .28, p = <.001) war ebenfalls nicht durch das Vorwissen moderiert (b = -13.99, p = .142, OR = 0.26).

Entgegen vorheriger Erklärungen zur Wirkung angeleiteter Reflexion im individuellen Kontext (cf., Mamede & Schmidt, 2022) ergab diese Studie keine Hinweise darauf, dass Reflexion kognitive Fallrepräsentationen verändert. Kollaboration hingegen verbesserte das diagnostische Ergebnis (finale Verdachtsdiagnose) – unabhängig vom Vorwissen der Studierenden – erheblich und scheint somit die kognitiven Fallrepräsentationen verbessert zu haben. Die wiederholte Kollaboration ermöglicht früher oder später den Zugang zu externen Informationen durch Versuch und Irrtum, was durch die Reflexion interner Wissensressourcen nicht erreicht werden kann. Die Lernenden könnten sich dessen bewusst sein und sich stärker auf die Zusammenarbeit fokussieren. Dies legt nahe, dass in agentenbasierten Simulationen diese Form der Reflexionsunterstützung für die Qualität diagnostischer Ergebnisse weniger effektiv sein kann als außerhalb. Diese Befunde unterstützen die Annahme, dass Simulationen per se größere Effekte haben als zusätzliche instruktionale Unterstützung (Chernikova et al., 2020).



Paper Session

Reflexives Schreiben in der Hochschulbildung - ein systematisches Review zu Konzepten, Forschungsthemen und -methoden

Florian Hofmann1, Chengming Zhang1, Michaela Artmann2, Xining Wang3, Michaela Gläser-Zikuda1

1FAU Erlangen-Nürnberg, Deutschland; 2Universität zu Köln, Deutschland; 3Trinity College Dublin, Irland

Theoretischer Hintergrund. Theoretische und wissenschaftliche Erkenntnisse in anwendungsbezogenes Wissen zu überführen, gehört zu den zentralen Herausforderungen der Hochschulbildung (Yorke, 2003). Nicht zuletzt durch die rasant fortschreitende Digitalisierung und Globalisierung im gesamten Bildungswesens wird diese anspruchsvolle Aufgabe zunehmend komplexer. Damit Studierende auf diese sich stetig verändernden und komplexeren Anforderungen adäquat vorbereitet werden, müssen sie vor allem neues Wissen rasch aufnehmen, aktiv verarbeiten, integrieren und reflektieren sowie zur Lösung komplexer Fragestellungen anwenden können (Núñez-Canal et al., 2022). Reflexives Schreiben erfährt in der Hochschulbildung seit geraumer Zeit eine breite Aufmerksamkeit und hat sich als aussichtsreiches Konzept herausgestellt, um den skizzierten Herausforderungen in der Hochschulbildung gerecht werden zu können (Jung & Wise, 2020; Kovanović et al., 2018; Poldner et al., 2014).

Allerdings liegen eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Konzepte reflexiven Schreibens vor, was in erster Linie auf diverse Kontexte, Domänen und Einsatzsbereiche zurückzuführen ist. Diese Heterogenität, welche sich schon in einer uneinheitlichen Verwendung des Begriffs „Reflexivität“ bzw. unklare terminologische Verortung manifestiert, birgt zahlreiche Schwierigkeiten und kann unter anderem die Effekte bzw. die Analyse der Wirksamkeit des Verfahrens beeinträchtigen. Aktuelle systematische Reviews beleuchten reflexives Schreiben zwar in diversen Fachbereichen (Chen & Forbes, 2014; Franco et al., 2022; Van Beveren et al., 2018); ihr Fokus liegt aber häufig auf spezifischen Teilaspekten des reflexiven Schreibens. Daher erscheint es notwendig, breiter angelegte und interdisziplinär ausgerichtete Analysen im Bereich der Hochschulbildung vorzunehmen, um die facettenreichen Operationalisierungsformen reflexiven Schreibens umfassend zu erfassen und zu verstehen.

Fragestellung. Daher haben wir einen domänenübergreifenden Ansatz gewählt, der die unterschiedlichen Konzepte in diversen Disziplinen berücksichtigt. Ziel des vorliegenden systematischen Reviews ist es, die diversen Konzepte, Forschungsthemen und -methoden des reflexiven Schreibens zu identifizieren und zu systematsieren. Konkret werden folgenden Forschungsfragen bearbeitet:

F1: Wie ist reflexives Schreiben konzeptionell in den Hochschulcurricula verankert?

F2: Welche Forschungsthemen zu reflexivem Schreiben liegen vor?

F3: Welche Forschungsmethoden werden für die Analyse reflexiven Schreibens in der Hochschule angewandt?

Methode. Für dieses systematische Review wurden die PRISMA-Richtlinien von 2020(Page et al., 2021) herangezogen. Zur gezielten Literaturrecherche wurde die folgende Suchsyntax eingesetzt, wobei Titel, Schlagwörter und Abstracts berücksichtigt wurden: („reflective writing“ ODER „reflective practice“ ODER „written reflection“) UND („assessment“ ODER „evaluation“ ODER „analysis“) UND („student“ ODER „learner“ ODER „trainee“) UND („higher education“). Die Erstrecherche in den Datenbanken Web of Science (https://www.webofscience.com/), Scopus (https://www.scopus.com/) und Science Direct (https://www.sciencedirect.com/) ergab insgesamt 4501 Artikel. Für die Literaturauswahl wurden neun Kriterien definiert (bei den ausgewählten Studien handelt es sich um empirische Primärforschung zum reflexiven Schreiben im Hochschulbereich, die zwischen 2010 und 2023 in englischsprachigen, von Expert*innen begutachteten Zeitschriften veröffentlicht wurden, im Volltext vorliegen und mehr als fünf Seiten umfassen). Nach genauerer Betrachtung und Anwendung der festgelegten Einschlusskriterien wurden schließlich 88 Artikel für die weitere Analyse ausgewählt.

Ergebnisse. Reflexives Schreiben ist als Konzept hauptsächlich in semesterbasierten Hochschulkursen in Form von gezielten Schreibaufgaben verankert. Besonders häufig ist reflexives Schreiben in der Medizin und den Gesundheitswissenschaften curricular verankert. Hinsichtlich der Forschungsthemen konnten die analysierten Artikel in drei Forschungskategorien eingruppiert werden: Bewertung reflexiven Schreibens (n = 36), reflexives Schreiben als spezifisches Evaluationsinstrument (n = 39) sowie die Analyse diverser Einflussfaktoren auf reflexives Schreiben (n = 13). Ein weiterer wichtiger Befund bezieht sich auf die in den Studien angewandten Forschungsmethoden für die Analyse reflexiven Schreibens: Die qualitative und quantitative Inhaltsanalyse ist nach wie vor die vorherrschende Forschungsmethodik, wobei sie in den letzten Jahren zunehmend in Verbindung mit Techniken des maschinellen Lernens und des Natural Language Processing verwendet wird. Zentrale Ergebnisse des systematischen Reviews und Implikationen für Forschung und Hochschulbildung werden im Vortrag diskutiert.

 
11:10 - 12:508-18: Erwachsenenbildung
Ort: S22
 
Paper Session

Nachweise für berufliche Fähigkeiten oder doch nur ein Motivationssignal? Zur Wirkung non-formaler Weiterbildung in der Personalauswahl

Benjamin Schimke

Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Viele Erwerbstätige in Deutschland nehmen regelmäßig an berufsbezogenen Kursen teil, um die eigenen beruflichen Fähigkeiten zu erweitern. Sie verknüpfen damit u.a. den Wunsch ihre berufliche Tätigkeit besser ausüben zu können und einige äußern die Hoffnung darüber ihre beruflichen Chancen zu verbessern (Bildungsberichterstattung 2022; Behringer und Schönfeld 2017). Ob non-formale Weiterbildungen diesen Nutzenerwartungen gerecht werden, ist eine weitestgehend offene Frage. Einerseits kommen bisherige Arbeiten zu gegenläufigen Befunden. Während Dieckhoff (2007) zeigt, dass non-formale Weiterbildung einen positiven Effekt auf den Übergang in eine Beschäftigung mit höheren Qualifikationsanforderungen hat, kommen Ebner und Ehlert (2018) zu dem Ergebnis, dass sie zur Stabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen beiträgt und beruflicher (Aufwärts-)Mobilität entgegensteht. Andererseits basieren die bisherigen Arbeiten in diesem Feld auf Beobachtungsdaten, können Endogenität nur schwer ausschließen und ermöglichen daher auch keine kausalen Schlüsse.

Für ein umfassendes Bild, ob und wie berufsbezogene Weiterbildungsmaßnahmen bei der Arbeitsplatzzuweisung wirken, muss beleuchtet werden, wie die Arbeitsnachfrageseite zu Einstellungsentscheidungen kommt. Der theoretische Zugang basiert auf Überlegungen der Humankapitaltheorie (Becker 1993), der Signaltheorie (Spence 1973) und dem Arbeitsplatzwettbewerbsmodell (Thurow 1975). Zentrale Prädiktoren für den Erfolg in Bewerbungssituationen sind berufliche Fähigkeiten der Bewerbenden, die üblicherweise über formale (Bildungs-)Abschlüsse und/oder Arbeits-/ Berufserfahrung signalisiert werden (z.B. DiStasio und van de Werfhorst 2016; Humburg und van der Velden 2015). Ob darüber hinaus Signale non-formaler Weiterbildung zum Bewerbungserfolg beitragen, ist die erste zu klärende Frage dieses Beitrags. Die Bearbeitung dieser Fragestellung wird mit der Öffnung einer bisherigen Blackbox in der Forschung zu Weiterbildungserträgen verbunden. Das zugrundeliegende Experiment ermöglicht es, die offene Frage zu beantworten, ob Weiterbildungsteilnahmen lediglich ein Proxy für non-kognitive Fähigkeiten (wie bspw. Motivation) darstellen oder Produktivitätssignale im Sinne zusätzlich erworbener beruflicher Fähigkeiten sind. Die Beantwortung dieser zweiten Frage wird über die simultane Berücksichtigung eines weiteren Zertifizierungskanals unternommen, mit dem Bewerbende berufliche Fähigkeiten in Einstellungssituationen nachweisen können: Arbeitszeugnissen. Im Vergleich zu Weiterbildungsnachweisen werden motivationale Faktoren in Arbeitszeugnissen jedoch explizit benannt (Weuster 2012, 1994; Huesmann 2008). Die geplante Variation dieser beiden Dimensionen, ermöglicht es abzuschätzen inwiefern Weiterbildungsnachweise von der Arbeitsnachfrageseite nur als Motivationssignal wahrgenommen werden oder ob das Absolvieren von Kursen mit dem Erwerb von beruflichen Fähigkeiten assoziiert ist.

