Integration durch systemische Resonanz? Das systemtheoretische Resonanzkonzept als Beitrag zur Konzeptualisierung der Voraussetzungen, Formen und Folgen des Umweltbezugs sozialer Systeme
Hannah Vermaßen
Universität Erfurt, Deutschland
Im Hinblick auf das Begriffspaar Differenzierung/Integration liegt der Fokus der Systemtheorie Luhmanns klassischerweise auf der Frage der gesellschaftlichen Differenzierung, der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme. Die daran anschließende Frage nach der wechselseitigen Relationierung dieser Systeme, ihrer spezifischen Offenheit, wird nur selten systematisch thematisiert. Dies führt dazu, dass die Systemtheorie viel zur (affirmativen?) Beschreibung gesellschaftlicher Strukturen, aber nur wenig zur kritischen Auseinandersetzung mit deren Änderbarkeit beizutragen hat. Angesichts des mit gesellschaftlicher Differenzierung einhergehenden „gewaltigen Leistungs- und Komplexitätszuwachs der modernen Gesellschaft“ verliert sie die daraus resultierenden „Probleme der Integration, das heißt der geringen Resonanzfähigkeit sowohl zwischen Teilsystemen der Gesellschaft als auch im Verhältnis des Gesellschaftssystems zu seiner Umwelt“ tendenziell aus dem Blick (Luhmann 2008: 48). Um dieser Integrationsvergessenheit begegnen und die Voraussetzungen, Formen und Folgen gesellschaftlicher Integration beschreiben zu können, muss der auf Schließungsprozesse gerichtete Beobachterfokus der Systemtheorie auf die spezifische Offenheit sozialer Systeme umgelenkt werden. Ausgangspunkt hierfür ist das Konzept systemischer Resonanz, das beschreibt, wie soziale Systeme auf ihre Umwelt reagieren können. Im Anschluss an Luhmann lassen sich drei Resonanzdimensionen unterscheiden: Die Resonanzfähigkeit – die strukturellen Bedingungen des systemischen Umweltbezugs, das Resonieren – die operativen Prozesse, mittels derer sich Relationierungen von System und Umwelt vollziehen, sowie die Resonanzen – deren systeminterne bzw. gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. Mittels dieser drei Resonanzdimensionen können die verschiedenen systemtheoretischen Begriffe zur Beschreibung der Offenheit operativ geschlossener Sozialsysteme zu einem umfassenden und theoretisch kohärenten Konzept verbunden werden. Aus prospektiv-planerischer Perspektive lassen sich somit die Ziele gesellschaftlicher Integration als konkrete Formen und Grade strukturwirksamer Resonanzen beschreiben. Zudem sensibilisiert das Resonanzkonzept für die komplexen Gelingsbedingungen gesellschaftlicher Integration und die mit einem Scheitern von Integration potentiell verbundenen desintegrativen Konsequenzen.
Wo Differenzierung ist, wächst das Verbindende auch? Polarisierung und Integration der Weltgesellschaft
Boris Holzer
Universität Konstanz, Deutschland
Wenn politische Konflikte sich so verhärten und zuspitzen, dass sie gesellschaftliche Gruppen entlang sozioökonomischer und kultureller Unterschiede gegeneinander in Stellung bringen, kommt es zu Polarisierung. Von einer gesellschaftlichen „Spaltung“ kann man sprechen, wenn Individuen oder Gruppen sich auch in nichtpolitischen Beziehungen in affektiver Ablehnung gegenüberstehen, wie es teilweise in den USA zu beobachten ist. Als eine globale Form einer polarisierten Ordnung wurde der „Ost-West-Konflikt“ beschrieben, insofern sich „freiheitliche“ und „sozialistische“ Blöcke im internationalen System und teilweise auch innerhalb nationalstaatlicher Grenzen voneinander abgrenzten. Doch einer nachhaltigen Spaltung steht die Strukturprämisse funktionaler Differenzierung entgegen, dass Personen mehrfach und in wechselnde Beziehungskonstellationen inkludiert sind. Aufgrund dieser Mehrfachinklusion gingen bereits Durkheim und Simmel davon aus, dass Differenzierung solidarische Verbindungen zwischen Individuen und Gruppen fördert. Mit Blick auf ideologische Polarisierung beschrieb Parsons den „Pluralismus“ moderner Gesellschaften als eine soziale Infrastruktur, deren „cross-cutting ties“ zur Konfliktdämpfung beitragen. Das Ende des Ost-West-Konflikts und die sinkende Bedeutung der Blockbildung scheinen die Erwartung zu bestätigen, dass Spaltung in einer funktional differenzierten Gesellschaft ein Übergangsphänomen darstellt. Gleichzeitig werden allerdings – vom „Clash of Civilizations“ bis zur „multipolaren Ordnung“ – neue Formen globaler Polarisierung und Spaltung diskutiert. Der Beitrag verfolgt zwei Ziele: Erstens rekonstruiert er die These der verbindenden und konfliktdämpfenden Folgen funktional differenzierter Beziehungen im Kontext der Weltgesellschaftstheorie; zweitens soll vor diesem Hintergrund geklärt werden, welche Bedeutung historische und zeitgenössische Formen globaler Polarisierung für die Integration der Weltgesellschaft hatten und haben.
