Typisch? Organisationstypologien als Bezugspunkt für die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen
Vera Linke
Helmut-Schmidt Universität Hamburg, Deutschland
Etliche Forschungsansätze machen Gebrauch von Organisationstypologien. Der Beitrag fragt nach ihrer Rolle in Studien, die die Wirkung von Organisationen auf gesellschaftliche Entwicklungen erforschen. Auf Grundlage einer historisch-soziologischen Untersuchung des britischen Versicherungswesens demonstriere ich die Bedeutung von Typisierungen im empirischen Feld und setze sie in Bezug zu soziologischen Typologien. Abschließend übertrage ich diese Überlegungen auf die gegenwärtige Debatte zu alternativen Organisationsformen in der Bewältigung von ‚Grand Challenges‘.
Die Versicherungsforschung unterscheidet häufig zwischen Gegenseitigkeits- (‚mutuals‘) und Kapitalgesellschaften (‚stock companies‘). Autoren schlussfolgern, dass die Stock Company der effizientere Organisationstyp sei und erklären daraus diverse Felddynamiken. Empirische Untersuchungen ergeben aber kein derart eindeutiges Bild. Gerade der Blick auf das Versicherungswesen des 19. Jahrhunderts wirft Fragen auf zum Zusammenhang etischer und emischer Typologien. Die Typik von Mutuals und Stock Companies war zu diesem Zeitpunkt bekannt, aber kein zentraler Bestandteil öffentlicher Beobachtungen.
Die empirische Untersuchung zeigt, dass diese Organisationstypologie a) Strukturspezifika aus der Gegenüberstellung zweier Typen gewinnt, statt sie vor dem Hintergrund von Umweltbedingungen zu konzipieren; b) Verbreitungschancen von Organisationen primär aus Governance-Strukturen ableitet, nicht aber aus der öffentlich attribuierter Legitimität oder Leistung; c) Gattungsbeschreibungen erzeugt, die die Verbindung von Organisationsform und gesellschaftlicher Entwicklung nur vage andeutet, statt dahinterliegende Dynamiken zu explizieren.
Organisationstypologien haben einen eingeschränkten Erklärungswert, wenn sie im Feld genutzte Beobachtungsschemata ignorieren. Gleichzeitig ist auch eine hohe Übereinstimmung von emischen und etischen Typologien problematisch, insofern politische Setzungen aus dem Feld reifiziert werden. Der Beitrag plädiert deshalb dafür, in der Diskussion um ‚Grand Challenges‘ zu untersuchen, ob und wie im Feld typisiert wird. Denn obgleich diese Literatur konkretere Vorstellungen von Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen formuliert, schenkt sie öffentlichen Bewertungsschemata und der dadurch bedingten Verbreitung von Organisationsformen bislang nur wenig Aufmerksamkeit.
Datafizierung von Organisation durch Datenobjekte
Nadine Diefenbach
RWTH Aachen University, Deutschland
Die inter- und intraorganisationale Entwicklung und Begleitung digitaler Transformationsprozesse von Klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) findet u.a. in Forschungsprojekten statt, bei denen sich heterogene Organisationen temporär zusammenschließen. Derartige F&E-Verbünde können als Projektnetzwerkorganisationen (PNO) (Manning 2010) gefasst werden, die, relational organisationstheoretisch verstanden, Veränderungen in die dahinter liegenden Einbettungsstrukturen distribuieren können. In PNO mit dem Fokus auf Digitalisierungsprozesse in beispielsweise produzierenden KMU kann durch den Einsatz digitaler Technologien ein Wachstum der Datenproduktion in den unterschiedlichsten Bereichen beobachtet werden. Die Datenansammlung hat auch Einfluss auf die Entscheidungsprozesse in KMU, angefangen bei Enterprise Collaboration Systems (ECS) über Enterprise Ressource Planing (ERP) bis hin zu Manufacturing Execution Systems (MES).