Die Studie basiert auf einem faktoriellen Survey (Auspurg und Hinz 2015), welches im Januar 2022 mit Personalrekrutierenden (N=717) durchgeführt wurde, die Bewerbende in einem von 15 Berufen rekrutieren. Zu Beginn des Experiments wurde jedem Probanden eine fiktive Stellenausschreibung aus jenem Beruf präsentiert, in dem sie selbst Einstellungsexpertise besitzen. Im Anschluss sollten sie nacheinander insgesamt acht tabellarische Lebensläufe auf einer 11-stufigen Skala hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer Vorstellungsgesprächseinladung bewerten. Die experimentell variierten Faktoren umfassten u.a. das Geschlecht, Abschlussnoten sowie ein Faktor mit Weiterbildungsnachweisen und einer mit zusammengefassten Hinweisen aus dem Arbeitszeugnis der letzten Tätigkeit. Das Design umfasst insgesamt 10 Faktoren, ist strukturell identisch für alle 15 Berufe und basiert auf 192 Lebensläufen, die experimentell aus dem Vignettenuniversum (2634) (d-Effizienz: 92,8%) ausgewählt und anschließend experimentell 24 Vignettensets zugewiesen wurden, um die Konfundierung aller Haupteffekte und aller 2-fach Interaktionen zu verhindern. Die Analyse der bewerteten Vignetten (N*V=5.443) erfolgt mittels hierarchisch-linearer Mehrebenenregression mit ‚random intercepts‘.

Die Analysen zeigen, dass der Nachweis von Kursen in schriftlichen Lebensläufen (im Vergleich zu keiner Weiterbildung) mit einer signifikant erhöhten Einladungswahrscheinlichkeit von 3,3 Prozentpunkten (%P) verbunden ist. Während Kurse, die berufsspezifische Fähigkeiten vermitteln, bei fehlendem Kompetenzhinweis im Arbeitszeugnis die Einladungswahrscheinlichkeit um rund 4,6%P erhöhen, verringert sich der Einfluss auf 2,0%P (beide p<0,05), wenn identische Fähigkeiten gleichzeitig über ein Arbeitszeugnis nachgewiesen werden. Die Reduktion ist ebenfalls statistisch bedeutsam und legt nahe, dass Fähigkeitsnachweise aus Weiterbildungen nicht vollständig durch analoge Arbeitszeugnishinweise substituierbar sind. Die Ergebnisse sind bemerkenswert, da rund 57% des Weiterbildungseffekts auf die Fähigkeiten zurückzuführen sind und die restlichen etwa 43% auf das Motivationssignal, welches von der Kursteilnahme ausgeht.



Paper Session

Weiterbildungsdatenbanken als vermittelnde Instanz zwischen Lernenden und Weiterbildungsanbietern zur Förderung von Partizipation: eine Vignettenstudie zu Datenbankmerkmalen aus der Perspektive von Weiterbildungsanbietern

Elisabeth Reichart, Kanis Stefan, Kaufmann-Kuchta Katrin

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung - Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen, Deutschland

Die Partizipation Erwachsener an Weiterbildung ist ein wichtiger Schlüssel zur nachhaltigen Teilhabe an einer Gesellschaft im Strukturwandel (OECD 2021). Weiterbildung ist der größte und heterogenste aller Bildungsbereiche (Schrader 2019), wobei es kaum festgelegte Bildungswege gibt. Individuelle Weiterbildungsinteressierte müssen sich selbst orientieren; jedoch sind Informationen teilweise schlecht auffindbar (BMBF 2022).

Theoretische Bezüge & Fragestellung

Eine grundlegende Heuristik zur theoretischen Modellierung von Weiterbildungsteilnahme bietet das Supply-Demand-Modell (Boeren et al. 2010): Voraussetzung für die Partizipation ist die Passung von individuellem Weiterbildungsbedarf und Weiterbildungsangebot, offeriert durch Weiterbildungsanbieter als relevante Akteure. Ein verbreitetes Vermittlungsinstrument zwischen Suchenden und Anbietern sind datenbankbasierte Online-Suchportale, in die Anbieter Angebote einstellen. Auch hier herrscht große Vielfalt: Datenbanken unterscheiden sich nach regionaler Reichweite, Spezialisierung auf bestimmte Bereiche und ob sie ihre Dienste kostenlos oder kostenpflichtig anbieten (Reichart 2021).

Vor diesem Hintergrund ist die Frage offen, nach welchen Kriterien Weiterbildungsanbieter entscheiden, ob und welche Datenbank(en) sie nutzen. Hier besteht eine Forschungslücke, der sich dieser Beitrag explorativ mit Hilfe eines faktoriellen Survey-Experiments (Auspurg & Hinz 2015) nähert. Das Experiment untersucht, welche Rolle verschiedene Datenbankmerkmale im Verhältnis zueinander spielen und ob es systematische Unterschiede zwischen Anbieter(type)n gibt, wenn Anbieter Datenbanken als potenzielles Marketinginstrument bewerten.

Aufgrund der dünnen empirischen Befundlage basiert die Merkmalsauswahl auf Charakteristika vorhandener Datenbanken und auf Überlegungen mithilfe folgender Theorien. Wir gehen vom Supply-Demand-Modell aus, das wir für die Anbieterseite weiter ausdifferenzieren. Zur Berücksichtigung von verschiedenen Anbietertypen nutzen wir die Reproduktionskontexte nach Schrader (2010). Demnach unterscheiden sich Weiterbildungsanbieter danach, wie sie ihre Ressourcen beschaffen und sich legitimieren. Insgesamt ist der Weiterbildungsbereich als Markt bzw. Quasi-Markt (Höhne 2015) organisiert. Die Einstellung des eigenen Angebots in Datenbanken kann als Teil des Marketingmixes von Anbietern begriffen werden, um sich auf dem komplexen Markt zu präsentieren (Sarges & Häberlin 1980; Müller & Rehder 2018). Aus institutionenökonomischer Perspektive zielen Anbieter als Marktakteure auf eine ausgewogene Kosten-Nutzen-Bilanz bei der Entscheidung über Transaktionen (Ebers & Gotsch 2019); als einen wichtigen Nutzenaspekt aus Anbietersicht nehmen wir an, dass diese das Interesse verfolgen, dass ihre Angebote von Weiterbildungsinteressierten gut gefunden werden.

Daten und Methoden

Das faktorielle Survey-Experiment (Auspurg & Hinz 2015) wurde 2022 im Rahmen der repräsentativen Anbieterbefragung wbmonitor (Koscheck et al. 2022) durchgeführt. Im Szenario des Experiments wurden die Befragten (leitende Mitarbeitende von Weiterbildungseinrichtungen) gebeten, auf einer 7-stufigen Likert-Skala die Nutzungswahrscheinlichkeit von vier hypothetischen Datenbanken mit jeweils sechs Merkmalsausprägungen für die Einstellung ihres eigenen Angebots einzuschätzen.

Es wurden drei Merkmalsbereiche mit jeweils zwei Merkmalen getestet, wobei außer den Kosten (3-stufig) alle Merkmale mit ja/nein kodiert waren. Der Aufwand aus Anbietersicht wurde über die Kosten und ein (nicht) vorhandenes Serviceangebot für Anbieter abgebildet. Die Unterstützung für Suchende wurde über die Auffindbarkeit mit bekannten Suchmaschinen und KI-gestützte Suchfunktionen operationalisiert. Die Passung zu den Anbieterzielen wurde über Variablen zur regionalen Ausrichtung der Datenbank und ihre Spezialisierung auf einen relevanten Angebotsbereich erfasst. Das Vignettenuniversum umfasste 96 Kombinationsmöglichkeiten der Merkmale in 24 Vignettendecks.

Die Analysestichprobe beinhaltet 1.768 Weiterbildungsanbieter mit 6.931 beantworteten Vignetten; Orthogonalität der Merkmale ist gegeben. Die Analysen wurden mittels Random-Intercept-Modellen mit Maximum-Likelihood-Schätzung und Cluster-robusten Standardfehlern durchgeführt (Rabe-Hesketh & Skrondal 2022). Zusätzlich wurden separate Modelle für die Reproduktionskontexte berechnet und nach Nutzungserfahrung mit Datenbanken differenziert.

Ergebnisse

Vorläufige Ergebnisse zeigen insgesamt hochsignifikante Effekte aller Datenbankmerkmale mit Ausnahme der regionalen Reichweite auf die Bewertung der Nutzungswahrscheinlichkeit. Nach Reproduktionskontexten getrennte Modelle erzeugen spezifische Effektmuster.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass vor dem Hintergrund einer allgemeinen Kosten-Nutzen-Abwägung für alle Weiterbildungsanbieter höhere Kosten und höherer Aufwand die Nutzungswahrscheinlichkeit senken; die gezielte Unterstützung der Suchenden und eine gute Passung mit den Anbieterzielen erhöhen hingegen tendenziell die Nutzungswahrscheinlichkeit der präsentierten Datenbanken. Vor dem Hintergrund der theoretischen Bezüge werden die Ergebnisse differenziert und diskutiert.