“Subsumtionsautomaten", "therapeutische Nihilisten" und andere Antihelden. Zur Funktion polarisierender Professionsnarrationen in Recht und Medizin
Gina Atzeni1, Karlson Preuß2
1LMU München, Deutschland; 2MLU Halle Wittenberg, Deutschland
Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Beobachtung, dass Ärzte und Juristen um 1900 von ähnlichen Polarisierungen Gebrauch machen, um ihre professionelle Tätigkeit zu beschreiben: Juristen attackieren vehement das Modell des richterlichen Subsumtionsautomaten und setzen demgegenüber das Ideal des souveränen und offenherzigen Richters, den „Richterkönig“; Mediziner legen großen Wert darauf, den wahren Arzt und Heiler vom kalten Naturwissenschaftler, dem therapeutischen Nihilisten, abzugrenzen. Obwohl weder die Idee eines geistlosen Vollstreckers des Rechts noch die eines nur diagnostizierenden Arztes in der Moderne Fürsprecher hat, bilden diese Figuren einen konstanten negativen Referenzpunkt in modernen Professionsnarrationen. Verblüffend ist dabei, dass Juristen und Ärzte nicht nur auf strukturanaloge Semantiken zurückgreifen, sondern zudem auf die jeweils andere Profession Bezug nehmen. Der Beitrag geht zwei Funktionen jener Zerrbilder für Profession und Gesellschaft nach.
Erstens sehen wir in den Polarisierungen ein semantisches Korrelat professioneller Arbeit. Mit der polemischen Abkehr von reiner Verstandestätigkeit bringt der Professionelle eine wesentliche Erfahrung seiner Arbeit auf den Begriff, nämlich das stetige Hantieren mit nicht kalkulierbaren Unwägbarkeiten und Risiken bei gleichzeitigem Entscheidungsdruck. Nicht zufällig vergleichen sich Ärzte und Juristen ständig mit Künstlern und betonen die Bedeutung von Gefühl, Talent und praktischem Wissen, das sich an der Universität nicht erwerben lässt. Die plakative Ablehnung des Subsumtionsautomaten und des therapeutischen Nihilisten lesen wir als Strategie zur Festigung des Professionsethos.
Zweitens sehen wir in der narrativen Polarisierung ein Mittel sozialer Integration. Während die gesellschaftliche Ausdifferenzierung zu enormen Komplexitäts- und Leistungssteigerungen geführt hat, wird sie von sozialen Kosten begleitet. Die durch Entfremdungserfahrungen eingekauften Modernisierungserfolge in Recht und Medizin werden durch die Heroisierung der professionellen Leitfiguren semantisch kompensiert. Vor dem Schreckbildern professioneller Antihelden dient die Anrufung des Richterkönigs und des wahren Arztes nicht zuletzt dazu, Vertrauen in die Zuverlässigkeit ausdifferenzierter Funktionssysteme herzustellen. Die narrative Polarisierung deuten wir als Schmiermittel funktionaler Differenzierung.