Diese sozio-technischen Prozesse sollen in meinem Beitrag aus einer relational organisations- und techniksoziologischen Perspektive betrachtet werden. Dabei stehen in Anlehnung an Alaimo & Kallinikos (2021) große Mengen an Daten gleicher Form, Datenobjekte, im Fokus. Datenobjekte sollen in der intra- und interorganisationalen Interdependenz heterogener Identitäten nicht als Substrate objektiven Wissens verstanden werden (ebd.; Cardoso Llach 2018), weil Datenobjekte vorab bereits sozio-technisch konstruiert, also durch Algorithmen oder auch die Gestaltung von Maschinen selbst bestimmt sind. Mit dem Wissen darum sollten Datenobjekte vielmehr als interfaces gesehen werden (i.A. Cardoso Llach 2018; Häußling 2020). Der entstandenen Diskrepanz zwischen den bereits entschiedenen Datenobjekten, die zur Visualisierung bereitstehen, und den darauf aufbauenden Entscheidungen, wird durch technische Analytic tools begegnet (Koren/Klamma 2018). Vor dem Hintergrund der Datafizierung und damit sozio-technischen Konstruktion von Organisationen wird in diesem Beitrag darum der Visualisierung (Häußling 2020) von Datenobjekten als Schnittstelle zwischen den Identitäten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es wird darauf aufbauend der Versuch unternommen, die Veränderungen in Organisationen durch die (Ent-)Kopplungsprozesse heterogener Identitäten in ihrer Disziplinierung (White 2008) theoretisch zu beschreiben.
Wie Organisationen und Software sich wechselseitig prägen. Ein organisationssoziologischer Beitrag zu einer Soziologie der Software
Dzifa Ametowobla
Technische Universität Berlin, Deutschland
In Debatten um die Digitalisierung spielt der Umgang mit Software eine zentrale Rolle. Organisationen prägen diesen Umgang auf vielfältige Weise, doch ihre Bedeutung wird in der soziologischen Auseinandersetzung mit dem Thema nur selten ausreichend berücksichtigt. In meinem Beitrag stelle ich einen Forschungsrahmen für die Untersuchung von Software im Sozialen vor, bei dem die Rolle von Organisationen im Mittelpunkt steht. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Software in Organisationen performativ wird und sich Einflüsse von Organisationen auf die Software aus dieser Performativität rekonstruieren lassen. Der Forschungsrahmen baut auf dem organisationssoziologischen Konzept der Dualität von Technologie auf (Orlikowski 1992). Dieses wird so erweitert, dass sowohl komplexe Software als auch organisationsübergreifende soziale Einflüsse berücksichtigt werden können. Der Umgang mit Software in Organisationen wird durch drei zentrale Einflussfaktoren bestimmt: die Modelle des Anwendungsbereichs, die in die Software eingebettet sind, die organisationalen Bedingungen, unter denen die Software zum Einsatz kommt, und die Praktiken, in denen Akteur*innen Modelle und Bedingungen entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen miteinander in Einklang bringen. Modelle betrachte ich dabei als Expert*innensysteme in Anlehnung an Giddens (1992). Für die Untersuchung der organisationalen Bedingungen und der Praktiken beim Umgang mit Software greife ich auf die strategische Organisationsanalyse (Crozier und Friedberg 1979) zurück. Die Anwendung des Forschungsrahmens illustriere ich mit Beispielen aus einer Fallstudie zum Einsatz von SAP in der OP-Planung. Dabei wird sichtbar, dass Organisationen den Umgang mit Software mittelbar und unmittelbar beeinflussen und wie sich diese Einflüsse in empirischer Forschung aufdecken lassen.
Quellen:
Crozier, Michel; Friedberg, Erhard (1979): Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns. Königstein/Ts.: Athenäum.
Giddens, Anthony (1992): The consequences of modernity. Repr. Cambridge: Polity Press.
Orlikowski, Wanda (1992): The Duality of Technology: Rethinking the Concept of Technology in Organizations. In: Organization Science 3 (3), S. 398–427.
