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Sitzungsübersicht
Sitzung
Plenum 6: Die ökologische Krise: Polarisierungen moderner Demokratien
Zeit:
Donnerstag, 29.09.2022:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Cordula Kropp, Universität Stuttgart
Chair der Sitzung: Sighard Neckel, Universität Hamburg
Ort: UHG H4


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Präsentationen

Die Exponentialgesellschaft: Stabilisierung als zentrales Ordnungsproblem im 21. Jahrhundert

Emanuel Deutschmann

Europa-Universität Flensburg, Deutschland

Von Klima- und Umweltkrise über Coronapandemie, Inflation, Globalisierung, Migration und Verkehr bis hin zu Digitalisierung und Alterung der Gesellschaft—die großen Themen unserer Zeit haben einen gemeinsamen Kern: sie folgen exponentiellen Mustern. Während frühere Gesellschaften durch wiederkehrende Zyklen oder allenfalls langsamen, steten Wandel geprägt waren, bestimmt heute eine Vielzahl zugespitzter exponentieller Trends öffentliche Debatten, schürt neue soziale Konflikte und steht im Zentrum der großen Probleme des 21. Jahrhunderts. Doch lange geht es so nicht weiter: kein exponentieller Trend hält ewig und mit der unweigerlichen Explosion der Bestandsgrößen—seien es Treibhausgase, virale Inzidenzen oder Plastik im Ozean—droht das zukunftsgefährdende Desaster. Stabilisierung ist daher das zentrale Ordnungsproblem dieser Exponentialgesellschaft. In wichtigen Gesellschaftsbereichen müssen exponentielle Trends rechtzeitig gebrochen werden, um stabilisierte Verhältnisse auf nachhaltigen und kollektiv wünschenswerten Niveaus herbeizuführen. Wie wir sehen werden, denkt die Gesellschaft zunehmend über Wege in diese Richtung nach, streitet über mögliche Stabilisierungsniveaus, Umsetzungsstrategien, Folgen und Nebenwirkungen. Dies führt dazu, dass eine wachsende Zahl sozialer Konflikte sich an der Frage des Umgangs mit exponentiellen Trends entzündet. Etwas vereinfacht ausgedrückt verläuft der politische Grundkonflikt dabei zwischen expansionistischen und stabilisatorischen Kräften. Während erstere sich für eine Fortsetzung exponentieller Steigerung einsetzen, kämpfen letztere für Stabilisierung. Je weiter sich die Lage der Exponentialgesellschaft zuspitzt, desto mehr wird dieser neue Grundkonflikt andere, bisher in soziologischer Betrachtung im Vordergrund stehende gesellschaftliche Konfliktachsen (Kommunitarismus vs. Kosmopolitismus, „unten“ vs. „oben“, usw.) verdrängen, so eine zentrale These des Vortrags. Obwohl, wie wir sehen werden, die expansionistische Seite in vielerlei Hinsicht im Unrecht ist, ist keineswegs ausgemacht, dass sich die stabilisatorische Seite durchsetzen wird. Dies liegt unter anderem an einem Machtungleichgewicht, denn die expansionistische Seite hat die gewaltigen Kräfte kapitalistisch-exponentieller Steigerung und den Heimvorteil des etablierten Systems hinter sich. Der Vortrag erkundet diesen ungleichen, offenen Kampf um die Zukunft.