Paper Session

Sozial(räumlich)e Ungleichheiten in der Beschäftigung mit nachhaltigkeitsbezogenen Themen im Erwachsenenalter

Jana Costa1, Claudia Kühn2

1Leibniz Institut für Bildungsverläufe, Deutschland; 2Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Theoretischer Hintergrund

Vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen und Krisenphänomene gewinnt die Auseinandersetzung mit Bildungsfragen im Kontext von Nachhaltigkeit zunehmend an Bedeutung. Für eine transformative Wende in Richtung Nachhaltigkeit, so wird argumentiert, ist es notwendig auch Erwachsene als wichtige Akteure einzubeziehen (z.B. Apel 2016; Adoßment 2015).

Empirische Studien deuten dabei an, dass nachhaltigkeitsbezogene Verhaltensweisen (wie z.B. Konsumentscheidungen) eng mit soziodemografischen Merkmalen sowie mileuspezifischer Grundhaltungen in Zusammenhang stehen (z.B. Masson & Leßmann 2016) und von räumlichen bzw. infrastrukturellen Rahmenbedingungen geprägt sind (z.B. Dangschaf & Segert 2011). Während Fragen sozialer Ungleichheiten im Kontext von Nachhaltigkeit bislang vorwiegend in der Konsumforschung und der Umweltsoziologie (vgl. z.B. Sonnberger, Bleicher & Groß 2023) diskutiert werden, mangelt es in der Bildungsforschung derzeit an empirischen Beiträgen, die sich mit Lernen nachhaltigkeitsbezogener Themen im Erwachsenenalter aus einer Ungleichheitsperspektive beschäftigen. Die Frage, mit welchen nachhaltigkeitsbezogenen Themen sich erwachsene Lernende selbstgesteuert und informell auseinandersetzen und welche Rolle dabei soziodemografische Merkmale und verschiedene Kontextes des informellen Lernens spielen, stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar (vgl. z.B. Diekmann & Loewenfeld 2020).

Fragestellungen

Dieses Desiderat aufgreifend wird in dem Beitrag (1) danach gefragt, mit welchen nachhaltigkeitsbezogenen Themen sich Erwachsene in verschiedenen informellen Kontexten auseinandersetzen. Darauf aufbauend wird (2) empirisch untersucht, welche individuellen Merkmale (u.a. soziodemografische, sozioökonomische und einstellungsbezogene Variablen) mit der Auseinandersetzung nachhaltigkeitsbezogener Lerninhalte in Zusammenhang stehen und (3) welche Bedeutung dabei räumlichen Strukturen (wie z.B. Größe des Wohnortes) als Bedingungsfaktoren zukommt.

Methodisches Design

Den Ausgangspunkt bildet ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, in welchem die Untersuchung des informelle Lernens Erwachsener im Kontext von Nachhaltigkeit unter Rückbezug auf vorliegende Datensätze des Nationalen Bildungspanels (NEPS) im Mittelpunkt steht. Die Daten der Erwachsenenkohorte des NEPS werden dabei reanalysiert, indem die erfassten offenen Angaben zu Lernthemen in verschiedenen informellen Kontexten in einem ersten Schritt inhaltsanalytisch ausgewertet werden. Auf Basis der offenen Angaben zu Lernthemen der Erwachsenen im Jahr 2020/21 (n=6.674; ca. 3.000 offene Angaben) in verschiedenen informellen Kontexten (Fachmessen und -kongresse, Fachvorträge & Internet) wurde mithilfe einer induktiv-deduktiven Inhaltsanalyse (Mayring 2015) ein Kategoriensystem entwickelt, das Aufschluss über explizite nachhaltigkeitsbezogene Lernthemen gibt. Dieses Kategoriensystem wird in einem zweiten Schritt wieder an den Datensatz rückgespielt. Dies ermöglicht es, die Beschäftigung mit nachhaltigkeitsbezogenen Lernthemen an die erfassten individuellen Merkmale und Kontextbedingungen rückzubinden. Hierfür werden ökologische soziale sowie ökonomische Themenfelder differenziert in den Blick genommen und zur Aufdeckung systematischer Zusammenhänge Cluster- sowie logistische Regressionsanalysen angewendet.

Ergebnisse

Die ersten Befunde der induktiv-deduktiven inhaltsanalytischen Auswertung zeigen, dass Nachhaltigkeit beim informelles Lernen im Erwachsenenalter eine Rolle spielt: Die Befragten setzen vielseitig sich mit ökologischen, sozialen und wirtschaftliche Themen in den erfragten Kontexten auseinander. In der inhaltsanalytischen Ausdifferenzierung zeigt sich, dass die ökologische Dimension am stärksten ausdifferenziert ist und vielfältige Bezüge zu den Themen „Umwelt und Natur“, „Energie“, „Mobilität“ und „Ernährung“ und „ökologischer (An-) Bau“ hergestellt werden. Für die soziale Dimension wurden „Gerechtigkeit und Gleichheit“, „Teilhabe und Partizipation“ sowie „Migration“ als Themenschwerpunkte identifiziert, wobei kaum explizite Bezüge sichtbar werden, womit diese eher ein unbestimmtes Querschnittsthema bleibt. Auffällig ist weiterhin, dass wirtschaftliche Aspekte kaum ausdifferenziert werden, d.h. es werden lediglich Themen im Kontext einer nachhaltigen Produktion und Arbeitswelt genannt, die sich aber vor allem auf das Lernen in Fachvorträgen oder auf Messen beziehen. Aktuell wird das entwickelte Kategoriensystem in den NEPS-Datensatz eingebunden, um die Zusammenhänge mit individuellen und kontextbezogenen Merkmalen zu überprüfen. Die damit verbundenen Erkenntnisse werden im Beitrag vorgestellt und diskutiert.

Diskussion

In dem Beitrag wird das Potential bereits vorliegender Daten aufgegriffen, indem verschiedene Forschungsparadigmen sowie deren Stärken und Potenziale zusammengebracht werden. Dies eröffnet sowohl inhaltliche als auch methodische Diskussionsperspektiven, die im Beitrag abschließend aufgegriffen und weiterführend diskutiert werden.



Paper Session

Förderung der digitalen Teilhabe von Senior:innen im Rahmen partizipativer Wissenschaftskommunikation

Mandy Hommel

OTH Amberg-Weiden, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Bildungsprozesse von Senior:innen im Kontext digitalisierungsbezogener Inhalte dienen einerseits der gesellschaftlichen Teilhabe an der fortschreitenden Digitalisierung. Anderseits kann eine Mitwirkung der Senior:innen an der wissenschaftlich fundierten Konzeption von Bildungsangeboten auch als Form partizipativer Wissenschaftskommunikation verstanden werden, mithilfe derer die Akzeptanz wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse in der Bevölkerung positiv beeinflusst werden kann (Fähnrich & Schäfer, 2019).

Gerade in der Bevölkerungsgruppe der Senior:innen zeigt sich die Ambivalenz zwischen den Potentialen positiver Effekte im Zusammenhang mit der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) einerseits und ihrer Ablehnung andererseits (Niehaves & Plattfaut, 2014; Guner & Acarturk, 2020). Als Faktoren der Technologieakzeptanz sind dabei die wahrgenommene Nützlichkeit, die wahrgenommene Einfachheit der Nutzung, die Einstellung zur Nutzung und die Nutzungsintention zu berücksichtigen (Venkatesh & Davis, 2000). Mit der voranschreitenden Digitalisierung wächst die Gefahr, dass die „Generation 65+“ nicht Schritt halten kann und eine geringe Technologieakzeptanz zeigt. Allerdings ist es gerade diese Bevölkerungsgruppe - insbesondere abseits der Metropolregionen - die durch das Nutzen digitaler Angebote (u. a. Gesundheitsinformationen/-leistungen, Lieferdienste und den Möglichkeiten, mit anderen Menschen digital in Kontakt zu bleiben) von positiven Effekten besonders profitieren und so länger unabhängig bleiben könnte (Niehaves & Plattfaut, 2014). Fühlen sich Ältere allerdings im Umgang mit digitalen Medien nicht unterstützt, besteht die Gefahr, dass sie deren Nutzung ablehnen (Guner & Acarturk, 2020).

Fragestellung

Gemeinsam mit (ehrenamtlich engagierten) Senior:innen wurden die Technologieakzeptanz, die Nutzung von IKT sowie die Ausstattung mit IKT von Senior:innen in einer ländlichen Region (Gemeinde) untersucht.

Folgende Forschungsfragen waren dabei handlungsleitend:

(1) Über welche IKT-Ausstattung verfügen Senior:innen?

(2) Wie nutzen Senior:innen IKT?

(3) Welche Akzeptanz von IKT zeigen Senior:innen?

(4) Welche Unterstützungsangebote wünschen sich Senior:innen?

Die Erkenntnisse zu den Forschungsfragen dienen als Ausgangspunkt für die Konzeption von Bildungsangeboten für Senior:innen der Region.

Methode

Für die schriftliche Befragung wurde das Technologieakzeptanzmodell (TAM: Venkatesh & Davis, 2000) mit den Faktoren wahrgenommene Nützlichkeit, wahrgenommene Einfachheit der Nutzung, Einstellung zur Nutzung und Nutzungsintention, die auf die tatsächliche Nutzung wirken, adaptiert und um externe Faktoren wie bisherige Erfahrungen mit IKT, subjektive Normen, Freude, Computerängstlichkeit und Selbstwirksamkeit (Jiang et al., 2021) sowie die vorhandene Infrastruktur (im Sinne der Ausstattung mit IKT) ergänzt. Die Fragebögen wurden den Senior:innen durch die Gemeinde postalisch zur Verfügung gestellt. An der schriftlichen Befragung (Zeitraum vom 20.12.2021 bis zum 10.01.2022) nahmen 250 SeniorInnen (137 m, 112 w, 1 o. A.) teil.