Algorithmen und militärische Führung
Cristina Besio, Cornelia Fedtke, Christine Posner
Helmut-Schmidt-Universität, Deutschland
Die Nutzung von Algorithmen zur Datenanalyse hat weitreichende Folgen für Organisationen, die nicht nur ihre Wissensordnung, Legitimationsprozesse und Machtfragen umfassen. Diese Folgen sind nicht deterministisch, denn Organisationen gestalten die Folgen der Digitalisierung durch ihre Strukturen und Praktiken selbst mit. In unserem Beispiel der Bundeswehr fokussieren wir auf Veränderungen, die die Führung betreffen. Führung in militärischen Organisationen soll in besonderem Maße dazu befähigen, in komplexen und ungewissen Situationen Mitarbeiter zu motivieren, riskante Handlungen auszuführen und ggf. auch Gewalt anzuwenden. Die empirischen Daten wurden im laufenden Projekt LEAD.Bw „Führungskulturen im digitalen Zeitalter. Der Fall der Bundeswehr“ erhoben, in dem zur digitalen Transformation der Bundeswehr mit Fokus auf die Einführung von Big Data Analytics und KI-Anwendungen geforscht wird. Anhand von Experteninterviews mit Führungskräften können wir einige Herausforderungen, die Algorithmen und die Digitalisierung für die militärische Führung mit sich bringen, erarbeiten:
1. Mit der Digitalisierung wird das Risiko der Entpersonalisierung sozialer Verhältnisse verbunden, wie bspw. beim Führen auf Distanz oder dem Einbezug algorithmischer Outputs in Entscheidungs- und Führungsprozesse.
2. Digitalisierung kann in Organisationen die Aufgabenteilung neu arrangieren, bspw. durch eine stärkere Zentralisierung.
3. Die Einführung von Algorithmen kann zur Zerlegung von Verantwortung führen. Damit ist gemeint, dass ein großer Kreis von Menschen, bspw. Programmierer, Analysten und Führungskräfte sowie Maschinen an Entscheidungsprozessen beteiligt sind, so dass organisationale Prozesse komplexer und intransparenter werden.
All diese Punkte bringen Neuerungen, Chancen und Probleme mit sich. Zudem werden im Diskurs oft Gegenwart und Zukunft verwischt, so dass die Gegenwart im Lichte der vorgestellten Konsequenzen für die Zukunft erscheint. Entscheidend dafür, wie Algorithmen benutzt werden, ist daher die hergestellte Korrelation zwischen Zukunftsvorstellungen über digitale Technik und aktuelles bzw. traditionelles Führungsverständnis. So bezweifeln Führungskräfte, insbesondere in militärischen Bereichen, in denen Führung primär als zwischenmenschlicher Austausch aufgefasst wird, meist den Nutzen der Arbeit mit Instrumenten der quantifizierten Prognose und Risikobewertung.
Re-visiting the issue of social order: Contesting the binary between spontaneous and organized order
Michael Grothe-Hammer1, Héloïse Berkowitz2,3
1Norwegian University of Science and Technology, Trondheim, Norwegen; 2CNRS, UMR 7317, LEST, Aix Marseille Université, Frankreich; 3Institut Barcelona d’Estudis Internationals, Spanien
How social order comes about is one of the oldest and most prevalent questions in sociological research – dating back to classics such as Weber, Durkheim and Marx (Hechter & Horne 2003). For understanding the forms and dynamics of social order is crucial for understanding how our social reality comes about (Garfinkel 1967). A widely accepted assertion is that it is possible to distinguish between two fundamentally different forms of social order, i.e., one form of order that is purposefully constructed – often considered as “organization” – and another form of social order that is self-emergent (Hechter 2018). This binary between emergent order and organized order has been explicitly acknowledged as fundamental by a broad variety of scholars from different disciplines such as sociology (e.g., Luhmann 1964), philosophy (von Hayek 1991), economics (Williamson 1991), and business and management research (Ahrne et al. 2016). We will challenge this commonly asserted binarity. Specifically, we contend that these broadly accepted approaches neglect the processuality of social order (Giddens 1984) – despite the fact that some of these notions of social order are in fact embedded in process-theoretical frameworks (e.g., Luhmann 1964; Ahrne et al. 2016). We argue that existing works incorrectly conflate the inherent characteristics of an order that stem from its origin with those characteristics that stem from the possible states it can or cannot take over time (in process). For instance, self-emergent orders might not have been an organized product, but they might become organizable over time (or not). Other orders might have been constructed consciously for a purpose but might lose their “organizability” over time (or not) (Berkowitz & Grothe-Hammer 2022). We assert that these differences matter. Connecting to works on the decidedness (Ahrne & Brunsson 2011; Luhmann 2000) and decidability (Berkowitz & Grothe-Hammer 2022) of social orders, we will present a thorough and more nuanced theorization of social orders, specifically regarding their organizationality and non-organizationality.
|