Polarisiert sich der sozial-ökologische Transformationskonflikt? Empirische Befunde zu Divergenzen auf der Ebene von Mentalitäten und Lebensweisen

Martin Fritz, Dennis Eversberg

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland

Mit dem Ziel eine differenzierte Analyse der verschiedenen Ebenen und Dimensionen des sozial-ökologischen Transformationskonfliktes in Deutschland vorzunehmen, stellt dieser Beitrag den Ansatz der relationalen sozial-ökologischen Mentalitätsforschung vor und wendet ihn auf die Daten der aktuellen Repräsentativbefragung BioMentalitäten 2021 (n=4000) an. Wir untersuchen Polarisierungen auf der Ebene von in der Bevölkerung verbreiteten sozial-ökologischen Vorstellungen und Alltagspraktiken. Das Neue an unserer Studie ist dabei die Erfassung der wechselseitigen Zusammenhänge zwischen den Ebenen von Einstellungen, sozialstrukturellen Positionen und Praktiken. Ausgehend von Bourdieus Konzeptionen von Habitus und Praxis begreifen wir die in der Befragung geäußerten Haltungen zu sozialen und ökologischen Fragen als Ausdruck tiefer liegender grundlegender Einstellungsmuster (sozial-ökologische Mentalitäten), die von sozialen Erfahrungen und sozioökonomischen Bedingungen geprägt sind und die alltäglichen Praktiken (Lebensweisen) strukturieren.

Mittels relationaler multivariater Analysen identifizieren wir erstens Polarisierungen, die entlang einzelner Konfliktdimensionen bestehen sowie zweitens komplexere Polarisierungen, die sich aus dem Zusammenspiel mehrerer Konfliktdimensionen konstituieren. Um diese komplexeren Polarisierungen aufzuweisen, unterscheiden wir sozial-ökologische Mentalitäten als typische Bündel sozialer und ökologischer Haltungen und Praktiken. Aus der relationalen Verortung dieser Mentalitäten im Raum der sozialen Positionen ergeben sich differenzierte Rekonstruktions- und Erklärungsmöglichkeiten jenseits sozioökonomischer und kultureller Engführungen. So lässt sich ein komplexes Gesamtbild des sozial-ökologischen Transformationskonflikts im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung Ende 2021 zeichnen und genau benennen, entlang welcher Dimensionen und zwischen welchen sozialen Gruppen sich dieser polarisiert oder zu polarisieren droht.



Verfahrensordnungen der Gewalt als Bedingung der Beziehungen zur nichtmenschlichen Natur

Gesa Lindemann

Carl von Ossietzky Universität, Deutschland

Der Zusammenhang zwischen Gewalt und den Beziehungen zur nichtmenschlichen Natur wird anhand des Vergleichs zweier Verfahrensordnung der Gewalt analysiert: Der Ordnung des Austauschs und der modernen rechtsstaatlichen Ordnung. Gesellschaften, in denen Tiere und Pflanzen als Akteure gelten, bestehen aus Gruppen, die einander in Austauschbeziehungen verbunden sind. Wenn der Austausch als unangemessen erlebt wird, werden die normativen Erwartungen der Gruppe durch Gewalt symbolisch dargestellt. Dies kann zu langanhaltenden wechselseitigen Rachebeziehungen führen. Dabei stehen sich nicht Individuen gegenüber, sondern (Familien-)Gruppen. In diese Ordnung werden auch die ebenfalls in (Familien-)Gruppen existierenden Tiere und Pflanzen einbezogen. Verpflichtungen beziehen sich auf die Gruppe und die daraus folgenden moralischen Beistandsverpflichtungen. Für eine solche Ordnung gilt, dass die beteiligten Gruppen auf ihre eigene Gewaltfähigkeit vertrauen können müssen, sonst können sie in den Austausch- und Rachebeziehungen nicht bestehen. Solche Ordnungen werden etwa von Latour als Vorbild für eine Einbeziehung von Nicht-Menschen dargestellt.