Ergebnisse

Hinsichtlich der vorhandenen Ausstattung mit IKT (1) wird u. a. deutlich, dass 214 der Befragten (89,2 %) über einen Internetanschluss und 211 (87,2 %) über ein Smartphone verfügen. Hinsichtlich der Nutzung (2) sind signifikante Unterschiede, z. B. hinsichtlich der täglichen Nutzungszeit des Internets, zwischen den Altersgruppen zu verzeichnen. Für die Akzeptanz von IKT (3) ergibt eine Explorative Faktorenanalyse (KMO = .812; Bartlett p =< .001) eine 3-Faktorenlösung, die 65,7% der Varianz erklärt: wahrgenommene Nützlichkeit (Eigenwert 5,2, Varianzaufklärung 34,6%), Offenheit gegenüber IKT (Eigenwert 3,3, Varianzaufklärung 22,1%) und Computerängstlichkeit (Eigenwert 1,4, Varianzaufklärung 9,0%). Die Computerängstlichkeit nimmt dabei mit steigendem Alter zu. Vergleichbar zu Guner und Acaturk (2020) sowie Dogruel, Joeckel und Bowman (2015) zeigt sich die individuell wahrgenommene Nützlichkeit als zentral. Für die Konzeption der Unterstützungsangebote stellen daher insbesondere die Nützlichkeit von IKT und die individuellen Bedürfnisse (4) der SeniorInnen Ausgangspunkte dar.

Ausblick

In einem nächsten Schritt soll das Vorgehen auf weitere ländliche Regionen übertragen und um eine Längsschnittstudie zur Akzeptanz von Wissenschaft ergänzt werden. Dabei ist u. a. die Annahme zu prüfen, dass die Einbindung der Senior:innen in einen forschungssystematischen Prozess einerseits die Bereitschaft, die konzipierten Unterstützungsangebote wahrzunehmen, und andererseits die Akzeptanz und das Verständnis wissenschaftlichen Vorgehens positiv beeinflussen.

 
11:10 - 12:508-19: Überzeugungen von Lehrkräften
Ort: S23
 
Paper Session

Ist mein:e Schüler:in sprachbegabt?! Ein Fragebogen zu Sprachbegabungsüberzeugungen von Lehrpersonen

Julia Klug, Kathrin Hamader, Silke Rogl

PH Salzburg/ÖZBF, Österreich

Die Überzeugungen von Lehrpersonen zur Begabung ihrer Schüler:innen sind für Unterrichtsqualität und Bildungsprozesse relevant: sie filtern die Wahrnehmung der Lehrkräfte hinsichtlich der heterogenen Leistungen in der Klasse, sie beeinflussen die Identifizierung der Bedürfnisse begabter Schüler:innen oder die Art der Unterstützungsangebote (Grosch, 2011; Hany, 1997; Rogl, 2022; Sternberg & Davidson, 2005). Begabungsüberzeugungen von Lehrkräften wurden bisher zumeist domänenübergreifend untersucht. In einer Studie erfasste Rogl (2022) die Begabungsüberzeugungen von Lehrpersonen domänenspezifisch für Mathematik und fand fünf theoretisch abgeleitete und empirisch geprüfte Dimensionen der Begabungsüberzeugungen: (1) Fachspezifische Fähigkeiten, (2) Passion, (3) Leistung, (4) Determination, und (5) internale Komponenten, von denen einige kognitiv aktivierenden Unterricht vorhersagen konnten (mit 19% Varianzaufklärung). In der aktuellen Studie wird der Ansatz auf die sprachliche Begabung erweitert, wo bereits elaborierte didaktische Modelle und Konzepte zur Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten bestehen (z.B. Farkas, 2014; Wagner, 2014) und sprachliche Begabung auch in anerkannten Begabungsmodellen als Domäne enthalten ist (Gagné, 2005; Heller et al., 2005). Die zentrale Forschungsfrage lautet, ob sich die Überzeugungen von Lehrkräften zur sprachlichen Begabung analog zur mathematischen Begabung erfassen lassen.

Zu diesem Zweck entwickelten wir einen Fragebogen zur Erhebung der eigenen Sprachbegabungsüberzeugungen basierend auf theoretischer Literatur zu hohen sprachlichen Fähigkeiten (z.B. Farkas, 2014; Wagner, 2014) und dem Modell zu mathematischen Begabungsüberzeugungen (Rogl, 2022). Im Entwicklungsprozess wurden mehrere Schritte zur Optimierung durchlaufen: (1) eine Fokusgruppe zur Prüfung der inhaltlichen Validität (n=5), (2) kognitive Interviews mit Lautem Denken und Paraphrasieren zur Verbesserung der Konstruktvalidität (n=4), (3) sowie eine quantitative Befragung von Lehramtsstudierenden zur Überprüfung des Messmodells mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse (n=207). Außerdem wurde anhand der quantitativen Daten die konvergente Validität mittels eines Strukturgleichungsmodells geprüft. In diesem wurden das growth mindset (FDZ am IQB, 2019) und die Lehrer:innenselbstwirksamkeit (Schwarzer & Schmitz, 2002) vorhergesagt, als zwei verwandt vermutete, wenn auch unterschiedliche Konstrukte, für die wir kleine bis mittlere Regressionskoeffizienten erwarteten (für Überzeugungen und Selbstwirksamkeit vgl. Matheis et al., 2017; growth/fixed mindsets bzgl. Intelligenz und Begabung vgl. Ziegler & Stoeger, 2010). MLR wurde als Schätzer für die Modelle in MPlus verwendet. Für die Fit-indices wurden die folgenden Cut-off Werte herangezogen RMSEA ≤ 0.06, SRMR ≤ 0.08, CFI ≥ 0.95, TLI ≥ 0.95, chi-square/df ≤ 3 (Brown, 2015; Hu & Bentler, 1999; Kline, 2016).

Für die Sprachbegabungsüberzeugungen der Lehramtsstudierenden wies ein sechsfaktorielles Modell mit korrelierten Faktoren einen guten Modellfit auf (χ2/df=1.332; RMSEA=.039; SRMR=.059; CFI=.943; TLI=.932), ganz ähnlich dem Modell der Mathematikbegabungsüberzeugungen, nur mit einem zusätzlichen sechsten Faktor namens externale Komponenten, der den eigenen Einfluss als Lehrkraft auf die sprachliche Begabungsentwicklung der Schüler:innen beschreibt. Das sechsfaktorielle Messmodell passte signifikant besser zu den empirischen Daten als ein Generalfaktormodell, ein fünffaktorielles Modell oder ein Modell mit einem Faktor zweiter Ordnung. Im Strukturmodell konnte durch die Sprachbegabungsüberzeugungen der Lehramtsstudierenden sowohl deren growth mindset (R²=.243, p=.003) als auch deren Lehrer:innenselbstwirksamkeit (R²=.33, p=.002) vorhergesagt werden (χ2/df=1.351; RMSEA=.040; SRMR=.060; CFI=.904; TLI=.892). Jeweils zwei der Faktoren erwiesen sich als prädiktiv mit den erwarteten mittleren Koeffizienten: Internale Komponenten (β=.445, p=.007) und Determination (β=-.435, p=.000) für growth mindset sowie Passion (β=.266, p=.024) und Leistung (β=.565, p=.016) für die Lehrer:innenselbstwirksamkeit.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir in unserer Studie einen Fragebogen zu Sprachbegabungsüberzeugungen getestet haben, der in zukünftigen Forschungsprojekten eingesetzt werden kann, um Bildungsprozesse besser zu verstehen und die Partizipation aller, auch begabter Schüler:innen, zu ermöglichen. Weiters konnte gezeigt werden, dass Sprachbegabungsüberzeugungen Ähnlichkeiten mit growth mindset aufweisen, es sich jedoch um verschiedene Konstrukte handelt. Sprachbegabungsüberzeugungen können ähnlich den Mathematikbegabungsüberzeugungen als multifaktorielles Konstrukt gemessen werden. Ausgehend von unseren Erkenntnissen wäre es interessant zu untersuchen, ob Begabungsüberzeugungen domänenspezifisch sind, ob sie sich intraindividuell unterscheiden, ob Sprachbegabungsüberzeugungen ebenfalls das Handeln von Lehrer:innen im Klassenzimmer vorhersagen und welche Implikationen sich für die Lehrer:innenausbildung ergeben.



Paper Session

Unter welchen Bedingungen etikettieren Lehrpersonen ihre Schüler:innen als «verhaltensauffällig»?

Boris Eckstein1, Urs Grob2, Kurt Reusser2, Alexander Wettstein3

1Pädagogische Hochschule Zürich, Schweiz; 2Universität Zürich; 3Pädagogische Hochschule Bern

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung

Viele Schüler:innen zeigen im Unterricht gelegentlich Verhaltensweisen, die von den geltenden Normen abweichen (Crawshaw, 2015). Die meisten Lehrpersonen und Mitschüler:innen erleben solches Verhalten als störend, insbesondere wenn es gehäuft auftritt (Eckstein et al., 2016). Darüber hinaus tendieren manche Lehrpersonen dazu, Schüler:innen als «verhaltensauffällig» zu etikettieren, wenn sich diese aus ihrer Sicht in außerordentlicher Weise normabweichend verhalten, z.B. besonders häufig (Hempel-Jorgensen, 2009). Weil aber keine allgemein anerkannte Definition von Verhaltensauffälligkeit existiert, kann diese Etikette Verschiedenes bedeuten. Es ist anzunehmen, dass undiszipliniertes Verhalten (z.B. Schwatzen) hierbei eine besondere Rolle spielt. Denn viele Lehrpersonen und Schüler:innen erachten Undiszipliniertheit als problematischste Form devianten Schülerverhaltens; vermutlich weil sie vergleichsweise häufig auftritt und kumulativ belastend wirkt (Beaman et al., 2007). Allerdings ermittelten jüngere Studien, dass Lehrpersonen das Verhalten ihrer Schüler:innen hochgradig subjektiv einschätzen (Eckstein, 2019). Noch nicht hinreichend geklärt hat die bisherige Forschung, inwieweit die Etikettierung einzelner Schüler:innen als «verhaltensauffällig» durch ihre Lehrperson mit ihrem tatsächlichen Verhalten bzw. mit anderen Bedingungen erklärt werden kann. Deshalb geht dieser Beitrag der Frage nach: Unter welchen Bedingungen etikettieren Lehrpersonen ihre Schüler:innen als «verhaltensauffällig»?

