In dieser Sonderveranstaltung zum Krieg in der Ukraine möchten wir einen einordnenden soziologischen Blick insbesondere auf diejenigen Diskurse werfen, die sich aus Anlass des Krieges um Europa drehen – und die die Einheit Europas ebenso wie dessen Vielfalt und Fragmentierung neu bestimmen. Ebenso interessieren die Differenzlinien zwischen Europa und seinem ‚Anderen‘, die durch den russischen Angriff (und, ihn vorbereitend, lange vorher) gezogen werden. Es geht also um diese verschiedenen Seiten des Konflikts, und um das, was sie eint – der identifikatorische wie auch der abgrenzende Bezug auf ‚Europa‘.
Die Debatten um die Identität ‚Europas‘ verweisen auf eine lange Geschichte. Sie entfachten sich auch bereits an früheren politischen Schlüsselereignissen an den Grenzen zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘: am Berliner Mauerfall, an den Jugoslawien-Kriegen und an der Krim-Annexion. Je wurde die Identität Europas und seines Anderen dabei spezifisch konturiert.
Dasselbe gilt heute – im Kontext dieses Angriffskrieges, der eine Antwort auf diese Frage zugleich besonders dringlich macht. Es wird die Frage eines EU-Beitritts der Ukraine neu erörtert; viele empfinden den Krieg als einen, der „mitten in Europa“ stattfindet; es gibt neue Einheitsaussagen und neue Solidarisierungen; Neubestimmungen dessen, was ‚Europa‘ ausmacht, und neue Differenzlinien – zwischen ‚West-‘ und ‚Ost-Europa‘, dem ‚Westen‘ und dem ‚Osten‘. In diesen Debatten wird zudem der Begriff „Europa“ – insbesondere in Gestalt der „Europäischen Union“ – oft in einer Weise verwendet, die Europa nicht nur als kohärente Einheit beschwört, sondern auch impliziert, dass nur deren Mitglieder „Europäer“ und „Europäerinnen“ seien.
Was Europa ist, wer dazu gehört und wer nicht; und weiter, welche Kriterien dabei leitend sind – diese Fragen haben auch in den sozialwissenschaftlichen Analysen und Debatten eine lange Tradition. Von ihnen seien drei erinnert. In seiner Vorlesung Sicherheit, Territorium, Bevölkerung von 1977 hat Michel Foucault in der Frage der Identität Europas folgende Merkmale unterschieden: Europa bezeichne einen stets neu zu bestimmenden „geographischen Ausschnitt“; zweitens eine nicht-hierarchische, heterogene „Vielheit“ von Gesellschaften; und drittens einen spezifischen Bezug zur ‚restlichen‘ Welt – jenen Bezug, in dem diese kolonisiert wird. Darin liege die „Besonderheit“ Europas. Wenn Foucault hinzufügt, dass wir „aus dieser historischen Wirklichkeit noch nicht herausgetreten“ sind, so gilt dies auch heute, wie vor allem (zweitens) die postkolonialen Theorien deutlich gemacht haben. Ihnen ging es um die Identitätsbildung Europas durch die epistemische Abgrenzung vom ‚Rest‘ der Welt (Stuart Hall), oder vom ‚Orient‘ (Edward Said), in kolonialen wie in postkolonialen Zeiten. Europas externe, wie auch interne Trennlinien wurden zeitgleich (drittens) in Thesen wie der vom ‚Kampf der Kulturen‘ (Samuel Huntington) diskutiert – bevor sie der von vielen SoziologInnen geteilten Perspektive auf eine weitgehende Globalisierung und Transnationalisierung gewichen zu sein schienen.
Aktuell sehen wir nun also eine erneut andere Grenzziehung – eine, in der ‚Europa‘ (als ‚der Westen‘) auf neue Weise dem politischen und dem kulturellen ‚Osten‘ (respektive Russland) gegenübergestellt werden; in einer Weise, die zunächst an den Kalten Krieg erinnert, in der aber doch ganz andere Mechanismen und andere Akteure aktiv sind, in der auf andere historische Narrative zurückgegriffen wird.
Die Veranstaltung will diese Fragen vergleichend erörtern und dabei insbesondere der Vielfalt europäischer Stimmen zu dieser Thematik einen Raum für den Dialog bieten. Vorträge und Podiumsdiskussion: