Bewertungskonflikte in der internationalen Politik: „LGBTI people“ als umkämpfte globale Personenkategorie
Hannah Bennani
Universität Tübingen, Deutschland
Bei der globalen Personenkategorie der ‚LGBTI people‘ handelt es sich um einen ‚Newcomer‘ im internationalen politischen Diskurs. Erst in den 1990er Jahren wurden die Problemlagen lesbischer, schwuler und bisexueller Menschen (LGB) in einem menschenrechtlichen Rahmen adressiert, der seit den 2000er Jahren auch auf trans (T) und teilweise intersexuelle Personen (I) ausgeweitet wurde. Dieser Institutionalisierungsprozess erweist sich in verschiedener Hinsicht als widerständig und kann als Ausdruck einer „international norm polarization“ (Symons und Altman 2015) gedeutet werden: So stehen eine Reihe von Staaten, die LGBTI-Anliegen nicht nur unterstützen, sondern zum Kernbestand westlicher Werte erklären, eine Koalition von konservativen Staaten gegenüber, die diese als Abweichung von traditionellen Werteordnungen und/oder Ausdruck eines westlichen Kulturimperialismus delegitimieren. Klassifikationskämpfe betreffen darüber hinaus auch die Aushandlung der kategorialen Grenzen und die Kritik kategorialer Ein- und Ausschlüsse, etwa wenn es um die Verortung nicht-westlicher sexueller und geschlechtlicher Minderheiten und die Rolle nicht-binärer Personen oder das Verhältnis zwischen sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität geht.
Ziel des geplanten Beitrages ist es, Konflikte und Aushandlungen um die umkämpfte Kategorie zu rekonstruieren. Wie werden kategoriale Grenzziehungen verhandelt, welche Argumentationsstrategien können identifiziert werden, und auf welche Werteordnungen verweisen diese? Inwiefern werden Forderungen nach Inklusion oder De-Differenzierung über Bewertungen von Personen abgesichert? Diese Fragen adressiert der Vortrag auf der Grundlage der Analyse von Dokumenten aus dem Umfeld internationaler Organisationen (u. a. Deklarationen, NGO-Statements, Berichte des UN Independent Expert on Sexual Orientation and Gender Identity). Der Beitrag fokussiert Klassifikationskonflikte in internationalen Arenen und verbindet die Soziologie globaler Humandifferenzierungen mit bewertungssoziologischen Überlegungen.
Polarisierte Sexualität(-en)? Diskursive Konstruktionen „behinderter Sexualität“ und konflikthafte Aushandlungen ihrer gesellschaftlichen In- und Exklusion
Miriam Brunnengräber
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland
Das Sexuelle ist in vielfacher Weise von Prozessen der Humandifferenzierung (Hirschauer 2021) durchzogen. Solche Unterscheidungen von Menschen nach ‚ihrer‘ Sexualität sind in verschiedener Hinsicht mit Bewertungen verknüpft, etwa nach Attraktivität, moralischer Konformität sowie grundlegend nach ‚sexueller Eignung‘. Der Beitrag widmet sich den Diskursen um die Unterscheidung von „behinderter“ und „nicht-behinderter Sexualität“ als einem ‚an den Rändern‘ des Sexuellen gelagerten Klassifikationskonflikt.
Ausgangspunkt dieses Konflikts ist die Kritik an einer prinzipiellen Exklusion von Menschen mit Behinderungen aus dem Bereich des Sexuellen. In aktivistischen wie wissenschaftlichen Diskursen wurde auf die gesellschaftliche Be- und Verhinderung der Sexualität von behinderten Menschen hingewiesen. Als ein möglicher Weg ihrer ‚sexuellen Inklusion‘ hat sich mit der Sexualbegleitung und -assistenz ein ganzes Praxisfeld etabliert, das sich den Umgang damit zur Aufgabe gemacht hat. Jene Angebote sind aktuell Gegenstand konflikthafter Aushandlungen: In kritischen Äußerungen, insbesondere von behinderten Aktivist*innen selbst, werden sie nicht als empowernde Maßnahmen sondern als neue Form der Separierung „behinderter Sexualität“ gewertet. Gegenstand der Analyse ist ein Datenkorpus zu Diskursen um die Sexualität von Menschen mit Behinderungen und um Angebote der Sexualassistenz und -begleitung (u. a. Fachliteratur, Blog-Beiträge, Zeitungsartikel). In der Selbstbeschreibung des Feldes wird die Frage einer polarisierten Sexualkultur zentral gestellt: Das routinierte Übersehen von behinderten Menschen als potenzielle sexuelle Wesen sowie die verschiedenen Formen institutionalisierten Ausschlusses werden als Ausdruck ihrer Exklusion aus einer ‚sexuellen Mehrheitsgesellschaft‘ konstatiert. Gegenstand konflikthafter Aushandlungen ist hingegen die Frage, ob Sexualbegleitung und -assistenz zur Auflösung dieser Polarisierung beitragen kann oder ob sie als eine weitere „Sonderwelt“ (Wolf 2020) zu ihrer Stabilisierung beiträgt. Im Vortrag rekonstruiere ich die aufeinandertreffenden Konfliktlinien und präsentiere Ergebnisse einer empirischen Analyse, die jene konflikthaften Diskurse über die unterschiedlichen Klassifikationen aufschlüsselt, die in ihnen aufeinandertreffen: von Menschen und ihren Körpern, von „Sexualität(-en)“ und von „Sexualassistenz“ bzw. „-begleitung“.