Methode

85 Lehrpersonen und 1412 Schüler:innen (11.7 Jahre) beantworteten eine Umfrage; die Schüler:innen waren zugleich Befragte und Zielpersonen. Die Lehrpersonen gaben an, inwieweit sie die einzelnen Schüler:innen ihrer Klasse persönlich als «verhaltensauffällig» erachten (Einzelitem «Etikettierung»). Zudem wurden vermutete Bedingungen dieser Etikettierung erhoben: Vier zufällig ausgewählte Mitschüler:innen schätzten ein, mit welcher Häufigkeit die einzelnen Schüler:innen in den vergangenen zwei Wochen undiszipliniertes Verhalten zeigten (8 Items, Cronbachs α=.79); die Lehrpersonen gaben ihr allgemeines Belastungserleben (4 Items, Cronbachs α=.76) sowie ihre allgemeine Störungsempfindlichkeit (16 Items, Cronbachs α=.79) an; die Schüler:innen beurteilten die Klarheit und Strukturiertheit des Unterrichts (6 Items, Cronbachs α=.74). Ferner wurde das Geschlecht der Schüler:innen als Einzelitem erfasst (0=Junge, 1=Mädchen) (Eckstein et al., 2018).

Mithilfe eines Mehrebenen-Strukturgleichungsmodells wurden in Mplus (Muthén & Muthén, 2017) Zusammenhänge zwischen der Etikettierung und den Bedingungen auf Schülerebene (L1) sowie auf Ebene der Lehrpersonen/Klassen (L2) geschätzt. Um die diskreten Eigenschaften und die teilweise schiefe Verteilung der Variablen angemessen zu berücksichtigen, wurde der WLSMV-Schätzer verwendet (Finney & DiStefano, 2013). Zur Entlastung der Schätzung wurde die Modellkomplexität durch Parceling reduziert (Little et al., 2002). Um Cluster Bias zu vermeiden, wurden original L1-Konstrukte und ihre aggregierte Form auf L2 messinvariant modelliert (gleiche Faktorladungen, keine L2- Residualvarianz) (Jak et al., 2013).

Ergebnisse

Die vorläufigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Modellschätzung gut zu den Daten passt (=139.47, df=71, p<.001; RMSEA=.024; CFI=.991). Die Resultate auf L1 legen nahe, dass die Etikettierung einzelner Schüler:innen weitgehend durch ihr Verhalten erklärt werden kann (=.504, p<.001). Zudem zeigen die L1-Resultate, dass die Etikettierung der einzelnen Schüler:innen auch mit ihrem Geschlecht (=-.25; p<.001) sowie mit der von ihnen erlebten Klarheit und Strukturiertheit des Unterrichts (=-.21; p<.001) zusammenhängt. Darüber hinaus weisen die L2-Resultate darauf hin, dass die Etikettierungstendenzen der Lehrpersonen über alle Schüler:innen hinweg mit ihrem Belastungserleben (=.35, p=.014) und ihrer Störungsempfindlichkeit im Allgemeinen (=.35, p=.011) einhergehen.

Die vorläufigen Ergebnisse stützen die Hypothesen weitgehend: Die Etikettierung einzelner Schüler:innen als verhaltensauffällig durch ihre Lehrperson beruht weitgehend auf dem tatsächlichen Verhalten dieser Schüler:innen – aber nicht ausschließlich. Mädchen sowie Schüler:innen, die dem Unterricht gut folgen können, werden unter Kontrolle des Verhaltens mit vergleichsweise geringer Wahrscheinlichkeit als «verhaltensauffällig» etikettiert – möglicherweise werden sie aufgrund von Halo-Effekten nachsichtig beurteilt (Stang & Urhahne, 2016). Außerdem legen die Ergebnisse nahe, dass persönliche Eigenschaften der Lehrpersonen (Belastungserleben, allgemeine Störungsempfindlichkeit) mit ihrer Etikettierungstendenz einhergehen, was sich vermutlich mit wahrnehmungspsychologischen Mechanismen erklären lässt (Eckstein et al., 2022; Wettstein et al., accepted).

Die Stärken und Grenzen der Studie reflektierend werden an der Konferenz Implikationen dieser Ergebnisse für die zukünftige Forschung und Theoriebildung sowie für die Unterrichtspraxis diskutiert.



Paper Session

Eine experimentelle Studie zu den Effekten von Lehrermindsets auf den Umgang mit leistungsschwachen Schülern, beruflichen Überzeugungen, Emotionen und Verhalten

Patricia Schwiering1,2, Anke Heyder1

1Ruhr-Universität Bochum, Deutschland; 2TU Dortmund

Theoretischer Hintergrund

Growth vs. Fixed Mindsets bezeichnen die subjektive Überzeugung, inwiefern Intelligenz und Fähigkeiten statisch sind (Fixed) oder wachsen können (Growth) (z.B. Dweck & Yeager, 2019). Dabei gilt ein Growth Mindset als besonders motivations- und leistungsförderlich (z.B. Dweck, 2006). Bisherige Studien legten jedoch den Schwerpunkt auf die Bedeutung der Mindsets der Lernenden. Arbeiten zur Bedeutung der Mindsets von Lehrenden liegen erst seit kurzem und primär aus dem US-Amerikanischen Hochschulbereich vor (z.B. Canning et al., 2022). Für Lehrkräfte an Schulen deuten erste Studien darauf hin, dass ihr Mindset mit ihrem Unterrichtsverhalten zusammenhängt (z.B. Rissanen et al., 2019; Sun, 2018) und insbesondere leistungsschwache Schüler*innen von Lehrkräften mit Growth Mindsets motivational profitieren (z.B. Heyder et al., 2020). Experimentelle Arbeiten, die diese Zusammenhänge untermauern, fehlen bislang jedoch. Unklar ist ebenfalls, welche Bedeutung ein Growth Mindset für weitere Kernaufgaben von Lehrkräften wie z.B. die Beurteilung und Beratung von Schüler*innen (KMK, 2019) hat. Entsprechende Erkenntnisse sind wichtig, um die Relevanz von Lehrermindsets umfassender beurteilen und mögliche Schlussfolgerungen für die Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte fundierter ziehen zu können.

Fragestellung

Die hier präsentierte experimentelle Studie untersucht, ob sich die Förderung von Growth Mindsets bei Lehramtsstudierenden mithilfe einer erprobten Kurzintervention (Heyder et al., 2023) auf ihren Umgang mit einem leistungsschwachen Schüler, ihre Lehrerselbstwirksamkeitserwartung, Emotionen und das selbstberichtete antizipierte Unterrichtsverhalten auswirkt. Wir erwarteten, dass die Lehramtsstudierenden der Interventionsgruppe ein stärkeres Growth Mindset (Manipulationscheck), eine größere Lehrerselbstwirksamkeitserwartung, mehr positive und weniger negative Emotionen sowie eine höhere Wahrscheinlichkeit von kognitiv aktivierendem und eine geringere Wahrscheinlichkeit von leistungsorientiertem Unterrichtsverhalten berichten. Zudem erwarteten wir in Bezug auf den Umgang mit einem leistungsschwachen Schüler, dass die Lehramtsstudierenden der Interventionsgruppe positivere Erwartungen an die schulische Entwicklung des leistungsschwachen Schülers und eine stärkere Growth-Mindset-orientierte Beratung an diesen Schüler verfassen.

Methode

In einem präregistrierten Online-Experiment wurden 306 Lehramtsstudierende (224 weiblich; Alter M = 23.26 Jahre) randomisiert der Growth-Mindset fördernden Interventions- (IG) (n = 160) oder der Kontrollgruppe (KG) (n = 146) zugewiesen. Die Teilnehmenden der IG reflektierten über ihre eigene Mission als Lehrkraft und die der KG über das Ruhrgebiet (vgl. Heyder et al., 2023). Anschließend berichteten sie ihr Growth Mindset (Heyder et al., 2020). Danach lasen sie die Fallbeschreibung eines fiktiven leistungsschwachen Schülers, berichteten ihre Erwartungen an seine weitere schulische Entwicklung und verfassten eine schriftliche Schullaufbahnberatung an die Familie. Zusätzlich berichteten sie ihre Lehrerselbstwirksamkeitserwartung (Midgley et al., 2000), erwarteten Emotionen (angelehnt an Pekrun et al., 2011) bezogen auf die Kernaufgaben einer Lehrkraft (KMK, 2019) und antizipierte Nutzung verschiedener Unterrichtspraktiken (Retelsdorf et al., 2010).

Ergebnisse

Wie erwartet berichteten die Lehramtsstudierenden der IG im Vergleich zur KG ein stärkeres Growth Mindset, was die Wirksamkeit der Intervention unterstützt (d = 0.35, p = .001). Ebenfalls erwartungskonform berichten die Lehramtsstudierenden der IG eine größere Lehrerselbstwirksamkeitserwartung, mehr Unterrichtspraktiken der kognitiven Aktivierung und Autonomie, weniger leistungsorientierte Unterrichtspraktiken und weniger Langeweile als die der KG (alle d ≥ 0.19, alle p < .05). Hinsichtlich des leistungsschwachen Schülers erwartete die IG deskriptiv eine positivere schulische Entwicklung (d = 0.12, p = .154) und beriet mit einem größeren relativen Anteil positiv konnotierter Wörter (d = 0.26, p = .025) als die KG, wie erste explorative Sentiment-Analysen zeigten. Zusätzlich zu den quantitativen Analysen werden derzeit alle Beratungstexte nach der strukturierenden Inhaltsanalyse (Mayring, 2022) mithilfe eines in Pretests erprobten Kategoriensystems hinsichtlich ihrer Growth- bzw. Fixed-Mindset-Orientierung von zwei unabhängigen und für die experimentelle Bedingung blinden Kodierer*innen kodiert. Der sich anschließende Vergleich der Beratungen der IG und der KG liefert weitere Erkenntnisse zu der Frage, wie sich ein Growth oder Fixed Mindset von Lehrenden in ihrem professionellen Handeln manifestiert.

