Antagonistisch verbunden: Eine symbolisch-interaktionistische Theorie von Polarisierungsprozessen
Lotta Mayer
Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg, Deutschland
Das Konzept der Polarisierung spielt in der sozialwissenschaftlichen Konflikttheorie und Konfliktforschung seit William Graham Sumners Analyse der Ingroup-outgroup-Beziehungen eine tragende Rolle. Nur wenige Ansätze allerdings bieten dabei eine systematische Verbindung zu allgemeineren Kategorien oder betten das Konzept direkt oder vermittelt über Middle-Range-Theorien in eine umfassende Sozialtheorie ein. Entsprechend bleibt es unterbestimmt und seine Verbindung zu anderen sozialtheoretischen Kategorien unklar. Eine seltene Ausnahme stellt hier Herbert Blumer dar: Zwar beschäftigt er sich nur in einem einzigen Aufsatz (1978) mit Polarisierung, und auch da nicht als Hauptthema, sondern als Teil der Analyse von Protestbewegungen. Doch eben dadurch ist das Konzept in eine Bewegungstheorie eingebettet, die zugleich als Konflikttheorie einschließlich einer Theorie der Konflikteskalation gelesen werden kann. Vermittelt über diese Bewegungstheorie und teils auch direkt ist es wiederum in die symbolisch-interaktionistische Sozialtheorie eingebettet, die Blumer (1969) entwickelt. Derart bietet Blumer einen vielversprechenden Ansatzpunkt sowohl zur Klärung des Polarisierungsbegriffs als auch zu dessen konflikt- und sozialtheoretischen Einbettung. Blumer versteht unter Polarisierung einen Prozess der Entwicklung unvereinbarer "Welten" durch verschiedene soziale Gruppen. Diese entstehen in der und durch die direkte Bezogenheit der unterschiedlichen Gruppen aufeinander: Sie sind Folge von deren intensiver, aber antagonistischer Interaktion miteinander, durch die entsprechend unvereinbare Bedeutungen auf unterschiedlichen Ebenen entstehen – welche wiederum zur Grundlage erneuter konflikthafter Interaktion zwischen den Akteuren werden. So macht Blumers Konzept zum einen die empirisch beobachtbare Tendenz zu einer immer weiteren Steigerung der Polarisierung sozialtheoretisch erklärbar, und zum anderen wird das inhärent relationale Konzept der Polarisierung sozialtheoretisch relational fundiert.
Politische Polarisierung und sozialer Pluralismus
Fran Osrecki
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Deutschland
Der Begriff der „politischen Polarisierung“ weist eine sehr große Bandbreite möglicher Bedeutungen auf. In einer sehr allgemeinen Variante bedeutet dies die Ausdünnung zentristischer politischer Positionen bei einer Stärkung der randständigen – gleichsam ein „Verlust der Mitte“. Diese Diagnose ist zumindest in der empirischen politischen Soziologie höchst umstritten. Empirisch lasse sich in politischen Fragen keine Massenpolarisierung feststellen, allenfalls für politische Eliten und engagierte politisierte Laien treffe das zu und was wie Polarisierung aussehe, sei eher ein ideologischer Sortierungsprozess. Was auf den ersten Blick wie eine Stärkung der Ränder erscheinen mag, sei bei näherer Betrachtung eine Politisierung vordem „unpolitischer“ Themen und Produkte.
In meinem Beitrag will ich zum einen zeigen, dass sich durch fast alle Debatten um politische Polarisierung ein wenig beachteter theoretischer Faden zieht: die These vom Niedergang des so genannten „sozialen Pluralismus“. Gemeint ist damit eine theoretische Traditionslinie, die bei Georg Simmels These von der „Kreuzung sozialer Kreise“ ihren Ausgang nahm und in rollentheoretisch fundierten „pluralistischen“ Auffassungen von Politik (Kornhauser, Dahl, Lipset, Luhmann) mündete.
Zum anderen will ich zeigen, dass sich aus diesem Theoriestrang wichtige Folgen für gegenwärtige Verständnisse von politischer Polarisierung ergeben:
1. Aus Sicht der pluralistischen Theorietradition ist politische Polarisierung dann problematisch, wenn sie begleitet wird von rollenmäßiger Unbeweglichkeit (das Fehlen von rollenmäßigen „cross pressures“) in politischen Publika. Problematisch sind aus dieser Sicht politische Konflikte dann, wenn sie nicht quer zu einander liegen.
2. Rollenmäßig bewegliche, unter „cross pressures“ stehende Wähler:innen sind durch ihre Wankelmütigkeit, Unentschlossenheit und letztlich durch das Unwissen darüber, wie sie ihre Interessen in eine transitive Dringlichkeitsordnung bringen sollen, Garant:innen für eine pluralistische und nicht polarisierte demokratische Politik.
3. Heutige Formen politischer Polarisierung sind u.U. Effekte konzentrisch geordneter, also sich gerade nicht mehr kreuzender sozialer Kreise, die nicht nur durch soziale Ungleichheit, sondern möglicherweise durch steigende Bildungsniveaus entstehen.
Vervielfachung der Polarisierungsachsen – Transformation der Differenzierungstheorie
Joachim Fischer
TU Dresden, Deutschland
Die gegenwärtige Vervielfachung der Polarisierungsachsen mit ihren jeweiligen Konfliktspannungen, die die Gesellschaft und ihre Subjekte in Atem hält, zwingt zu einer realistischen soziologischen Theorie. Sie leistet A) eine Inventur heterogener sozialer Differenzierungsachsen, die nichts auslässt, und B) eine Aufklärung über das Verhältnis dieser verschiedenen Konfliktachsen zueinander. A) Inventur: Es gibt verschiedene Polarisierungsachsen in der gegenwärtigen Moderne, entlang derer sich Gegenwartsgesellschaften strukturieren: Generationen (in der dramatischen Auseinandersetzung um das Anthropozän), Geschlechter (in den dramatischen Konflikten um Gender/Sex-Varianten; Gender-Sprache), Gesunde/Kranke (in den Corona-Protesten der ‚Vitalen‘ gegen die Vulnerablen); Ethnien-Polarisierungen (koloniale Überlagerung und postkoloniale Befreiung; Einheimische/Migranten-Debatten); stratifikatorische Differenzen (sich steigernde Kluft zwischen Arm und Reich – Klassen/Schichten); segmentäre Differenzierungen (geopolitische Regionen- und Nationalstaatskonkurrenzen bis hin zu militärischem Kampf). Und es gibt gleichzeitig die Polarisierungen zwischen den verschiedenen autonom operierenden funktionalen sozialen Teilsystemen mit ihren je eigenen Konflikten (zwischen Recht, Ökonomie, Politik, Militär, Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Religion etc.).
B) Theorietransformation der sozialen Differenzierungstheorie: 1. Heterogenität: Alle erwähnten Polarisierungsachsen sind nicht aufeinander rückführbar, sie sind je sui generis. 2. Jede enthält ihre je eigenen Konfliktpotentiale und Machtressourcen 3. Alle Polarisierungsachsen durchkreuzen die ‚Subjekte‘. 4. Es handelt sich um eine gleichzeitige Emanzipation aller Polarisierungsachsen in den Subjekten und in der Öffentlichkeit der Gegenwart - es ist für die Soziologie kein Primat mehr erkennbar, welche soziale Polarisierungsachsen in der sozialen Struktur und im sozialen Wandel Haupt- bzw. Nebenwiderspruch ist. 5. Es gibt keine eindeutige Evolutionsrichtung – das ist der Irrtum aller Diagnosen der Moderne etwa bei Marx, Durkheim, Parsons und Luhmann. Parallel zu den Konflikten innerhalb der jeweiligen Differenzierungsachsen tobt nämlich gleichzeitig zusätzlich ein öffentlicher Kampf, welche Polarisierungsachse gesellschaftlich den Ausschlag geben soll.
Durch Widersprüche hindurch denken. Von theoretischen Figuren des Gegensätzlichen zu Praktiken der Polarisierung
Elena Beregow, Jenni Brichzin
Universität der Bundeswehr München, Deutschland
Diagnosen des Widerspruchs, der Paradoxie, des Antagonismus, der Spaltung und Polarisierung haben in der Soziologie einen festen Platz und erfreuen sich gegenwärtig nicht zuletzt mit Blick auf die sozialen Effekte der Pandemie großer Resonanz. Sowohl in der öffentlichen Debatte als auch in der Fachdiskussion führt dies allerdings oft zu einem fast inflationären Gebrauch von Widerspruchsdiagnosen – mit dem Ergebnis, dass die bloße Feststellung einer gleichzeitigen Geltung von Gegensätzlichem bereits als Erkenntnis gilt und die Analyse mit ihr endet.
Dagegen argumentieren wir in diesem Vortrag, dass das Aufspüren von Figuren des Widersprüchlichen nicht das Ende, sondern den Ausgangspunkt der Analyse bilden müsste. Eine solcher Ansatz hätte zum Ziel, durch Widersprüche hindurchzudenken, statt sie wahlweise bloß zu konstatieren, „auszuhalten“ oder als zu beseitigenden Störfall zu behandeln. Dazu knüpfen wir zunächst an die sozialtheoretischen Versuche an, Gegensätzliches als konstitutives Moment des Sozialen zu begreifen, etwa mit dem dialektischen Begriff des Widerspruchs (Adorno), der Paradoxie (Luhmann, Serres) oder des Antagonismus (Laclau/Mouffe). Bei diesen ganz unterschiedlichen Entwürfen fällt auf: Einerseits ist der Gegensatz als abstrakt-theoretische Figur zu verstehen, andererseits aber sind damit konkrete Praxisprobleme und Handlungsmuster verbunden: Politische Kämpfe, Aushandlungsprozesse, soziale Polarisierungen. Um diese beiden Beschreibungsebenen zusammenzudenken, identifizieren wir kursorisch einige der theoretischen Schaltstellen, durch die sich die sozialtheoretischen Widerspruchsfiguren als konkrete Handlungsprobleme verstehen lassen. Dabei steht die übergreifende Frage im Fokus: Wie können diese Begriffsangebote dazu beitragen, das konkrete ‚doing‘ von Polarisierungen zu erfassen?
Erste Erträge dieses Denkens durch Widersprüche hindurch wollen wir entlang eines Beispiels erproben, das angesichts der Querdenken-Bewegung immer wieder diskutiert wurde: das „Toleranzparadoxon“. Damit bezeichnete Popper den Umstand, dass grenzenlose Toleranz – auch gegenüber den Intoleranten – sich selbst in letzter Konsequenz abschafft. Unsere These ist, dass beim Umgang mit diesem Paradoxon die epistemische und politische Praxis des Herstellens von Widersprüchen zusammenfallen, die so zum ‚doing‘ politischer und sozialer Polarisierungen beitragen.
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