Die Verfahrensordnung der modernen rechtsstaatlich gebundenen Gewalt zeichnet sich durch eine überlegene Zentralgewalt aus. Dabei wird historisch einmalig der Kreis möglicher Akteure auf Menschen begrenzt. Nur noch Menschen werden als moralisch relevante Akteure begriffen, denen zugleich ein herausgehobener moralischer Sonderstatus zukommt, der sich in den Menschenrechten dokumentiert. Die überlegene Zentralgewalt ermöglicht nach innen ein gewaltgestütztes Vertrauen in Gewaltlosigkeit. Weil Gewalt als ultimative Bedrohung des Menschen gleich an Freiheit und Würde gilt, entbrennt in modernen Gesellschaften eine permanente Auseinandersetzung darum, was als Gewalt gilt. Weil Gewalt als illegitim gilt, entsteht notwendigerweise ein hoher politisch-moralischen Handlungsdruck, ihr durch den Einsatz staatlicher Gewalt ein Ende zu setzen.

In dieser Perspektive werden die Aktionen sozialer Bewegungen zum Klimawandel analysiert. Es zeigt sich: Sie identifizieren es als Gewalt, nichts gegen den Klimawandel zu unternehmen. Damit eröffnet die Gewaltperspektive eine neue Sicht auf die Klimabewegung, die die Produktivität der Moderne zeigt. Eine Idealisierung von Vergesellschaftungen ohne Grund- und Menschenrechte ist nicht erforderlich.



Kritische Theorie der (Sozial-)Ökologie: Polarisierungen mit Marcuse

Ulf Bohmann

TU Chemnitz

Wenn wir an Zeiten großer Polarisierungen mit ausgeprägt demokratisierenden Impulsen denken, kommt fast unweigerlich das ‚Ereignis 1968‘ in den Sinn. Es markiert sowohl die Hochzeit der Studentenbewegung, als auch das Aufkeimen der Ökologiebewegung. Die Schriften der Frankfurter Schule wurden dabei zu maßgeblichen Quellen, so dass über soziale Bewegungen eine bemerkenswert enge Verbindung von (soziologischer) Theorie und (gesellschaftlicher) Praxis entstand. Anders als die meisten Protagonisten der Kritischen Theorie nahm Herbert Marcuse die Rolle des polarisierenden Stichwortgebers nur zu gern an.

In Marcuses Arbeiten ist eine beherzte Gesellschaftskritik an Technisierung, Beherrschung, Instrumentalität und Kapitalismus am Werke, allen voran in „Der eindimensionale Mensch“ von 1964. In seinen späteren Schriften zu „Ökologie und Gesellschaftskritik“ wandte er sich expliziter dem Thema Umwelt zu. Die Kernthese ist: Die ökologisch fatale Unterwerfung der Natur ist mit der demokratisch fatalen Unterwerfung des Menschen aufs Engste verknüpft. Es geht Marcuse mithin stets um eine integrative und dabei demokratisierend-emanzipative Kritische Theorie der (Sozial-)Ökologie.

Eine Wiederbegutachtung Marcuses unter gegenwärtigen Bedingungen ist in mindestens dreierlei Hinsicht vielversprechend: (1) Es gibt mit Blick auf demokratische Politik zwar viele Forderungen nach einer Kritischen Theorie der Ökologie, aber kaum soziologische und systematische Vermessungen. (2) Innerhalb gegenwärtiger Diskurse zur (Sozial-)Ökologie – insbesondere zu den Themen Nachhaltigkeit und Postwachstum – ist die Kritische Theorie kaum nennenswert präsent und die Demokratiefrage eher randständig. (3) Wenn Kritische Theorie mit Marx die ‚Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche‘ ist, muss gerade die praktische Polarisierung der ökologischen Frage durch soziale Bewegungen aufgegriffen werden – hier stehen entsprechend ausgerichtete systematische Analysen aber noch aus.

Zu allen drei Bereichen lässt sich mit Marcuse eine unorthodoxe Position gewinnen, die Fragen der (Sozial-)Ökologie und der Demokratie integral miteinander verbindet. Interessant wird sie zudem dadurch, dass gerade nicht an der Überwindung von Polarisierungen gearbeitet wird, sondern selbige vielmehr in emanzipativer Absicht hervorgebracht und intensiviert werden sollen.



 
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