Insgesamt bietet die Studie erste experimentell gestützte Einblicke in die praktische Bedeutsamkeit von Lehrermindsets für weitere Aspekte der professionellen Kompetenz von Lehrkräften.



Paper Session

Wie denken angehende Lehrpersonen über das Experimentieren im Geographieunterricht? Betrachtung eines Überzeugungssystems

Hanna Velling, Jan Christoph Schubert

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Dem Experimentieren im Geographieunterricht werden insbesondere vor dem Hintergrund einer naturwissenschaftlichen Grundbildung große didaktische Potenziale zugeschrieben (z.B. Lethmate, 2006) und geographische Bildungsstandards und Lehrpläne sehen den Einsatz von Experimenten vor (DGfG, 2020). Zugleich liegen Hinweise darauf vor, dass Experimente nur selten im Geographieunterricht eingesetzt werden (Hemmer & Hemmer, 2010) und ihr Einsatz mit großen Herausforderungen für Lehrpersonen verbunden ist (Otto & Mönter, 2015). Vor diesem Hintergrund rücken die Geographielehrpersonen selbst in den Fokus. Deren subjektive Überzeugungen (Beliefs) gelten neben anderen Komponenten professioneller Handlungskompetenz als wichtiger Prädiktor für die Gestaltung und Qualität von Unterricht sowie konkretes unterrichtliches Handeln (Baumert & Kunter, 2006; Fives & Buehl, 2012; Pajares, 1992) – so auch für Einsatz und Gestaltung von Experimenten im Geographieunterricht. Dabei wirken Beliefs stets eingebettet in ein System weiterer Überzeugungen sowie kontextabhängig als sogenannte Filter, Frames und Guides auf das professionelle Handeln von Lehrpersonen (Fives & Buehl, 2012; Mansour, 2009). Folglich wird argumentiert, dass diese erstens im Zusammenhang mit weiteren Überzeugungen (Fives & Buehl, 2012) sowie zweitens möglichst situations- und anforderungsspezifisch (Blömeke et al., 2008) untersucht werden sollten. Mit Blick auf das Experimentieren im Geographieunterricht könnten – neben den Überzeugungen der Geographielehrpersonen zum Experimentieren selbst – auch deren lehr- und lerntheoretische und epistemologische Überzeugungen eine wichtige Rolle spielen, da diese als relevant für die Auswahl von Lerngelegenheiten und Unterrichtsformen und -aktivitäten gelten (Dubberke et al., 2008; Hashweh, 1996; Seidel et al., 2008). Hinzu kommen auch Selbstwirksamkeitserwartungen, da diesen im Zusammenhang mit herausfordernden Situationen im Unterricht – wie auch dem Experimentieren – eine besondere Bedeutung für unterrichtliches Handeln zugeschrieben wird (Schwarzer & Jerusalem, 2002). Bisher ist jedoch wenig über die Zusammenhänge der Beliefs von (angehenden) Lehrpersonen zum Experimentieren im Geographieunterricht mit diesen Arten von Überzeugungen sowie auch zu deren Ausprägungen bekannt.

Fragestellung

Vor diesem Hintergrund werden im Vortrag folgende Forschungsfragen fokussiert:

a) Wie sind die Beliefs zum Experimentieren im Geographieunterricht bei angehenden Lehrpersonen ausgeprägt?

b) In welchem Zusammenhang stehen die Beliefs der angehenden Lehrpersonen zum Experimentieren im Geographieunterricht mit lehr- und lerntheoretischen Überzeugungen, epistemologischen Überzeugungen und ihren Selbstwirksamkeitserwartungen?

Methode

Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden N = 285 angehende Geographielehrpersonen (74% weiblich; Durchschnittsalter: M = 22, SD = 3.7) anhand eines neu entwickelten und validierten Mess­instruments zu ihren Überzeugungen zum Experimentieren im Geographieunterricht (Velling & Schubert, 2023a; Velling et al., 2022) sowie anhand etablierter Skalen zu ihren lehr- und lerntheoretischen Überzeugungen (konstruktivistisch-transmissiv) (OECD, 2009), epistemologischen Überzeugungen zu Naturwissenschaften (Bos et al., 2016) und Selbstwirksamkeitserwartungen/ Kompetenzüberzeugungen zum Experimentieren im Geographieunterricht (Velling & Schubert, 2023b; geographiespezifisch adaptiert nach Meinhardt et al., 2016) befragt. Anhand der Daten wurden die Ausprägungen der Beliefs zum Experimentieren sowie deren Zusammenhänge mit den weiteren erfassten Überzeugungen in einem Strukturgleichungsmodell (CFI: .93, TLI: .92, RMSEA: .029 [.023, .034], SRMR: .057, χ² = 1302.815, df = 1049 p < .001, χ²/df = 1.24) betrachtet.

Ergebnisse

Die befragten Studierenden sind insgesamt sowie insbesondere bezüglich der Förderung von Kompetenzen und der motivationalen Lernvoraussetzungen von Schüler*innen von großen Chancen durch das Experimentieren im Geographieunterricht überzeugt. Vergleichsweise weniger positiv sind die Überzeugungen mit Blick auf eine Offenheit beim Experimentieren sowie die kognitiven und motorischen Lernvoraussetzungen der Schüler*innen ausgeprägt. Mit Blick auf die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Arten von Beliefs ist ein zentrales Ergebnis, dass die Bedeutung, welche angehende Lehrpersonen der Offenheit beim Experimentieren beimessen, positiv durch fortgeschrittenere Beliefs zu Natur­wissenschaften, hingegen negativ durch transmissive Überzeugungen vorausgesagt wird. Zudem sind Studierende, welche der Meinung sind, dass die Schüler*innen die kognitiven und motorischen Lernvoraussetzungen für das Experimentieren mitbringen, stärker von ihrer eigenen Kompetenz beim Einsatz von Experimenten im Geographieunterricht überzeugt. Weitere Zusammen­hänge der Beliefs sowie erste Implikationen für die Forschung und (fachdidaktische) Lehrer*innenbildung werden im Vortrag diskutiert.

 
11:10 - 12:508-20: Digitale Kompetenzen III
Ort: S24
 
Paper Session

Wie viel C steckt in TPACK? Ein systematisches Literaturreview zur Fachspezifität der Messung von TPACK im Kontext von Mathematikunterricht

Alina Kadluba, Anselm Strohmaier, Christian Schons, Andreas Obersteiner

Technische Universität München, Deutschland

Theoretischer Hintergrund

Technologie und digitale Medien sind zentral für moderne Bildung, auch im Fach Mathematik (Reinhold et al., 2023). Der Erfolg ihres Einsatzes hängt dabei auch von den Fähigkeiten der Lehrkraft ab (Hillmayr et al., 2020). Technological Pedagogical Content Knowledge (TPACK) gilt hierbei als relevanter Teil professionellen Lehrkräftewissens (Mishra & Koehler, 2006). Die Messung von TPACK ist für Unterrichtspraxis und Forschung von wesentlicher Bedeutung, beispielsweise um überprüfen zu können, inwiefern Lehrkräfte auf das Unterrichten mit Technologie vorbereitet sind oder um Interventionen zu evaluieren.

TPACK verbindet Wissen über Technologie, Pädagogik und Inhalt. Es ist daher prinzipiell inhaltsspezifisch. So umfasst TPACK im Kontext von Mathematikunterricht möglicherweise andere Aspekte als in anderen Fächern: Für mathematisches Arbeiten mit Technologie sind die Visualisierung abstrakter Konzepte, geometrischer Objekte oder stochastischer Prozesse typisch (Reinhold et al., 2023), während beispielsweise in Sozialwissenschaften oft Recherche, Textverarbeitung und Kooperation dominieren (Hammond & Manfra, 2009). Bestehende Überblicksarbeiten zur Messung von TPACK nehmen häufig eine fachübergreifende Perspektive ein (z.B. Koehler et al., 2012; Wang et al., 2018). Dadurch ist unklar, inwiefern die Messung im Kontext von Mathematikunterricht auf spezifische Merkmale des Fachs eingeht.

Fragestellung

Übergreifend adressiert das hier vorgestellte Literaturreview die Frage, mit welchen Instrumenten und Zielen TPACK im Kontext von Mathematikunterricht gemessen wurde und inwiefern dabei auf spezifische Anforderungen des Mathematikunterrichts eingegangen wurde. Im hier eingereichten Vortrag wird auf zwei untergeordnete Forschungsfragen eingegangen:

1) Wie fachspezifisch waren die Instrumente zur Messung von TPACK im Kontext von Mathematikunterricht?

2) Welche Wissensfacetten des TPACK-Modells wurden bei der Operationalisierung von TPACK im Kontext von Mathematikunterricht herangezogen?