„I’m me, not meat.“ Klassifikationskämpfe um Tierwohl und Fleischkonsum in sozialen Medien
Frithjof Nungesser1,2, Martin Winter3
1Österreichische Akademie der Wissenschaften; 2Universität Graz; 3TU Darmstadt
Fleischkonsum und Tierwohl sind in den letzten Jahrzehnten zu gesellschaftlich umkämpften Fragen geworden. In vielen Bereichen zeigt sich ein Ringen um die Klassifikation von „guten“ und „schlechten“, „vernünftigen“ und „unvernünftigen“, „gesunden“ und „ungesunden“, „nachhaltigen“ und „umweltschädlichen“ Praktiken im Umgang mit Tieren. Im Kleinen sind diese Klassifikationskämpfe mit alltäglichen Konsumentscheidungen, Produktionsprozessen und Rechtfertigungspraktiken verbunden. Im Großen sind sie verknüpft mit zunehmenden Spannungen rund um die „Grenzen der Sozialwelt“ (Lindemann) und die „große Trennung“ in der naturalistischen Ontologie (Descola), das heißt mit der grundlegenden Verortung des Menschen in der Welt.
Auf Grundlage einer diskursanalytischen Untersuchung der netzaktivistischen Kommunikationsstrategien von Organisationen aus den Bereichen Tierrechtsaktivismus und Veganismus werden wir in unserem Vortrag darlegen, wie sich sozialontologische Spannungen und klassifikatorische Konflikte äußern. Konkret werden wir die Twitter-Accounts zweier zentraler Organisationen – Peta und ProVeg – untersuchen. In den untersuchten Tweets lassen sich Klassifikationskonflikte auf zwei zentralen Dimensionen verorten: Die erste Konfliktdimension bezieht sich auf den klassifikatorischen Status von Nutztieren. Dieser Status impliziert zwei grundlegende Differenzierungen: die Abgrenzung zwischen Mensch und Tier einerseits und Binnenunterscheidungen verschiedener Tierkategorien andererseits. Der klassifikatorische Status von Fleisch ist die zweite zentrale Konfliktdimension. Sie umfasst das Ringen darum, welche Klassifikationslogik (ökologisch, nutritional, kulinarisch) auf Fleisch anzuwenden ist und wie es innerhalb dieser Logiken zu bewerten ist.
Die Analyse von Klassifikationskämpfen um Tierwohl und Fleischkonsum, so soll der Vortrag zeigen, ist in verschiedener Hinsicht ein kultursoziologisch instruktiver Gegenstand: Sie ermöglicht Einblicke in netzaktivistische Strategien und verdeutlicht, wie moralisch aufgeladene und distinktionsmächtige Alltagspraktiken mit klassifikatorischen Spannungen in der naturalistischen Ontologie verschränkt sind.
Performativität in den Debatten um die Klassifikation von Kulturproduktion
Guy Schwegler
Universität Luzern, Schweiz
Eine der zentralen Ressourcen, die gegenwärtig in Auseinandersetzungen um Klassifikationen hinzugezogen wird, ist das Wissen der Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Disziplinen liefern keineswegs nur eine Beschreibung von gesellschaftlichen Prozessen, sondern sie greifen in die sozialen Prozesse der Bewertung selbst ein. Der hier vorgeschlagene Beitrag bezieht sich explizit auf die Rolle von Theorien und fasst deren Effekte als „performativ“ auf: Die theoretischen Konzepte der Kultur- und Sozialwissenschaften repräsentieren Blaupausen, mit denen die gesellschaftlichen Akteur*innen ihre Klassifikationen konstruieren. Als empirisches Beispiel dient die Kulturproduktion und es soll auf die Kritik fokussiert werden, welche die performativen Effekte der Theorie ermöglichen.