Multiple Differenzierung: Reflexive und referentielle Charakteristika einer Theorie der Differenzierung zweiter Ordnung
Joachim Renn
WWU Muenster, Deutschland
Die Reflexion auf die Differenzierungstheorie, die selbst eine differenzierungstheoretische Un-ersuchung 2. Ordnung ist, verankert ihren Zugriff also sachlich in der materialen Analyse der historischen bzw. evolutionären Entwicklung von diversifizierten und durch Trennung als teilautonome Ordnungen etablierten Formen der Handlungskoordination und ihres Verhältnisses zueinander. Darin besteht der Kern und die Form einer Theorie der „multiplen Differenzierung“.
Funktionale Differenzierung ist nicht die Form des Ganzen, sondern das interne Strukturmuster einer selbst ausdifferenzierten, eigenen Ordnungsebene (Systembildung), und sie ist somit ein Teil-Produkt der Verzweigung von Differenzierungsformen, einer Multiplizierung struktureller Grenzbildungsmuster. Soziale Steuerungsprobleme und gesellschaftliche Problemlösungsdefizite lassen sich folglich auch nicht einfach als Nebenfolgen funktionaler Differenzierung verbuchen: der Vortrag wird zum Ende nach der Erläuterung einiger Grundcharakteristika der Theorie mul-tipler Differenzierung hier eine alternative Analysestrategie zumindest skizzieren.
Humandifferenzierung, kategoriale Mobilität und Perspektivenwechsel
Stefan Hirschauer
Universität Mainz, Deutschland
Die Anerkennung der Koexistenz multipler Differenzierung ist eine Frage der Komplexitätstüchtigkeit soziologischer Theorien. Der Vortrag macht einen Vorschlag zur Verhältnisbestimmung der funktionalen und stratifikatorischen Differenzierung sowie der sozialen Differenzierung von Systembildungsebenen zur Humandifferenzierung der Gesellschaft. Diese setzt nicht an den Tätigkeiten, nicht an der Ressourcenverteilung und nicht an den sozialen Beziehungen an, sondern an dem, was ethnosoziologisch als persönliche Eigenschaften von Menschen gilt, also an der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, aus ‚Gruppen‘ und ‚Menschensorten‘ zu bestehen. Dabei soll einerseits die Form der Humandifferenzierung in Theorien funktionaler und stratifikatorischer Differenzierung herausgearbeitet, andererseits der durch sie unbearbeitete, ‚gruppistische Rest‘ als eine Form kultureller Differenzierung begriffen werden. Zugrunde gelegt wird ein praxeologischer Differenzierungsbegriff.
Für das Begreifen der Humandifferenzierung ist die primäre Frage nicht, aus welchen Einheiten die Gesellschaft besteht, sondern die, in welcher kategorialen Zuordnung sich deren Personal jeweils begegnet. Soziale Einheiten, etwa die Formierung homogener Gruppen, Netzwerke oder imaginierter Gemeinschaften, können sich in bestimmten Fällen von Humandifferenzierung anschließen und ihnen soziale Substanz geben, müssen es aber nicht. Einerseits können eskalierende Humandifferenzierungen über Prozesse der Segregation, Marginalisierung, Stigmatisierung, Identarisierung etc. in gesellschaftliche Polarisierung münden. Andererseits werden sie gerade in der modernen Gesellschaft in ihren Folgewirkungen stark durch Einrichtungen begrenzt, die systematisch von Personenmerkmalen abstrahieren.
Kernthese des Vortrags ist, dass die kategoriale Mobilität von Individuen (ihre Seitenwechsel, Loyalitätssprünge, Rollenwechsel usw.) maßgeblich zu gesellschaftlicher Integration beitragen. Der Integrationsmodus der Humandifferenzierung ist nicht Arbeitsteiligkeit, nicht hierarchische Ordnung und nicht ein normatives Dach, sondern der Perspektivenwechsel. Integrationswirkungen gehen hier nicht von einer abstrakten normativen Überbrückung aus, sondern von den Perspektivenverflechtungen in der laufenden kategorialen Mobilität von Individuen.
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