Methode

Das vorliegende systematische Literaturreview folgt den Empfehlungen des PRISMA-Leitfadens (Moher et al., 2009). Mittels Datenbankrecherche wurden zunächst 881 möglicherweise relevante Artikel identifiziert und nach folgenden Kriterien gescreent: Der Artikel a) bezog sich auf TPACK im Kontext von Mathematikunterricht, b) berichtet eine empirische Studie und c) wurde zwischen 2005 und 2022 auf Englisch oder Deutsch in einem wissenschaftlichen Journal publiziert. Dies führte zur Auswahl von 106 Artikeln. Sowohl die Fachspezifität als auch die Spezifität bezüglich Technologie und Pädagogik wurden jeweils auf vier hierarchischen Levels kodiert (allgemein, kontextspezifisch, episodenspezifisch, situationsspezifisch), die Interrater-Reliabilität war gut (gewichtetes κ = .87). Für die Untersuchung der Operationalisierung wurde kodiert, welche der 7 Subfacetten des TPACK-Modells (TK, PK, CK, TPK, TCK, PCK, TPCK) berücksichtig wurden, um TPACK zu quantifizieren (κ = .81).

Ergebnisse

TPACK wurde in der überwiegenden Mehrheit der Studien (77%) bezüglich Mathematik höchstens kontextspezifisch gemessen. Das bedeutet, dass in den verwendeten Instrumenten lediglich der Begriff Mathematik zur Spezifizierung verwendet wurde, ohne dabei auf konkrete Inhalte einzugehen. Im Gegensatz dazu wurde bei 85% der Studien bezüglich Pädagogik auf konkrete Episoden oder Situationen (z.B. Gruppenarbeit) eingegangen. Bezüglich Technologie nannten 58% der Studien lediglich den Begriff Technologie, was dem Level allgemein zugeordnet wurde.

Für die Operationalisierung zeigte sich ein entsprechendes Bild: Die Facette TPK, die sich auf den pädagogisch sinnvollen Umgang mit Technologie ohne Bezug zum Inhalt bezieht, wurde von 80% der Studien in der Operationalisierung von TPACK berücksichtigt. Die konkrete Verknüpfung von Technologie, Pädagogik und Inhalt (TPCK) wurde in 77% der Studien zur Messung herangezogen. Die übrigen Wissensfacetten wurden jeweils in höchstens 22% der Studien für die Operationalisierung verwendet.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei der Messung von TPACK von Lehrkräften im Mathematikunterricht konkrete fachspezifische Anforderungen oft nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dagegen wird häufig auf pädagogisch spezifische Aspekte des Unterrichtens mit Technologie eingegangen. Vor dem Hintergrund von Forschungsergebnissen, die zeigen, dass eine Verzahnung von technologisch-pädagogischem Wissen mit fachlichem und fachdidaktischem Wissen essenzielle Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz von Technologie und digitalen Medien im Unterricht ist (Hillmayr et al., 2020), ist dieses Ergebnis kritisch zu diskutieren.



Paper Session

Was ist TPACK? Eine Studie zur Untersuchung des empirischen Zusammenhangs verschiedener Wissensfacetten zum Einsatz digitaler Medien

Armin Fabian, Tim Fütterer, Iris Backfisch, Nicolas Hübner, Walther Paravicini, Andreas Lachner

Universität Tübingen

1 Theoretischer Hintergrund

Um digitale Medien elaboriert in den Unterricht zu integrieren, benötigen Lehrkräfte spezifisches Professionswissen, welches häufig durch Technological Pedagogical Content Knowledge (TPACK; Mishra & Koehler, 2006) konzeptualisiert wird. TPACK entsteht dabei als Zusammenspiel von Fachdidaktischem Wissen (PCK) und Technologischem Wissen (TK) und wird als entscheidender Faktor für erfolgreiche Medienintegration angesehen (Mishra & Koehler, 2006).

Bislang ist allerdings ungeklärt, wie TPACK mit PCK und TK zusammenhängt, da bisherige Forschungsergebnisse hauptsächlich auf selbstberichtetem Wissen basierten (Willermark, 2018). Erkenntnisse über die empirischen Zusammenhänge von TPACK-Komponenten sind aber vor dem Hintergrund passgenauer Aus- und Fortbildungsangebote für Lehrkräfte von enormer Bedeutung. Auch erlauben sie Einsichten in die theoretische Grundstruktur von TPACK. So entstand seit Einführung des TPACK-Models eine lebhafte Diskussion darüber, ob TPACK eine eigenständige Wissensfacette darstellt (z. B. Angeli & Valanides, 2009) oder lediglich eine Teilfacette von PCK darstellt (z. B. Schubatzky et al., 2023).

Um die postulierten Annahmen empirisch zu klären, haben wir eine online-basierte Querschnittstudie durchgeführt mit validierten, testbasierten Messinstrumenten (Forschungsfrage 1). Außerdem haben wir untersucht, inwieweit test-basiertes und selbst-berichtetes TPACK miteinander zusammenhängen (Forschungsfrage 2).

2 Methode

An der Onlinestudie nahmen N = 141 Lehramtsstudierende des Fachs Mathematik (mage = 21,5; SDage = 2,2; nmännlich = 41, nweiblich = 100) aus verschiedenen deutschen Universitäten teil. TPACK wurde mit der mathematikspezifischen TPACK-Testversion von Lachner et al.‘s (2021) Instrument gemessen (8 offene, vignetten-basierte Items). Zur Analyse haben wir die Personenfähigkeiten für TPACK basierend auf einer vorgelagerten CFA durch Faktorwerte (Bartlett, 1937) geschätzt. PCK wurde mit einer gekürzten Testversion des Instruments aus Buchholtz et al. (2012) und TK mittels eines adaptierten Instruments von Fütterer et al. (2023) erhoben (jeweils 0-1 kodierte single- und multiple-choice Items). Zur Analyse wurden die Personenfähigkeiten für PCK und TK jeweils innerhalb eines Raschmodells mit weighted likelihood estimates (WLEs; Warm, 1989) geschätzt. Selbstberichtetes TPACK wurde basierend auf Schmidt et al., (2009) mit fünfstufigen Likert-Items erfasst. Um Ermüdungseffekten vorzubeugen, wurde ein planned missing data design (Graham et al., 2006) umgesetzt, sodass Studierende nur jeweils einen zufälligen Teil aller Items beantworteten.

3 Ergebnisse

Bezüglich Forschungsfrage 1 zeigte sich mittels linearer Regression (AV = TPACK, UV = PCK und TK), dass der Effekt von PCK auf TPACK moderat positiv (β = .423, p < .001) und größer als der Effekt von TK auf TPACK (β = .321, p < .001) war. Insgesamt konnten PCK und TK innerhalb des Modells etwa 37 % Varianz von TPACK aufklären. Hinsichtlich Forschungsfrage 2 ergaben sich nur kleine Zusammenhänge zwischen selbst-berichtetem TPACK und test-basiertem TPACK: r = .243, 95% CI [0.081, 0.392], p = .004.

4 Diskussion

Insgesamt deuten die Ergebnisse daraufhin, dass TPACK und PCK zwar moderat zusammenhingen, jedoch TPACK eher eine eigene Facette und keine Unterfacette von PCK darstellt. Um die diskriminante Valididät von TPACK (bzgl. PCK) allerdings noch genauer zu untersuchen, werden zurzeit weitere Analysen durchgeführt (vgl. Vorgehen von Krauss et al., 2008, im Kontext von PCK), die auf der GEBF berichtet werden. Gleichzeitig war der statistische Einfluss von TK auf TPACK ebenfalls moderat signifikant, was darauf hindeutet, dass technologische Bedienfertigkeiten (TK) essenziell für TPACK sind. Die niedrigen Korrelationen zwischen selbstberichteten und test-basiertem TPACK deuten weiter auf die Notwendigkeit von performanz- und wissensbasierten Instrumenten hin, um valide Aussagen über Wissensfacetten zu treffen. Um weitere Einsichten in den Zusammenhang test- und selbstberichteter TPACK-Instrumente zu erhalten, erscheint es in Zukunft sinnvoll zu untersuchen, ob dieser Zusammenhang durch die Akkuratesse des selbsteingeschätzten Wissens moderiert wird. Es scheint nämlich plausibel anzunehmen, dass für Probanden, die ihr Wissen akkurater einschätzen können, der Zusammenhang von selbstberichtetem und test-basiertem TPACK größer ist.

Insgesamt tragen unsere Ergebnisse zu einem besseren Verständnis der theoretischen Konzeptualisierung von digitalisierungsbezogenem Wissen von (angehenden) Lehrkräften bei.



Paper Session

MeInE KI-Schule – Ein Workshop zur Steigerung der sozialen Akzeptanz von Lehrkräften gegenüber dem Einsatz von KI im schulischen Kontext

Janne Mesenhöller, Philine Schnell, Katrin Böhme

Universität Potsdam, Deutschland

Anwendungen, die auf künstlicher Intelligenz (KI) basieren, bieten als neuartige Bildungstechnologien viele Potenziale für den Schulkontext. Sie ermöglichen es, individualisierte Lernangebote zur Verfügung zu stellen (Holmes et al., 2018; Walter & Dexel, 2020) und können damit die Lehrkraft bei ihren pädagogischen Tätigkeiten unterstützen und entlasten. Dies ist für alle Schüler:innen von Vorteil, bietet aber insbesondere für den inklusiven Unterricht große Chancen (KMK, 2016; Schaumburg, 2020, 2021a, 2021b; Schmid et al., 2021). Nach Nistor ist Akzeptanz „die erste Voraussetzung für die Nutzung einer Bildungstechnologie“ (Nistor, 2020) und damit eine zentrale Rahmenbedingung für den Einsatz und die Möglichkeit zur Entfaltung der Potenziale von KI-basierten Systemen im schulischen Kontext.