Die Ausgangslage der theoretisch-informierten Debatten kann in den Theorien selbst sowie in deren zunehmenden Verbreitung gesucht werden: Grundsätzlich „dekonstruieren“ die kultur- und sozialwissenschaftlichen Konzepte die in Feldern vorhandenen Klassifikationen, indem soziale Aspekte anstelle der feldeigenen Bewertungen problematisiert werden. Diese theoretischen Problematisierungen haben über die letzten Jahrzehnte eine kontinuierliche Verbreitung erfahren: durch die Bildungsexpansion, über den Turn-to-the-Social von Disziplinen oder in interdisziplinären Zusammenhängen. Heute zeigt sich eine Situation, in welcher die Dekonstruktionen der Kultur- und Sozialwissenschaften an Kunsthochschulen gelehrt werden, in Kunstwissenschaften einfließen und schließlich in den Welten auftauchen, in denen Kultur produziert wird.
Der Beitrag erläutert die performativen Effekte über drei verschiedene Bereiche von Kulturproduktion: normative Praxisprinzipien, durch welche Akteur*innen Funktionen klassifizieren; Ausführungsmediationen, in denen die eigentlichen Praktiken der Produktion festgemacht werden; sowie die Ontologie und Autorenschaft, worüber eine Realität repräsentiert wird. Das analytische Potential dieser Unterscheidung wurde über eine qualitative Studie in einer Musikwelt erschlossen, um so verschiedene Arten der Kritik von Klassifikationen zu verdeutlichen. Die dadurch deutlich werdenden performativen Effekte führen dann allerdings nicht nur zu anderen Debatten um legitime Bewertungen, sondern vor allem auch zu tatsächlichen Veränderungen der Kulturproduktion.
Moderierte Bewertungen: Eine Praxistheorie digitaler Moderation
Ronja Trischler
Goethe-Universität Frankfurt, Deutschland
Moderation ist ein zentrales Element digitaler Praxis. Sie kann auf Videokonferenzen, Internetforen oder in Chat-Gruppen beobachtet werden, z.B. in Zuweisungen von Rederecht, im Löschen von Kommentaren oder in unermüdlichen Hinweisen auf die ‚Netiquette‘. Moderation ereignet sich nicht erst durch digitale Technologien soziotechnisch, zu Mikrofon und Lautsprecher gesellen sich ‚Host‘-Funktionen der Software oder die Überprüfung von Social-Media-Posts per ‚Bot‘. Online sind unterschiedliche Grade der Automatisierung sowie der Professionalisierung von Moderation auszumachen: Teils erfolgt sie als Erwerbsarbeit, wie in Kommentarspalten von Zeitungen, teils unentgeltlich als freiwilliges Engagement auf (professionell betriebenen) Plattformen. Moderation erscheint damit (auch) in digitalen Zeiten als relevante Antwort auf die Unübersichtlichkeit und Polarisierung öffentlicher Debatten: Denn sie ermöglicht und begrenzt gesellschaftliche Diskurse online. Ihre Kapazitäten und Grenzen werden bereits diskutiert, z.B. hinsichtlich der Bekämpfung von Hate Speech, und fanden jüngst auch aufgrund der digitalen Mobilisierung politischer Bewegungen neue Beachtung. Eine systematische soziologische Perspektivierung von digitaler Moderation steht aber aus.
In meinem Beitrag biete ich eine praxistheoretische Perspektive auf digitale Moderation. Die soziologische Analyse des Moderierens, so die Arbeitsthese, gibt Aufschluss über die Praxis des Ordnens sozialer Diskurse, d.h. den Vollzug und die Bearbeitung von umkämpften Klassifikationen: wie Bewertungen geordnet werden, wie zwischen ihnen vermittelt wird, aber auch, wann diese Vermittlungen scheitern. In sozial- und medienwissenschaftlicher Forschung wird Moderation meist als Arbeit einzelner Personen verstanden, denen je nach Schauplatz technische Alternativen gegenüberstehen. Praxistheoretisch hingegen verorte ich Moderieren als soziotechnische Praxis, d.h. als zusammenhängende, sich situiert entfaltende Aktivitäten zwischen menschlichen wie nicht-menschlichen Beteiligten. Diskursive Praktiken verstehe ich dabei als graduell moderiert bzw. moderierbar. Damit rücken nicht nur empirische Varianzen hinsichtlich des Vollzugs, der Beteiligten und der Medialität des Moderierens in den Fokus, sondern auch die Frage, welchen Unterschied es macht, was – d.h. welche Debatte – jeweils moderiert wird.
|