In einer von uns durchgeführten empirischen Studie aus dem Jahr 2022 konnte auf Basis des Onlinefragebogens SAELKIS (Soziale Akzeptanz von Eltern und Lehrkräften gegenüber KI in der Schule, Mesenhöller & Böhme, 2023a) für 141 befragte Lehrkräfte (67% weiblich, 32% männlich, 1% nicht-binär) gezeigt werden, dass die soziale Akzeptanz gegenüber der Nutzung von KI in der Schule auf den drei betrachteten Subfacetten hoch ausgeprägt ist (Mesenhöller & Böhme, 2023b). In der Fragebogenstudie wurden die Lehrkräfte ferner zu gewünschten Informationen und Maßnahmen befragt, die aus ihrer Perspektive Voraussetzung für einen Einsatz von KI in der Schule sind. Von den befragten Lehrkräften wurde am häufigsten der Wunsch nach Weiter- und Fortbildungen und Aufklärung zum Thema KI in der Schule genannt. Diese sind ein geeignetes Mittel, um neue Fertig- und Fähigkeiten von Lehrkräften zu fördern (Darling-Hammond, 2017) und gelten ferner als Moderatorvariable für die Wirksamkeit des Einsatzes von Bildungstechnologien im Schulkontext (Hillmayr et al., 2020).

Um den Wunsch der Lehrkräfte nach Weiterbildungen im Bereich KI zu adressieren, wurde der dreistündige Workshop Mehr Informationen zum Einsatz von KI in der Schule (MeInE KI-Schule) entworfen. In diesem Workshop werden den Lehrkräften zunächst basale Informationen zum Thema KI und ihren verschiedenen Unterbereichen wie Machine und Deep Learning vermittelt. Nachfolgend trainieren die Lehrkräfte selbst ein Machine Learning System und erfahren so die Komplexität des Trainingsvorgangs sowie bestimmte Schwierigkeiten, die in diesem Zusammenhang auftreten können. Neben Möglichkeiten des Lehrens und Lernens mit KI, wie z.B. die Nutzung von ChatGPT für die Unterrichtsplanung, ist auch das Lehren und Lernen über KI, z.B. durch die Verfügbarmachung von Lehrmaterialien, Thema des Workshops. Auch Grenzen der Anwendung von KI-basierten Systemen im Schulkontext sowie relevante ethische, rechtliche und soziale Implikationen (ELSI, Boden et al., 2021) werden thematisiert.

Um zu prüfen, ob die Teilnahme an dem Workshop einen Einfluss auf die soziale Akzeptanz von KI-basierten Systemen im schulischen Kontext hat, bearbeiteten die Lehrkräfte vor und nach dem Workshop den SAELKIS Fragebogen. Zusätzlich wurde Prä-Post das KI-bezogene Wissen der Lehrkräfte mit einer neu erstellten Skala erhoben. Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit des Workshopangebots mit bislang N = 80 Lehrkräften (75% weiblich, 25% männlich) zeigen, dass sich durch die Workshopteilnahme sowohl die soziale Akzeptanz (t(79) = -2.46, p = .008), als auch das KI-bezogene Wissen (t(79) = -3.42, p < .001) signifikant erhöht.

Ziel des Workshopangebots ist es, Konzept und Informationsmaterialien langfristig als Open Educational Resources Lehrkräften deutschlandweit zur Verfügung zu stellen und so Möglichkeiten und realistische Grenzen von KI-basierten Systemen aufzuzeigen und durch eine transparente Wissensvermittlung die Potenziale von KI-basierten Lernunterstützungstools im schulischen Kontext nutzbar zu machen ohne mögliche Risiken zu ignorieren.



Paper Session

Zwischen den Zeilen – Pädagogische Trainings zu Quellenkritik verbessern Glaubwürdigkeitseinschätzungen von Informationen

Marvin Fendt1, Peter Edelsbrunner1,2, Benedikt Artmann1

1Ludwig-Maximilians-Universität München, Deutschland; 2Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Schweiz

Theoretischer Hintergrund

In der heutigen, informationsgetriebenen Gesellschaft stellen Fehlinformationen ein großes Problem dar, da sie dank vielfältiger Strategien, beispielsweise emotional manipulierender Sprache, dazu verlocken, ihnen Glauben zu schenken und sie zu teilen (Roozenbeek et al., 2023). Dieser Glaube kann in unerwünschten Verhaltensweisen resultieren, beispielsweise dem Nichteinhalten von Klima- und Infektionsschutzmaßnahmen (Cook et al., 2023). Während die meisten Menschen die Glaubwürdigkeit von Informationen analytisch akkurat erkennen können, scheinen sie diese Fähigkeit nicht durchgängig zu nutzen (Modirrousta-Galian et al., 2023). Stattdessen entscheiden sie oft intuitiv über die Informationsqualität, wodurch sie anfälliger für persuasive Strategien von Fehlinformationen sind (Ecker et al., 2022).

Psychologische Interventionen zur Erkennung von Fehlinformationen stehen in der Kritik, anstatt einer korrekten Glaubwürdigkeitseinstufung die Skepsis gegenüber allen Informationen zu erhöhen (Modirrousta-Galian & Higham, 2023). Dieser Einschränkung könnte ein Training in Lateral Reading entgegenwirken, ein pädagogischer Ansatz, in welchem Fehlinformationen durch Quellenkritik erkannt werden, der stark auf analytische Schemata setzt (Artmann et al., 2023; Wineburg et al., 2022).

Fragestellung

Infolgedessen stellen wir in unserer Studie die Frage, inwieweit ein pädagogisches Lateral-Reading-Training auf der Basis von Cognitive Apprenticeship (Collins et al., 1991) die Fähigkeit der Teilnehmenden zur korrekten Einschätzung von Informationsglaubwürdigkeit verbessert. Zusätzlich untersuchen wir, inwieweit die Effekte einer solchen Intervention vom Inhaltswissen zum Themenbereich des Trainings (Klimawandel; Ranney & Clark, 2016) sowie Verschwörungsdenken (Uscinski & Olivella, 2017) der Teilnehmenden abhängen. Schlussendlich wurde untersucht, ob das Training Transfereffekte auf Persuasionswissen gegenüber unverlässlichen Medien hat (Chen & Cheng, 2019) und ob solch ein Effekt wiederum von den Eigenschaften der Teilnehmenden abhängt.

Methode

N=344 Teilnehmende (58% weiblich, 41% männlich, 3% divers; Med(Alter)=23, SD=13.35) wurden zufällig entweder einer Kontrollbedingung (n=109) zugewiesen, in welcher sie lediglich alle Tests ausfüllten, einer Lesebedingung (n=107), in welcher sie selbstständig Scaffolding Material über Lateral Reading lasen, sowie der Apprenticeship-Bedingung (n=128), in welcher in etwa einstündigen Lateral-Reading-Trainings das Erkennen erst modelliert, dann gecoached und schließlich selbstständig geübt wurde. Die Teilnehmenden stuften in einem Glaubwürdigkeitstest 6 Quellen (3 verlässliche, 3 unverlässliche) ein; Glaubwürdigkeits-Scores wurden anhand des Unterschiedes in der mittleren Zustimmung am Prä- bzw. Posttest zu den beiden Arten von Quellen errechnet (Omega=.71/.87). Als Moderatoren wurden Wissen über Klimawandel (12 Items; Omega=.68) sowie Verschwörungsdenken (4 Items; Omega=.89) erhoben und als Transfer-Outcome Persuasionswissen (11 Items, Omega=.94).

Ergebnisse

Die vier Fragestellungen wurden mittels eines bivariaten Bayesianischen multiplen Regressionsmodells mit schwach informativen Prioren und 4 HMC-Ketten (jeweils 1000 warm-up, 3000 effektive Samples) geschätzt. Konvergenz wurde anhand Posterioren und Ketten-Mixing, sowie Rhat-Werten von 1.00 festgestellt und Fit mittels posterior-predictive Checks. Die Ergebnisse des Modells anhand von 90% Kredibilitätsintervallen (weniger als 95% wurde gewählt, um hohe Betafehler-Raten zu vermeiden, besonders in den Interaktionsparametern) zeigten positive Effekte beider Interventionsgruppen (Lesegruppe: b=0.23; 90%CI[0.06, 0.41]; Apprenticeship-Gruppe: b=0.51; 90%CI[0.35, 0.68]) im Vergleich zur Kontrollgruppe auf der Unterscheidungsfähigkeit, sowie der Apprenticeship-Gruppe (b=0.23; 90%CI[0.24, 0.61]) auf dem Persuasionswissen. In beiden Fällen war der Effekt der Apprenticeship-Gruppe stärker als jener der Lesegruppe (Unterscheidung: b=0.28; 90% CI[0.11, 0.45]; Persuasionswissen : b=0.36; 90% CI[0.18; 0.56]). Interaktionsparameter zeigten, dass Inhaltswissen die Interventionseffekte auf die Unterscheidungsfähigkeit verstärkte (Lesegruppe: b=0.22; 90%CI[0.03, 0.41]; Apprenticeship-Gruppe: b=0.19; 90%CI[0.02, 0.38]) und Verschwörungsdenken jene auf das Persuasionswissen abschwächte (Lesegruppe: b=-0.20; 90%CI[-0.40, -0.01]; Apprenticeship-Gruppe: b=-0.14; 90%CI[-0.34, 0.07], Nulleffekt nicht ausgeschlossen).

Diese Ergebnisse zeigen, dass Lateral Reading insbesondere in pädagogischen Trainings eine wirksame Intervention ist, um sowohl die Unterscheidungsfähigkeit zwischen verlässlichen und unverlässlichen Nachrichten als auch das Persuasionswissen über alternative Medien zu fördern. Der positiv moderierende Effekt von Inhaltswissen deutet darauf hin, dass eine gleichzeitige Förderung der Unterscheidungsfähigkeit und des Inhaltswissens über das Interventionsthema besonders hilfreich sein könnte. Es werden Vorschläge diskutiert, wie die Intervention weiter modifiziert werden könnte, um auch für Individuen, die zu Verschwörungsdenken tendieren, die Effektivität in Bezug auf das Persuasionswissen zu optimieren.

 
12:50 - 13:50Mittagspause
13:50 - 14:50Keynote 3: Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek: Transfer sprachlicher Förderkonzepte gestalten
Ort: H05
14:50 - 15:15Verabschiedung
Ort: H05

 
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